Inhalt

VG Ansbach, Beschluss v. 20.12.2022 – AN 17 E 22.50375
Titel:

Ermessensreduktion auf Null iRd Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO zum Familiennachzug  

Normenketten:
VwGO § 123
Dublin III-VO Art. 8, Art. 17 Abs. 2, Art. 21
Leitsätze:
1. Auf die humanitäre Ermessens-Klausel des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO können sich alle von der Trennung betroffenen Familienangehörigen berufen, auch wenn die Trennung Familienangehörige belastet, die nicht als Antragsteller im Gerichtsverfahren auftreten, da eine Gesamtermessensabwägung aller Belange aller Familienangehörigen vorzunehmen ist und eine getrennte Betrachtung nicht möglich ist. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Verfahren vor griechischen Gerichten mit dem Ziel der Verpflichtung der BRD zur Übernahme der Antragsteller ist nicht möglich und damit auch nicht vorrangig. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine Ermessensreduzierung auf Null ist dann anzunehmen, wenn über das regelmäßig bestehende Interesse von Personen an einer Familienzusammenführung konkret und im Einzelfall Umstände vorliegen, die die Annahme einer besonderen Härte begründen und jede andere Entscheidung als eine Zusammenführung der genannten Personen als unvertretbar erscheinen ließen. Nach der Rechtsprechung des EGMR spielen im Fall von Eltern mit Kindern und Geschwistern untereinander dabei insbesondere das Alter des Kindes, der Umfang der Bindung des Kindes zu Familienmitgliedern, mit denen es zusammengeführt werden soll, sowie der Umstand, ob das Kind unabhängig von seiner Familie eingereist ist, eine Rolle. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ein zu einem Nachzugsanspruch verdichteter Anspruch der Antragsteller ergibt sich zwischenzeitlich aus dem Umstand, dass die Trennung der Familie seit nunmehr über drei Jahren andauert, keine Aussicht auf eine Familienzusammenführung auf einem anderen Weg besteht, auch eine Familienzusammenführung außerhalb Deutschlands rechtlich nicht mehr möglich und durchsetzbar erscheint und eine weitere Verzögerung der Familienzusammenführung die kindliche Entwicklung jedenfalls der beiden jüngeren Kinder gefährdet. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ermessensreduktion auf Null im Rahmen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO zum Nachzug, - der sich in der Obhut des Vaters in Griechenland befindenden 12jähriger Tochter zur Mutter und, des Vaters zum 3jährigen, in Deutschland bei der Mutter sich befindenden Sohn, (dreijährige Trennung der Familienangehörigen, Abschiebungsverbote für Heimatland für Familienangehörige in Deutschland festgestellt, Dublin-Verfahren dieser Familienangehörigen mit Griechenland erfolglos abgeschlossen), Familienzusammenführung, Nachzugsanspruch, humanitäre Ermessens-Klausel, unzumutbare Trennungssituation, Griechenland
Fundstelle:
BeckRS 2022, 51251

Tenor

1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO verpflichtet, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Aufnahmegesuchs des griechischen Migrationsministeriums – Nationales Dublin-Referat – für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller für zuständig zu erklären.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Die Antragsteller begehren von Griechenland aus die Zustimmung zur Durchführung ihres Asylverfahrens in Deutschland aufgrund der Verordnung (EU) Nr. 604/13 (Dublin III-VO) als Nachzug zu ihrer in Deutschland lebenden Ehefrau bzw. Mutter und zu ihren weiteren minderjährigen Kindern bzw. Geschwistern.
2
Der 1978 geborene Antragsteller zu 1) ist der Vater der 2010 geborenen Antragstellerin zu 2). Beide sind – wie auch der Rest der Familie – afghanische Staatsangehörige, die im Iran gelebt haben. Sie halten sich seit Mai 2018 in Griechenland auf, wo sie jeweils Asylanträge gestellt haben, über die noch nicht entschieden ist.
3
Die Ehefrau bzw. Mutter der Antragsteller ist die 1983 geborene R. … Diese ist zusammen mit der weiteren gemeinsamen Tochter bzw. Schwester der Antragsteller K. …, geb. 2007, Ende Juni 2019 von Griechenland, wo auch sie Asylanträge gestellt hatten, weiter in die Bundesrepublik Deutschland gereist. Ein Rückübernahmegesuch des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) nach der Dublin III-VO wurde von Griechenland am 2. August 2019 mit Hinweis auf die Vulnerablität von R. … abgelehnt. Am 18. November 2019 wurde in Deutschland der Sohn des Antragstellers zu 1) und R. …M. … geboren. Im Februar bzw. März 2021 wurden die Asylanträge von R. …, K. … und M. … vom Bundesamt abgelehnt, für sie jedoch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG für Afghanistan festgestellt. Sie erhielten daraufhin Aufenthaltserlaubnisse nach § 25 Abs. 3 AufenthG. Hinsichtlich der weitergehenden Ablehnung sind nach Aktenlage für R. … und K. …, nicht aber für M. …, Klagen beim Verwaltungsgericht Schleswig anhängig.
4
Die physikalisch-technische Untersuchung beim Bundesamt stufte die zum Beleg der Eheschließung des Antragstellers zu 1) mit R. … vorgelegte Tazkira als verfälscht ein (Bericht vom 11.2.2021).
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Am 14. März 2022 stellte das griechische Migrationsministerium beim Bundesamt ein Übernahmegesuch nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO für die Antragsteller und begründete dies unter Vorlage eines psychologischen Berichts von Dipl.-Psychologen … vom 18. Oktober 2021, nach dem die Antragstellerin zu 2) unter der Abwesenheit der Mutter stark leide, in Griechenland Ausgrenzung erfahren und auch einen sexuellen Übergriff erlebt habe, mit den gesundheitlichen Problemen der Antragstellerin zu 2). In der Akte befinden sich medizinische Dokumente von 28. Juni 2018 und 16. August 2018, nach denen die Antragstellerin zu 2) sofortige psychologischer Hilfe bedürfe. Das Gesuch lehnte das Bundesamt mit Schreiben vom 29. März 2022 ab und verwies auf die ungenügende Belegung von Gesundheitsproblemen durch den Bericht vom 18. Oktober 2021 sowie auf die einstige Ablehnung Griechenlands auf Rückübernahme und Wiedervereinigung der Familie in Griechenland. Hierauf stellten die griechischen Behörden am 19. April 2022 ein Remonstrationsgesuch und verwiesen dabei auf die für die Antragstellerin zu 2) schwere Situation der dreijährigen Trennung. Die Antragstellerin zu 2) leide unter Schlafproblemen, Alpträumen und Atemproblemen, der Antragsteller zu 1) unter einem Angstzustand, der seit 33 Tagen medikamentös behandelt werde. Beigefügt wurde ein Bericht einer medizinischen Fachkraft der Hilfsorganisation One Heart vom 12. April 2022, der die schwierige Situation der Antragsteller durch die Trennung von der Restfamilie aufzeigt. Mit Schreiben vom 9. Mai 2022 lehnte das Bundesamt das Gesuch erneut ab und verwies darauf, dass die Ablehnung des Wiederaufnahmegesuchs durch Griechenland belege, dass zwingende humanitäre Gründe für die Familienzusammenführung nicht vorlägen. Die medizinischen Unterlagen vom 22. Februar 2022 belegten den Abschluss der Behandlung des Antragstellers zu 1).
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Mit am 27. Oktober 2022 beim Verwaltungsgericht Ansbach eingegangenem Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten stellten die Antragsteller einen Antrag nach § 123 VwGO.
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Sie beantragen,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Übernahmegesuchs durch das Griechische Migrationsministeriums – Nationales Dublin-Referat – für die Asylanträge der Antragstellenden für zuständig zu erklären.
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Die enge Verbundenheit der Familienangehörigen, die psychische Erkrankung der Antragstellerin zu 2) und die gesundheitlichen Probleme von R. … und M. … führten jedenfalls in einer Gesamtschau zu einem Anspruch der Antragsteller auf Nachzug zur Familie in Deutschland nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO. Über die vorhandenen ärztlichen Unterlagen hinaus wurden für R. … weitere Unterlagen über ärztliche Termine und Untersuchungen aus dem Jahr 2021 und 2022 und ein Bericht des Dipl.-Psychologen … vom 7. Juli 2022 vorgelegt. Dieser ergänzt und aktualisiert den Bericht vom 18. Oktober 2021 dahingehend, dass R. … nach einer Stellungnahme der Fachärztin für Allgemeinmedizin … vom 20. Juni 2022, die nicht vorgelegt wurde, wegen der Herzprobleme des zweijährigen Sohnes dringend der Unterstützung ihres Mannes bedürfe. Der Gesundheitszustand der Kindsmutter werde dort als so belastet beschrieben, dass sie sich kaum noch um ihre Kinder kümmern könne. Eine Überprüfung der Anamnese habe auch einen wenig veränderten Allgemeinzustand für die Antragstellerin zu 2) ergeben. Es liege wegen anhaltender Appetitlosigkeit und Untergewichtigkeit eine Gefährdungssituation für Anorexie vor. Testergebnisse für die Antragstellerin zu 1) sprächen auch für eine posttraumatische Belastungsstörung. Die Depressivität im Familiensystem könne nur durch eine Familienzusammenführung aufgelöst werden.
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Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz vom 2. November 2022,
die Anträge abzulehnen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Behördenakten und die Gerichtsakte verwiesen.
II.
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Die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO sind zulässig (2) und begründet (3). Das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach ist für die Entscheidung hierüber auch zuständig (1).
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1. Da sich die Antragsteller in Griechenland aufhalten, greift nicht die für asylrechtliche Streitigkeiten (vgl. für Streitigkeiten nach der Dublin III-VO BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 4) regelmäßige Zuständigkeitsvorschrift des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO ein, sondern richtet sich die örtliche Zuständigkeit des Gerichts nach dem Sitz der Antragsgegnerin, § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 2, Nr. 3 Satz 2, Nr. 5 VwGO (BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 6). Da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seinen Sitz in Nürnberg hat, ist das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach zur Entscheidung zuständig. Einer Zuständigkeitsbestimmung durch das Bundesverwaltungsgericht nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 VwGO bedarf es vorliegend nicht, da die Personen, zu denen zugezogen werden soll, nicht als Antragsteller auftreten und damit keine Kollision von Zuständigkeiten besteht.
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2. Der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO ist zulässig. Die Antragssteller sind entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO antragsbefugt. Erforderlich ist hierfür die Geltendmachung einer möglichen Verletzung eines subjektiven Rechts. Als solches kommt die humanitäre Ermessens-Klausel des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO in Betracht, auf die sich alle von der Trennung betroffenen Familienangehörigen berufen können, auch wenn die Trennung Familienangehörige belastet, die nicht als Antragsteller im Gerichtsverfahren auftreten, da eine Gesamtermessensabwägung aller Belange aller Familienangehörigen vorzunehmen ist und eine getrennte Betrachtung nicht möglich ist (VG Ansbach, B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103 – juris). Ein Berufen auf die Nachzugstatbestände der Dublin III-VO vom Ausland aus ist anzuerkennen. Der Wortlaut der Dublin III-VO schließt dies nicht aus, die Erwägungsgründe 13, 14 und 15 der Dublin III-VO sprechen vielmehr dafür. Auch Art. 47 GR-Charta sowie Art. 6 GG streiten für dieses Ergebnis (vgl. auch VG Ansbach, B.v. 19.7.2019 – AN 18 E 19.50355; B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103 – juris; VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 20; VG Münster, B.v. 20.12.2018 - 2 L 989/18.A – juris Rn. 21). Ein Verfahren vor griechischen Gerichten mit dem Ziel der Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Übernahme der Antragsteller ist nicht möglich und damit auch nicht vorrangig (vgl. insoweit VG Ansbach, B.v. 1.4.2021 – AN 17 E 21.50079 – juris Rn. 20).
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3. Die Anträge sind auch begründet. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert wird (sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO; sog. Regelungsanordnung). Der streitige Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind jeweils glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
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Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und den Antragstellern nicht schon in vollem Umfang, das gewähren, was sie nur in einem Hauptsacheprozess erreichen können. Im Hinblick auf das Gebot eines wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gilt dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache aber dann nicht, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile der Antragsteller unzumutbar sowie in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Erfolg in der Hauptsache spricht (vgl. BVerwG, B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3/13 – juris).
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Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Antragsteller haben einen entsprechenden Anordnungsanspruch (a) und auch die besondere Eilbedürftigkeit und damit einen Anordnungsgrund (b) ausreichend glaubhaft gemacht. Die Vorwegnahme der Hauptsache ist aus Kindeswohlgründen hier ausnahmsweise möglich und geboten.
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a) Die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland für die Asylverfahren der Antragsteller ergibt sich vorliegend aus Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 Dublin III-VO, dessen Tatbestandvoraussetzungen erfüllt sind und für den eine Ermessensreduzierung auf Null gegeben ist. Nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 Dublin III-VO kann derjenige Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist und der das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates durchführt, oder der zuständige Mitgliedstaat, bevor eine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, jederzeit einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen, aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, auch wenn der andere Mitgliedstaat nach den Kriterien in den Art. 8 bis 11 und Art. 16 Dublin III-VO nicht zuständig ist. Die betreffenden Personen müssen der Zusammenführung schriftlich zugestimmt haben, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 Dublin III-VO und das entsprechende Aufnahmeverfahren muss eingehalten werden. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
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aa) Da es vorliegend ausschließlich um eine Aufnahme der Antragsteller durch Deutschland nach der Ermessensvorschrift des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO geht, allein dies vom griechischen Migrationsministerium beantragt wurde und ein anderer Aufnahmetatbestand nach Art. 8 ff. Dublin III-VO auch nicht in Frage kommt, ist das Fristenregime nach Art. 21 ff. Dublin III-VO und nach Art. 5 Dublin-Durchführungs-VO nicht einschlägig. Anträge nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO können nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift, abweichend von Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO „jederzeit“ und damit ohne zeitliche Beschränkung und gegebenenfalls auch wiederholt gestellt werden. Der Zweck der schnellen, klaren und unveränderlichen Zuständigkeitsbestimmung tritt im Fall zwingender humanitärer Gründe familiären Kontextes zurück (VG Ansbach, B.v. 5.5.2021 – AN 17 E 21.50066 – juris Rn. 35). Verfahrensrechtliche Aspekte stehen der Übernahmeerklärung somit nicht entgegen.
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bb) Ebenfalls erfüllt ist das Erfordernis der schriftlichen Zustimmung aller vom Nachzugsbegehren betroffenen Personen nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 Dublin III-VO. Der Antragsteller zu 1) erteilte eine Zustimmung für sich und die Antragstellerin zu 2) am 22. Dezember 2021 vor den griechischen Behörden. R. … stimmte dem Nachzug ihres Mannes und ihrer Tochter … am 27. Dezember 2021 für sich und in der Funktion als Vertretungsberechtigte von K. … und M. … schriftlich zu.
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cc) Die in Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO geforderten humanitären Gründe liegen vor. Bei den genannten humanitären Gründen handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der auszulegen ist. Im Kontext der Dublin III-VO ist eine Auslegung geboten, die dem Grundgedanken der Wahrung der Einheit der Familie und der Wahrung des Kindeswohls verpflichtet ist, was sich insbesondere aus den Erwägungsgründen 13 bis 17 der Dublin III-VO entnehmen lässt. Das Gericht erkennt entgegen der Antragsgegnerin in der hier vorliegenden Situation auch eine Verdichtung des Ermessens hin zu einem Nachzugsanspruch der Antragsteller nach Deutschland.
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Eine Ermessensreduzierung auf Null ist dann anzunehmen, wenn über das regelmäßig bestehende Interesse von Personen an einer Familienzusammenführung konkret und im Einzelfall Umstände vorliegen, die die Annahme einer besonderen Härte begründen und jede andere Entscheidung als eine Zusammenführung der genannten Personen als unvertretbar erscheinen ließen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte spielen im Fall von Eltern mit Kindern und Geschwistern untereinander dabei insbesondere das Alter des Kindes, der Umfang der Bindung des Kindes zu Familienmitgliedern, mit denen es zusammengeführt werden soll, sowie der Umstand, ob das Kind unabhängig von seiner Familie eingereist ist, eine Rolle (vgl. EGMR, U.v. 30.7.2013 – Nr. 948/12 – BeckRS 2014, 80974 Rn. 56 [engl.]). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist die Schutzwürdigkeit eines minderjährigen Kindes aufgrund seines Lebensalters sowie die Frage, wie lange dieses in einem anderen Staat als seine Familienangehörigen gelebt hat, zu werten, wobei der EuGH in diesem Zusammenhang eine Altersgrenze von zwölf Jahren gebilligt hat (EuGH, U.v. 27.6.2006 – C-540/03 – NVwZ 2006, 1033 Rn. 73-75, allerdings zur Familienzusammenführungs-RL 2003/86/EG).
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Bei den Antragstellern, R. …, K. … und M. … handelt es sich um Familienangehörige einer Kernfamilie. Hieran hat auch die Antragsgegnerin keine Zweifel geäußert. Selbst wenn eine standesamtliche Eheschließung der Eltern nicht vorläge (s. Verfälschung der Tazkira), besteht die familiäre Verbindung über die gemeinsamen Kinder.
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Für den vorliegenden Fall kann dahinstehen, ob sich zu einem Anspruch verdichtete humanitäre Gründe schon allein daraus ergeben, dass die minderjährigen Kinder K. … (15 Jahre), … (12 Jahre) und M. … (3 Jahre) jeweils von einem der Elternteile getrennt leben, aber angesichts ihres Alters einen Anspruch auf eine Zusammenführung der Familie haben (vgl. hierzu zusammenfassend die Rechtsprechung der Kammer in Bezug auf das Kindesalter AN 17 E 21.50114, B.v. 18.6.2021 – juris Rn. 34). Hieran bestehen, da jedes Kind zumindest einen Elternteil bei sich hat und damit nicht völlig schutzlos gestellt ist, jedenfalls Zweifel (VG Ansbach, B.v. 5.5.2021 – AN 17 E 21.50066; B.v. 19.7.2019 – AN 18 K 19.50355 – jeweils juris).
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Dahinstehen kann auch, ob die unterschiedlichen gesundheitlichen Problemen der einzelnen Familienmitglieder eine Zusammenführung der Familie zwingend erfordern. Insofern ist anzumerken, dass klare und aktuelle medizinische Unterlagen, die eine gegenseitige Unterstützungsnotwendigkeit der Familienangehörigen eindeutig belegen würden, sich weder in den Behördenakten befinden, noch im Rahmen des Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO vorgelegt worden sind und insoweit damit wohl kein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht worden ist. Dass entsprechende Unterlagen nicht vorgelegt worden sind, erstaunt umso mehr und gibt auch Anlass zu Zweifeln an der Schwere der vorgetragenen Gesundheitsaspekte, als der Bericht des Dipl.-Psychologen … vom 7. Juli 2022 sich ausdrücklich auf ein entsprechendes Dokument stützt, nämlich auf einen Bericht der Fachärztin für Allgemeinmedizin … vom 20. Juni 2022, nach der R. … kaum noch in der Lage sei, sich um sich selbst und ihre Kinder zu kümmern.
25
Ein zu einem Nachzugsanspruch verdichteter Anspruch der Antragsteller ergibt sich zwischenzeitlich jedoch aus dem Umstand, dass die Trennung der Familie seit nunmehr über drei Jahren andauert und keine Aussicht auf eine Familienzusammenführung auf einem anderen Weg besteht, auch eine Familienzusammenführung außerhalb Deutschlands rechtlich nicht mehr möglich und durchsetzbar erscheint. Eine weitere Verzögerung der Familienzusammenführung gefährdet nach Einschätzung des Gerichts die kindliche Entwicklung jedenfalls der beiden jüngeren Kinder M. …, 3 Jahre, und …, 12 Jahre. Jüngere Kinder sind für ihr Wohlergehen und eine gesunde Entwicklung grundsätzlich auf beide Elternteile angewiesen. Eine jahrelange Trennung führt zu einer kaum rückgängig zu machende Entfremdung des Kindes vom getrenntlebenden Elternteil und damit zu einer dauerhaften Entwicklungsgefährdung und zu einer erheblichen Belastung für das Kind. In diesem Zusammenhang sind auch die gesundheitlichen physischen und psychischen Probleme der Kinder zu berücksichtigen, auch wenn sie für sich genommenen noch keine Schwere erreichen, die die Familienzusammenführung erfordern würde. Die gesundheitlichen Probleme (insbesondere die Gefährdung im Hinblick auf eine Anorexie für … und psychisch belastende Erlebnisse in der Vergangenheit in Griechenland) führen jedenfalls dazu, dass ein weiteres Abwarten nicht mehr verantwortbar ist.
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Die Trennungssituation wurde zwar nicht von der Antragsgegnerin geschaffen, sondern allein von den Kindseltern selbst. Die minderjährigen Kinder, zu deren Lasten eine solche Trennung geht und um deren Willen die Familienzusammenführung für notwendig erachtet wird, tragen hieran zum einen jedoch keine Verantwortung. Die unzumutbare Trennungssituation ist zu ihren Gunsten schnellstmöglich und ohne Zurechnung etwaiger elterlicher Verantwortung zu beenden (VG Ansbach, B.v. 6.4.2020 – AN 17 E 20.50103 – juris). Zum anderen war die Trennung der Ehepartner offensichtlich durch die Schwangerschaft von R. … bedingt und kann damit nicht als bewusste und freiwillige Entscheidung für eine Trennung, an der sich die Eltern billigerweise festhalten lassen müssten, gewertet werden.
27
Und schließlich ergibt sich aus der Sach- und Rechtslage und dem bisherigen Verfahrensgang die rechtliche Zuständigkeit der Antragsgegnerin für die sich in Deutschland aufhaltenden Familienmitglieder R. …, K. … und M. … und damit auch eine rechtliche Verantwortung der Antragsgegnerin im Hinblick auf die gesamte Familie. Durch die inhaltliche Entscheidung des Bundesamtes über die Asylanträge von R. …, K. … und M. … im Februar bzw. März 2021 hat das Bundesamt für diese Personen seine Zuständigkeit nach der Dublin III-VO anerkannt. Damit scheidet aber eine Rückführung der Teilfamilie nach Griechenland über die Dublin III-VO auf Dauer aus. Eine Wiederaufnahme nach der Dublin III-VO hat Griechenland am 2. August 2019 – wenn auch mit äußerst zweifelhafter Begründung – auch abgelehnt. Zu einem Remonstrationsverfahren ist es nach Aktenlage nicht gekommen, die Ablehnung Griechenlands wurde durch das Bundesamt vielmehr akzeptiert. Auch zu einem Schlichtungsverfahren wie es Art. 37 Dublin III-VO vorsieht, ist es wohl nicht gekommen. Was den in Deutschland geborenen M. … betrifft, wurde in Griechenland – naturgemäß – auch zu keinem Zeitpunkt ein Asylantrag gestellt. Eine Einbeziehung in das Verfahren der Mutter über Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO war nicht mehr möglich, da das Wiederaufnahmeverfahren für R. … und M. … im Zeitpunkt der Geburt des Sohnes bereits abgeschlossen war. Nach alledem ist von der Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland für die Asylverfahren von R. …, K. … und M. … und dem sich daraus ergebenden Verbleib der Teilfamilie in Deutschland auszugehen. Ob eine Rückkehr dieser Personen auf anderem Wege nach Griechenland in Frage kommt, ist hingegen zweifelhaft und jedenfalls ungeklärt und kommt kurzfristig nicht in Betracht. Hingegen ist, weil über die Asylanträge der Antragsteller in Griechenland noch nicht entschieden ist, eine Übernahme der Verfahren durch die Antragsgegnerin noch möglich. Da eine zeitnahe Familienzusammenführung geboten ist, diese kurzfristig rechtlich aber nur in Deutschland möglich ist, ergibt sich die Ermessenreduzierung auf Null für den Nachzug der Antragsteller nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO.
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b) Ein Anordnungsgrund ist ebenfalls gegeben. Er besteht in der Gefahr der jederzeit zu erwartenden inhaltlichen Entscheidung der griechischen Asylbehörde über die Asylanträge der Antragsteller und dem damit eingehenden Verlust ihres Rechts auf Durchführung ihrer Asylverfahren in Deutschland nach der Dublin III-VO. Da das Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nach der Dublin III-VO im vorliegend Fall bereits seit über drei Jahren andauert, kann angenommen werden, dass mit einer Entscheidung der griechischen Asylbehörde im nationalen Verfahren in Kürze zu rechnen ist, auch wenn offenbar noch kein Termin für eine Anhörung terminiert ist. Zwar ist anzunehmen, dass die griechischen Behörden diese Eilverfahren abwarten, für ein Hauptsacheverfahren mit wesentlich längerer Laufzeit kann dies aber realistischer Weise nicht mehr angenommen werden.
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Bei Vorliegen der Voraussetzungen besteht – unabhängig von den Regularien der Dublin III-VO – zwar ein Nachzugsrecht nach dem Aufenthaltsgesetz. Die damit verbundene, in der Regel längere Trennungszeit von Familienangehörigen ist erwachsenen Antragstellern nach der Rechtsprechung der Kammer durchaus zumutbar; dem Grundsatz, dass die Hauptsache im einstweiligen Rechtschutz grundsätzlich nicht vorweggenommen werden darf, kommt in diesem Fall grundsätzlich der Vorrang zu (vgl. VG Ansbach, B.v. 22.2.2021 – AN 17 E 21.50020; B.v. 1.4.2021 – AN 17 E 21.500079 – jeweils juris). Anders zu beurteilen ist dies jedoch hier, wo mit … und M. … zwei minderjährige und noch junge Kinder betroffen sind. Eine weitere Trennung von ihrer Mutter ist der 12jährigen … ebenso wenig zumutbar wie dem 3jährigen M. … eine weitere Trennung von seinem Vater, mit dem dieser zeitlebens noch nie eine Lebensgemeinschaft gebildet hat. Eine fortschreitende Entfremdung ist zu verhindern und eine Trennung kann unter Kindeswohlgesichtspunkten nicht mehr hingenommen werden. Die mit dieser Anordnung verbundene Vorwegnahme der Hauptsache ist vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung von Art. 19 Abs. 4 GG ausnahmsweise zulässig, zumal, wie sich aus den Ausführungen ergibt, eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen in der Hauptsache gegeben ist.
30
Die Kostenentscheidung des damit erfolgreichen Antrags beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG.
31
Die Entscheidung ist nach § 80 AsylG unanfechtbar.