Titel:
Außerordentliche Kündigung, Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses, Beendigung des Arbeitsverhältnisses, Dauer des Arbeitsverhältnisses, Ordentliche Kündigung, Erhebliche Pflichtverletzung, Verdachtskündigung, Streitbefangenheit, Kündigungsschutzklage, Ärztliche Bescheinigung, Abmahnung, arbeitsvertraglicher Pflichten, Interessenabwägung, Vertragspflichtverletzung, Ärztliche Untersuchung, Wiederholungsgefahr, Streitwertfestsetzung, Fristlose Kündigung, Weiterbeschäftigung, Verhaltensbedingte Kündigung
Schlagworte:
außerordentliche Kündigung, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, Abmahnung, soziale Rechtfertigung, Verdachtskündigung, verhaltensbedingte Kündigung, Interessenabwägung
Rechtsmittelinstanz:
LArbG Nürnberg, Urteil vom 23.02.2023 – 5 Sa 322/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 50970
Tenor
I. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 14.02.2022 aufgelöst worden ist.
II. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien auch nicht durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 04.04.2022 zum 31.08.2022 aufgelöst worden ist.
III. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
IV. Der Streitwert wird festgesetzt auf € 17.100,00.
V. Die Berufung wird nicht gesondert zugelassen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung vom 14.02.2022 sowie der ordentlichen Kündigung vom 04.04.2022 zum 31.08.2022.
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Der Kläger ist bei der Beklagten aufgrund des Arbeitsvertrags vom 22.12.2009 (Bl. 4 ff d. A.) seit 01.01.2010 als Abteilungsleiter für Heizung und Sanitär zu einem Bruttomonatsgehalt in Höhe von ... € beschäftigt.
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Bei der Beklagten handelt es sich um eine Pflege- und Gesundheitseinrichtung im Sinne des § 20a IfSG. Sie beschäftigt mehr als 10 Vollzeitarbeitnehmer.
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Der Kläger wurde – wie die anderen Mitarbeiter der Beklagten – mit Schreiben vom 03.01.2022 (Anlage B 1, Bl. 52 d.A.) angeschrieben, auf die eingeführte Impflicht gem. § 20 a Infektionsschutzgesetz (IfSG) hingewiesen und aufgefordert, bis spätestens 15.03.2022 „den Nachweis der Impfpflicht“ zu erbringen durch Eintrag im Mitarbeiterportal anhand eines Impfnachweises, eines Genesenennachweises oder „eines ärztlichen Zeugnisses über die medizinische Kontraindikation, aufgrund derer sie nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 geimpft werden können“.
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Der Kläger legte daraufhin am 28.01.2022 eine auf seinen Namen und seine Adresse ausgestellte „Bescheinigung einer vorläufigen Impfunfähgikeit gegen das Coronavirus SARSCoV-2“ vor (Anlage B 2, Bl. 53 d.A.). Als Aussteller dieser Bescheinigung, die das Datum 04.01.2022 trägt, geht die Ärztin hervor. In der Bescheinigung heißt es u.a., dass die ausstellende Ärztin aufgrund „ihrer ärztlichen Einschätzung und Bewertung der Angaben des Patienten“ nach „freiem Ermessen“ zu folgender Einschätzung komme:
„Dieser Patient muss vor einer Impfung mit Covid-19 Impfstoffen eine Überempfindlichkeit gegen einzelne Inhaltsstoffe von einem Facharzt für Allergologie überprüfen lassen. Eine Unverträglichkeit einzelner Bestandteile der aktuell zugelassenen Covid-19-Impfstoffe stellt eine endgültige Impfunfähigkeit dar.
Dieser Patient ist bis zum Vorliegen eines Impfstoff-Allergie-Gutachtens zeitlich begrenzt bis zum 06.07.2022 impfunfähig.“
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Weiter heißt es in der Bescheinigung, dass darüber hinaus die „konkrete Gefahr“ bestünde, dass der Patient neben verschiedenen leichten und mittelschweren Nebenwirkungen weitere im Einzelnen aufgeführte „schwere Impfnebenwirkungen erleben“ könne. Es heißt in der Bescheinigung unter der Überschrift „Ausschluss möglicher Impffolgen“ ferner, dass weder der Hersteller des jeweiligen Impfstoffs, „noch ich als begutachtender Arzt“ mit Sicherheit ausschließen könnten, dass es im Fall einer Impfung zu den genannten Impfnebenwirkungen kommen würde. Es bestünde darüber hinaus Lebensgefahr, weil „die Impfung auch tödliche Wirkungen haben könnte“. Wegen des Inhalts der Bescheinigung wird ergänzend auf die Anlage B 2 (Bl. 76 d.A.) Bezug genommen.
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Eine ärztliche Untersuchung oder ein persönlicher Kontakt des Klägers mit Frau xx hat nicht stattgefunden. Die von dem Kläger vorgelegte Bescheinigung wurde vielmehr durch ein Online-Portal automatisch erstellt. Dabei wurde nach Eingabe der persönlichen Daten und einer Online-Überweisung von 17,49 € ein Video mit Informationen über die Vor- und Nachteile der Impfungen abgespielt, das von dramatischer Musik unterlegt und u.a. eine Injektionsspritze auf einem Sarg, einen weinenden Mann und ängstliches Kind zeigt. Am Ende des Videos musste der User einen Impfstoff auswählen, den er bevorzugen würde und erhält daraufhin dessen Inhaltsstoffe angezeigt. Im Folgenden erscheint die Frage „Kannst du ausschließen, dass du gegen einen oder mehrere dieser Impfstoffe allergisch bist?“ Klickt der User, wie der Kläger, dann auf „Nein, kann ich nicht ausschließen“ oder „Ich bin mir nicht sicher, ob ich auf einen der genannten Stoffe allergisch reagiere“ sowie „Ich versichere, dass ich umfassend aufgeklärt wurde und meine Angaben wahrheitsgemäß und mit der gebotenen Sorgfalt gemacht habe“, wird automatisch eine für sechs Monate gültige „Bescheinigung einer vorläufigen Impfunfähigkeit“ erstellt, die eine vorgedruckte Unterschrift der Ärztin enthält.
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Die Beklagte richtete am 04.02.2022 ein Schreiben an den Kläger (Anlage B 5, Bl. 63 ff d.A.), in dem der Kläger gebeten wurde, sich zum Sachverhalt zu äußern. Der Kläger antwortete mit E-Mail vom 06.02.2022 (Anlage B 6, Bl. 66 d.A.), auf deren Inhalt Bezug genommen wird.
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Mit Schreiben vom 10.02.2022 hört die Beklagte den bei ihr bestehenden Betriebsrat zur geplanten außerordentlichen fristlosen Tathilfsweisen Verdachtskündigung aus verhaltensbedingten Gründen an. Wegen des Inhalts des Anhörungsschreibens wird auf die Anlage B 7 (Bl. 67 ff d.A.) Bezug genommen. Der Betriebsrat hat am 11.02.2022 mitgeteilt, dass er keine Bedenken gegen die Kündigung äußert.
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Mit Schreiben vom 14.02.2022 erklärte die Beklagte die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Hiergegen hat der Kläger mit Klage vom 18.02.2022, am gleichen Tag bei Gericht eingegangen und der Beklagten am 22.02.2022 zugestellt, Kündigungsschutzklage erhoben Mit Schreiben vom 23.03.2022 wurde der Betriebsrat zur geplanten hilfsweisen ordentlichen fristgemäßen Kündigung angehört. Wegen des Inhalts der Anhörung wird auf die Anlage B 8 (Bl. 72 ff d.A.) Bezug genommen.
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Mit Schreiben vom 04.04.2022 erklärte die Beklagte die Kündigung zum 31.08.2022. Insoweit hat der Kläger die Kündigungsschutzklage mit Schriftsatz vom 12.04.2022, der Beklagten am gleichen Tag zugestellt, erweitert.
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Der Kläger ist der Ansicht, dass die ausgesprochenen Kündigungen unwirksam seien. Der Kläger habe aufgrund des Schreibens der Beklagten vom 03.01.2022 einen Impfnachweis, einen Genesenennachweis oder ein ärztliches Zeugnis über eine medizinische Kontraindikation vorlegen wollen. Daraufhin habe er sich im Internet kundig gemacht und sei u.a. auf die Bescheinigung einer vorläufigen Impfunfähigkeit von Frau xx gestoßen. Bei Frau xx handele es sich um eine Ärztin, deren Approbation soweit ersichtlich nicht entzogen worden sei. Auch strafrechtlich sei sie nicht verurteilt, so dass sich die Frage stelle, welche Zweifel der Kläger hätte haben sollen. Es sei darauf hinzuweisen, dass der Kläger lediglich eine „vorläufige Impfunfähigkeitsbescheinigung“ vorgelegt habe. Er habe sich bereits am 05.02.2022 an die Uniklinik Erlangen bezüglich der Abklärung der zu erwartenden Immunreaktion gewandt und für den 23.08.2022 einen Termin erhalten. Der Kläger habe zu keinem Zeitpunkt die Absicht gehabt, die Beklagte zu täuschen.
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Der Kläger macht außerdem geltend, dass die Frist des § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten worden sei, weil er bereits am 20.01.2022 die Bescheinigung der vorläufigen Impfunfähigkeit bei seinem Vorgesetzten eingereicht habe. Die Frist für die außerordentliche Kündigung sei bereits am 03.02.2022 abgelaufen. Die Anhörung des Betriebsrats, die mit Nichtwissen bestritten werde, sei erst am 10.02.2022 und damit nach Ende der Frist des § 626 Abs. 2 BGB erfolgt. Auch die ordentliche Kündigung vom 04.04.2022 sei unwirksam, weil auch insoweit die Abmahnung das mildere Mittel gewesen wäre. Der Kläger habe auch zu keinem Zeitpunkt die Gesundheit anderer Arbeitnehmer, Patienten oder Bewohner gefährdet, da er in seinem Tätigkeitsfeld nicht mit Patienten in Kontakt käme. Der Kläger macht weiter sinngemäß geltend, dass die Beklagte nach dem IfSG die Möglichkeit gehabt hätte, das Gesundheitsamt zu informieren und dass der Stichtag für die Impfnachweise der 15.03.2022 gewesen sei, „ein Termin weit nach der Kündigung des Klägers.“
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Der Kläger beantragt zuletzt,
- 1.
-
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers bei der Beklagten nicht durch die fristlose Kündigung vom 14.02.2022 aufgelöst worden ist.
- 2.
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Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers bei der Beklagten nicht durch die fristlose Kündigung vom 04.04.2022 zum 31.08.2022 aufgelöst werden wird.
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Die Beklagte beantragt,
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Die Beklagte ist der Ansicht, dass die außerordentliche fristlose Kündigung vom 17.02.2022 wirksam sei. Der Kläger habe in grob pflichtwidriger Weise gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten verstoßen, da er durch die Vorlage der streitbefangenen vorläufigen Impfunfähigkeitsbescheinigung versucht habe, die Beklagte über das Vorliegen eines den Regelungen des § 20 a IfSG entsprechenden Nachweises zu täuschen. Dadurch habe er Maßnahmen von der Beklagten zum Schutz der Arbeitnehmer, Patienten und Bewohner gegen Covid19 gefährdet und das Vertrauensverhältnis zwischen den Parteien unwiederbringlich zerstört.
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Die Beklagte trägt vor, dass unter der auf der Bescheinigung angegebenen Adresse in der xx keine Arztpraxis zu finden sei, sondern ein Bürodienst, der dort laut Eigenwerbung „eine virtuelle Geschäftsadresse“ biete. Aus dem öffentlich zugänglichen Lebenslauf von Frau xx gehe hervor, dass diese seit 2011 nicht mehr als Ärztin arbeite. Gegen sie werde wegen des Verdachts des Ausstellens „unrichtiger Gesundheitszeugnisse“ ermittelt. Aus einer Meldung der Tagesschau seien Aussagen der Sprecher der Ärztekammern in Baden-Württemberg und Niedersachsen hervorgegangen, die beide von einem rechtswidrigen Vorgehen ausgingen und daher Ermittlungen durch die jeweils zuständige Staatsanwaltschaft eingeleitet hätten. Auch in weiteren Online-Meldungen, die am 30.12.2021 veröffentlicht worden seien, sei auf das rechtswidrige Vorgehen bei den durch Frau xx ausgestellten Bescheinigungen hingewiesen worden, so z.B. auf der Seite des SWR. Diese Meldungen seien zu dem Zeitpunkt, zu dem sich der Kläger die Bescheinigung einer vorläufigen Impfunfähigkeit ausstellen habe lassen, bereits veröffentlich und im Internet auf einfache Weise auffindbar gewesen. Die missbräuchliche Gestaltung der Bescheinigung sei offensichtlich und auch für den Kläger erkennbar gewesen.
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Die Beklagte ist der Ansicht, dass die Täuschung über den Immunitätsnachweis einen wichtigen Grund gem. § 626 Abs. 1 BGB darstelle und verweist hierzu auf eine Entscheidung des Arbeitsgerichts Lübeck vom 13.04.2022 (5 Ca 189/22). Hilfsweise sei die Kündigung als außerordentliche Verdachtskündigung wirksam. Äußerst hilfsweise sei das Arbeitsverhältnis durch die hilfsweise erklärte ordentliche Tat – bzw. Verdachtskündigung vom 04.04.2022 zum 31.08.2022 beendet worden, die die Beklagte ebenfalls darauf stützt, dass der Kläger die Beklagte über das Bestehen der Impfunfähigkeit zu täuschen versucht habe bzw. der dringende Verdacht der versuchten Täuschung vorliege.
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Wegen des weitergehenden Sachvortrags wird auf die wechselseitig eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen. Bezug genommen wird auch auf die Sitzungsprotokolle vom 01.04.2022 (Bl. 16/17 d.A.) und vom 27.07.2022 (Bl. 116 ff d.A.) sowie den Akteninhalt im Übrigen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist hinsichtlich der zuletzt gestellten Klageanträge zulässig und begründet. Weder die außerordentliche Kündigung vom 14.02.2022 noch die ordentliche Kündigung vom 04.04.2022 zum 31.08.2022 sind wirksam.
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Die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 14.02.2022 ist unwirksam und hat das Arbeitsverhältnis der Parteien daher nicht aufgelöst. Ein wichtiger Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB liegt nicht vor. Zwar hat der Kläger mit der Vorlage der streitbefangenen „vorläufigen Impfbescheinigung“ seine arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt. Die außerordentliche Kündigung erweist sich aber unverhältnismäßig, weil das mildere Mittel der Abmahnung als Reaktion auf das Fehlverhalten des Klägers ausreichend und der Beklagten zumutbar gewesen wäre. Da bereits die Tatkündigung unverhältnismäßig war, vermag der Verdacht der dem Kläger vorgeworfenen Pflichtverletzung eine außerordentliche Kündigung (erst recht) nicht zu rechtfertigen.
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1. Gemäß § 626 Abs. 1 BGB kann das Arbeitsverhältnis aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, aufgrund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. Dafür ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände „an sich“, das heißt typischerweise als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der weiteren Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile – jedenfalls bis zum Ablauf der (ggf. fiktiven) Kündigungsfrist – zumutbar ist oder nicht (vgl. etwa BAG vom 13.12.2018 – 2 AZR 370/18, NJW 2019, 1161, Rn.15). Absolute Kündigungsgründe, die ohne eine besondere Interessenabwägung eine außerordentliche Kündigung rechtfertigen könnten, bestehen im Anwendungsbereich des § 626 Abs. 1 folglich nicht (Ascheid/Preis/Schmidt/Vossen, 6. Aufl. 2021, BGB § 626 Rn. 58 mwN).
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2. Bei der Prüfung im Rahmen des § 626 Abs. 1 BGB, ob dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers trotz Vorliegens einer erheblichen Pflichtverletzung jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist, ist in einer Gesamtwürdigung das Interesse des Arbeitgebers an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen das Interesse des Arbeitnehmers an dessen Fortbestand abzuwägen (vgl. BAG aaO, Rn. 28). Es hat eine Bewertung des Einzelfalls unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Dabei lassen sich die Umstände, anhand derer zu beurteilen ist, ob dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung zumindest bis zum Ende der Frist für eine ordentliche Kündigung zumutbar war oder nicht, nicht abschließend festlegen. Zu berücksichtigen sind aber regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen einer Vertragspflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf. Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind. Sie scheidet aus, wenn es ein „schonenderes“ Gestaltungsmittel – etwa Abmahnung, Versetzung, ordentliche Kündigung – gibt, das ebenfalls geeignet ist, den mit einer außerordentlichen Kündigung verfolgten Zweck – nicht die Sanktion des pflichtwidrigen Verhaltens, sondern die Vermeidung des Risikos künftiger Störungen des Arbeitsverhältnisses – zu erreichen. Der Grad des Verschuldens des Arbeitnehmers ist im Rahmen der Interessenabwägung insbesondere hinsichtlich einer möglichen Wiederholungsgefahr von Bedeutung. Je höher er ist, desto größer ist diese (vgl. BAG aaO, Rn. 29).
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3. Nach diesen Grundsätzen liegt ein wichtiger Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB im Streitfall nicht vor.
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a) Allerdings hat der Kläger mit der Vorlage der streitbefangenen „vorläufigen Impfunfähigkeitsbescheinigung“ gegen ihre arbeitsvertraglichen Pflichten iSd. § 241 Abs. 2 BGB verstoßen, so dass sein Verhalten „an sich“ geeignet ist, einen wichtigen Grund iSd. § 626 Abs. 1 BGB abzugeben. Die Beklagte, bei der gem. § 20a Abs. 1 IfSG seit 15.03.2022 die sog. einrichtungsbezogene Impfpflicht gilt, war im Hinblick auf § 20a Abs. 2 IfSG grundsätzlich berechtigt (und gehalten), Mitarbeiter, die – wie der Kläger – zum Stichtag bereits in ihrer Einrichtung beschäftigt waren, aufzufordern, eines der in § 20a Abs. 2 S. 1 Nrn. 1-4 IfSG aufgezählten Dokumente bis 15.03.2022 vorzulegen. Der Kläger durfte zum Nachweis einer Impfunfähigkeit keine ärztliche Bescheinigung vorlegen, die nicht nur ohne Untersuchung, sondern sogar ohne jeglichen persönlichen Kontakt mit dem ausstellenden Arzt zustande gekommen ist. Dem Kläger musste sich auf Grund der Art und Weise, wie die Bescheinigung zustande gekommen ist, geradezu aufdrängen, dass diese nicht geeignet war, festzustellen, ob er tatsächlich impfunfähig iSd. § 20a Abs. 2 S. 1 Nr. 4 IfSG ist, sondern allein den von der „ausstellenden“ Ärztin offensichtlich verfolgten Zweck dienen sollte, es dem Betroffenen zu ermöglichen, die einrichtungsbezogene Impflicht unabhängig einer tatsächlich festgestellten Impfunfähigkeit (zumindest vorläufig) zu umgehen.
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b) Gleichwohl hält die außerordentliche Kündigung der Interessenabwägung im Einzelfall nicht stand. Der Beklagten war es zuzumuten, mit einer Abmahnung auf das Fehlverhalten des Klägers zu reagieren, so dass ihr ein milderes Mittel zur Verfügung stand und sich die Kündigung als unverhältnismäßig erweist.
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aa) Beruht die Vertragspflichtverletzung auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann. Ordentliche und außerordentliche Kündigung wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen deshalb regelmäßig eine Abmahnung voraus. Einer solchen bedarf es nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist (vgl. BAG aaO, Rn. 30).
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bb) Danach war vorliegend eine Abmahnung nicht ausnahmsweise entbehrlich.
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(1) Es ist nicht ex ante erkennbar, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach Abmahnung bei dem Kläger nicht zu erwarten gestanden hätte. Er hat sich insbesondere nicht hartnäckig uneinsichtig gezeigt. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass sich der Kläger eine Abmahnung nicht hätte zur Warnung gereichen lassen.
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(2) Die Pflichtverletzung war auch nicht so schwerwiegend, dass der Beklagten eine Abmahnung unzumutbar war.
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(a) Insoweit ist zu Gunsten des Klägers berücksichtigen, dass aus der Bescheinigung hervorgeht, auf welcher Grundlage sie erstellt wurde. Es ist erkennbar, dass die attestierte vorläufige Impfunfähigkeit nicht im Rahmen einer ärztlichen Untersuchung diagnostiziert wurde, sondern damit begründet wird, dass erst noch eine Überprüfung gegen eine Überempfindlichkeit gegen einzelne Inhaltsstoffe durch einen Facharzt erfolgen müsse. Es geht ferner hervor, dass auch die im Einzelnen aufgeführten schweren Impfnebenwirkungen nicht auf Grund einer ärztlichen Untersuchung positiv festgestellt wurden, sondern dass diese durch die ausstellende Ärztin lediglich nicht „mit Sicherheit ausgeschlossen“ werden konnten. Die Bescheinigung täuscht damit nicht vor, dass auf Grund einer ärztlichen Untersuchung positiv festgestellt wurde, dass der Kläger auf Grund einer medizinischen Kontraindikation nicht gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 geimpft werden kann. Vielmehr wird durch das Dokument lediglich bescheinigt, dass die ausstellende Ärztin von einer „vorläufigen Impfunfähigkeit“ ausgeht, weil noch keine fachärztliche Überprüfung gegen eine Überempfindlichkeit gegen einzelne Inhaltsstoffe stattgefunden hat und schwere Impfnebenwirkungen nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden können. Diese ausdrücklich aufgeführten Entscheidungsgrundlagen sind für sich genommen nicht nachweislich falsch.
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(b) Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass nicht ersichtlich ist (und von der Beklagten auch nicht dargetan wurde), dass Frau xx zum Zeitpunkt der Erstellung der Bescheinigung über keine Approbation verfügt hat.
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(c) Ferner ist zu berücksichtigen, dass der Beklagten die Möglichkeit offenstand, die ersichtlich zweifelhafte Bescheinigung des Klägers nicht zu akzeptieren und nach § 20a Abs. 2 S. 2 IfSG die gesetzlich ausdrücklich vorgesehene Möglichkeit hatte, unverzüglich das Gesundheitsamt, über die Zweifel zu benachrichtigen. Auch hat die Vorlage eines zweifelhaften oder unrichtigen Nachweises kein automatisches Beschäftigungsverbot zur Folge. Dieses tritt vielmehr nur ein, wenn das Gesundheitsamt dieses anordnet (vgl. § 20a Abs. 5 S. 3 IfSG).
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(d) Nach alldem war die Pflichtverletzung des Klägers zwar erheblich, aber nicht so schwerwiegend, dass es für ihn erkennbar war, dass deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich ausgeschlossen war.
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4. Da die außerordentliche Kündigung als Tatkündigung unverhältnismäßig ist, kann sie sich auch nicht als Verdachtskündigung als rechtswirksam erweisen, denn der bloße Verdacht einer Pflichtverletzung kann keine weiterreichenden kündigungsrechtlichen Wirkungen haben als der tatsächliche Pflichtenverstoß (vgl. etwa BAG vom 10. 12. 2009 – 2 AZR 534/08, NZA 2010, 698, 701).
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Die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung vom 04.04.2022 ist ebenfalls – sowohl als Tat-, als auch als Verdachtskündigung – unwirksam und zwar, weil sie sozial ungerechtfertigt iSd. § 1 Abs. 2 KSchG ist. Das KSchG findet vorliegend gem. § 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 KSchG Anwendung. In dessen Anwendungsbereich ist eine verhaltensbedingte Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn – wie vorliegend unter I 3 b der Entscheidungsgründe ausgeführt – eine Abmahnung geeignet und dem Arbeitgeber zumutbar gewesen wäre, um auf die Pflichtverletzung des Arbeitnehmers zu reagieren (vgl. etwa BAG vom 5.12.2019 – 2 AZR 240/19 NZA 2020, 646 Rn. 75). Auch insoweit gilt, dass der bloße Verdacht einer Pflichtverletzung keine weiterreichenden kündigungsrechtlichen Wirkungen als der tatsächliche Pflichtenverstoß haben kann.
37
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO.
38
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 61 Abs. 1 ArbGG iVm. § 42 Abs. 2 GKG.
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Es bestand kein gesetzlich begründeter Anlass, die Berufung gesondert zu zulassen. Diese ist jedoch nach Maßgabe des § 64 Abs. 2 Buchst b ArbGG ohnehin statthaft.