Titel:
Abstandsflächenverstoß, Abstandsflächentiefe, Abstandsflächenrecht, Beiladung, Rücksichtnahmegebot, Nachbargrundstück, Erteilte Baugenehmigung, Nachbarliche Rücksichtnahme, Grundstücksgrenze, Nachbarrechtlicher, Überbaubare Grundstücksfläche, Atypische Grundstückssituation, Benachbarte Grundstücke, Grundstückseigentümer, Angrenzende Grundstücke, Eigenes Grundstück, Verwaltungsgerichte, Nachbarliche Belange, Nachbarschützende Vorschrift, Wohngebäude
Schlagworte:
Abstandsflächen, Baugenehmigung, Klage, Genehmigungsfähigkeit, Nachbarrecht, Nachbarschutz, Abstandsflächenüberschreitung, Treu und Glauben, Abstandsflächenverstoß, Rücksichtnahmegebote, planungsrechtliche Zulässigkeit, Verschattungswirkung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 11.08.2023 – 15 ZB 22.1617
Fundstelle:
BeckRS 2022, 50740
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlicher Kosten der Beigeladenen hat der Kläger zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich mit der Klage gegen eine der Beigeladenen von der Beklagten erteilte Baugenehmigung sowie eine zu der Baugenehmigung erteilte Tekturgenehmigung.
2
Der Kläger ist Eigentümer des Grundstückes Fl.Nr. 21 der Gemarkung *. Das Grundstück ist mit einem dreigeschossigen Mehrfamilienwohnhaus bebaut. Für das nach dem 2. Weltkrieg wiederaufgebaute Wohngebäude gibt es Baupläne vom Juli 1950, die mit dem Vermerk „geprüft 22.12.50 Bauaufsichtsamt“ und „neuerlich geprüft, den 21.1.56, Bauaufsichtsamt“ versehen sind. Unter den vorgelegten Planunterlagen befindet sich auch ein Lageplan mit der Situierung des Wohngebäudes auf dem Grundstück, der mit dem Vermerk „11.01.51 Bauaufsichtsamt“ versehen ist. Des Weiteren liegt ein am 1. Februar 1957 von der Beklagten bauaufsichtlich genehmigter Plan zum Einbau einer Wohnung in das Dachgeschoss des Gebäudes vor.
3
Die Beigeladene ist Eigentümerin des westlich an das Grundstück des Klägers angrenzenden Grundstückes Fl.Nr. 20. Auf dem Grundstück befindet sich eine sechsgeschossige Wohnanlage, die mit Bescheid der Beklagten vom 8. April 1963 bauaufsichtlich genehmigt worden ist.
4
Mit Bescheid vom 12. April 2019 hat die Beklagte der Beigeladenen eine Baugenehmigung für die Erweiterung der an der Westseite ihres Gebäudes befindlichen Balkone erteilt.
5
Am 6. November 2019 hat die Beigeladene bei der Beklagten für ihre Wohnanlage die Erteilung einer Baugenehmigung für den Abbruch des bestehenden Dachstuhls und den Neubau des Dachgeschosses mit dem Einbau von drei Wohnungen beantragt.
6
Am 31. August 2020 erließ die Beklagte zu dem Bauantrag unter dem Az.: X folgenden
8
1. Das Bauvorhaben wird nach Maßgabe dieses Bescheides und der beiliegenden geprüften Bauvorlagen genehmigt.
9
Die angefügten Beiblätter sind Bestandteil dieses Bescheides.
Entscheidungsgründe
13
1. Das Wohngebäude widerspricht im nördlichen Teilbereich wegen seiner Lage zur östlichen Grundstücksgrenze den Abstandsflächenvorschriften in Art. 6 Abs. 2 BayBO.
14
Danach muss zur vorgenannten Grundstücksgrenze eine Abstandsflächentiefe von 19,535 m (vorhanden jedoch nur 5,00 m bzw. 9,50 m) eingehalten werden.
15
2. Mit der nördlichen Abstandsfläche des Wohngebäudes wird die Mitte der Verkehrsfläche der A*straße überschritten.
16
Dies widerspricht den Vorschriften in Art. 6 Abs. 2 BayBO.
17
3. Das Wohngebäude widerspricht wegen seiner Lage zur südlichen Grundstücksgrenze den Abstandsflächenvorschriften in Art. 6 Abs. 2 BayBO.
18
Danach muss zur vorgenannten Grundstücksgrenze eine Abstandsflächentiefe von 19,535 m (vorhanden jedoch nur 2,50 m) eingehalten werden.
19
4. Mit der westlichen Abstandsfläche des Wohngebäudes wird die Mitte der öffentlichen Verkehrsfläche der B*straße überschritten.
20
Dies widerspricht den Vorschriften in Art. 6 Abs. 2 BayBO.
21
Von den vorgenannten Anforderungen werden gem. Art. 63 Abs. 1 BayBO Abweichungen zugelassen, weil diese mit den Anforderungen des Abstandsflächenrechts unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind.
22
Die gesetzlichen Anforderungen der Vorschriften, von denen abgewichen wird, sollen folgende Belange schützen: Belichtung, Belüftung, Besonnung, Brandschutz und Wohnfrieden.
23
Die Abweichungen sind mit den öffentlichen Belangen vereinbar.
24
Die direkt betroffene Nachbarschaft hat dem Vorhaben nicht zugestimmt. Ihre Belange sind objektiv zu würdigen.
25
Das bestehende sechsgeschossige Wohngebäude verfügt im Bestand über eine Mansarddachkonstruktion, die im unteren Bereich von der Traufe ab nahezu im 90 Grad Winkel ca. 1,50 m nach oben ragt. Anschließend ist ein flach geneigtes Walmdach aufgesetzt. Der sich ergebende Dachraum ist im Bestand nicht ausgebaut.
26
In diesem bauordnungsrechtlichen Verfahren wurde der Abbruch der bestehenden Dachkonstruktion sowie der Neubau eines Dachgeschosses auf das bestehende Wohngebäude beantragt. Die neu geplante Dachkonstruktion entspricht einem konventionellen Walmdach, das direkt auf der bestehenden Traufe aufgesetzt wird. Der neu entstehende Dachraum soll zu drei zusätzlichen Wohneinheiten ausgebaut werden.
27
Die durch die Änderung der Dachkonstruktion neu anfallenden Abstandsflächen vergrößern sich im Vergleich zum Bestand in der Tiefe lediglich um ca. 1,26 m.
28
Bereits das Bestandswohngebäude hält die Vorschriften des Abstandsflächenrechts gem. Art. 6 BayBO nicht ein.
29
Somit ergeben sich die obengenannten Abweichungen.
30
Ein Teil der östlichen Abstandsfläche fällt auf das benachbarte Grundstück Fl.Nr. 21.
31
Dies ergibt sich auch durch die Atypik des Grundstückszuschnittes. Die östliche Grundstücksgrenze des Baugrundstückes weist einen Versprung nach Osten auf, sodass das nördliche Drittel des Grundstückes deutlich schmaler ist als der südliche Bereich des Grundstückes.
32
Dabei ist außerdem zu beachten, dass auch die Bebauung des Nachbargrundstückes Fl.Nr. 21 die Vorschriften des Abstandsflächenrechts nicht einhält. Die benachbarten Grundstücke belasten sich gegenseitig bereits im Bestand, sodass eine geringfügige Änderung der anfallenden Abstandsflächen des bestehenden Gebäudes noch als verträglich einzustufen ist.
33
Die nachbarrechtlich geschützten Belange wie Belichtung, Besonnung, Belüftung werden nicht wesentlich verschlechtert.
34
Um den Wohnfrieden zu wahren, wurde das Vorhaben im Zuge des bauordnungsrechtlichen Verfahrens insoweit geändert, dass anstatt der zunächst beantragten vier neuen Wohneinheiten nun nur drei neue Wohnungen entstehen. Der nord-östliche Bereich des geplanten Dachgeschosses wird lediglich als Abstellraum ohne Dachflächenfenster ausgebaut, damit sich der Sozialabstand zum Nachbargebäude nicht verschlechtert.
35
Die nördliche Abstandsfläche fällt bereits im Bestand über die Straßenmitte der A*straße. Die Mehrung der Tiefe der neu anfallenden Abstandsflächen von lediglich ca. 1,26 m verursacht keine Verschlechterung der Nachbarbelange des betroffenen Grundstückes Fl.Nr. 77 auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
36
Die A*straße weist eine Breite von ca. 12,00 m auf und zudem ist die Bebauung auf der gegenüberliegenden Straßenseite ca. 9,00 m von der straßenseitigen Grundstücksgrenze abgerückt.
37
Die südliche Abstandsfläche fällt zu einem Teil auf das Nachbargrundstück Fl.Nr. 33. Dabei ist zu beachten, dass bereits im Bestand auch die Abstandsflächen des Nachbargebäudes auf das Baugrundstück fallen. Die Erteilung einer Abweichung für die sich durch die Änderung der Dachkonstruktion ergebenden Mehrung der Abstandsflächen ist vertretbar, da sich für das Nachbargrundstück dadurch die Situation nicht wesentlich verschlechtert.
38
Die westliche Abstandsfläche des Wohngebäudes fällt über die Straßenmitte der B*straße.
39
Eine Beeinträchtigung des Grundstückes Fl.Nr. 18/8 auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist nicht gegeben, da die dortige Bebauung ca. 20 m von der Straßenkante abgerückt ist. Die nachbarrechtlichen Belange bleiben gewahrt.
40
Insgesamt entsteht für die betroffene Nachbarschaft keine Situation, die den Zielsetzungen der gesetzlichen Vorschriften zuwiderlaufen würde.
41
Das Gebot der Rücksichtnahme wird nicht verletzt.
42
Da sich durch die Änderung der Dachkonstruktion die anfallenden Abstandsflächen nicht wesentlich ändern und gleichzeitig die Schaffung von neuem Wohnraum im Stadtgebiet erforderlich ist, konnten die Abweichungen ermessensfehlerfrei zugelassen werden.
43
Einerseits sind die öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange nicht schwer betroffen und andererseits erfordert die tatsächliche Situation die Abweichungen.
44
Der Bescheid wurde am 1. September 2020 an die Eigentümer der Nachbargrundstücke versandt.
45
Mit Schreiben vom 30. September 2020, eingegangen bei Gericht am selben Tag, hat der Kläger Klage erhoben und beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 31. August 2020, Az.: X, aufzuheben.
46
Die Beklagte hat mit Schreiben vom 19. Oktober 2019 beantragt, die Klage abzuweisen.
47
Am 23. Dezember 2020 beantragte die Beigeladene bei der Beklagten als Tekturgenehmigung zur Baugenehmigung vom 31. August 2020 die Erteilung einer Baugenehmigung für den Anbau von Balkonen sowie die Erweiterung des Wohnraumes für die Wohnanlage auf dem Grundstück Fl.Nr. 20.
48
Der Kläger hat seine Klage mit Schreiben vom 25. Januar 2021 im Wesentlichen wie folgt begründet.
49
Das Bauvorhaben füge sich nicht nach § 34 BauGB in die nähere Umgebung ein. Die maßgebliche nähere Umgebung sei geprägt durch Mehrfamilienhäuser sowie Doppel- und Reihenhäuser. Dabei handle es sich um Gebäude mit maximal drei Geschossen plus Dachgeschoss. Das sechsgeschossige Mehrfamilienhaus der Beigeladenen stelle bereits im Bestand einen Fremdkörper dar. Dieser Eindruck werde durch den genehmigten Dachgeschossausbau mit drei neuen Wohneinheiten verstärkt. Darüber hinaus lasse das Vorhaben auch die erforderliche Rücksicht auf die in seiner Umgebung vorhandene Bebauung vermissen.
50
Bereits das vorhandene Wohngebäude halte die bauordnungsrechtlich erforderlichen Abstandsflächen nicht ein. Durch die Änderung der Dachkonstruktion vergrößere sich die einzuhaltende Abstandsfläche im Vergleich zum Bestand nochmals um 1,26 m. In Bezug auf die Genehmigungsfähigkeit sei daher eine erneute Gesamtbetrachtung der Abstandsflächen erforderlich. Die Voraussetzungen für die Erteilung der Abweichungen von den Abstandsflächenvorschriften lägen aber nicht vor. Die Begründung der Abweichung durch die Beklagte beschränke sich auf die pauschale Argumentation, dass eine atypische Grundstückssituation gegeben sei, bereits jetzt ein gegenseitiger Abstandsflächenverstoß vorliege und sich durch die genehmigte Aufstockung nur eine geringfügige Änderung der Abstandsflächen ergebe. Die Beklagte verkenne bereits die Voraussetzungen für das Vorliegen einer atypischen Grundstückssituation, die nur dann in Betracht komme, wenn nur durch die Zulassung einer Abweichung eine sinnvolle und angemessene Nutzung des Grundstückes möglich sei. Das wirtschaftliche Interesse der Beigeladenen, das Grundstück stärker zu nutzen, begründe aber gerade keine Atypik. Sofern die Beklagte geltend mache, dass auch der Kläger seinerseits die Abstandsflächen nicht einhalte, verkenne die Beklagte, dass der Kläger lediglich zu den Grundstücken Fl.Nrn. 22 und 22/1 die erforderlichen Abstandsflächen nicht einhalte und diese Abstandsflächenüberschreitung erst nach Errichtung des Gebäudes des Klägers wegen der Abtretung von Teilflächen an die Nachbarn eingetreten sei. Aufgrund der Missachtung der Abstandsflächen sei eine ausreichende Belichtung, Belüftung und Besonnung nicht gegeben.
51
Darüber hinaus seien die erteilten Abweichungen auch mit Art. 3 BayBO nicht zu vereinbaren. Danach seien Anlagen so zu errichten, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere Leben und Gesundheit nicht gefährdet würden. Durch die erneute Abstandsflächenüberschreitung seien die Belange des Brandschutzes nicht erfüllt.
52
Die Beklagte ist der Klagebegründung mit Schreiben vom 18. Februar 2021 im Wesentlichen wie folgt entgegengetreten.
53
Der Neubau des Dachgeschosses füge sich sehr wohl in die nähere Umgebung ein. Es liege bereits keine homogene Umgebungsbebauung vor. Der Gebäudebestand mit dem genehmigten Dachgeschoss weiche hinsichtlich seiner Höhe, Geschossigkeit und Ausdehnung auch nicht derart von der vorhandenen Bebauung ab, dass man davon ausgehen müsse, dass ein Fremdkörper vorliege oder sich das Vorhaben jedenfalls nicht in die nähere Umgebung einfüge.
54
Die Voraussetzungen für einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme lägen unter Berücksichtigung der jeweiligen Firsthöhen der Gebäude auf dem Grundstück Fl.Nr. 21 des Klägers und dem Baugrundstück Fl.Nr. 20 unter Berücksichtigung des vorhandenen Abstandes zwischen den Gebäuden zwischen 9 m und 12 m nicht vor.
55
Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften lägen vor. Zum einen sei von einer atypischen Grundstückssituation auszugehen, die sich aus dem Grundstückszuschnitt ergebe. Im Übrigen wirke sich die weitergehende Verkürzung der Abstandsfläche nur geringfügig auf die Wohnverhältnisse der Bewohner des Wohngebäudes auf dem klägerischen Grundstück aus.
56
Am 30. April 2021 erließ die Beklagte unter dem Az.: Y folgenden
58
1. Das Bauvorhaben wird nach Maßgabe dieses Bescheides und der beiliegenden geprüften Bauvorlagen genehmigt.
59
Die angefügten Beiblätter sind Bestandteil dieses Bescheides.
63
Bei diesem Antrag handelt es sich um eine Tektur zum bereits mit Bescheid vom 31. August 2020 genehmigten Vorhaben, Az.: X.
64
Diese Tektur behandelt die Erweiterung des Wohnraumes um 1,40 m vom Erdgeschoss bis zum 5. Obergeschoss im Bereich der alten Balkone auf der Westseite des Wohnhauses.
65
Zusätzlich werden neue Vorsatzbalkone an der Westfassade des Gebäudes angebaut. Durch die Tektur verändern/mehren sich die anfallenden Abstandsflächen auf der Nord-, West-, und Südseite des Vorhabens.
66
Im Folgenden werden die erforderlichen Abweichungen für die Mehrung der Abstandsflächen im Vergleich zur ursprünglichen Genehmigung erteilt.
67
1. Mit der nördlichen Abstandsfläche des Wohngebäudes wird die Mitte der öffentlichen Verkehrsfläche der A*straße überschritten.
68
Dies widerspricht den Vorschriften in Art. 6 Abs. 2 BayBO.
69
2. Mit der nördlichen Abstandsfläche der Balkonanlage wird die Mitte der öffentlichen Verkehrsfläche der A*straße überschritten.
70
Dies widerspricht den Vorschriften in Art. 6 Abs. 2 BayBO.
71
3. Das Wohngebäude widerspricht wegen seiner Lage zur südlichen Grundstücksgrenze den Abstandsflächenvorschriften in Art. 6 Abs. 2 BayBO.
72
Danach muss zur vorgenannten Grundstücksgrenze eine Abstandsflächentiefe von 19.535 m (vorhanden jedoch nur 2.50 m) eingehalten werden.
73
4. Die Balkonanlage widerspricht wegen ihrer Lage zur südlichen Grundstücksgrenze den Abstandsflächenvorschriften in Art. 6 Abs. 2 BayBO. Danach muss zur vorgenannten Grundstücksgrenze eine Abstandsflächentiefe von 16.225 m (vorhanden jedoch nur 3,00 m) eingehalten werden.
74
5. Mit der westlichen Abstandsfläche des Wohngebäudes wird die Mitte der öffentlichen Verkehrsfläche der B*straße überschritten.
75
Dies widerspricht den Vorschriften in Art. 6 Abs. 2 BayBO.
76
Von den vorgenannten Anforderungen werden gem. Art. 63 Abs. 1 BayBO Abweichungen zugelassen, weil diese mit den Anforderungen des Abstandsflächenrechts unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen vereinbar sind.
77
Die gesetzlichen Anforderungen der Vorschriften, von denen abgewichen wird, sollen folgende Belange schützen: Belichtung, Belüftung, Besonnung, Brandschutz und Wohnfrieden.
78
Die Abweichungen sind mit den öffentlichen Belangen vereinbar.
79
Die direkt betroffene Nachbarschaft hat dem Vorhaben nicht zugestimmt. Ihre Belange sind objektiv zu würdigen.
80
Die nachbarrechtlich geschützten Belange bezüglich Brandschutz, Belichtung, Besonnung, Belüftung und Wohnfrieden sind gewahrt, da sich die nachbarrechtliche Situation wie folgt darstellt.
81
Die nördliche Abstandsfläche fällt bereits im Bestand über die Straßenmitte der A*straße. Die Mehrung der Breite der anfallenden Abstandsflächen von lediglich 1,40 m verursacht keine Verschlechterung der Nachbarbelange des betroffenen Grundstückes Fl.Nr. 77 auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
82
Die A*straße weist eine Breite von ca. 12,00 m auf und zudem ist die Bebauung auf der gegenüberliegenden Straßenseite ca. 9,00 m von der straßenseitigen Grundstücksgrenze abgerückt.
83
Die südliche Abstandsfläche fällt zu einem Teil auf das Nachbargrundstück Fl.Nr. 33. Dabei ist zu beachten, dass bereits im Bestand auch die Abstandsflächen des Nachbargebäudes auf das Baugrundstück fallen. Die Erteilung einer Abweichung für die sich durch die Wohnraumerweiterung und den Anbau der Balkone ergebene Mehrung der Abstandsflächen ist vertretbar, da sich für das Nachbargrundstück dadurch die Situation nicht wesentlich verschlechtert.
84
Die westliche Abstandsfläche des antragsgegenständlichen Wohngebäudes fällt über die Straßenmitte der B*straße.
85
Eine Beeinträchtigung des betroffenen Grundstückes auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist nicht gegeben, da die dortige Bebauung ca. 20 m von der Straßenkante abgerückt ist. Die nachbarrechtlich geschützten Belange bleiben gewahrt.
86
Somit sind einerseits die öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange nicht schwer betroffen und andererseits erfordert die tatsächliche Situation die Abweichungen.
87
Insgesamt entsteht für die betroffene Nachbarschaft keine Situation, die den Zielsetzungen der gesetzlichen Vorschriften zuwiderlaufen würde.
88
Das Gebot der Rücksichtnahme wird nicht verletzt.
89
Der Bescheid wurde am 1. September 2020 an die Eigentümer der Nachbargrundstücke versandt.
90
Der Kläger hat mit Schreiben vom 28. Mai 2021 bzw. 1. Juni 2021 den Tekturbescheid vom 30. April 2021 in das Klageverfahren einbezogen und hat zuletzt beantragt,
91
die Baugenehmigung vom 31. August 2020 in der Fassung der Tekturgenehmigung vom 30. April 2021 aufzuheben.
92
Die Beklagte hat zuletzt mit Schreiben vom 16. Juni 2021 beantragt,
93
die Klage gegen die Baugenehmigung vom 31. August 2020 in der Fassung der Tekturgenehmigung vom 30. April 2021 abzuweisen.
94
Am 7. April 2022 fand die mündliche Verhandlung vor Gericht statt.
95
Die Beigeladene hat in der mündlichen Verhandlung beantragt,
97
Ergänzend wird auf die vorgelegte Akte und die Gerichtsakte sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
98
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger kann sich nicht darauf berufen, dass er durch die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 31. August 2020 in der Fassung der Tekturgenehmigung vom 30. April 2021 in nachbarschützenden Rechten verletzt wird (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
99
1. Die Baugenehmigung ist im vereinfachten Genehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO erteilt worden, in dem die Bauaufsichtsbehörde die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 bis 38 BauGB, Art. 59 Satz 1 Nr. 1a BayBO, den Vorschriften über Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO, Art. 59 Satz 1 Nr. 1b BayBO, den Regelungen örtlicher Bauvorschriften i.S.d. Art. 81 Abs. 1 BayBO, Art. 59 Satz 1 Nr. 1c BayBO, beantragte Abweichungen i.S.d. Art. 63 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 BayBO, Art. 59 Satz 1 Nr. 2. BayBO, sowie andere öffentlich-rechtliche Anforderungen, soweit wegen der Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt, ersetzt oder eingeschlossen wird, Art. 59 Satz 1 Nr. 3 BayBO, prüft.
100
Ob eine angefochtene Baugenehmigung den Nachbarn in seinen Rechten verletzt, beurteilt sich grundsätzlich nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Erteilung der Genehmigung. Nur nachträgliche Änderungen zugunsten des Bauherrn sind zu berücksichtigen. Änderungen zu seinen Lasten haben außer Betracht zu bleiben (sogenanntes Günstigkeitsprinzip – BVerwG, B.v. 8.11.2010 – 4 B 43/10 – juris Rn.9).
101
Eine Baunachbarklage kann ohne Rücksicht auf die etwaige objektive Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Baugenehmigung nur dann Erfolg haben, wenn die erteilte Genehmigung gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt, die gerade auch dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt sind und dieser dadurch in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise in einem schutzwürdigen Recht betroffen ist. Eine Verletzung von Nachbarrechten kann darüber hinaus wirksam geltend gemacht werden, wenn durch das Vorhaben das objektivrechtliche Gebot der Rücksichtnahme verletzt wird, dem drittschützende Wirkung zukommen kann.
102
Darüber hinaus muss der Nachbar im Rahmen seiner Klage gegen die Baugenehmigung eine Verletzung nachbarschützender Vorschriften nach dem Grundsatz von Treu und Glauben, § 242 BGB, auch wirksam geltend machen können.
103
2. Der Kläger kann im Ergebnis keinen Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften des Bauordnungsrechts, insbesondere keinen Verstoß gegen die bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenvorschriften, wirksam geltend machen.
104
Es kann letztlich dahingestellt bleiben, ob die in Bezug auf den Kläger nachbarschützende Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächen zur östlichen Grundstücksgrenze in Nr. II. 1. des Bescheides vom 31. August 2020 in der Fassung vom 30. April 2021 rechtmäßig ist (im Folgenden 2.1). Der Kläger kann sich jedenfalls nach dem Grundsatz von Treu und Glauben, § 242 BGB, insoweit nicht auf einen Verstoß gegen nachbarschützende Abstandsflächenvorschriften berufen (im Folgenden 2.2).
105
2.1 Es spricht viel dafür, dass die in Nr. II. 1. des Bescheides vom 31. August 2020 in der Fassung des Tekturbescheides vom 30. April 2021 erteilte Abweichung von der Einhaltung der erforderlichen Abstandsfläche zur östlichen, dem Grundstück des Klägers zugewandten Grundstücksgrenze, rechtmäßig ist.
106
Die Bauaufsichtsbehörde kann nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO Abweichungen von den Anforderungen der Abstandsflächenvorschriften zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO, vereinbar sind.
107
Es ist umstritten, ob die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 BayBO in der seit dem 1. September 2018 geltenden Fassung und Einfügung des heutigen Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO noch eine atypische Situation voraussetzt (vgl. BayVGH, B.v. 10.2.2022 – 15 ZB 21.2428 – juris Rn. 36; BayVGH, B.v. 22.1.2020 – 15 ZB 18.2547 – juris Rn. 34; offen gelassen in VG Augsburg, B.v. 19.11.2019 – Au 4 S 19.1926 – juris Rn. 29; das Erfordernis der Atypik verneinend VG Augsburg, U.v. 11.7.2019 – Au 5 K 19.54 juris Rn. 35 und VG Augsburg, U.v. 1.8.2019 – Au 5 K 19.84 – Rn. 38; das Erfordernis der Atypik bejahend VG München, B.v. 7.3.2022 – M 11 SN 22.658 juris Rn. 34, 35).
108
Es ist anerkannt, dass die Lage betroffener Grundstücke in einem seit langer Zeit dicht bebauten großstädtischen Innenstadtquartier, in dem allenfalls wenige Gebäude die nach heutigen Maßstäben erforderlichen Abstände zu den jeweiligen Grundstücksgrenzen einhalten, eine besondere Atypik vermittelt, die eine Abweichung von der Einhaltung der Regelabstandsflächen gegenüber Nachbarn rechtfertigt (vgl. BayVGH, B.v. 22.1.2020 – 15 ZB 18.2547 – juris Rn. 36 – BayVGH, B.v. 4.8.2011 – 2 CS 11.997 – juris Rn. 23; BayVGH B.v. 26.9.2016 – 15 CS 16.1348 – juris Rn. 34; BayVGH U.v. 7.10.2010 – 2 B. 328 – juris Rn. 34).
109
Von den Wohngebäuden, die sich östlich der B*straße auf den unmittelbar südlich an die A*straße angrenzenden Grundstücken mit den Fl.Nrn. 26/4, 22, 21 (klägerisches Grundstück) und 20 (Eckgrundstück der Beigeladenen) befinden, hält keines die nach den aktuellen bauordnungsrechtlichen Abstandsflächenvorschriften erforderlichen Abstandsflächen zu den Grundstücksgrenzen ein. Gleiches gilt für die Wohngebäude, die sich auf den östlich an die B*straße anliegenden Grundstücken mit den Fl.Nrn. 20 (Eckgrundstück der Beigeladenen), 33, 34, 35, 36, 38/2, 38, 41 etc. bis zur Einmündung in die C*straße befinden.
110
Es ist nicht ersichtlich, dass die vorhandene Bebauung die Anforderungen an Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO erfüllt, nach dem eine Abstandsfläche nicht erforderlich ist vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichten Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf.
111
Es spricht aber viel dafür, dass der Umfang, in dem in dem dicht bebauten Innenstadtquartier die erforderlichen Abstandsflächen von der ganz überwiegenden Anzahl der vorhandenen Gebäude nicht bzw. jedenfalls nicht in vollem Umfang eingehalten werden, eine besondere Atypik im oben genannten Sinne vermittelt, die eine Abweichung von der Einhaltung der Regelabstandsflächen gegenüber Nachbarn grundsätzlich rechtfertigt und dass die erteilte Abweichung unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist.
112
Das Bestandsgebäude der Beigeladenen ist unter Bezugnahme auf den zuletzt genehmigten Plan „Ansichten West, Ost, Süd, Nord und Schnitt“ zu der Tekturgenehmigung vom 30. April 2021 mit einer Höhe von 19,94 m bis zur Oberkante des Dachfirstes des Mansarddaches bereits jetzt höher als die Giebelhöhe des Gebäudes des Klägers, die ca. 15 m beträgt. Durch den streitgegenständlichen Neubau des Dachgeschosses erhöht sich die Firsthöhe des geplanten Daches auf 23,45 m. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass zwischen den beiden Gebäuden ein Mindestabstand von ca. 9 m liegt. Darüber hinaus ist die gesamte westliche Giebelwand des dreigeschossigen Wohngebäudes des Klägers bis auf ein Fenster auf Traufhöhe und ein Fenster im Giebelbereich geschlossen, so dass sich durch die geplanten Gauben bzw. Dachfenster auf der Ostseite des Daches des Gebäudes der Beigeladenen keine nennenswerten weiteren Einsichtsmöglichkeiten in das Wohngebäude des Klägers ergeben.
113
Es spricht unter Berücksichtigung der vorhandenen bzw. geplanten Gebäudehöhen und des Abstandes der Gebäude zueinander daher viel dafür, dass der geplante Neubau des Dachgeschosses mit den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO vereinbar ist, nach dem bei der Errichtung bzw. Nutzungsänderung von Anlagen zu berücksichtigen ist, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung, insbesondere Leben und Gesundheit, und die natürlichen Lebensgrundlagen nicht gefährdet werden.
114
Ob der Kläger durch die in Nr. II. 1. des Bescheides vom 31. August 2020 in der Fassung des Tekturbescheides vom 30. April 2021 bereits deshalb nicht in seinen Nachbarrechten verletzt wird, weil die erteilte Abweichung von der Einhaltung der nach Art. 6 BayBO erforderlichen Abstandsfläche vor der östlichen Grundstücksgrenze rechtmäßig erteilt worden ist, kann aber letztlich dahin gestellt bleiben.
115
2.2 Der Kläger kann sich jedenfalls nach Treu und Glauben, § 242 BGB, im vorliegenden Fall nicht mit Erfolg auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift, hier die Nichteinhaltung der Abstandsflächenvorschriften in Art. 6 BayBO, berufen.
116
Ein Nachbar kann sich nach Treu und Glauben gegenüber einer Baugenehmigung in der Regel nicht mit Erfolg auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen, wenn auch die Bebauung auf seinem Grundstück den Anforderungen dieser Vorschrift nicht entspricht, wenn die beidseitigen Abweichungen etwa gleichwertig sind und nicht zu – gemessen am Schutzzweck der Vorschrift – schlechthin untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen (vgl. BayVGH, B.v. 27.7.2017 – 1 CS 17.918 – Orientierungssatz 2. und Rn. 10; BayVGH, B.v. 1.9.2016 – 2 ZB 14.2605 juris Rn. 15; BayVGH, U.v. 4.2.2011 – 1 BV 08.131 – juris Rn. 37).
117
Der Grundsatz von Treu und Glauben nach § 242 BGB gilt auch im Rahmen des landesrechtlichen Abstandsflächenrechts. Dabei ist es unerheblich, ob das Gebäude des klagenden Nachbarn seinerzeit in Übereinstimmung mit den geltenden Bauvorschriften errichtet worden ist oder Bestandsschutz genießt. Es kommt lediglich auf das tatsächliche Maß der Abstandsflächenüberschreitung zum jetzigen Zeitpunkt, also der Genehmigung des Bauvorhabens der Beigeladenen, an (vgl. BayVGH B.v. 1.9.2016 – 2 ZB 14.2605 – Orientierungssatz und Rn. 10 m.w.N.).
118
In Bezug auf das Bestandsgebäude der Beigeladenen und das Wohngebäude des Klägers liegen etwa gleichgewichtige beidseitige Abweichungen von den jeweils erforderlichen Abstandsflächen vor.
119
Die östliche Außenwand des Gebäudes der Beigeladenen und die westliche Außenwand des Gebäudes des Klägers verlaufen nicht parallel zur gemeinsamen Grundstücksgrenze. Auf der Grundlage der den genehmigten Planunterlagen entnommenen Maße bzw. der herausgemessenen Maße ist daher nur eine überschlägige Berechnung möglich, welche Abstandsflächen vor den maßgeblichen Außenwänden der jeweiligen Gebäude einzuhalten sind bzw. in welchem Umfang diese auf dem eigenen Grundstück bzw. dem Nachbargrundstück liegen.
120
Das Bestandsgebäude der Beigeladenen einschließlich des steilen Teils des Mansarddaches weist nach dem zuletzt genehmigten Plan „Ansichten West, Ost, Süd, Nord und Schnitt“ der Tekturgenehmigung vom 30. April 2021 eine abstandsflächenpflichtige Wandhöhe von 19,32 m und eine Wandlänge von ca. 30 m auf, sodass vor der gesamten östlichen Außenwand des Bestandsgebäudes der Beigeladenen eine Abstandsfläche von ca. 579,6 m² liegt. Im südlichen Bereich wird die erforderliche Abstandsfläche von 1H auf einer Länge von 17,5 m, also einer Fläche von ca. 338,1 m² in vollem Umfang auf dem eigenen Grundstück eingehalten. Soweit die östliche Außenwand des Bestandsgebäudes der Beigeladenen auf einer Länge von 12,5 m der gemeinsamen Grundstücksgrenze mit dem Grundstück des Klägers gegenüberliegt, ergibt sich danach vor diesem Teil der östlichen Außenwand des Bestandsgebäudes der Beigeladenen eine Abstandsfläche von ca. 241,5 m². Von dieser liegt etwas mehr als die Hälfte der Abstandsfläche nicht auf dem eigenen Grundstück, sondern dem Grundstück des Klägers.
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Vor der westlichen Giebelwand des Gebäudes des Klägers fällt unter Annahme einer für die Abstandsfläche maßgeblichen Höhe der Giebelwand von ca. 12 m und einer Breite des Gebäudes von 9 m insgesamt eine Abstandsfläche von ca. 108 m² an. Bei einem Abstand von ca. 4 m zur gemeinsamen Grundstücksgrenze liegen danach ca. 36 m² der Abstandsfläche auf dem eigenen Grundstück und ca. die doppelte Fläche von ca. 72 m² auf dem Grundstück der Beigeladenen.
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Damit stellt sich die Situation in der Gesamtschau wie folgt dar. Stellt man lediglich auf den nördlichen Bereich der östlichen Außenwand des Bestandsgebäudes der Beigeladenen ab, die der gemeinsamen Grundstücksgrenze zum Grundstück des Klägers gegenüberliegt, übersteigt die Abstandsflächenüberschreitung durch das Bestandsgebäude der Beigeladenen deutlich die Abstandsflächenüberschreitung durch das Gebäude des Klägers. Im Rahmen der Prüfung, ob eine in etwa gleichgewichtige Überschreitung der Abstandsflächen anzunehmen ist, darf aber nicht außer Betracht bleiben, in welcher Größenordnung die Gesamtabstandsfläche noch auf dem eigenen Grundstück zu liegen kommt bzw. sich auf das Nachbargrundstück erstreckt. Danach ergibt sich ein anderes Bild, soweit die Abstandsfläche des Bestandsgebäudes der Beigeladenen mit etwas mehr als der Hälfte auf dem Grundstück des Klägers liegt, während die Abstandsfläche des Gebäudes des Klägers zu ca. zwei Drittel auf dem Nachbargrundstück der Beigeladenen liegt. Hinzu kommt, dass das Bestandsgebäude der Beigeladenen vor seiner östlichen Außenwand im südlichen Bereich auf einer Länge von 17,5 m und damit mehr als der Hälfte der Gesamtlänge die erforderliche Abstandsfläche von 1 H in vollem Umfang auf seinem Grundstück einhält.
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Stellt man zutreffend für die Prüfung der Frage, ob eine in etwa gleichgewichtige Überschreitung der Abstandsflächen anzunehmen ist, nicht nur auf die absolute Fläche in Quadratmetern ab, mit der die Abstandsfläche jeweils auf dem Nachbargrundstück liegt, sondern auch auf den prozentualen Anteil der Gesamtabstandsfläche auf dem eigenen Grundstück bzw. dem Nachbargrundstück, kann vorliegend angesichts der gegensätzlichen Ergebnisse, je nachdem, ob man auf die absolute Fläche des Teils der Abstandsfläche, der jeweils auf dem Nachbargrundstück liegt, oder auf das prozentuale Verhältnis der Abstandsflächen, die noch auf dem eigenem Grundstück bzw. auf dem Nachbargrundstück liegen, abstellt, im Ergebnis noch ein im Wesentlichen gleichgewichtiger Abstandsflächenverstoß angenommen werden.
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Soweit zu der bereits jetzt auf dem Grundstück des Klägers liegenden Abstandsfläche vor der östlichen Außenwand des Gebäudes der Beigeladenen durch den Neubau des Dachgeschosses mit einem Walmdach mit einer Dachneigung von 45 Grad nach dem genehmigten Plan „Grundriss DG Flächennachweis, Freiflächen mit Abstandsflächen und Grundriss KG“ zu der Baugenehmigung vom 30. August 2020 auf einer Länge von ca. 9 m und einer Tiefe von ca. 1,30 m, eine Fläche von ca. 11,7 m zusätzlich auf dem Grundstück des Klägers zu liegen kommt, handelt es sich dabei nicht um eine Erweiterung der bereits jetzt auf dem Grundstück des Klägers liegenden Abstandsfläche in einer Größenordnung, die in der Summe dazu führen würde, dass gerade deshalb nunmehr nicht mehr von einer im Wesentlichen gleichgewichtigen beidseitigen Überschreitung der Abstandsflächen ausgegangen werden könnte.
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3. Der Kläger wird durch das Bauvorhaben nicht wegen eines Verstoßes gegen nachbarschützende bauplanungsrechtliche Vorschriften in seinen Rechten verletzt.
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Das Grundstück des Klägers und das Baugrundstück liegen in einem innerstädtischen Bereich ohne Bebauungsplan, sodass sich die planungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens nach § 34 BauGB beurteilt.
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Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein Vorhaben innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist. Entspricht die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete, die in der aufgrund des § 9a BauGB erlassenen Baunutzungsverordnung bezeichnet sind, beurteilt sich die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art allein danach, ob es nach der Verordnung in dem Baugebiet zulässig wäre.
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Die nähere Umgebung bestimmt sich nach den umliegenden Grundstücken, auf die sich die Ausführung des Vorhabens auswirken kann und die ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstückes prägen oder beeinflussen.
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3.1 Der Neubau des Dachgeschosses des bestehenden Gebäudes, in dem drei weitere Wohneinheiten entstehen sollen, fügt sich nach der Art der baulichen Nutzung ohne weiteres in die vorhandene Umgebung ein.
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3.2 Der Neubau des Dachgeschosses fügt sich auch in Bezug auf das Maß der baulichen Nutzung, die Bauweise und die überbaubare Grundstücksfläche in die nähere Umgebung ein. Ungeachtet dessen sind die diesbezüglichen Einfügungsvoraussetzungen grundsätzlich nicht nachbarschützend (vgl. BayVGH, B.v. 1.12.2016 – 1 ZB 15.1841 – juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 19.3.2015 – 9 CS 14.2441 – juris Rn. 26).
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3.3 Eine Verletzung von Nachbarrechten des Klägers kommt daher vorliegend nur in Betracht, wenn sich das streitgegenständliche Vorhaben ihm gegenüber nach den Grundsätzen des Rücksichtnahmegebotes, § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO, als rücksichtslos und nicht mehr hinnehmbar darstellen würde.
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Dem Gebot der Rücksichtnahme kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist (vgl. BVerwG, B.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – juris Rn. 21 m.w.N.). Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BayVGH B.v. 3.6.2016 – 1 CS 16.747 – juris Rn. 4 m.w.N.).
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Allein aus einer Nichteinhaltung der Abstandsflächen, wie sie in Art. 6 BayBO geregelt sind, und aus den speziell von dieser bauordnungsrechtlichen Norm anvisiertem Schutzzielen Belichtung, Besonnung, Belüftung und – strittig – Wohnfrieden kann nicht automatisch auf die Verletzung des Rücksichtnahmegebotes geschlossen werden (vgl. BayVGH, B.v. 22.1.2020 – 15 ZB 18.2547 – juris Rn. 29; BayVGH, B.v. 15.1.2018 – 15 ZB 16.2508 – juris Rn. 17; BayVGH, B.v. 15.12.2016 – 19 ZB 15.376 – juris Rn. 13; BayVGH, B.v. 7.12.2016 – 9 CS 16.1822 – juris Rn. 21; BayVGH, B.v. 23.4.2014 – 9 CS 14.222 – juris Rn. 13).
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Auch wenn die landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften grundsätzlich eine Konkretisierung des Gebots nachbarlicher Rücksichtnahme darstellen, kann hieraus im Umkehrschluss nicht gefolgert werden, dass jede Nichteinhaltung der Abstandsflächen auch eine Verletzung des Rücksichtnahmegebotes nach sich zieht. Denn das Gebot der Rücksichtnahme gibt dem Grundstückseigentümer nicht das Recht, von jeder, gegebenenfalls auch rechtswidrigen, Veränderung auf dem Nachbargrundstück verschont zu bleiben. Vielmehr kommt es darauf an, inwieweit durch die Nichteinhaltung des erforderlichen Grenzabstandes die Nutzung des Nachbargrundstückes tatsächlich unzumutbar beeinträchtigt wird. Entscheidend sind die tatsächlichen Verhältnisse des Einzelfalles (vgl. BayVGH, B.v. 15.1.2018 – 15 ZB 16.2508 – juris Rn. 17; BayVGH B.v. 24.8.2016 – 15 ZB 14.2654 – juris Rn. 15; BayVGH, B.v. 13.3.2014 – 15 ZB 13.1017 – juris Rn. 11; BayVGH, B.v. 22.6.2011 – 15 CS 11.1101 – juris Rn. 17). Allein die Berufung auf eine Verletzung des Art. 6 BayBO, ob zu Recht oder zu Unrecht, hat daher für die Frage der Verletzung des bauplanungsrechtlichen Rücksichtnahmegebotes keine ausschlaggebende Bedeutung (vgl. BayVGH, B.v. 22.1.2020 – 15 ZB 18.2547 – juris Rn. 29).
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3.3.1 Eine gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstoßende einmauernde, erdrückende oder abriegelnde Wirkung kommt dem streitgegenständlichen Bauvorhaben gegenüber dem Grundstück des Klägers bzw. der darauf befindlichen Wohnbebauung nicht zu.
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Hauptkriterien bei der Beurteilung einer erdrückenden oder abriegelnden Wirkung sind neben der Entfernung der einander gegenüberliegenden Gebäude auch die besonderen Belastungswirkungen aufgrund der Höhe und der Länge des Bauvorhabens auf das benachbarte Wohngebäude. Ungeachtet des grundsätzlich fehlenden Nachbarschutzes bezüglich des Maßes der baulichen Nutzung kommt eine abriegelnde oder erdrückende Wirkung in Folge des Nutzungsmaßes eines Bauvorhabens als unzumutbare Beeinträchtigung nur bei nach Höhe und Volumen übergroßen Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (vgl. BayVGH, B.v. 25.1.2018 – 15 ZB 16.2508 – juris Rn. 18).
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Das bestehende Wohngebäude der Beigeladenen weist nach den genehmigten Plänen mit dem Mansarddach eine Gesamthöhe von 19,94 m auf. Mit dem Neubau des Dachgeschosses als Walmdach erhöht sich die Firsthöhe nach den genehmigten Plänen auf 23,45 m. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass bereits die Gesamthöhe des Bestandsgebäudes von ca. 19; 94 m die Giebelhöhe des Wohngebäudes des Klägers von ca. 15 m überschreitet, ist durch die Erhöhung der Firsthöhe auf 23,45 m durch den streitgegenständlichen Neubau des Dachgeschosses jedenfalls unter Berücksichtigung des Abstandes zwischen den beiden Gebäuden, der ca. 9 m beträgt, nicht davon auszugehen, dass von dem geplanten Vorhaben der Beigeladenen eine einmauernde, abriegelnde oder erdrückende Wirkung auf das Grundstück bzw. das Wohngebäude des Klägers ausgeht. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass das der nördlichen Außenwand des Gebäudes des Klägers auf der anderen Seite der A*straße gegenüberliegende Wohngebäude bereits mehr als 20 m entfernt ist und auch vor der südlichen Außenwand des Wohngebäudes des Klägers in deren westlichen Bereich die nächstgelegene Bebauung mehr als 20 m und in deren östlichen Bereich ca. 10 m entfernt ist.
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Zusammenfassend ist danach festzustellen, dass von dem Wohngebäude der Beigeladenen auch nach dem Neubau des Dachgeschosses keine einmauernde, abriegelnde oder erdrückende Wirkung auf das Grundstück des Klägers bzw. das darauf befindliche Wohngebäude ausgeht.
139
3.3.2 Auch unter dem Gesichtspunkt einer Verschattung der westlichen Giebelwand des Wohngebäudes des Klägers bzw. der davor gelegenen Zufahrtsfläche zu einer Garage ergibt sich vorliegend kein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme.
140
Mögliche Verringerungen des Lichteinfalls bzw. eine weitergehende Verschattung sind in aller Regel im Rahmen der Veränderung der baulichen Situation auch unter dem Gesichtspunkt des Rücksichtnahmegebotes hinzunehmen (vgl. BayVGH, B.v. 15.1.2018 – 15 ZB 16.2508 – juris Rn. 19; BayVGH, B.v. 5.12.2016 – 9 ZB 15.376 – juris Rn. 15; BayVGH, B.v. 5.9.2016 – 15 CS 16.1536 – juris Rn. 31) .
141
Der Kläger hat Besonderheiten, aus denen sich im vorliegenden Fall ausnahmsweise eine besondere Belastungswirkung ergeben könnte, nicht näher dargelegt. Sie sind auch nicht ersichtlich.
142
Wie bereits ausgeführt, verschlechtert sich die Situation durch den geplanten Neubau des Dachgeschosses auf dem Grundstück des Klägers nicht derart, dass dies unter dem Gesichtspunkt des Rücksichtnahmegebotes nicht mehr hinzunehmen wäre. Abgesehen von dem bestehenden Abstand von ca. 9 m zwischen den beiden Gebäuden ist hierbei auch zu berücksichtigen, dass die westliche Giebelwand des Wohngebäudes des Klägers bis auf jeweils ein Fenster im Bereich der Traufhöhe und im Giebelbereich als geschlossene Außenwand ausgeführt ist. Für diese beiden Fenster ist bereits aufgrund der Lage, in der sie sich befinden, nicht von einer unzumutbaren Verschattungswirkung durch das Gebäude der Beigeladenen auszugehen. Eine Verschattungswirkung für darunter liegende Fenster ist bereits deshalb auszuschließen, weil solche – wie oben ausgeführt – nicht vorhanden sind.
143
3.3.3 Auch unter dem Gesichtspunkt eventuell erweiterter Einsichtsmöglichkeiten ergibt sich kein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme.
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Das Bauplanungsrecht vermittelt keinen generellen Schutz vor unerwünschten Einblicken. Das bauplanungsrechtliche Gebot des Einfügens bezieht sich nur auf die in § 34 Abs. 1 BauGB genannten städtebaulichen Merkmale der Nutzungsart, des Nutzungsmaßes, der Bauweise und der überbaubaren Grundstücksfläche. Die Möglichkeit der Einsichtnahme ist – als nicht städtebaulich relevant – davon nicht angesprochen. Auch über das Gebot der Rücksichtnahme wird in bebauten Ortslagen und umso mehr in dicht bebauten innerstädtischen Lagen grundsätzlich kein Schutz des Nachbarn vor jeglichen (weiteren) Einsichtsmöglichkeiten vermittelt. Allenfalls in besonderen, von den Umständen des jeweiligen Einzelfalles geprägten Ausnahmefällen kann sich unter dem Gesichtspunkt der Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme etwas Anderes ergeben (vgl. BayVGH, B.v. 15.1.2018 – 15 ZB 16.2508 – juris Rn. 20 m.w.N.).
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Anhaltspunkte für einen solchen situationsbedingten Ausnahmefall sind nicht gegeben. Die westliche Giebelwand des Wohngebäudes des Klägers weist bis auf die erwähnten zwei Fenster auf Höhe der Traufe bzw. im Giebelbereich keine weiteren Fensteröffnungen auf. Bei einem Abstand zwischen den beiden Gebäuden von ca. 9 m ist danach nicht erkennbar, dass sich unter dem Gesichtspunkt erweiterter Einsichtsmöglichkeiten in dem dicht bebauten innerstädtischen Gebiet als Folge des Neubaus des Dachgeschosses Einsichtsmöglichkeiten ergeben könnten, die gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstoßen.
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4. Danach war die Klage insgesamt abzuweisen.
147
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
148
Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nach § 162 Abs. 3 VwGO erstattungsfähig, da sie einen Klageantrag gestellt und sich am Prozesskostenrisiko beteiligt hat.
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Der Ausspruch hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 Abs. 1 VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.