Titel:
Auslegung der Regelung im TV über vollkontinuierliche Arbeitsweise bezüglich der erfassten Arbeitnehmer
Normenkette:
TV über vollkontinuierliche Arbeitsweise vom 2.5.1969/04.07.1992 (TVvA) § 3 Ziff. 6 S. 3
Leitsatz:
Die Auslegung von § 3 Ziff. 6 S. 3 TVvA ergibt keinen Anspruch des Klägers auf einen Ausgleich für die Arbeit, die er am 2. Weihnachtfeiertag als Staplerfahrer zu erbringen hatte. Im Sinne der Regelung sind in vollautomatisch arbeitenden Betrieben, die Hohlglas bzw. optisches Rohglas erzeugen oder Glasfaser herstellen, nur die Arbeitnehmer unmittelbar in den Produktionsprozess eingebunden, die an der Herstellung von Glasflaschen beteiligt sind, was bei der Tätigkeit des Klägers, der lediglich im innerbetrieblichen Transportwesen Glasflaschen umgelagert hat, nicht der Fall ist. (Rn. 21 – 26) (Rn. 5 – 6) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Tarifvertrag, Auslegung, Tarifnormen, Vollkontinuierliche Arbeitsweise, Erfasste Arbeitnehmer, Produktionsprozess, Besondere Feiertage, Betriebsvereinbarung
Rechtsmittelinstanz:
LArbG München, Urteil vom 03.05.2023 – 5 Sa 559/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 50436
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.
3. Der Streitwert wird festgesetzt auf € 84,90.
4. Die Berufung wird für den Kläger zugelassen.
Tatbestand
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1. Der Kläger begehrt für am zweiten Weihnachtsfeiertag 2020 geleistete Arbeit neben der erhaltenen Vergütung die Auszahlung von zu gewährender Freizeit in Geld.
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Der Kläger ist bei der Beklagten im Rahmen einer 37,5 Stunden-Woche zu einem Stundenlohn in Höhe von 16,98 € brutto tätig; er wird nicht im Schichtbetrieb, mithin nicht in vollkontinuierlicher Arbeitsweise eingesetzt.
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Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden kraft beiderseitiger Organisationszugehörigkeit der Manteltarifvertrag für gewerbliche Arbeitnehmer und Auszubildende der Betriebe, die Hohlglas aller Art oder Glasfaser erzeugen, veredeln oder verarbeiten, in der Bundesrepublik Deutschland sowie der Tarifvertrag über vollkontinuierliche Arbeitsweise (im Folgenden bezeichnet als TVvA) Anwendung.
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Gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 5 des vorgenannten Manteltarifvertrags erhält der Arbeitnehmer – neben der Grundvergütung – für Arbeiten an gesetzlichen Feiertagen einen Zuschlag von 150%.
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In § 2 Nr. 1 des TVvA ist Folgendes festgelegt:
„In vollautomatisch arbeitenden Betrieben oder Betriebsabteilungen kann in den in der Anlage I aufgeführten Produktionsgängen vollkontinuierlich gearbeitet werden.
Die Anlage I ist Bestandteil dieses Tarifvertrages.“
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Die vorbezeichnete Anlage I hat nachstehenden Wortlaut:
„Energieversorgung (Gas, Heizöl, Dampf, Strom, Preßluft, Wasser und sonstiges)
Gemengeherstellung Schmelzofenbetrieb (Einlegeeinrichtungen und Ofenführung)
Glasverformung (Automatenbedienung, Formeninstandhaltung und Einbringung in den Kühlofen)
Glaskühlung (Wartung und Beaufsichtigung der Öfen)
Innerbetriebliches Transportwesen (Brennstoffe, Rohstoffe, Fertigwaren)
Bereitschaftsdienst Sonstige Betriebseinrichtungen (Werkschutz, Pförtner, Sanitäter usw.)
Glasfaserfertigung (Glasfaserziehbetrieb, Produktion von Glasseidematten)“
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Gemäß § 3 Nr. 5 S. 1 TVvA gilt Folgendes:
„Der 1. Januar, Ostersonntag und Ostermontag, Pfingstsonntag und Pfingstmontag, der 1. Mai, der 24. Dezember, der 1. und 2. Weihnachtsfeiertag bleiben produktionsfrei.“
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Im § 3 Nr. 6 Sätze 1 – 3 TVvA ist Nachstehendes bestimmt:
„Für die Betriebe der Behälterglasindustrie kann zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat durch Betriebsvereinbarung von dem Produktionsverbot der Ziffer 5 Satz 1 abgewichen werden, wenn für die Arbeitnehmer, die schichtplanmäßig eingesetzt werden, zum Ausgleich eine bezahlte Freizeit gewährt wird im Umfang der tatsächlich gearbeiteten Zeit.
Die Bezahlung der Freizeit erfolgt gemäß §§ 5 und 4 (ausgefallener Verdienst ohne Zuschläge, jedoch zuzüglich Vk-Zuschlag von 10,5%).
Diese Regelung gilt auch für Arbeitnehmer, die in den Produktionsprozess eingebunden sind, auch wenn sie nicht vollkontinuierlich arbeiten.“
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Gemäß der Betriebsvereinbarung vom 16.12.1994 ist insbesondere Folgendes vereinbart:
a) „An allen produktionsfreien Tagen gemäß § 3, Ziff. 5, des „Tarifvertrags über vollkontinuierliche Arbeitsweise“ kann nach Entscheidung der Firma, auf freiwilliger Basis, mit allen Produktionslinien produziert werden.
b) Grundlage dieser Vereinbarung ist Ziffer 6 „des Tarifvertrags über vollkontinuierliche Arbeitsweise“.
Ergänzend zu Ziffer 6, Absatz 1, wird vereinbart, dass die zu gewährende bezahlte Freizeit auf Wunsch des Mitarbeiters in Geld abgegolten werden kann.“
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Der Kläger arbeitete am 26.12.2020 im Betrieb der Beklagten 5 Stunden; er war eingesetzt für die Umlagerung von Glasflaschen.
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Die Beklagte zahlte an den Kläger für diese Tätigkeit die Grundvergütung einschließlich des Zuschlags gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 5 des oben genannten Manteltarifvertrages. Eine weitere Zahlung als Ausgleich für zu gewährende Freizeit hat die Beklagte verweigert.
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Der Kläger macht hierfür € 84,90 brutto, das heißt € 16,98 brutto mal 5 Stunden geltend.
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2. Der Kläger beantragt,
a) Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger, € 84,90 brutto nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 13.01.2021 zu zahlen.
b) Die Beklagte wird verurteilt, dem Arbeitszeitkonto des Klägers 5 Arbeitsstunden gutzuschreiben.
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Die Beklagte beantragt,
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien – einschließlich Anlagen – sowie im Übrigen auf den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist im Haupt- und Hilfsantrag unbegründet.
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Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen aus § 3 Nr. 6 Sätze 1 – 3 TVvA in Verbindung mit Nummern 1 und 2 der oben genannten Betriebsvereinbarung abzuleitenden Anspruch auf Zahlung von in Geld abzugeltender Freizeit. Ein Anspruch auf Gutschrift im Arbeitszeitkonto des Klägers besteht daher ebenfalls nicht.
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Der Kläger war im Rahmen der von ihm am 26.12.2020 geleisteten Tätigkeit nicht gemäß § 3 Nr. 6 S. 3 TVvA in den Produktionsprozess eingebunden. Dies ergibt sich aus der Auslegung dieser Tarifbestimmung.
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1. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei eindeutigem Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Rahmen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil diese Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Lässt dies zweifelsfrei Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an die Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend heranziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt diejenigen Tarifauslegung der Vorrang, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (ständige Rechtsprechung, so z.B. BAG vom 10.02.2015, 3 AZR 904/13).
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2. In Anwendung dieser Grundsätze ergibt hier folgendes:
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a) Schon in der insoweit eindeutige Wortlaut der vorgenannten Tarifnorm zeigt, dass die oben genannten Ausgleichszahlung nur dann begründet wird, wenn der Arbeitnehmer in den Produktionsprozess eingebunden wird.
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Der Kläger war jedoch bei seiner Tätigkeit am 26.12.2020 nicht in Produktionsprozess eingebunden, da er nicht an der Herstellung von Glasflaschen oder sonstigen Produkten der Beteiligten unmittelbar eingesetzt wurde, sondern lediglich im innerbetrieblichen Transportwesen Glasflaschen umlagerte.
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b) Für dieses Ergebnis spricht auch die im Zusammenhang mit der oben genannten Rechtsbestimmung heranzuziehenden Bestimmungen gemäß § 2 Nr. 1 TVvA in Verbindung mit der oben genannten Anlage I.
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Zwar wird in § 2 Nr. 1 TVvA von den in der Anlage I aufgeführten Produktionsgängen gesprochen; in dieser Anlage werden jedoch detailliert verschiedene Arbeitsvorgänge genannt, die zum Teil unmittelbar den Produktionsprozess dienen und im Übrigen lediglich mittelbar den Produktionsprozess unterstützen, wie insbesondere dass innerbetriebliche Transportwesen.
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Hieraus ergibt sich nach diesseitiger Auffassung, dass mit Produktionsprozess im Sinne von § 3 Nr. 6 S. 3 TVvA nur solche Tätigkeiten gemeint sind, die Tätigkeit des unmittelbaren Prozesses zur Herstellung der Glasprodukte der Beklagten sind.
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Für diese Unterscheidung spricht auch der Umstand, dass in § 2 Nr. 1 TVvA von „Produktionsgängen“ gesprochen wird, während § 3 Nr. 6 S. 3 TVvA die Bezeichnung „Produktionsprozess“ wählt.
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Die Kosten des Rechtsstreits hat gemäß § 91 Abs. 1 ZPO der Kläger zu tragen.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 61 Abs. 1 ArbGG in Verbindung mit §§ 3 ff ZPO.
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Für die Beklagte ist mangels Beschwer kein Rechtsmittel gegeben.
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Für den Kläger war die Berufung gemäß § 64 Abs. 3 Nr. 1 ArbGG und gemäß § 64 Abs. 3 Nr. 2b ArbGG zuzulassen.
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Die Rechtssache hat grundsätzlich Bedeutung und betrifft die Auslegung des oben genannten TVvA, dessen Geltungsbereich sich gemäß seines § 1a über den Bezirk des Arbeitsgerichts München hinaus erstreckt.