Inhalt

LG Traunstein, Endurteil v. 06.09.2022 – 7 O 615/22
Titel:

Kein Schadensersatz wegen angeblicher Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung

Normenkette:
BGB § 826
Leitsätze:
1. Bei einer die Abgasreinigung (Abgasrückführung und Abgasnachbehandlung) beeinflussenden Motorsteuerungssoftware - hier einem Thermofenster -, die vom Grundsatz her im normalen Fahrbetrieb in gleicher Weise arbeitet wie auf dem Prüfstand, und bei der Gesichtspunkte des Motorrespektive des Bauteilschutzes als Rechtfertigung ernsthaft angeführt werden können, kann bei Fehlen jedweder konkreter Anhaltspunkte nicht ohne weiteres unterstellt werden, dass die Handelnden bzw. Verantwortlichen bei dem Hersteller in dem Bewusstsein gehandelt haben, möglicherweise eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden. Vielmehr muss in dieser Situation eine möglicherweise falsche, aber dennoch vertretbare Gesetzesauslegung und -anwendung durch die Organe des Herstellers in Betracht gezogen werden. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Tatsache, dass Fahrzeuge eines Herstellers mit einer bestimmten Motorenbaureihe - hier EA 189 -, für die auf Veranlassung des Kraftfahrtbundesamtes ein Rückruf angeordnet wurde, mit einer unzulässigen Umschaltlogik ausgestattet sind, lässt es nicht als gerechtfertigt erscheinen, diesen Befund generalisierend auf andere Fahrzeugmodelle mit Motoren einer späteren Generation zu übertragen. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
EA 288, Thermofenster, Abschalteinrichtung, AdBlue-Einspritzung, SCR-System
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Hinweisbeschluss vom 27.07.2023 – 35 U 5534/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 50154

Tenor

1. Das Versäumnisurteil des Landgerichts Traunstein vom 02.05.2022, Az. 7 O 615/22, wird aufgehoben.
2. Die Klage wird abgewiesen.
3. Die Beklagte trägt die Kosten seiner Säumnis, die übrigen Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, für den Kläger jedoch nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags. Der Kläger kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Beschluss
Der Streitwert wird bis 08.08.2022 auf 20.598,40 €, ab 09.08.2022 auf 15.145,75 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt von der Beklagten Schadensersatz in Form der Rückabwicklung des Kaufes eines VW Passat, Feststellung des Annahmeverzuges und Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten im Zuge des sog. „VW-Abgasskandals“.
2
Der Kläger erwarb am 16.06.2017 von … einen gebrauchten PKW VW Passat mit der Fahrzeugidentifikationsnummer …. Der von dem Kläger bezahlte Bruttokaufpreis betrug 46.980,00 €.
3
Das streitgegenständliche Fahrzeug verfügt über einen Motor des Typs EA 288, der von der Beklagten entwickelt und hergestellt wurde. Ein Rückrufbescheid des Kraftfahrt-Bundesamtes existiert in Bezug auf das streitgegenständliche Fahrzeug bzw. den in diesem Fahrzeug verbauten Motor nicht. Zum Zeitpunkt der Klageerstellung am 22.03.2022 betrug der Kilometerstand des Fahrzeugs 171.317 km. Am 07.08.2022 war die Laufleistung 205.381 km.
4
Die Klagepartei behauptet im Wesentlichen, der Dieselmotor des von ihr erworbenen Fahrzeugs sei mit einer manipulierten Software ausgestattet und weise daher mehrere unzulässige Abschalteinrichtungen im Sinne der VO (EG) 715/2007 auf. Das Fahrzeug sei mit einem Thermofenster, einer Fahrkurvenerkennung, sowie einer unzulässigen Steuerung der AdBlue-Einspritzung sowie des SCR-Systems ausgestattet. Die Software stelle eine unzulässige Abschalteinrichtung dar, da sie dazu führe, dass im Prüfstand Abgaswerte gemessen werden, die mit dem tatsächlichen Betrieb und den Werten des Fahrzeugs, das im regulären Modus einen derartigen Zyklus durchlaufen würde, nichts zu tun haben würden. Konkret spritze das Fahrzeug im Testmodus mehr AdBlue ein, um die entsprechenden Stickoxidwerte einzuhalten. Im regulären Fahrbetrieb sei dies nicht der Fall. Ferner nehme der Einschlag der Lenkung Einfluss auf den Zeitpunkt der Schaltpunkte des Getriebes. Auch hierdurch würden Stickoxidwerte im Testbetrieb geschönt. Die Klagepartei sei von der Beklagten darüber getäuscht worden, dass das Fahrzeug die gesetzlichen Vorgaben zum Schadstoffausstoß nur unter bestimmten Bedingungen einhalte. Das Fahrzeug enthalte zudem ein unzulässiges Thermofenster, dass die Abgasreinigung bereits außerhalb eines Temperaturbereiches von 20 bis 30 Grad Celsius reduziere bzw. abschalte. Zum Beweis des Vorliegens sämtlicher von ihr behaupteten Abschalteinrichtungen hat der Kläger die Erholung eines Sachverständigengutachtens angeboten. Der Kläger behauptet weiter, dass er das Fahrzeug nicht erworben hätte, hätte er Kenntnis von der Manipulation gehabt.
5
Der Kläger ist der Rechtsansicht, das Verhalten der Beklagten sei sittenwidrig gewesen. Ihm sei ein Schaden entstanden. Der Klagepartei stünden mithin deliktsrechtliche Schadensersatzansprüche insbesondere aus den §§ 826, 831 BGB zu. Ihm seien zudem die vorgerichtlichen Anwaltskosten zu erstatten.
6
Der Kläger beantragt zuletzt unter teilweiser Erledigterklärung:
1.
Das Versäumnisurteil vom 02.05.2022 mit der Maßgabe aufrechtzuerhalten, an die Klägerschaft 15.145,75 € zzgl. Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs Volkswagen Passat mit der Fahrzeugldentifizierungsnummer ….
2.
Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Entgegennahme des im Klageantrag zu 1. genannten Fahrzeugs in Annahmeverzug befindet.
3.
Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerschaft von vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 1.491,07 € freizustellen
7
Die Beklagte beantragt:
Die Klage wird abgewiesen.
8
Der Teilerledigterklärung stimmt die Beklagte nicht zu.
9
Die Beklagte behauptet im Wesentlichen, dass der streitgegenständliche Motor nicht über die bei Fahrzeugen mit Motoren des Typs EA189 enthaltene Umschaltautomatik verfüge. Auch sonst gäbe es keine unzulässigen Abschalteinrichtungen. Der klägerische Vortrag gehe an dem konkret streitgegenständlichen Fahrzeug vorbei. Dieses erfülle die Anforderungen der Abgasnorm Euro 6 vollständig. Insbesondere ein Thermofenster stelle keine unzulässige Abschalteinrichtung dar. Die Beklagte meint, der Vortrag der Klageseite zu sämtlichen Abschalteinrichtungen sei zudem bereits unsubstantiiert und erfolge ins Blaue hinein. Im Übrigen bestreitet sie eine etwaige Kausalität und einen Schaden des Klägers.
10
Das Gericht hat am 09.08.2022 mündlich verhandelt.
11
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die wechselseitigen Schriftsätze der Parteien jeweils nebst Anlagen sowie das Sitzungsprotokoll (Bl. 322/324 d.A.) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.
12
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der vom Kläger begehrte Schadensersatzanspruch besteht unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt.
13
1. Vertragliche oder sog. quasivertragliche Ansprüche scheiden aus, da der Kläger den streitgegenständlichen PKW nicht von der Beklagten, sondern von Dritten, hier einer Privatperson erworben hat.
14
2. Ein Schadensersatzanspruch des Klägers gegen die Beklagte ergibt sich entgegen der Ansicht der Klägerseite auch nicht aus §§ 826, 31 BGB. Dem Kläger ist es nicht gelungen, schlüssig darzulegen, dass in seinem Fahrzeug eine unzulässige Abschalteinrichtung verbaut und dies überdies als sittenwidrige Schädigung zu bewerten ist.
15
2.1. Die Darlegungs- und Beweislast hierfür liegt beim Kläger. Dieser würde dann seiner Darlegungslast genügen, wenn er Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet sind, das geltend gemachte Recht als in seiner Person entstanden erscheinen zu lassen, mithin schlüssig vorträgt. Die Angabe von Einzelheiten zu dem Ablauf bestimmter Ereignisse ist grundsätzlich nicht erforderlich, wenn diese für die Rechtsfolgen ohne Bedeutung sind (statt anderer BGH, Urteil vom 04.10.2018 – III ZR 213/17 = BeckRS 2018, 27356, beck-online). Unerheblich ist, wie wahrscheinlich die Darstellung ist und ob sie auf eigenem Wissen oder auf einer Schlussfolgerung von Indizien beruht (OLG München, Beschluss vom 29.08.2019 – 8 U 1449/19 = NJW-RR 2019, 1497, beck-online). Ein schlüssiger Vortrag zu einer angeblich „unzulässigen Abschalteinrichtung“ setzt dabei grundsätzlich voraus, dass vom Anspruchsteller konkret dargelegt wird, dass ein „Konstruktionsteil“ im Motor des streitgegenständlichen Fahrzeugs vorhanden ist (wobei es sich auch um eine Software handeln kann), welches in bestimmten, konkret darzulegenden Umwelt- oder Fahrsituationen etc. i.S.v. Art. 3 Nr. 10 EG-VO die Abgasreinigung abschaltet, und dass dies nicht notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten (OLG München, a.a.O.). Dabei darf ein Kläger oder eine Klägerin zwar auch solche Tatsachen behaupten über deren Vorliegen er/sie kein sicheres Wissen hat und ein solches auch nicht erlangen kann. Er/Sie kann deshalb genötigt sein, eine von ihm/ihr nur vermutete Tatsache zu behaupten und unter Beweis zu stellen (OLG Nürnberg, Urteil vom 19.07.2019 – 5 U 1670/18 = BeckRS 2019, 19559, beck-online). Allerdings muss die Vermutung selbst auf konkreten Anhaltspunkten beruhen. Ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts dagegen, sind derartige Vermutungen willkürlich und stellen Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ dar, die nicht zu berücksichtigen sind. Bei der Annahme von Willkür in diesem Sinne ist jedoch Zurückhaltung geboten. In der Regel wird sie nur bei Fehlen jeglicher tatsächlicher Anhaltspunkte vorliegen (statt anderer BGH, Beschluss vom 16.4.2015 – IX ZR 195/14 = NJW-RR 2015, 829, beck-online). Als derartiger Anhaltspunkt kann etwa ein Rückruf durch das KBA dienen (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019 – 10 U 134/19 = NZV 2019, 579, beck-online). Nicht allerdings eine bloße freiwillige Maßnahme des Herstellers (OLG Nürnberg, a.a.O.). Solche Anhaltspunkte müssen zudem gerade für die konkrete streitgegenständliche Sache bestehen. Nicht ausreichend ist es stattdessen, wenn Tatsachen lediglich in Bezug auf andere Fahrzeughersteller, andere Motortypen oder andere Baujahre vorgetragen werden (OLG München, a.a.O., (s.o.) am Fall eines BMW; OLG Nürnberg, a.a.O. (s.o.) und OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28.09.2018 – 22 U 95/18 = BeckRS 2018, 32400, beckonline, jeweils am Fall eines nicht vom Rückruf durch das KBA erfassten Modells eines Mercedes-Benz).
16
Hierzu führt das OLG Köln (Beschluss vom 04.07.2019 – 3 U 148/18 = ZVertriebsR 2019, 370, beck-online) zutreffend aus:
„… entgegen der von der 23. Zivilkammer des LG Stuttgart vertretenen Auffassung ist es aus Sicht des Senates nicht angängig, sämtliche Motoren dieser Motorenfamilie ohne Berücksichtigung ihrer technischen Merkmale dem Generalverdacht einer unzulässigen Abschalteinrichtung zu unterwerfen. Es ist in technischer Hinsicht unmittelbar einleuchtend, dass die Motorsteuerung in Abhängigkeit von Fahrzeugtyp, Volumen und Leistung erfolgt. Dem entspricht die differenzierte Vorgehensweise des KBA mit dem Rückruf nur einzelner mit diesem Motor ausgestatteter Fahrzeugmodelle aus einzelnen Produktionszeiträumen …“.
17
Im vorliegenden Fall kommt für den Kläger erschwerend hinzu, dass das Kraftfahrtbundesamt den streitgegenständlichen Motor eingehend begutachtet und dabei festgestellt hat, dass sich sämtliche Hinweise, die Fahrzeuge mit Motoren der Baureihe EA 288 (Euro 6) seien ebenfalls von Abgasmanipulation betroffen, hierbei auf Grundlage der Überprüfungen als unbegründet erwiesen hätten.
18
Der Kläger muss daher schlüssig vortragen, warum das Kraftfahrtbundesamt mit dieser wiederholt geäußerten Einschätzung falsch liegt.
19
2.2. Nach diesem Maßstab hat die Klageseite keine greifbaren tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass auch beim hier streitgegenständlichen Fahrzeug tatsächlich Manipulationen vorhanden sind. Vielmehr äußert der Kläger im Wesentlichen losgelöst von dem in seinem Fahrzeug eingebauten Motortyp seines Baujahrs letztlich spekulativ den Generalverdacht, dass auch bei seinem Fahrzeug vom Vorliegen entsprechender Manipulationen ausgegangen werden müsse, weil dies beim Vorgängermotor EA189 der Fall war.
2.2.1.
20
Im Hinblick auf das sog. Thermofenster hat sich inzwischen zwar die Ansicht durchgesetzt, dass es sich wohl um eine unzulässige Abschalteinrichtung handelt; dies spielt im Rahmen des gegenständlichen Sachverhaltes allerdings keine Rolle. Denn um einen Anspruch auf Schadensersatz aus § 826 BGB zu begründen, muss sich das schädigende Verhalten des Schuldners als sittenwidrig darstellen. An dieser Voraussetzung fehlt es in der vorliegenden Konstellation jedoch.
2.2.1.1.
21
Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach einem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflichtverletzung und ein Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann. Dabei kann es auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Sie kann sich aus einer bewussten Täuschung ergeben. Bezüglich des Anstandsgefühls aller billig und gerecht Denkenden kommt es wesentlich auf die berechtigten Verhaltenserwartungen im Verkehr an (OLG München, Beschl. v. 17.03.2020 – 21 U 6698/19 m.w.Nachw.)
2.2.1.2.
22
Ausgehend von diesen Maßstäben fehlt es an einem ausreichenden Sachvortrag der Klagepartei, die das Verhalten der Beklagten, ein mit einem sogenannten Thermofenster ausgestattetes Fahrzeug in den Verkehr zu bringen, als sittenwidrige Handlung erscheinen lässt. Das Gericht schließt sich dabei grundsätzlich dem OLG München (etwa Beschl. vom 17.03.2020 – 21 U 6698/19) und damit den nachfolgend zitierten Ausführungen des OLG Koblenz (Urteil vom 31.10.2019 – 12 U 246/19, BeckRS 2019, 25135 Rn. 31-35, beck-online) an:
„Dabei kommt es hier nicht darauf an, ob das im streitgegenständlichen Fahrzeug installierte Thermofenster eine objektiv unzulässige Abschalteinrichtung darstellt oder nicht. Bei einer sogenannten „Schummelsoftware“, wie sie in dem VW-Motor EA 189 verwendet worden ist, ergibt sich die Sittenwidrigkeit des Handelns per se aus der Verwendung einer Umschaltlogik, weil die Verwendung einer solchen Abschalteinrichtung eindeutig unzulässig ist und dies den Handelnden bzw. den Verantwortlichen auch bewusst ist. Bei einer anderen die Abgasreinigung (Abgasrückführung und Abgasnachbehandlung) beeinflussenden Motorsteuerungssoftware, wie dem hier in Rede stehenden Thermofenster, die vom Grundsatz her im normalen Fahrbetrieb in gleicher Weise arbeitet wie auf dem Prüfstand, und bei der Gesichtspunkte des Motorrespektive des Bauteilschutzes als Rechtfertigung ernsthaft angeführt werden können, kann bei Fehlen jedweder konkreter Anhaltspunkte nicht ohne weiteres unterstellt werden, dass die Handelnden bzw. Verantwortlichen bei der Beklagten in dem Bewusstsein gehandelt haben, möglicherweise eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden. Vielmehr muss in dieser Situation, selbst wenn hinsichtlich des Thermofensters von einer objektiv unzulässigen Abschalteinrichtung auszugehen sein sollte, eine möglicherweise falsche, aber dennoch vertretbare Gesetzesauslegung und -anwendung durch die Organe der Beklagten in Betracht gezogen werden (OLG Köln, Beschluss vom 4.7.2019 – 3 U 148/18, juris, Rn. 6). Eine Sittenwidrigkeit kommt daher hier nur in Betracht, wenn über die bloße Kenntnis von der Verwendung einer Software mit der in Rede stehenden Funktionsweise in dem streitgegenständlichen Motor hinaus zugleich auch Anhaltspunkte dafür erkennbar wären, dass dies von Seiten der Beklagten in dem Bewusstsein geschah, hiermit möglicherweise gegen die gesetzlichen Vorschriften zu verstoßen, und dieser Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen wurde (OLG Köln, Beschluss vom 4.7.2019 – 3 U 148/18, juris, Rn. 6).“
23
Solche Anhaltspunkte sind vom Kläger weder vorgetragen worden noch sonst ersichtlich.
24
Hat die Beklagte aber die Rechtslage fahrlässig verkannt, fehlt es ihr an dem für die Sittenwidrigkeit in subjektiver Hinsicht erforderlichen Bewusstsein der Rechtswidrigkeit (vgl. Palandt/Sprau, BGB, 78. Aufl. 2019, § 826, Rn. 8). Dass auf Seiten der Beklagten das Bewusstsein eines möglichen Gesetzesverstoßes, verbunden mit einer zumindest billigenden Inkaufnahme desselben, vorhanden war, ist nicht ersichtlich.
25
Die Gesetzeslage ist an dieser Stelle nicht unzweifelhaft und eindeutig. Dies zeigt die kontrovers geführte Diskussion über Inhalt und Reichweite der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 a) VO (EG) 2007/715. Nach Einschätzung der vom Bundesverkehrsministerium (BMVI) eingesetzten Untersuchungskommission … liegt ein Gesetzesverstoß durch die von allen Autoherstellern eingesetzten Thermofenster jedenfalls nicht eindeutig vor. So heißt es im Bericht der Kommission zur Auslegung der Ausnahmevorschrift des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 a) VO (EG) 715/2007 ausdrücklich (BMVI, Bericht der Untersuchungskommission …, Stand April 2016, S. 123):
„Zudem verstößt eine weite Interpretation durch die Fahrzeughersteller und die Verwendung von Abschalteinrichtungen mit der Begründung, dass eine Abschaltung erforderlich ist, um den Motor vor Beschädigung zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten, angesichts der Unschärfe der Bestimmung, die auch weite Interpretationen zulässt, möglicherweise nicht gegen die Verordnung (EG) Nr. 715/2007.
Konsequenz dieser Unschärfe der europäischen Regelung könnte sein, dass unter Berufung auf den Motorschutz die Verwendung von Abschalteinrichtungen letztlich stets dann gerechtfertigt werden könnte, wenn von Seiten des Fahrzeugherstellers nachvollziehbar dargestellt wird, dass ohne die Verwendung einer solchen Einrichtung dem Motor Schaden droht, sei dieser auch noch so klein.“
26
Schließlich zeigt auch der in der Literatur (vgl. Führ, NVwZ 2017, 265) betriebene erhebliche Begründungsaufwand, um das „Thermofenster“ als unzulässige Abschalteinrichtung einzustufen, dass keine klare und eindeutige Rechtslage gegeben ist, gegen welche die Beklagte bewusst verstoßen hätte (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 04.07.2019 – 3 U 148/18 –, juris, Rn. 6; OLG Stuttgart, Urteil vom 30.07.2019 – 10 U 134/19 –, juris, Rn. 89).
27
Eine Auslegung, wonach ein Thermofenster eine zulässige Abschalteinrichtung darstellt, ist daher jedenfalls nicht unvertretbar. Ein Handeln unter vertretbarer Auslegung des Gesetzes kann nicht als besonders verwerfliches Verhalten angesehen werden (vgl. OLG Stuttgart, a.a.O., Rn. 90).
28
Dieser Auffassung hat sich auch der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 19.01.2021 – VI ZR 433/19 – angeschlossen. Dort heißt es im Leitsatz:
29
Das Verhalten der für einen Kraftfahrzeughersteller handelnden Personen ist nicht bereits deshalb als sittenwidrig zu qualifizieren, weil sie einen Fahrzeugtyp aufgrund einer grundlegenden unternehmerischen Entscheidung mit einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster) ausgestattet und in den Verkehr gebracht haben. Dies gilt auch dann, wenn mit der Entwicklung und dem Einsatz dieser Steuerung eine Kostensenkung und die Erzielung von Gewinn erstrebt wird. Der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit ist nur gegeben, wenn weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten der handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen.
30
Die Annahme objektiver Sittenwidrigkeit setzt jedenfalls voraus, dass die handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen.
31
Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagten in Bezug auf das Thermofenster in dem Bewusstsein handelte, dass sie damit aber möglicherweise gegen die gesetzlichen Vorschriften verstößt und diesen Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen hat, sind nicht ersichtlich.
32
2.2.2. Soweit der Kläger darüber hinaus weitere, von der Beklagten angeblich verwendete Steuerungsstrategien zur Abgasnachbehandlung behauptet und insoweit exemplarisch auf eine zu niedrige AdBlue-Einspritzung, eine abgeschaltete Abgasreinigung bei einer bestimmten Drehzahl oder pauschal auf eine verwendete Software verweist, die eine Prüfstandsituation durch Fahrkurven o.Ä. erkenne und das Abgasverhalten entsprechend optimiere, führt auch dieser Sachvortrag im Ergebnis nicht zu einer abweichenden rechtlichen Beurteilung.
33
Der Klagevortrag enthält keine substantiellen, einem Beweis zugängliche Tatsachen, die eine zielgerichtete, über das Vorhandensein eines Thermofensters hinausgehende Beeinflussung des Abgasverhaltens erkennen ließen.
34
Es wird nicht verkannt, dass der Kläger ohne eine aufwändige und kostenträchtige technische Untersuchung kein sicheres Wissen darüber haben kann, wie konkret die Motorsteuerung seines Pkw und das darin enthaltene Emissionskontrollsystem ausgestaltet sind und funktionieren. Er darf daher keinen überzogenen Vortragsanforderungen unterworfen werden.
35
Das OLG Koblenz führt in der zitierten Entscheidung hierzu allerdings aus:
„Ein relativ allgemein gehaltenes prozessuales Vorgehen wird aber dann unzulässig, wenn die Partei für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhaltes willkürlich Behauptungen aufstellt, ohne dass hierfür greifbare tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Derartige greifbare, tatsächliche Anhaltspunkte hat der Kläger nicht dargelegt. Insgesamt reicht es für einen schlüssigen Klagevortrag nicht aus, im Wege eines „Generalverdachts“ grundsätzlich bei allen Dieselfahrzeugen eines Herstellers eine unzulässige Abschalteinrichtung zu vermuten und dies gar baureihenübergreifend“.
36
Es ist dem Kläger nicht gelungen, konkrete Indizien für die Richtigkeit seiner Behauptungen bzw. Vermutungen aufzuzeigen. Derartige Indizien könnten sich etwa aus publizierten behördlichen oder sonstigen Untersuchungen zu dem streitgegenständlichen Fahrzeug ergeben, aus eigenen Ermittlungen und Untersuchungen des Klägers, aus einem behördlich angeordneten Rückruf betreffend das streitgegenständliche Fahrzeug oder dessen Baureihe, aus Verlautbarungen oder Maßnahmen des Kraftfahrtbundesamtes und vielem mehr. Nichts dergleichen ist klägerseits dargelegt worden. Im Gegenteil liegen behördliche Untersuchungen vor, mit denen das KBA gerade keine Abgasmanipulation festgestellt hatte. Auch einen Rückruf gab und gibt es nicht.
37
Die vom Kläger über das Vorhandensein eines Thermofensters hinausgehend aufgeführten, gemessen an den unionsrechtlichen Vorschriften nach seiner Ansicht als unzulässig zu wertenden Steuerungsmaßnahmen zur Regulierung des Abgasverhaltens spiegeln weitgehend nur die Historie und die Erkenntnisse der in der öffentlichen Presse- und Medienberichterstattung diskutierten sogenannten „VW-Diesel-Abgasaffäre“ betreffend die Motorenbaureihe EA189 wider, ohne einen konkreten Bezug zu dem hier in Rede stehenden Fahrzeug des Klägers und dem darin verbauten Motor der Nachfolgegeneration EA 288 belastbar und in nachprüfbarer Weise darzulegen.
38
Wie ausgeführt hat die Beklagte in diesem Zusammenhang in Erwiderung des klägerischen Vorbringens auf den Bericht der Untersuchungskommission „…“ hingewiesen und durch auszugsweise Wiedergabe der inhaltlichen Feststellungen dargetan, dass sich der Verdacht der „erneuten Abgasmanipulation“ hier nicht bestätigt und somit auch das Kraftfahrtbundesamt keinen Anlass zu weiteren Maßnahmen gesehen habe. Diese Tatsache konnte der Kläger weder entkräften noch diesem Vorbringen mit validen, belastbaren Fakten entgegentreten.
39
Die Behauptung des Klägers, die von der Beklagten angeblich verwendeten Steuerungsstrategien zur Abgasnachbehandlung, konkret die Fahrkurvenerkennung sowie eine reduzierte Abgasreinigung seien als unzulässige Abschalteinrichtung zu bewerten, stellt hiernach eine Behauptung ins Blaue hinein dar. Ein gesonderter Hinweis des Gerichts war diesbezüglich nicht erforderlich, nachdem die Beklagtenseite bereits wiederholt darauf hingewiesen hatte.
40
Hierbei macht das Gericht deutlich, dass die Annahme eines willkürlichen Sachvortrags ins Blaue hinein, der eine angebotene Beweisaufnahme zur prozessual unzulässigen Ausforschung machen würde, nur ausnahmsweise anzunehmen ist. Eine Partei darf im Zivilprozess grundsätzlich Tatsachen behaupten, über die sie keine genaue Kenntnis hat, die sie aber nach Lage der Dinge für wahrscheinlich hält. Eine prozessual unzulässige Ausforschung ist jedoch dann anzunehmen, wenn die Partei ohne greifbare Anhaltspunkte Behauptungen zu dem Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts aufstellt. Hiervon ist angesichts der vorstehend dargelegten Umstände auszugehen.
41
Die Tatsache, dass die Fahrzeuge der Beklagten mit der Motorenbaureihe EA189, für die auf Veranlassung des KBA ein Rückruf angeordnet wurde, mit einer unzulässigen Umschaltlogik ausgestattet sind, lässt es nicht als gerechtfertigt erscheinen, diesen Befund generalisierend auf andere Fahrzeugmodelle mit Motoren einer späteren Generation zu übertragen. Das streitgegenständliche Fahrzeug ist von einem solchen Rückruf nicht nur nicht betroffen, das KBA hat die konkrete Motorenbaureiehe sogar als unbedenklich eingestuft. Die Tatsache, dass sich die von der Klägerin präsentierten Meldungen über mögliche Missstände bei der Abgasreinigung von Dieselfahrzeugen gerade selektiv zu einzelnen Fahrzeugmodellen verhalten, macht deutlich, dass die substantiierte Behauptung einer verbotenen Manipulation des Abgasverhaltens eines Fahrzeugs stets einer individuellen, fahrzeugbezogenen Darlegung von Umständen bedarf, um nicht als eine Behauptung ins Blaue hinein qualifiziert zu werden.
42
Mit Ausnahme des Vorbringens zu dem verbauten Thermofenster fehlt es somit an einem hinreichend substantiierten, dem Beweis zugänglich Tatsachenvortrag.
43
2.3. Ohne dass es darauf ankäme, ist mangels Rückruf zudem fraglich, ob überdies überhaupt ein Schaden beim Kläger eingetreten ist. Die Gefahr der Stilllegung des Fahrzeugs besteht jedenfalls nicht (vgl. OLG München, Beschl. v. 17.03.2020 – 21 U 6698/19).
44
3. Aus vorstehenden Gründen scheitern auch Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 Abs. 1 StGB, aus § 831 BGB oder anderen denkbaren Anspruchsgrundlagen.
45
4. Mangels Hauptanspruch waren auch weder die Feststellung des Annahmeverzuges noch die Erstattungsfähigkeit vorgerichtlicher Anwaltskosten auszusprechen.
II.
46
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 344, 91 Abs. 1 ZPO.
III.
47
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 S. 1, S. 2 ZPO.
Verkündet am 06.09.2022