Inhalt

OLG München, Beschluss v. 13.07.2022 – 6 St 3/22 (12)
Titel:

Freiheitsstrafe, Strafaussetzung, Untersuchungshaft, Krankheit, Arbeitgeber, Ermessen, Justizvollzugsanstalt, Strafe, Facharzt, Arbeit, Einstellung, Gutachten, Aussetzung, Strafvollzug, bedingte Entlassung, Frankfurt Main, psychiatrische Gutachten

Schlagworte:
Freiheitsstrafe, Strafaussetzung, Untersuchungshaft, Krankheit, Arbeitgeber, Ermessen, Justizvollzugsanstalt, Strafe, Facharzt, Arbeit, Einstellung, Gutachten, Aussetzung, Strafvollzug, bedingte Entlassung, Frankfurt Main, psychiatrische Gutachten
Fundstelle:
BeckRS 2022, 49689

Tenor

I. Die Vollstreckung des Restes der gegen den Verurteilten A. E. durch Urteil des Senats vom 11. Juli 2018, Az.: 6 St 3/12, verhängten Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten wird mit Ablauf von zwei Dritteln der Strafe zur Bewährung ausgesetzt.
II. Die Dauer der Bewährungszeit wird auf 5 Jahre festgesetzt.
III. Der Verurteilte wird für die Dauer der Bewährungszeit der Aufsicht und Leitung des örtlich zuständigen hauptamtlichen Bewährungshelfers unterstellt.
IV. Dem Verurteilten werden folgende Weisungen erteilt:
1) Der Verurteilte hat nach seiner Entlassung aus der Haft unverzüglich unter der …, festen Wohnsitz zu nehmen, jeden Wohnsitzwechsel nur nach vorheriger Rücksprache mit dem Bewährungshelfer vorzunehmen und einen Wohnsitzwechsel unverzüglich dem Senat anzuzeigen.
2) Der Verurteilte hat nach seiner Entlassung aus der Haft unverzüglich bei der Z. GmbH, …, sein Arbeitsverhältnis fortzuführen, eine Änderung des Arbeitgebers nur nach vorheriger Rücksprache mit dem Bewährungshelfer vorzunehmen und die Änderung des Arbeitgebers dem Senat unverzüglich mitzuteilen.
3) Der Verurteilte wird angewiesen, zu folgenden Personen keinen Kontakt aufzunehmen und mit ihnen weder persönlich, telefonisch, schriftlich noch über elektronische Kommunikationsmittel zu verkehren:
a) B. Z.
b) R. W…
c) M. R. D…
d) S. G…
e) M. G…
f) Th. W…
g) K.-H. S…
4) Der Verurteilte wird angewiesen,
a) zu dem „Aussteigerprogramm Sachsen“, Kontakt- und Informationsstelle, …, persönlich, telefonisch, schriftlich oder über elektronische Kommunikationsmittel Kontakt aufzunehmen,
b) nach näherer Bestimmung der Leitung dieses Programms an drei Anbahnungsgesprächen teilzunehmen,
c) nach näherer Bestimmung der Leitung dieses Programms ein Aussteigerprogramm zu durchlaufen sowie
d) die Kontaktaufnahme, die Durchführung der Anbahnungsgespräche und des Aussteigerprogramms dem Senat jeweils unverzüglich nachzuweisen.
V. Die Belehrung über die Dauer und das Wesen der Strafaussetzung zur Bewährung wird der Justizvollzugsanstalt To..., Im St. 4, ... T., übertragen.

Gründe

I.
1
1) Der Senat hat den Antragsteller A. E. mit Urteil vom 11.7.2018, Az.: 6 St 3/12, rechtskräftig seit dem 15.12.2021, unter Freispruch im Übrigen wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt.
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Hinsichtlich der Umstände, wie der Verurteilte E. die Verurteilte B. Z. sowie die Verstorbenen U. B. und U. M. kennengelernt hat, nimmt der Senat Bezug auf die Feststellungen in seinem Urteil vom 11.7.2018 (Buch I, Abschnitt II, Teil B, [10] = S. 68 f.). Daraus ergibt sich, dass der Verurteilte E. die rechtsextremistische Einstellung der drei untergetauchten Personen kannte und diese teilte. Auch hinsichtlich der Tat, deretwegen A. E. verurteilt wurde, und ihrer Vorgeschichte nimmt der Senat auf die Feststellungen in seinem Urteil vom 11.7.2018 Bezug (Buch I, Abschnitt III, Teil B = S. 243 ff.). Daraus ergibt sich zusammengefasst, dass A. E. nach vorheriger Absprache mit zumindest einer der drei Personen am 8.5.2009 in einem Reisezentrum der „DB B.“ zwei Bahn-C. auf den Namen „S. E.“ und „A. E.“ beantragt hat, wobei er Lichtbilder vorlegte, auf denen U. B… und B. Z. abgebildet waren. Die ausgestellten Karten übergab er absprachegemäß an B. Z. und U. B… zur Nutzung. In den beiden Folgejahren machte er von der Kündigungsmöglichkeit der Abonnements keinen Gebrauch, so dass diese entsprechend verlängert wurden. Die übersandten Folgekarten für die Jahre 2010/2011 und 2011/2012 übergab er jeweils vereinbarungsgemäß an B. Z. und U. B…. Hinsichtlich der Feststellungen des Senats zum Vorstellungsbild des Verurteilten E. in Bezug auf den Zusammenschluss der drei Personen, ihre Taten, seine Unterstützung durch den Erwerb der Bahn-C. und seiner jeweiligen Billigung nimmt der Senat ebenfalls auf sein Urteil vom 11.7.2018 Bezug (Buch I, Abschnitt III, Teil B = S. 247 f.).
3
2) In der Zeit vom 24.11.2011 bis zum 14.6.2012 befand sich der Verurteilte in der JVA F. und vom 12.9.2017 bis zum 11.7.2018 in der JVA M. St. in Untersuchungshaft. Mit Verfügung des Generalbundesanwalts vom 23.2.2022 wurde er unter Fristsetzung bis zum 6.4.2022 zum Strafantritt geladen. Er hat die Strafhaft am 5.4.2022 in der JVA Zw. angetreten. Seit dem 26.4.2022 befindet er sich in der JVA To....
4
3) Mit Schreiben seines anwaltlichen Vertreters vom 3.3.2022 hat der Verurteilte beantragt, nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe die Vollstreckung des Strafrestes aus dem Urteil des Senats vom 11.7.2021 zur Bewährung auszusetzen. Der Verurteilte hat am 23.3.2022 einer Aussetzung zugestimmt. Zwei Drittel der verhängten Strafe sind sind mit Ablauf des 15.7.2022 verbüßt. Endstrafe tritt am 16.5.2023 ein.
5
Zur Begründung seines Antrags trägt der Verurteilte zusammengefasst im Wesentlichen vor:
6
a) Nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft im Jahr 2018 habe er sich mit seiner Familie wieder in das normale Leben ohne Politik, Gewalt und die rechte Szene „gekämpft“. Nach 5 ½ Jahren Gerichtsverhandlung und fast 17 Monaten Untersuchungshaft sei das ein schwere Weg gewesen.
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b) Seit 2005 sei er mit seiner Ehefrau S. verheiratet. Sie hätten vier Kinder im Alter von … bis … Jahren. Mit seiner Ehefrau und seinen Kindern lebe er in einem gemeinsamen Haushalt.
8
c) Mitte 2019/Anfang 2020 habe er begonnen, sich von der rechten Szene und seiner politischen Weltanschauung zu lösen. Seither spielten Gewalt und Politik für ihn keine Rolle mehr. Er habe angefangen, seine nationalsozialistischen und strafrechtlich relevanten Tätowierungen unkenntlich machen zu lassen. Seine Zeit verwende er ausschließlich für seine Familie und seine Arbeit. Seit 2020 wohne er mit seiner Familie in …. Dort hätten sie Anschluss an das gesellschaftliche Leben gefunden.
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d) Er besitze den Realschulabschluss, sei gelernter Maurer und gelernter Fachinformatiker für Anwendungsentwicklung. Zudem habe er eine Weiterbildung zum Berufskraftfahrer absolviert. Seit dem 1.3.2019 stehe er durchgehend in Arbeit. Im September 2020 habe er eine unbefristete Stelle bei der Fa. R… zum 30.9.2020 gekündigt. Zum 1.10.2020 habe er bei der Fa. Z. GmbH, …, zu arbeiten begonnen. Er arbeite dort als Kranführer und Transporter. Er sei für den Transport der Baumaterialien für die Produktion, das Verpacken und die Verladung verantwortlich. Die Arbeitsstelle bei der Fa. Z. habe ihm sehr geholfen, von den politischen Dingen und der Szene Abstand zu gewinnen. Der Geschäftsführer und der Betriebsrat hätten von seinem Haftantritt Kenntnis. Sie setzten sich für eine Fortführung des Arbeitsverhältnisses ein. Bei seiner Arbeitsstelle werde er nicht als Nazi oder Verbrecher, sondern als Kollege gesehen. Bei einer Entlassung zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt der verhängten Freiheitsstrafe bliebe ihm der Arbeitsplatz erhalten. Eine entsprechende Bestätigung seines Arbeitgebers hat der Verurteilte vorgelegt.
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e) Seine Familie und seine Arbeitsstelle seien die beiden Standbeine, die ihm helfen würden, „aufrecht zu stehen“ und ein normales Leben zu führen, bei dem Politik, Gewalt und Verbrechen keine Rolle spielen würden.
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f) Am ... 2020 sei sein Vater verstorben. Seither benötige seine Mutter Hilfe im Haus, die er sich mit seinen Geschwistern teilen würde. Seitdem er die rechte Szene hinter sich gelassen habe, sei die Bindung zu seinen Geschwistern wieder fester und regelmäßiger geworden.
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4) Die JVA M. ist mit Schreiben vom 14.2.2022 einer Strafaussetzung zur Bewährung nach § 57 Abs. 1 StGB entgegengetreten, da sich der Verurteilte von der rechtsextremen Szene nicht distanziert habe. Die JVA Fr. am M. I hat von einer inhaltlichen Stellungnahme abgesehen und die Entscheidung mit Schreiben vom 16.2.2022 in das Ermessen des Senats gestellt. Die JVA To... hat mit Schreiben vom 1.6.2022 mitgeteilt, wegen eines fehlenden Diagnoseverfahrens zur Erstellung des Vollzugs- und Eingliederungsplans sowie wegen der überschaubaren Verweildauer in der Justizvollzugsanstalt To... werde von einer inhaltlichen Stellungnahme abgesehen und die Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung in das Ermessen des Senats gestellt. Alle drei Justizvollzugsanstalten bescheinigen dem Verurteilten ein beanstandungsfreies Vollzugsverhalten. Auf die Stellungnahmen wird Bezug genommen.
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5) Das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz haben mit Schreiben vom 28.2.2022 bzw. 24.3.2022 zu Verbindungen des Verurteilten E. in die rechtsextremistische Szene Stellung genommen. Auf die Schreiben wird Bezug genommen.
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6) Der Senat hat zu der Frage, ob bei dem Verurteilten E. keine Gefahr mehr besteht, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbesteht (§ 454 Abs. 2 StPO), ein psychiatrisches Sachverständigengutachten des PD Dr. med. S…, Institut für psychiatrische Gutachten, M., erholt. Der Sachverständige befürwortet eine Strafaussetzung zur Bewährung zum Zwei-Drittel-Zeitpunkt. Er regt an, das bestehende Rückfallrisiko durch Weisungen zu verringern. Auf das schriftliche Sachverständigengutachten vom 8.6.2022 wird Bezug genommen.
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7) Die Auskunft aus dem Bundeszentralregister vom 3.6.2022 enthält über die gegenständliche Verurteilung durch den Senat hinaus keine weiteren Eintragungen.
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8) Der Senat hat den Verurteilten und den Sachverständigen im Termin vom 6.7.2022 angehört.
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9) Der Generalbundesanwalt ist mit Telefax-Schreiben vom 8.7.2022 einer Aussetzung der Restfreiheitsstrafe nicht entgegengetreten.
II.
18
Die Vollstreckung der gegen A. E. verhängten Freiheitsstrafe war nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe zur Bewährung auszusetzen.
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1) Das Gericht setzt die Vollstreckung des Restes einer zeitigen Freiheitsstrafe nach § 57 Abs. 1 Satz 1 StGB zur Bewährung aus, wenn zwei Drittel der verhängten Strafe, mindestens jedoch zwei Monate verbüßt sind (Ziff. 1), dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann (Ziff. 2.), und die verurteilte Person einwilligt (Ziff. 3.). Bei der Entscheidung sind insbesondere die Persönlichkeit der verurteilten Person, ihr Vorleben, die Umstände ihrer Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten der verurteilten Person im Vollzug, ihre Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Aussetzung für sie zu erwarten sind (§ 57 Abs. 1 Satz 2 StGB).
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a) Im Rahmen der nach § 57 Abs. 1 Ziff. 2 StGB zu stellenden Prognose ist eine Abwägung zwischen den zu erwartenden Wirkungen des bereits erlittenen Vollzugs und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit erforderlich. Je nach der Schwere möglicher neuer Taten sind unterschiedliche Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit der Legalbewährung zu stellen. Dabei sind die Anforderungen umso höher, je gewichtiger die Rechtsgüter sind, die bei einem möglichen Rückfall verletzt würden. Sie dürfen aber nicht so erhöht werden, dass im Ergebnis kaum mehr eine Chance auf Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung verbleibt (Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 57 Rn. 12 m.w.N.).
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b) Die vorzunehmende Abwägung zwischen den zu erwartenden Wirkungen des bereits erlittenen Strafvollzugs und dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit kann auch bei terroristischen Verbrechen zu dem Ergebnis führen, dass die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug verantwortbar ist. Die Voraussetzungen an eine positive Legalprognose dürfen auch in diesem Bereich nicht so hochgeschraubt werden, dass dem Verurteilten kaum eine Chance auf eine vorzeitige Haftentlassung bleibt (BGH, Beschluss vom 10.4.2014, StB 4/14, Rn. 3, zit. nach juris). Bei Straftätern, die wegen terroristischer Verbrechen verurteilt worden sind, fällt im Rahmen der Legalprognose entscheidend ins Gewicht, ob sich der Verurteilte glaubhaft von seiner früheren radikalen Einstellung gelöst und von seinen früheren Taten distanziert hat (BGH NStZ-RR 2018, 228; dazu auch BGH, Beschluss vom 10.4.2014, StB 4/14, Rn. 3, zit. nach juris).
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c) Verbüßt der Verurteilte erstmals eine Freiheitsstrafe, spricht eine Vermutung dafür, dass der Vollzug seine Wirkung erreicht hat, und dies der Begehung neuer Straftaten entgegenwirkt. Diese Vermutung kann durch negative Umstände widerlegt oder durch die Art der abgeurteilten Taten eingeschränkt sein (Fischer, a.a.O., § 57 Rn. 14 m.w.N.).
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d) Die Strafaussetzung zur Bewährung darf nicht allein wegen der erheblichen Schuld des Täters oder wegen der besonderen Gefährlichkeit des Delikts versagt werden. Die Verteidigung der Rechtsordnung darf einer im Übrigen positiven Legalprognose nicht isoliert entgegengestellt werden (Fischer, a.a.O., § 57 Rn. 12b m.w.N.).
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e) Das Wagnis die Strafaussetzung zur Bewährung unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit zu verantworten, setzt keine Gewissheit künftiger Straffreiheit voraus, es genügt vielmehr eine naheliegende Chance für ein positives Ergebnis (Fischer, a.a.O., § 57 Rn. 14 m.w.N.). Das Maß der zu verlangenden Wahrscheinlichkeit für ein straffreies Leben des Verurteilten ist von dem Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts und dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit abhängig (Groß/Kett-Straub, in: MüKom StGB, 4. Aufl. 2020, § 57 Rn. 16). Die kaum jemals zu erlangende Gewissheit, dass der Verurteilte dauerhaft keine Straftaten mehr begehen wird, ist selbst bei lebenslanger Freiheitsstrafe keine Voraussetzung für die Reststrafenaussetzung (BGH NStZ 2018, 228, 229 unter Hw. auf BVerfG NStZ 1998, 373, 374).
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f) Schließlich ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Je länger der Freiheitsentzug insgesamt dauert, desto höher sind die Voraussetzungen, die an seine Verhältnismäßigkeit zu stellen sind (Fischer, a.a.O., § 57 Rn. 15 m.w.N.).
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2) Unter Beachtung dieser Grundsätze ergibt sich Folgendes:
27
a) Zwei Drittel der verhängten Freiheitsstrafe sind mit Ablauf des 15.7.2022 verbüßt (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 1 StGB). Der Verurteilte hat am 23.3.2022 einer Aussetzung zugestimmt (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 3 StGB).
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b) Unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit kann es verantwortet werden, den verbleibenden Rest der verhängten Freiheitsstrafe nach Verbüßung von zwei Dritteln zur Bewährung auszusetzen (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Ziff. 2 StGB). Der Senat hat die für die Legalprognose relevanten Faktoren erhoben, gewichtet und im Rahmen einer Gesamtabwägung gegeneinander abgewogen.
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i) Prognoserelevante Faktoren, die die Erwartung künftiger Straffreiheit des Verurteilten begründen können:
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(1) Der Verurteilte hat sich freiwillig zum Strafantritt gestellt. Er ist Erstverbüßer und hat ein beanstandungsfreies Vollzugsverhalten gezeigt. Es ist daher zu vermuten, dass ihn der Strafvollzug beeindruckt hat. Gegenteilige Anhaltspunkte sind nicht zu Tage getreten, vielmehr hat der Verurteilte mehrfach glaubhaft hervorgehoben, dass er nicht mehr in den Strafvollzug zurückkehren, sondern ein normales Leben mit seiner Familie und mit Arbeit verbringen wolle.
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Den Großteil der Verurteilung hat er unter den Bedingungen des Vollzugs von Untersuchungshaft verbüßt. Es kann ihm daher schon aus zeitlichen Gründen nicht zum Nachteil gereichen, dass im Rahmen des Strafvollzuges eine Aufarbeitung des Tatgeschehens nicht erfolgt ist, dass er an keinem Aussteigerprogramm teilgenommen hat und dass er keine Möglichkeit hatte, Vollzugslockerungen beanstandungsfrei zu durchlaufen.
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(2) Der Verurteilte hat sich seit seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft am 11.7.2018 bis zu Haftantritt am 5.4.2022, somit über dreieinhalb Jahre, straffrei geführt. Die der Verurteilung zu Grunde liegende Tat liegt nunmehr mehr als zehn Jahre zurück, ohne dass weitere Straftaten hinzugetreten wären. Diese Umstände zeigen eine positive Entwicklung des Verurteilten auf, auch künftig ein straffreies Leben zu führen. Die Reststrafenaussetzung zur Bewährung nach Vollstreckung von zwei Dritteln der verhängten Freiheitsstrafe übt auf den Verurteilten einen zusätzlichen Motivationsdruck aus, weiter straffrei zu leben.
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(3) Der Verurteilte verfügt über einen stabilen sozialen Entlassungsraum. Er ist verheiratet und hat vier Kinder. In die Nachbarschaft ist er integriert. Der Verurteilte stand bis zum Haftantritt am 5.4.2022 bei der Fa. Z. GmbH, …, in Arbeit. Bei einer Entlassung nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Freiheitsstrafe bleibt ihm dieser Arbeitsplatz erhalten. Dazu hat er eigeninitiativ nicht unerheblich beigetragen, indem er seinem Arbeitgeber die Haftsituation offenbart und auseinandergesetzt hat. Bei Verbüßung der Endstrafe wäre der Erhalt dieses Arbeitsplatzes jedenfalls stark gefährdet.
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(4) Nach Angaben des Verurteilten hat sich seine politische Einstellung ab Mitte 2019/Anfang 2020 grundlegend gewandelt.
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Noch während der Haft in der JVA M. St. sei er rechtsextremistisch orientiert gewesen. Er habe es als angenehm empfunden, Briefe aus der ganzen Welt erhalten zu haben. Nach der Verkündung des Urteils am 11.7.2018 sei er von seiner Ehefrau und acht bis neun „Kammeraden“ abgeholt worden. Er sei damals ein „überzeugter Nationalsozialist“ gewesen.
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Nunmehr habe er sich von jeglichem rechtsextremistischen Gedankengut distanziert und den Kontakt zur rechtsextremen Szene abgebrochen. Grund hierfür sei gewesen, dass er ein straffreies Leben mit Familie und Beruf führen wolle. Zuerst habe er sich aus den rechtsextremistischen Strukturen gelöst, mit der Zeit sei es ihm dann gelungen, das rechtsextremistische Gedankengut aus seinem Kopf zu streichen. Insbesondere höre er keine rechtsextremistische Musik mehr, die für ihn eine Art Gehirnwäsche darstelle.
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Diese Angaben sind schlüssig und nachvollziehbar und damit glaubhaft. In dieser Annahme sieht sich der Senat nicht nur durch die Einschätzung des Sachverständigen, sondern auch durch den Eindruck, den der Verurteilte in dem Anhörungstermin am 6.7.2022 hinterlassen hat, und in dessen Verhalten ab Mitte 2019/Anfang 2020 bestätigt.
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(a) Wie der Sachverständige vermag auch der Senat keine Anhaltspunkte dafür zu erkennen, dass dieser Wandel in der Einstellung des Verurteilten und seine Abkehr von der rechtsextremistischen Szene nur vorgetäuscht wären.
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(b) Es bestehen keine Erkenntnisse staatlicher Behörden, dass der Verurteilte ab Mitte 2019/Anfang 2020 noch rechtsextremistische Veranstaltungen besucht hätte.
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Der Verurteilte hat eingeräumt, noch am 6.10.2022 an S. G., die der rechtsextremen Szene zuzurechnen ist, einen Brief geschrieben zu haben. Als er den Medien entnommen habe, dass sie mit ihrem Auto, in dessen Kofferraum sich Brandmittel befunden hätten, aufgegriffen worden sei, habe er den Kontakt abgebrochen.
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Abgesehen von dem Verurteilten R. W. hatte der Verurteilte ab Mitte 2019/Anfang 2022 auch keinen Kontakt zu vormaligen Mitangeklagten oder zu Angehörigen der rechten Szene. Den Kontakt zu dem Mitangeklagten W. und dessen familiären Umfeld hat der Verurteilte mit dem Haftantritt am 5.4.2022 abgebrochen. Polizeiliche oder nachrichtendienstliche Erkenntnisse, die das widerlegen würden, liegen nicht vor.
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(c) Der Verurteilte beabsichtigte, durch eine Rundmail seinen Ausstieg aus der rechten Szene bekannt zu geben, zu der es nur deshalb nicht gekommen ist, weil ihm sein Verteidiger im Hinblick auf mögliche Repressalien aus der Szene davon abgeraten hat. Der Verteidiger des Verurteilten hat das bestätigt. Pressevertreter, die den Verurteilten aufgesucht haben, habe er und seine Ehefrau mit dem Hinweis weggeschickt, er sei aus der Szene ausgestiegen. Dieses Ereignis wir durch einen im Internet abrufbaren Artikel auf „Zeit Online“ vom 4.11.2021 bestätigt.
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(d) Ab 2019 hat der Verurteilte begonnen, seine rechtsradikalen und extremistischen Tätowierungen unkenntlich machen zu lassen. So wurde im Jahr 2019 der Schriftzug … gecovert, im Jahr 2020 die Sequenz …. Die Schrift … wurde so verändert, dass nur noch das Wort … zu erkennen ist. Überdeckt wurde im Jahr 2020 weiterhin eine … auf der Brust. Ein … wurde in … geändert. Hiervon hat sich der Sachverständige bei der Begutachtung des Verurteilten überzeugen können. Der Verurteilte beabsichtigt, weitere rechtsextremistische Tätowierungen entfernen oder unkenntlich machen zu lassen, etwa die Zahl …, eine … im Unterbauchbereich und die …-Tätowierung an der rechten Brust.
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(e) Der Verurteilte ist, wie der Sachverständige bestätigt hat, nunmehr in der Lage, in Konfliktsituationen die Hilfe der Polizei in Anspruch zu nehmen. So hat er, als das Auto seines Sohnes durch Dritte zerkratzt worden war, die Sache nicht selbst geregelt, wie er das früher getan hätte, sondern die Polizei eingeschaltet.
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(f) Für die Glaubhaftigkeit der Angaben des Verurteilten gegenüber dem Sachverständigen und dem Senat spricht insbesondere der Umstand, dass er, über die Erkenntnisse des Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz hinausgehend, den nachfolgenden Sachverhalt berichtet hat: Im Jahr 2000 habe er noch mit drei früheren Bekannten der Gruppierung „Der dritte Weg“ in Plauen an einem Junggesellenabschied teilgenommen. Sie hätten ihn dann gefragt, ob er noch an einer Demonstration teilnehmen wolle. Das habe er abgelehnt. Sie hätten dann an einem Parkplatz angehalten. Er habe feststellen müssen, dass dort eine Art Kundgebung stattfinde. Er habe dann seinen Begleitern erklärt: „So, das wars jetzt für mich“ und habe den Kontakt abgebrochen.
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Die Änderung der Einstellung des Verurteilten zeigt auf, dass er einen Reifeprozess durchlaufen hat, der als gewichtiges positives Faktum im Rahmen der Legalprognose zu berücksichtigen ist.
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(5) Der Verurteilte hat begonnen, sich mit der Tat, deretwegen er verurteilt wurde, wenn auch nur oberflächlich, auseinanderzusetzen. Über den objektiven Tatbestand hinaus hat er nunmehr auch eingeräumt, im Jahr 2007 gewusst zu haben, dass die Mitglieder des „Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU)“ Raubüberfälle begangen haben. Er hat jedoch weiter abgestritten, es für möglich gehalten zu haben, dass die Mitglieder des „NSU“ Tötungsdelikte und Bombenanschläge zum Nachteil ausländischer Mitbürger begangen haben, wie das der Senat in seinem Urteil anhand verschiedener Indizien geschlossen hat.
48
(6) Der Sachverständige hat im Rahmen der Exploration des Verurteilten anhand zweier im internationalen und nationalen Sprachraum empirisch validierter Prognoseinstrumente, der Psychopathy Checklist Revised (PCL-R) nach Hare et al. 1991/2003 und der integrierten Liste von Risikofaktoren nach Nedopil 2005 (ILRV), eine Gruppen-Rückfallwahrscheinlichkeit beurteilt. Er hat darauf hingewiesen, dass diese Prognoseinstrumente nicht speziell für politische Straftäter entwickelt worden seien und nur eine statistische Wahrscheinlichkeits- und keine Individualprognose ermöglichen würden. Wegen ihrer allgemeinen Kriterien hätten sie jedoch auch im vorliegenden Fall eine zu beachtende Aussagekraft.
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(a) Bei Anwendung der Psychopathy Checklist Revised (PCL-R) habe sich ein Punktewert von 10 von maximal 40 zu erreichenden Punkten ergeben. Das deute auf ein unterdurchschnittliches Rückfallrisiko hin. Hohe Punktewerte – über 30 in den USA und über 25, nach Einschätzung des Sachverständigen über 23, in Europa – seien ein Indikator für ein erhöhtes Rückfallrisiko.
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(b) Die Anwendung der integrierten Liste nach Nedopil (ILRV) habe ein prognostisch günstiges Bild ergeben. Dieses Prognoseinstrument sei dadurch gekennzeichnet, dass es weniger an statische Prognosefaktoren anknüpfe und auch die postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung und den sozialen Empfangsraum des Verurteilten berücksichtige.
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(i) Die Bewertung des Ausgangsdelikts spreche für eine geringe statistische Rückfallwahrscheinlichkeit. Entscheidend seien situative Faktoren gewesen. Prognostisch günstig sei, dass bei dem Verurteilten weder eine vorübergehende Krankheit noch eine Persönlichkeitsstörung noch kriminogene oder sonstige deviante Motive festzustellen seien.
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(ii) Die Bewertung der anamnestischen Daten ergebe keine Anhaltspunkte für eine frühe Gewaltanwendung. Die Partnerbeziehung des Verurteilten und seine letzten Arbeitsverhältnisse seien stabil gewesen. Es lägen weder Alkohol- noch Drogenmissbrauch vor. Prognostisch günstig sei der Umstand, dass bei der psychiatrischen Untersuchung keine Persönlichkeitsstörung des Verurteilten festzustellen gewesen sei. Ungünstig sei jedoch eine frühe Anpassungsstörung, die Orientierung zur Gruppe der Skinheads im Alter von etwa 13 bis 14 Jahren.
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(iii) Die postdeliktische Persönlichkeitsentwicklung des Verurteilten sei ausgesprochen günstig verlaufen. Eine Krankheit oder Therapiebedürftigkeit bestehe bei dem Verurteilten nicht. Der Verurteilte sei nunmehr in der Lage, mit seiner Delinquenz selbstkritisch umzugehen. Psychopathologische Auffälligkeiten hätten sich deutlich gebessert. Eine antisoziale Lebenseinstellung sei nicht mehr festzustellen. Es stünden nun Arbeit und Familie im Vordergrund. Zudem habe der Verurteilte begonnen, seine extremistischen Tätowierungen unkenntlich machen zu lassen. Der Verurteilte sei emotional stabil und sei in der Lage gewesen, in Krisensituationen Bewältigungsmechanismen (Coping-Mechanismen) zu entwickeln. Gegen Folgeschäden durch die Inhaftierung habe er eigeninitiativ Widerstand geleistet, indem er sich erfolgreich um den Erhalt seines Arbeitsplatzes bemüht habe.
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(iv) Auch der soziale Empfangsraum sei für den Verurteilten ausgesprochen günstig zu beurteilen. Der Verurteilte verfüge sowohl über einen Arbeitsplatz, über eine Unterkunft und mit seiner Familie über soziale Bindungen mit Kontrollfunktion. Offizielle Kontrollmöglichkeiten könnten durch die Bestellung eines Bewährungshelfers, Konfliktbereiche, die rückfallgefährdete Situationen wahrscheinlich machen, durch Bewährungsauflagen günstig beeinflusst werden. Die Verfügbarkeit möglicher Opfer sei allerdings groß, gleiches gelte für die Zugangsmöglichkeiten zu Risiken. Prognostisch günstig sei zu bewerten, dass der Verurteilte über die Fähigkeit verfüge, Regeln einzuhalten (Compliance) und auch in Zukunft zu erwartende Stressoren realistisch einschätzen könne.
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(c) Der Sachverständige PD Dr. S… ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er verfügt über eine langjährige forensische Erfahrung auch mit der Erstellung von Prognosegutachten. An seiner Sachkunde bestehen keine Zweifel. Mängel in dem Gutachten vermochte die mündliche Anhörung des Sachverständigen nicht aufzuzeigen. Der Senat schließt sich deshalb nach eigener Überprüfung den Ausführungen des Sachverständigen an.
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ii) Prognosefaktoren, die gegen eine Erwartung künftiger Straffreiheit sprechen:
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(1) Mit dem Sachverständigen geht der Senat davon aus, dass bei dem Verurteilten eine frühe Anpassungsstörung, der Eintritt in das rechte Skinheadmilieu im Alter von etwa 13 bis 14 Jahren, vorliegt, die prognostisch ungünstig zu bewerten ist. Hinzu kommt, dass der Verurteilte seit dieser Zeit, etwa 1982/1983, jahrzehntelang bis zu seinem Ausstieg Mitte 2019/Anfang 2020 in der rechtsradikalen Szene verblieben ist. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass sich der Verurteilte erst seit Mitte 2019/Anfang 2020, somit erst seit kurzer Zeit, aus den rechtsextremistischen Strukturen gelöst und sein rechtsextremistisches Gedankengut aufgegeben hat, so dass eine vertiefte Auseinandersetzung damit noch nicht stattgefunden hat, zumal er bislang Hilfe Dritter, etwa ein Aussteigeprogramm, nicht in Anspruch genommen hat.
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(2) Prognostisch negativ zu bewerten ist auch die Primärpersönlichkeit des Verurteilten, die nach Angaben des Sachverständigen unsichere, haltschwache, aber auch dissoziale Persönlichkeitszüge aufweise. Zwar werde der Verurteilte nicht von sich aus Gelegenheiten zur Begehung von Straftaten suchen, gerate er aber an einen meinungsstarken, überzeugend argumentierenden Vertreter der rechten Szene, bestehe eine erhebliche Gefahr, dass er sich beeinflussen lasse, wodurch das Rückfallrisiko erhöht werde. Allerdings sei zu berücksichtigen, dass sich diese Persönlichkeitszüge alle deutlich in Remission befänden und nicht so stark ausgeprägt gewesen seien, dass sie die ICD-10-Kriterien für eine spezifische oder kombinierte Persönlichkeitsstörung erfüllen würden. Zudem könne das Rückfallrisiko in diesem Zusammenhang durch entsprechende Kontaktverbote verringert werden.
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(3) Prognostisch negativ zu bewerten ist auch, dass die Verfügbarkeit von Opfern und die Zugangsmöglichkeit zu Risiken, zur rechten Szene, groß sind.
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(4) Soweit der Verurteilte bei der Anhörung durch den Senat seine strafrechtliche Verantwortung für das Tatgeschehen insoweit zu relativieren versuchte, dass er angab, es nicht für möglich gehalten zu haben, dass die Mitglieder des „NSU“ Tötungsdelikte und Bombenanschläge zum Nachteil ausländischer Mitbürger begangen hatten, kann, worauf der Generalbundesanwalt zutreffend hingewiesen hat, diesem Umstand kein ausschlaggebendes Gewicht beigemessen werden. Der Verurteilte hat die Tat deretwegen er verurteilt wurde, grundsätzlich eingeräumt. Selbst aus einem umfassenden (weiteren) Leugnen könnte nicht zwangsläufig auf eine negative Legalprognose geschlossen werden (vgl. BVerfG StV 2018, 362 [LS]; OLG Hamm NStZ-RR 2010, 41 [LS]). Das Leugnen müsste dazu vielmehr ein Zeichen mangelnder Schuldverarbeitung sein. Das wäre insbesondere bei Fällen in Betracht zu ziehen, bei denen eine unzureichende Tataufarbeitung eine Wiederholungsgefahr in sich bergen würde (OLG Hamm NStZ-RR 2017, 327 [LS]). Davon kann angesichts der Umstände, die vorliegend für eine günstige Sozialprognose sprechen, nicht ausgegangen werden.
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(5) Die ursprünglich rechtsextremistische Gesinnung des Verurteilten vermag für sich alleine, worauf der Generalbundesanwalt weiter zutreffend hingewiesen hat, keine negative Legalprognose zu begründen. Hierzu müsste vielmehr als weiterer Umstand hinzutreten, dass sie sich als Nährboden für die Begehung von Straftaten erweist (vgl. BGHR StGB § 57 Abs. 1 Erprobung 1). Unter Berücksichtigung der dargestellten Verhaltensänderung des Verurteilten, die tatsachenbasiert nicht widerlegt werden kann, ist davon nicht auszugehen.
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(6) Negativ im Rahmen der Legalprognose ist zu bewerten, dass der Verurteilte wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt wurde, die Tötungsdelikte und Bombenanschläge zum Nachteil ausländischer Mitbewohner begangen hat. Eine derartige Straftat ist grundsätzlich geeignet, das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit wesentlich zu beeinträchtigen. Im vorliegenden Fall ist jedoch weiter zu berücksichtigen, dass der Antragsteller selbst nicht wegen Beteiligung an diesen Kapitalstraftaten verurteilt wurde, sondern wegen einer legendierenden Unterstützungshandlung. Im Hinblick auf das bestehende Rückfallrisiko kann deshalb nicht ohne weitere Anhaltspunkte, die nicht ersichtlich sind, angenommen werden, dass der Verurteilte Kapitalstraftaten begehen wird.
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iii) Gesamtabwägung der prognoserelevanten Faktoren:
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Die Gesamtabwägung aller prognoserelevanter Faktoren ergibt, dass es auch unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit verantwortet werden kann, die Vollstreckung des Strafrestes mit Ablauf des 15.7.2022 zur Bewährung auszusetzen.
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Der Senat verkennt nicht, dass bei dem Verurteilten auf Grund seiner unsicheren und haltschwachen Primärpersönlichkeit ein nicht unerhebliches Rückfallrisiko besteht. Dieses Risiko wird verstärkt durch eine frühe Anpassungsstörung des Verurteilten, dem Einstieg in die rechte Skinheadszene im Alter von etwa 13 bis 14 Jahren, und den jahrzehntelangen Verbleib in der rechtsextremistischen Szene bis zu seiner Abkehr hiervon ab etwa Mitte 2019/Anfang 2020. Der Senat hat auch gesehen, dass die Zugangangsmöglichkeiten zur rechtsextremistischen Szene, die für den Verurteilten ein nicht unerhebliches Rückfallrisiko begründet, vielfältig sind.
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Diese negativen Prognosefaktoren werden jedoch bereits dadurch abgemildert, dass die unsichere und haltschwache Primärpersönlichkeit des Verurteilten nicht den Grad einer Persönlichkeitsstörung nach ICD-10 erreicht und sich deutlich in Remission befindet. Nach Einschätzung des Sachverständigen wird der Verurteilte nicht von sich aus die Gelegenheit zur Begehung von Straftaten suchen, ein nicht unerhebliches Rückfallrisiko vielmehr erst dann entsteht, wenn der Verurteilte an einen meinungsstarken, überzeugend argumentierenden Vertreter der rechten Szene gerät.
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Es ist weiter zu sehen, dass der Verurteilte bereits von sich aus Maßnahmen ergriffen hat, dass sich ein derartiges Risiko nicht verwirklicht. Er hat sich aus den rechtsextremistischen Strukturen und von rechtsextremistischem Gedankengut gelöst. Dabei hat er es nicht bei Worten bewenden lassen, vielmehr hat er den Wandel in seiner Einstellung umgesetzt, den Kontakt zu Szenemitgliedern abgebrochen und begonnen, seine extremistischen Tattoos derart zu verändern, dass sie nicht mehr zu erkennen sind. In seinem Bestreben, sich aus rechtsextremistischen Strukturen zu lösen, wird der Verurteilte, der sich freiwillig zum Strafantritt gestellt und im Vollzug beanstandungsfrei geführt hat, bestärkt und gefestigt durch seine Familie, seinen Arbeitsplatz, der ihm weiterhin zur Verfügung steht, und durch seine gesellschaftliche Integration außerhalb der rechtsextremistischen Szene. Er hat weiter begonnen, wenn auch nur oberflächlich, die von ihm begangene Tat aufzuarbeiten. Die Distanzierung des Verurteilten von der rechtsextremistischen Szene, die Abkehr von rechtsextremistischem Gedankengut und der stabile soziale Entlassungsraum, in den der Verurteilte zurückkehren kann, sind gewichtige Faktoren für eine günstige Legalprognose.
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Die Bemühungen des Verurteilten, ein straffreies Leben zu führen, waren bisher auch von Erfolg getragen. Dabei kam ihm zugute, wie der Sachverständige dargelegt hat, dass er nicht nur gelernt hat, sich an Regeln zu halten, sondern auch in der Lage ist, in rückfallgefährdeten Situationen Bewältigungsstrategien anzuwenden. So ist es ihm gelungen, seit seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft am 11.7.2018 bis zu seinem Haftantritt, somit über dreieinhalb Jahre, straffrei zu leben.
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Die dargestellte positive Entwicklung des Verurteilten wird bestätigt durch die Untersuchungen die der Sachverständige zur statistischen Gruppen-Rückfallgeschwindigkeit vorgenommen hat. Nach der Psychopathy Checklist Revised (PCL-R) nach Hare et al 1991/2003 hat sich ein unterdurchschnittliches Rückfallrisiko ergeben, nach der integrierten Liste nach Nedopil (ILRV) ein prognostisch günstiges Bild. Diesen Aussagen misst der Senat lediglich einen ergänzenden Wert bei, da sie nicht für politische Straftäter entwickelt wurden und lediglich eine statistische Wahrscheinlichkeitsprognose und keine Individualprognose ermöglichen.
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Zur Unterstützung und Festigung der Bemühungen des Verurteilten, weiterhin ein straffreies Leben zu führen, und zur weiteren Verringerung des Rückfallrisikos auf Grund seiner noch bestehenden, wenn auch in Remission befindlichen, haltschwachen Persönlichkeit, hat der Senat die Bewährungszeit auf fünf Jahre festgesetzt und den Verurteilten für diesen Zeitraum der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers unterstellt und die im Beschlusstenor niedergelegten Weisungen, insbesondere ein Kontaktverbot zu bestimmten Personen, vormaligen Mitangeklagten und Angehörigen der rechtsextremistischen Szene, und die Teilnahme an einem Aussteigerprogramm, verhängt.
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Die bisher bereits erfolgreichen Bemühungen des Angeklagten, straffrei zu leben, ergänzt durch die verhängten Bewährungsauflagen, erlauben es nach Ansicht des Senats, auch unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit, den Vollzug der Reststrafe zur Bewährung auszusetzen.
III.
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Die Unterstellung des Verurteilten unter die Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers und die verhängten Weisungen unterstützen und festigen die Distanzierung des Verurteilten von seinem vormaligen rechtsextremistischen Gedankengut und seine Abkehr von der rechtsextremistischen Szene. Dadurch wird das bestehende Rückfallrisiko verringert, so dass die Aussetzung des Strafrests der verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung auch unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann.
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1) Der Verurteile war der Aufsicht und der Leitung eines Bewährungshelfers zu unterstellen, da das angesichts seiner haltschwachen Persönlichkeit angezeigt ist, um ihn von Straftaten abzuhalten (§ 57 Abs. 3 Satz 1 StGB, § 56 d Abs. 1 StGB). Die Bewährungszeit war auf fünf Jahre festzusetzen, da der Verurteilte erst seit Mitte 2019/Anfang 2020 begonnen hat, sich von seinem rechtsextremistischen Gedankengut zu distanzieren und sich von der rechtsextremistischen Szene abzukehren. Den Kontakt zu der Familie des Mitangeklagten W… hat er erst am 5.4.2022 abgebrochen. Der Verurteilte bedarf daher der längerfristigen Unterstützung und Festigung. Weniger einschneidende Maßnahmen stehen nicht zur Verfügung.
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2) Die Weisungen zur Wohnsitznahme und zur Arbeitsaufnahme (§ 57 Abs. 3 Satz 1 StGB, § 56 c Abs. 2 Ziff. 1 StGB) waren zu verhängen, da der Verurteilte auch insoweit der Hilfe bedarf, um keine Straftaten mehr zu begehen (§ 57 Abs. 3 Satz 1 StGB, § 56 c Abs. 1 Satz 1 StGB). Die Weisungen sind auch verhältnismäßig. Sie stellen keine unzumutbaren Anforderungen an die Lebensführung des Verurteilten (§ 57 Abs. 3 Satz 1 StGB, § 56 c Abs. 1 Satz 2 StGB).
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3) Die Weisung, zu B. Z., R. W…, M. Di…, S. G…, M. G…, Th. W… und K.-H. S… keinen Kontakt aufzunehmen und mit diesen weder persönlich, telefonisch, schriftlich noch über elektronische Kommunikationsmittel zu verkehren, war zu verhängen, da diese Personen dem Verurteilten Gelegenheit oder Anreiz zu weiteren Straftaten bieten könnten (§ 57 Abs. 3 Satz 1 StGB, § 56 c Abs. 2 Ziff. 3 StGB). So hat der Sachverständige darauf hingewiesen, dass für den Verurteilten ein nicht unerhebliches Rückfallrisiko bestünde, wenn er in Kontakt zu meinungsstärkeren Personen aus der rechtsextremistischen Szene gerate. Das ist angesichts der von dem Sachverständigen dargelegten haltschwachen Persönlichkeit des Verurteilten nachvollziehbar. Das Kontaktverbot bezieht sich auf ehemalige Mitangeklagte und Verdächtige im Rahmen der Ermittlungen zum „Nationalsozialistischen Untergrund (NSU)“, zu denen der Verurteilte eine persönliche Beziehung unterhielt, und auf Personen aus der rechtsextremistischen Szene, mit denen er vor dem Abbruch seines Kontaktes mit der Szene noch in Kontakt stand. Der Verurteilte hat sich mit einem Kontaktverbot einverstanden erklärt. Die Einhaltung des Verbotes ist für den Verurteilten erfüllbar und stellt keine unzumutbaren Anforderungen an seine Lebensführung (§ 57 Abs. 3 Satz 1 StGB, § 56 c Abs. 1 Satz 2 StGB).
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4) Zur Unterstützung und Festigung der von dem Verurteilten bereits unternommenen Anstrengungen, sich von rechtsextremistischen Strukturen und rechtsextremistischem Gedankengut zu lösen, war er anzuweisen, zu dem „Aussteigerprogramm Sachsen“ Kontakt aufzunehmen sowie drei Anbahnungsgespräche und im Anschluss daran ein Aussteigerprogramm zu durchlaufen (§ 57 Abs. 3 Satz 1, § 56 c Abs. 1, Abs. 2 StGB). Das ist nach Ansicht des Senats erforderlich, um das bestehende Rückfallrisiko zu verringern, zumal der Verurteilte erst Mitte 2019/Anfang 2020 begonnen hat, sich von der Szene und dem rechtsextremistischen Gedankengut zu distanzieren, so dass eine problemorientierte, vertiefte Auseinandersetzung hiermit noch nicht stattgefunden hat.
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Das „Aussteigerprogramm Sachsen“, ein gemeinsames Projekt des Landespräventionsrates Sachsen mit nichtstaatlichen Organisationen, verfügt über einschlägige Erfahrung mit rechtsextremistischen Personen. Es wird individuell beratend, betreuend und unterstützend tätig. Die dem Verurteilten in diesem Zusammenhang erteilten Weisungen stellen keine unzumutbaren Anforderungen an die Lebensführung des Verurteilten (§ 57 Abs. 3 Satz 1, § 56 c Abs. 1 Satz 2 StGB).
IV.
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Die Belehrung über die Dauer und das Wesen der Strafaussetzung zur Bewährung war der Justizvollzugsanstalt To... zu übertragen. Sie soll unmittelbar vor der Entlassung erteilt werden (§ 454 Abs. 4 Satz 2, 3 StPO; § 268 a Abs. 3 StPO analog).