Titel:
Sachverhalts- und Beweiswürdigung eines Verwaltungsgerichts kann mit einer Grundsatzrüge nicht angegriffen werden
Normenkette:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4 S. 4
Leitsatz:
Die Sachverhalts- und Beweiswürdigung eines Verwaltungsgerichts kann mit einer Grundsatzrüge nicht angegriffen werden. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antrag auf Zulassung der Berufung, Nigeria, grundsätzliche Bedeutung, Rückführungsentscheidung, Kindeswohl, Duldungsgründe, Abschiebungsandrohung, Rückführungsrichtlinie, Genitalverstümmelung, Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes, Entscheidungserheblichkeit
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 13.04.2022 – RN 14 K 20.31927
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 22.09.2022 – 10 ZB 22.30735
Fundstelle:
BeckRS 2022, 49514
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1
1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung nach § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG ist nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechend dargelegt und liegt auch nicht vor.
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a) Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG setzt voraus, dass der Rechtsmittelführer erstens eine konkrete und gleichzeitig verallgemeinerungsfähige Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert, zweitens ausführt, aus welchen Gründen diese klärungsfähig ist, also für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts entscheidungserheblich war, und drittens erläutert, aus welchen Gründen sie klärungsbedürftig ist, mithin aus welchen Gründen die ausstehende obergerichtliche Klärung im Berufungsverfahren zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. BayVGH, B.v. 10.1.2018 – 10 ZB 17.30487 – juris Rn. 2; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 72; Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: 41. EL, Juli 2021, § 124a Rn. 102 ff.). Die Grundsatzfrage muss zudem anhand des verwaltungsgerichtlichen Urteils rechtlich aufgearbeitet sein. Dies erfordert regelmäßig, dass der Rechtsmittelführer die Materie durchdringt und sich mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts auseinandersetzt. Bei einer auf tatsächliche Verhältnisse gestützten Grundsatzrüge muss der Rechtsmittelführer zudem Erkenntnisquellen zum Beleg dafür angeben, dass die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts unzutreffend oder zumindest zweifelhaft sind (vgl. BayVGH, B.v. 10.1.2018 – 10 ZB 16.30735 – juris Rn. 2).
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b) Die Klägerseite hat folgende Fragen als grundlegend aufgeworfen:
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1. Kann eine Gefahr der Zwangsbeschneidung eine(s) 2-jährigen Mädchen(s) von der Volksgruppe der B. in Nigeria ausgeschlossen werden, wenn die Eltern gegen die Genitalverstümmelung sind und ein familiäres Netzwerk in Nigeria nicht mehr existent ist?
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2. Darf bei einer 5-köpfigen Familie ohne weitere individuelle Prüfung angenommen werden, dass sie ihren Lebensunterhalt in Nigeria durch eigene Erwerbstätigkeit wird sicherstellen können, wenn sie dort kein soziales Netzwerk hat, keine Verwandten und über kein eigenes Vermögen oder Land verfügt?
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3. Sind Duldungsgründe im Rahmen der Rückkehrentscheidung nach dem AsylG zu berücksichtigen?
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4. Ist die Abschiebungsandrohung eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie?
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5. Ist das Kindeswohl im Rahmen der Rückkehrentscheidung – hier Abschiebungsdrohung – mit zu berücksichtigen?
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6. Sperren inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse wie etwa eine dauernde Reiseunfähigkeit, eine Beschäftigungsduldung, eine abgeschlossene Ausbildung oder familiäre Gründe oder sonstige vergleichbare Gründe den Erlass einer Abschiebungsanordnung in einem Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland?
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7. Ist die Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylG eine Rückkehrentscheidung im Rahmen der Rückführungsrichtlinie RL 2008/115/EG?
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8. Ist das BAMF für die Prüfung des Kindeswohls im Rahmen der Abschiebungsandrohung zuständig?
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9. Hat das BAMF im Rahmen der Verfügung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gem. § 11 AufenthG Kindeswohl und Duldungsgründe zu berücksichtigen und selbst zu prüfen?
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c) Die Klägerseite bemängelt eingangs der Zulassungsschrift, das Verwaltungsgericht sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Klägerin nicht die Gefahr einer Genitalverstümmelung drohe. Aufgrund der Beweisanregungen in dem klägerischen Schriftsatz vom 31. März 2022 hätte sich dem Verwaltungsgericht eine Beweiserhebung aufdrängen müssen.
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Die Klägerseite hat die unter 1. aufgeworfene Frage im Wesentlichen mit dem sozialen Druck durch das männliche Familienoberhaupt beziehungsweise dessen Familie, insbesondere die Mutter, oder die ganze Community, begründet. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts könnten die Eltern der Klägerin sich dem nicht entziehen, weil sie mangels der Reintegrationsvoraussetzungen – ein soziales, insbesondere familiäres Netzwerk innerhalb Nigerias, Unterstützungsleistungen aus dem Ausland oder eigener Landbesitz/eigene Vermögenswerte − nicht arbeiten und die Existenz sichern könnten. Hinsichtlich der unter 2. aufgeworfenen Frage moniert die Klägerseite, dass sich das Verwaltungsgericht nicht mit der Sicherung des Lebensunterhalts auseinandergesetzt und nur auf den zugrundeliegenden Bescheid der Beklagten verwiesen habe. Hinsichtlich der unter 3. und 4. aufgeworfenen Fragen führt die Klägerseite aus, dass die asylrechtliche Abschiebungsandrohung eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie sei und dabei das Kindeswohl zu berücksichtigen sei. Im Lichte der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union spreche vieles dafür, dass das BAMF neben Abschiebungsverboten auch inländische Abschiebungshindernisse prüfen müsse. Die Klägerin sei zu dulden, weil sie in familiärer Lebensgemeinschaft mit ihren Eltern und ihrer Schwester lebe, das Asylverfahren ihres Vaters, der eine Aufenthaltsgestattung besitze, noch anhängig sei, und schließlich die Mutter schwanger sei (Entbindungstermin im November 2022). Mit Blick auf die unter 5. bis 9. aufgeworfenen Fragen erläutert die Klägerseite, dass durch die asylrechtliche Abschiebungsanordnung die Klägerin vollziehbar ausreisepflichtig werde. Ob es zulässig sei, inlandsbezogene Abschiebungshindernisse im nachgelagerten ausländerrechtlichen Rückführungsverfahren zu klären, sei unionsrechtlich nicht geklärt.
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d) Das Zulassungsvorbringen genügt den vorgenannten Anforderungen nicht.
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Soweit die Klägerseite der Sache nach eine Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes rügt, trägt dies weder eine Grundsatzrüge noch eine Verfahrensrüge. Abgesehen davon liegen die Voraussetzungen für eine derartige Verletzung nicht vor, da die Klägerseite nach eigenem Vortrag die Beweiserhebung nur schriftsätzlich angeregt, nicht jedoch in der mündlichen Verhandlung formell beantragt hat, und das Zulassungsvorbringen mit dem angegriffenen Urteil auch im Übrigen nicht aufzeigt, dass sich dem Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall eine Beweiserhebung aufdrängen musste.
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Im Hinblick auf die unter 1. aufgeworfene Frage blendet die Klägerseite aus, dass das Verwaltungsgericht das Vorbringen der Klägerseite zu dem Vorliegen sozialen Drucks als pauschal und unsubstantiiert erachtet hat (vgl. UA S. 9 ff.). Mit diesen eingehenden und differenzierten Ausführungen setzt sich die Klägerseite nicht auseinander. Außerdem hat das Verwaltungsgericht unter Rückgriff auf aktuelle Quellen darauf abgestellt, dass die Familie der Klägerin die Möglichkeit hat, sich in vielen anderen Landesteilen Nigerias, zum Beispiel in einer der größeren Städte, niederzulassen und eine neue Existenz aufzubauen. Diesen tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Erwägungen setzt die Zulassungsschrift ebenfalls nichts an Substanz entgegen. Letztendlich wendet sich die Klägerseite gegen die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts. Dies kann indes eine Grundsatzrüge nicht tragen. Abgesehen davon ist die Frage mangels Entscheidungserheblichkeit nicht klärungsfähig, weil nach dem von dem Verwaltungsgericht angewendeten Maßstab der Gefahrenprognose nicht erforderlich ist, dass eine Gefahr (gänzlich) ausgeschlossen ist.
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Gleiches gilt für die unter 2. aufgeworfene Frage, weil die von der Klägerseite in der Frage vorausgesetzte Prämisse, das Verwaltungsgericht habe „ohne weitere individuelle Prüfung“ entschieden, offenkundig nicht zutrifft. Das Verwaltungsgericht hat insoweit eigens eine ausführliche Prüfung vorgenommen (vgl. UA S. 11 f. u. UA S. 19 f.) und lediglich im Übrigen auf die Begründung in dem streitbefangenen Bescheid der Beklagten verwiesen (vgl. UA S. 12). Auf all dies geht die Zulassungsschrift nicht ein. Auch hier wendet sich die Klägerseite letztlich gegen die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts. Dies kann einer Grundsatzrüge nicht zum Erfolg verhelfen (s.o.).
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Die unter 3. bis 9. aufgeworfenen Fragen sind ebenfalls nicht klärungsfähig, weil sie für das Verwaltungsgericht nicht entscheidungserheblich waren. Die vorgenannten Fragen kreisen darum, ob bei der asylrechtlichen Abschiebungsandrohung beziehungsweise dem asylrechtlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot auf das Kindeswohl gestützte (Duldungs-)Gründe zu prüfen sind. Das Verwaltungsgericht hat jedoch hinsichtlich der Abschiebungsandrohung das Vorliegen von Duldungsgründen mit ausführlicher Begründung − unter Berücksichtigung der von Klägerseite angeführten Gesichtspunkte – ausdrücklich verneint (vgl. UA S. 24 f., insbesondere UA S. 25: „Duldungsgründe liegen für die Klägerin nicht vor“). Im Rahmen der Prüfung des Einreise- und Aufenthaltsverbots hat es die Gesichtspunkte als hinreichend berücksichtigt angesehen (vgl. UA S. 26: „wurde insbesondere die familiäre Situation der Klägerin sowie die Asylverfahren ihrer Eltern berücksichtigt“). Auf die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen kommt es daher nicht entscheidungserheblich an. Bereits das Verwaltungsgericht hat insoweit auf die fehlende Entscheidungserheblichkeit abgestellt (vgl. UA S. 25: „Mangels … Entscheidungserheblichkeit“). Mit all dem setzt sich die Zulassungsschrift nicht substantiiert auseinander, sondern stellt lediglich die Behauptung auf, „die Klägerin sei also über einen längeren Zeitraum zu dulden“. Speziell die unter 4. und 7. aufgeworfenen Frage sind zudem deshalb nicht klärungsbedürftig, weil sie bereits in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt sind (vgl. BVerwG, U.v. 16.2.2022 – 1 C 6.21 – juris Rn. 51).
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
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3. Mit dieser gemäß § 80 AsylG unanfechtbaren Entscheidung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts nach § 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG rechtskräftig.