Titel:
Verbot der Abschiebung eines gesunden und erwerbsfähigen Mann ohne familiäres Netzwerk nach Afghanistan
Normenketten:
EMRK Art. 3
VwGO § 51 Abs. 1–5
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG § 13, § 71 Abs. 1, 77 Abs. 1 S. 1 Hs. 1
Leitsätze:
1. Die Entscheidung des Bundesamtes zu § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 S. 1 AufenthG unterliegt nicht den eingeschränkten und strengen Wiederaufgreifensvoraussetzungen des § 51 Abs. 1–3 VwVfG, denn die einschränkende Verweisung des § 71 Abs. 1 S. 1 AsylG gilt nur für den erneuten Asylantrag (Folgeantrag) iSv § 13 AsylG, der das Schutzersuchen nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 S. 1 AufenthG nicht umfasst. Der Betroffene hat insoweit Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über das Wiederaufgreifen iwS. (Rn. 28 – 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse in Afghanistan liegt auch im Fall eines gesunden und erwerbsfähigen Mannes ohne erreichbares familiäres Netzwerk ein außergewöhnlicher Fall iSd Art. 3 EMRK vor, in dem die humanitären Gründe gegen seine Abschiebung zwingend sind. (Rn. 37 – 49) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylfolgeantrag, Wiederaufgreifensgründe, wirtschaftliche und humanitäre Verhältnisse, Afghanistan, humanitäre Gründe, gesunder und erwerbsfähiger Mann, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Abschiebungsverbote, Zweitbescheid, Corona-Pandemie, familiäres Netzwerk
Fundstelle:
BeckRS 2022, 49053
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt), mit dem sein Asylfolgeantrag und der Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens zum Vorliegen von Abschiebungsverboten abgelehnt worden ist.
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1. Der ohne Papiere in das Bundesgebiet eingereiste Kläger ist nach dem zwischenzeitlich durch die Auslandsvertretung ausgestellten Reisepass 1995 geboren und afghanischer Staatsangehöriger tadschikischer Volkszugehörigkeit.
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Nach der Einreise im November 2015 beantragte er beim Bundesamt am 8. Juni 2016 die Anerkennung als Asylberechtigter. Zur Begründung trug er bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt im Wesentlichen vor, er habe vor seiner Ausreise zusammen mit seinen Eltern, einem Bruder und sechs Schwestern in * gelebt. Die Familie lebe dort nach wie vor. Er habe zehn Jahre die Schule besucht und auch als Autowäscher gearbeitet. Zum Verfolgungsschicksal befragt gab er im Wesentlichen an, dass er als erfolgreicher Judo-Sportler auch Mitglied des afghanischen Nationalverbandes Judo gewesen sei, für seinen Sport auch Geld bekommen und an Turnieren im Ausland teilgenommen habe. Vor etwa vier Jahren habe er dann erstmals Anrufe von ihm unbekannten Personen bekommen, die Einfluss auf den Ausgang seiner Kämpfe hätten nehmen wollen. Sie hätten unter anderem verlangt, dass er bestimmte Kämpfe verliere. Ab dem Jahr 2013 sei er auch dreimal auf dem Nachhauseweg vom Trainingsgelände von Jugendlichen überfallen und verletzt worden. Der letzte Überfall habe etwa acht Monate vor seinem Weggang aus Afghanistan stattgefunden. Seine Familie habe ihm zunächst nicht erlaubt, dass er * verlasse, sondern verlangt, dass er die 12. Klasse abschließe. Zudem habe sein Vater zunächst nicht ausreichend Geld für die Finanzierung seiner Ausreise gehabt. Der Vater sich habe das Geld erst von zwei Onkeln des Klägers leihen müssen. Wegen seiner Volkszugehörigkeit oder wegen seines Glaubens habe er nie Probleme gehabt. Er sei auch niemals persönlich von den Taliban bedroht worden.
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Das Bundesamt lehnte mit Bescheid vom 19. Dezember 2016 Asylantrag ab. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage blieb erfolglos (VG Augsburg, U.v. 17.8.2017 – Au 5 K 16.33080).
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Am 13. Dezember 2018 stellte der Kläger einen Asylfolgeantrag verbunden mit dem Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens zum Vorliegen von Abschiebungsverboten. Zur Begründung trug der Kläger im Wesentlichen vor, dass in Afghanistan immer noch Krieg herrsche und er dort nicht ruhig leben könne. Die Sicherheitslage im Herkunftsland verschlechtere sich von Tag zu Tag. Zudem werde er im Januar 2019 Vater eines deutschen Kindes, das er zusammen mit seiner Freundin erziehen und aufwachsen sehen wolle.
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Mit Bescheid vom 17. Dezember 2018 lehnte das Bundesamt den Asylfolgeantrag als unzulässig ab (Ziffer 1.), ebenso den Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 19. Dezember 2016 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG (Ziffer 2.). Die Abschiebung nach Afghanistan wurde angedroht (Ziffer 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde unter Abänderung des Bescheids vom 19. Dezember 2016 auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4).
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Die gegen den Bescheid vom 17. Dezember 2018 erhobene Klage blieb erfolglos (VG Augsburg, U.v. 9.8.2019 – Au 8 K 18.32023).
8
Mit bestandskräftigem Bescheid der Ausländerbehörde vom 5. Dezember 2018 wurde der Kläger wegen der gegen ihn ergangenen strafrechtlichen Verurteilung (schwere sexueller Missbrauch eines Kindes in einem minderschweren Fall) aus dem Bundesgebiet ausgewiesen.
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Eine im gerichtlichen Verfahren (Au 1 K 19.126) vergleichsweise vereinbarte Duldung des weiteren Aufenthalts – Nichtdurchsetzung der Ausreiseverpflichtung für einen Zeitraum von drei Jahren soweit der Kläger nicht erneut straffällig wird und weitere Bedingungen erfüllt – wurde zwischenzeitlich wegen einer erneuten strafrechtlichen Verurteilung des Klägers vom 7. Juli 2020 gegenstandslos.
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2. Mit Schriftsatz seiner Bevollmächtigten vom 29. Juni 2021 stellte der Kläger einen weiteren Folgeantrag verbunden mit dem Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens zum Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich die persönlichen Verhältnisse des Klägers durch die Geburt der am 7. Januar 2019 geborenen Tochter, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitze, erheblich geändert hätten. Aufgrund der Beziehung mit einer Nicht-Muslimin habe die Familie des Klägers mit diesem gebrochen, die in Afghanistan lebenden Onkel hätten eine Todesdrohung gegen den Kläger wegen dieser Beziehung und der gegen den Kläger in diesem Zusammenhang verhängten Freiheitsstrafe ausgesprochen. Der Kläger kümmere sich auch intensiv um das Kind, das wegen der Minderjährigkeit der Kindsmutter bei einer Pflegefamilie untergebracht sei. Weiter sei der Kläger akut psychisch erkrankt und suizidgefährdet. Er sei nach der ärztlichen Stellungnahme des * zwischen dem 17. Juni und dem 28. Juni 2021 dort stationär untergebracht gewesen, eine schwergradige rezidivierende Depression und der Verdacht auf eine Posttraumatische Belastungsstörung seien ärztlich diagnostiziert. Während der Unterbringung sei es zu selbstverletzendem Verhalten gekommen. Der Kläger sei aus dem * auf richterliche Anordnung am 28. Juni 2021 in die Abschiebehaft verbracht worden. Dort hätte ein Suizidversuch durch die Einnahme von Tabak stattgefunden. Weiter hätten sich die allgemeinen Lebensbedingungen im Herkunftsland durch die Corona-Pandemie so verändert, dass beim Kläger eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben sowie die Gefahr der Verelendung bei einer Rückkehr nach Afghanistan drohe. Aufgrund des Kontaktabbruchs durch die Kernfamilie wegen der Vaterschaft für ein deutsches Kind könne der Kläger auch nicht auf ausreichende Unterstützung und ein entsprechendes soziales Netzwerk zurückgreifen. Ebenfalls sei von einer stark verschlechterten Sicherheitslage durch den Abzug der ausländischen Streitkräfte aus Afghanistan auszugehen. Jedenfalls lägen deshalb die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots vor.
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Mit Bescheid vom 2. Juli 2021 lehnte das Bundesamt den Asylfolgeantrag als unzulässig ab (Ziffer 1) ebenso den Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 19. Dezember 2016 zur Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG (Ziffer 2).
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Zur Begründung ist ausgeführt, dass hinsichtlich des Asylfolgeantrags kein neuer Sachverhalt vorgetragen sei. Die Verschlechterung der Sicherheitssituation in Afghanistan führe nicht zu einer neuen Sachverhaltsbewertung. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Auch wenn durch die Corona-Pandemie die wirtschaftliche Lage deutlich angespannt sei, sei nicht davon auszugehen, dass der junge, arbeitsfähige Kläger seinen Lebensunterhalt nicht in ausreichender Weise sicherstellen könne. Hinsichtlich der diagnostizierten Erkrankungen seien keine erheblichen Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG erkennbar.
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3. Der Kläger ließ dagegen am gleichen Tag Klage erheben, zunächst mit dem Ziel der Aufhebung des Bescheids vom 2. Juli 2021 im vollem Umfang, hilfsweise der Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen das Vorbringen im Asylfolgeantragsverfahren wiederholt und ausgeführt, dass sich mit der Geburt der Tochter des Klägers im Januar 2019 eine nachträgliche Änderung der Sachlage zugunsten des Klägers ergeben habe. Wegen der nichtehelichen Beziehung habe die in Afghanistan lebende Familie den Kläger verstoßen und ihn mit dem Tod bedroht. Ohne familiäre Kontakte sei eine ausreichende Sicherung des Lebensunterhalts in Afghanistan nicht möglich. Aufgrund der diagnostizierten psychischen Erkrankungen könne der Kläger auch nicht als junger, gesunder arbeitsfähiger Mann im Sinne der obergerichtlichen Rechtsprechung angesehen werden. Ein Überleben durch die Aufnahme von Gelegenheitsarbeiten sei dem Kläger nicht möglich. Hinzu komme die wirtschaftlich äußerst angespannte Lage aufgrund der Corona-Pandemie.
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Der Kläger lässt (zuletzt) beantragen,
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unter Aufhebung von Ziffer 2. des Bescheids des Bundesamtes vom 2. Juli 2021 die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass beim Kläger Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
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Die Beklagte beantragt,
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Die ergangen strafrechtlichen Entscheidungen zeigten eine erhebliche kriminelle Energie des Klägers, die Taten seien durch den Eingriff in die körperliche Unversehrtheit anderer Personen gekennzeichnet. Daraus ergebe sich für die Beklagte eine besondere Robustheit des Klägers im Umgang mit Gewalt, so dass daraus eine besondere individuelle Belastbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit des Klägers ableitbar sei. Es werde deshalb davon ausgegangen, dass dem Kläger die Sicherung seines Existenzminimums in Afghanistan aufgrund individuell begünstigender Umstände gelingen werde. Da sich die Eltern des Klägers auch noch in Afghanistan aufhielten, könne er auch auf ein unterstützungsfähiges Netzwerk bei einer Rückkehr zurückgreifen.
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Ein Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Vollziehung der Abschiebungsandrohung aus dem Bescheid vom 17. Dezember 2018 blieb erfolglos (VG Augsburg, B.v. 6.7.2021 – Au 8 S 21.30652).
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Mit Beschluss vom 7. November 2022 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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In der Sache wurde am 14. Dezember 2022 mündlich vor Gericht verhandelt. Auf das dabei gefertigte Protokoll wird im Einzelnen Bezug genommen, ebenso wegen der weiteren Einzelheiten auf den Inhalt der Gerichtsakte, auch in dem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (Au 8 S 21.30652), und der beigezogenen Behördenakten des Bundesamts. Zum Verfahren beigezogen wurde auch die Behördenakte der Ausländerbehörde.
Entscheidungsgründe
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Über die Klage konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 14. Dezember 2022 entschieden werden, ohne dass ein Vertreter der Beklagten an der Verhandlung teilgenommen hat. Die Beklagte wurde auf diese Möglichkeit nach § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) mit der Ladung hingewiesen.
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1. Soweit die Klage hinsichtlich der Aufhebung von Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids vom 2. Juli 2021 zurückgenommen worden ist, war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 VwGO analog einzustellen (vgl. BVerwG, B.v. 7.8.1999 – 4 B 75/98 – NVwZ-RR 1999, 407).
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2. Die im Übrigen zulässig erhobene Klage hat in Bezug auf die noch streitgegenständliche Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots Erfolg.
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Dem Kläger steht – unter Abänderung des Bescheids des Bundesamtes vom 19. Dezember 2016 – ein Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) i. V.m. Art. 3 EMRK hinsichtlich Afghanistans zu. Der diesen Anspruch ablehnende Bescheid der Beklagten vom 2. Juli 2021 ist insoweit (Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
28
a) Ob die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG bei dem hier vorliegenden (weiteren) Asylfolgeantrag (§ 71 Abs. 1 AsylG) bezüglich des geltend gemachten Abschiebungsverbotes vorliegen, kann offen gelassen werden, denn damit ist nach der Rechtsprechung die Prüfung von Abschiebungshindernissen noch nicht notwendigerweise beendet (vgl. dazu bereits BVerwG, U.v. 7.9.1999 – 1 C 6.99 – juris Rn. 16 f.; BVerfG, B.v. 21.6.2000 – 2 BvR 1989/97 – juris Rn. 16; SächsOVG, U.v. 21.6.2017 – 5 A 109/15.A. – juris Rn. 26; vgl. auch Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 71 Rn. 35 m.w.N.). Die Entscheidung des Bundesamtes zu § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG unterliegt nicht den eingeschränkten und strengen Wiederaufgreifensvoraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG, denn die einschränkende Verweisung des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG gilt nur für den erneuten Asylantrag (Folgeantrag) im Sinne von § 13 AsylG, der das Schutzersuchen nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht umfasst.
29
Für die Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist damit das Bundesamt nach § 51 Abs. 5 i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG berechtigt, auf einen Antrag des Betroffenen oder auch von Amts wegen das Verfahren auch dann wieder aufzugreifen und einen Zweitbescheid zu erlassen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorliegen. Der Betroffene hat insoweit Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über das Wiederaufgreifen im weiteren Sinne.
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In den Fällen des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist allerdings regelmäßig vom Vorliegen einer Ermessensreduzierung auszugehen, wenn ein Festhalten an der früheren Entscheidung zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde, z.B., weil zugleich unmittelbar verfassungsrechtlich begründete, einer Abschiebung entgegenstehende Rechtspositionen betroffen wären, oder wenn die Überprüfung nach der Rechtsprechung des EuGH unionsrechtlich geboten ist.
31
b) Das ist bei dem Kläger nach den Umständen des Einzelfalls zu bejahen, da das Festhalten an der negativen Entscheidung zum Vorliegen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG im Hinblick auf Art. 3 EMRK zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde.
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aa) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
33
Eine Verletzung von Art. 3 EMRK setzt die tatsächliche Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung voraus. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss demnach eine ausreichend reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen gegründete Gefahr bestehen. Die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss aufgrund aller Umstände des jeweiligen Einzelfalles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein (vgl. EGMR, U.v. 28.6.2011 – 8319/07 u.a. [Sufi und Elmi gg. Vereinigtes Königreich] – InfAuslR 2012, 121 Rn. 212 ff.).
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Dabei entspricht der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr dem der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 22; vgl. auch BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 6). Es ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen (vgl. dazu BVerwG, B.v. 13.2.2019 a.a.O.) Ein eindeutiger, über alle Zweifel erhabener Beweis, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre, kann hingegen nicht verlangt werden (BVerwG, B.v. 13.2.2019 a.a.O; VG Freiburg, U.v. 5.3.2021 – A 8 K 3716/17 – juris Rn. 35).
35
Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beidem (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 25). Soweit ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12; BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 9: „nur in besonderen Ausnahmefällen“; dem folgend: BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 21). Die Voraussetzungen können erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt, d.h. seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – InfAuslR 2015, 212 = juris Rn. 17 ff.) nicht sichern oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 11).
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Bei der Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung an dem Ort droht, an dem die Abschiebung endet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 26; BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 22; OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 43 ff.).
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bb) Aufgrund der aktuellen wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse in Afghanistan liegt im maßgeblichen Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG) gemessen an den vorstehenden Grundsätzen im Fall des Klägers ein derartiger außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen seine Abschiebung zwingend sind.
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(1) Das Gericht hat (auch noch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zum vorliegenden Klageverfahren) bis zu der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im August 2021 in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH, U.v. 7.6.2021 -13a B 21.30342 – juris) entschieden, dass ein junger, gesunder und erwerbsfähiger Mann trotz der sich seit dem Beginn der Corona-Pandemie in Afghanistan weiter verschlechternden wirtschaftlichen und humanitären Lage in der Lage ist, ohne Verstoß gegen § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK sein Existenzminimum in Afghanistan zu erwirtschaften. Dies wurde auch für den Fall angenommen, dass die entsprechende Person nicht über nennenswertes Vermögen oder ein stützendes soziales, insbesondere familiäres Netzwerk im Heimatland verfügt.
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Diese Rechtsprechung war, nachdem sich die wirtschaftliche Situation in Afghanistan in Bezug auf Ernährung, Unterkunft etc. seit dem Beginn der Corona-Pandemie im Jahr 2020 bereits in merklicher Weise verschlechtert hat (vgl. Länderbericht der Konrad-Adenauer-Stiftung vom Juli 2020), in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung bereits vor der Machtübernahme der Taliban insbesondere für die Fälle umstritten, in denen bei dem Schutzsuchenden keine besonderen begünstigenden Umstände, wie insbesondere ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk, nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte oder ausreichendes Vermögen, vorlagen (für diese Konstellation ein Abschiebungsverbotes bejahend: VGH BW, U.v. 17.12.2020 – A 11 S 2042/20 – juris; ein Abschiebungsverbot für junge, gesunde männliche Rückkehrer dann verneinend, wenn diese ausreichend belastbar und durchsetzungsfähig sind und/oder über familiäre bzw. soziale Beziehungen verfügen: OVG Rheinland-Pfalz, U.v. 30.11.2020 – 13 A 11421/19 – juris; vgl. auch OVG Bremen, U.v. 24.11.2020 – 1 LB 351/20 – juris).
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In der Folge der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 hat sich die seinerzeit ohnehin bereits äußerst angespannte wirtschaftliche Situation in Afghanistan weiter drastisch verschlechtert. Im Einzelnen hat dies etwa das Verwaltungsgericht Würzburg im Urteil vom 12. April 2022 (W 1 K 22.30254 – juris Rn. 23 ff.) in umfassender Weise dargelegt. Der Einzelrichter schließt sich dieser Darstellung im Hinblick auf die aktuelle Situation in Afghanistan, die im Einklang mit den aktuellen Erkenntnismittel (EASO, Country of Origin, Information Report, Januar 2022; EuAA, Country Guidance: Afghanistan, April 2022; Bericht des Auswärtigen Amts über die Lage in Afghanistan vom 22.10.2021 – Lagebericht) steht, und von der im Übrigen auch die Beklagte ausgeht (vgl. den als Anlage 2 zum Schriftsatz der Bevollmächtigten des Klägers vom 12.12.2022 vorgelegten Bescheid des Bundesamts vom 3.11.2022, S. 4 ff. des Bescheids), in vollem Umfang an und verweist zur Vermeidung von Wiederholungen auf die dortigen ausführlichen Darlegungen.
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Zusammenfassend hat etwa das Auswärtige Amt zur Situation in Afghanistan erläutert (S. 4 f. des Lageberichts), dass am 30. August 2021 die letzten internationalen Truppen Afghanistan verlassen haben und die Taliban weitgehend über die Kontrolle im gesamten Land verfügen. Die bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban angespannte wirtschaftliche Lage hat sich seither weiter verschlechtert. Zahlreiche Haushalte, die von Gehältern im öffentlichen Dienst oder im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit oder von Tätigkeiten bei internationalen Akteuren abhängig sind, haben ihre Einkommensquellen verloren. Die Vereinten Nationen warnen nachdrücklich vor einer humanitären Katastrophe, falls internationale Hilfsleistungen ausbleiben oder nicht implementiert werden können. Die von Deutschland geförderten humanitären Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen wurden aus Sicherheitsgründen temporär eingestellt, die Umsetzung der substantiellen deutschen humanitären Hilfe erfolgt über internationale Organisationen. Eine Reihe von UN-Organisationen sind vor Ort – mit Abstrichen – weiter arbeitsfähig. Allerdings ist diese Beurteilung nach der neusten Beschränkung der Tätigkeit von Frauen durch die Regierung der Taliban nur noch eingeschränkt gültig, es ist vielmehr davon auszugehen, dass diese Unterstützungsmöglichkeiten in Zukunft noch weiter zurückgehen werden (vgl. www.tagesschau.de/ausland/asien/taliban/frauen-verbot-103.html: „Drei NGOs haben nun beschlossen, ihre Arbeit vor Ort einzustellen“; abgerufen am 11.1.2023). Durch die Kampfhandlungen vor der Machtübernahme der Taliban ist die Zahl der Binnenvertriebenen erneut um rund 665.000 Personen auf insgesamt mehr als 3,5 Millionen Menschen angestiegen. Afghanistan war bereits vor der Machtübernahme der Taliban eines der ärmsten Länder der Welt. Die durch die Folgen der CoronaPandemie und anhaltende Dürreperioden bereits angespannte Wirtschaftslage steht infolge des Zusammenbruchs der afghanischen Republik vor dem vollständigen Kollaps. Rückkehrende verfügen aufgrund des gewaltsamen Konflikts und der damit verbundenen Binnenflucht der Angehörigen nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern (im Einzelnen VG Würzburg, U.v. 12.4.2022 – W 1 K 22.30254 – juris Rn. 23 ff.).
42
Die Versorgungslage ist auch im maßgeblichen Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung weiterhin äußert angespannt, die Hälfte der Bevölkerung ist der deutlich erhöhten Gefahr der unzureichenden Ernährung ausgesetzt (EASO, Country of Origin, Information Report, Januar 2022; S. 66 f.; vgl. auch die Ausführungen im Bescheid des Bundesamts vom 3.11.2022, a.a.O., S. 6 f.) Eine ausreichende Versorgung im Sinne der o.g. Rechtsprechung zur Sicherung grundlegender Bedürfnisse ist vor diesem Hintergrund nur in sehr begrenztem Umfang für besonders leistungs- und durchsetzungsfähige Rückkehrer möglich.
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(2) Besondere begünstigende Umstände, die diesen als besonders leistungs- und durchsetzungsfähig im vorgenannten Sinn erscheinen lassen, sind in der Person des Klägers nicht gegeben.
44
Zwar hat der Einzelrichter nach den Einlassungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 14. Dezember 2022 erhebliche Zweifel daran, dass die Kernfamilie des Klägers Afghanistan etwa Mitte 2022 in Richtung Iran verlassen hat. Soweit der Kläger insoweit ausgeführt hat, dass er von seiner Familie über die Ausreise informiert worden ist, ist dies vor dem Hintergrund, dass die Familie mit ihm aufgrund der außerehelichen Beziehung zu einer Deutschen und der Geburt der im Bundesgebiet lebenden Tochter „gebrochen“ hat, für den Einzelrichter nicht glaubwürdig. Der Kläger konnte auch auf Nachfrage durch den Einzelrichter den Widerspruch insoweit nicht überzeugend auflösen.
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Allerdings ist auch für den Fall, dass die Kernfamilie sich weiter in Afghanistan aufhält nicht davon auszugehen, dass diese als erreichbares familiäres Netzwerk zur Verfügung steht, das ihn im Rückkehrfall in hinreichendem Maße unterstützen kann und wird. Insoweit ist es nach dem gesamten Vorbringen im behördlichen und gerichtlichen Verfahren für den Einzelrichter nachvollziehbar (§ 108 Abs. 1 VwGO), dass eine irgendwie geartete Unterstützung durch die Familie aufgrund der persönlichen Situation des Klägers nicht in dem im o.g. Sinn dargestellten erforderlichen Maß zu erwarten ist.
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Auch aus dem der strafrechtlichen Verurteilung vom 15. Oktober 2018, auf die sich das Bundesamt im Schriftsatz vom 8. Dezember 2022 bezieht, zugrundeliegenden Sachverhalt ergibt sich nichts Anderes. Für den Einzelrichter ist aus dem insoweit festgestellten strafrechtlichen Sachverhalt (vgl. Bl. 433 ff. der Behördenakte der Ausländerbehörde) keine – jedenfalls nicht per se – hohe individuelle Belastbarkeit und Durchsetzungsfähigkeit des Klägers abzuleiten. Die vorsätzliche Straftat des Klägers wurde zwar gegen ein Kind verübt, der mit der 13jährigen Geschädigten ausgeübte Geschlechtsverkehr war nach den tatrichterlichen Feststellungen des Strafgerichts aber „nicht unmaßgeblich auch von der Geschädigten“ angestrebt (Amtsgericht – Jugendschöffengericht als Jugendschutzgericht –, U.v. 15.10.2018, S. 3; a.a.O.). Eine in besonderer Weise vorliegende Durchsetzungsfähigkeit kann aufgrund dieser Straftat nicht festgestellt werden.
47
Selbst wenn man dies anders sehen wollte, wäre eine solche nicht als begünstigender Umstand anzusehen, der (wie vorliegend) für sich allein ausreichen würden, dass der Kläger im Falle seiner Abschiebung nach Afghanistan in der Lage wäre, dort aus eigener Kraft seinen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums zu sichern.
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Nach alledem wird der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht in der Lage sein, etwa durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten. Es ist nicht anzunehmen, dass er sich auf dem extrem angespannten afghanischen Arbeitsmarkt gegen andere Mitbewerber durchzusetzen vermag, zumal er sich bereits seit über sieben Jahren in der Bundesrepublik Deutschland aufhält und somit mit den Arbeitsverhältnissen in Afghanistan, den Regeln, Sozial- und Verhaltenskodizes nicht mehr in einer Weise vertraut ist, dass er dem Misstrauen und den Vorurteilen der Bevölkerung, v.a. potentieller Arbeitgeber, etwas entgegenzusetzen hätte (vgl. VG München, U.v. 25.1.2022 – M 6 K 21.30037 – juris Rn. 22).
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Im Rahmen einer Gesamtschau steht damit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten würde, die ihm nicht zugemutet werden kann. Ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG ist daher festzustellen. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG steht dem – sowohl nach dem Wortlaut bzw. der systematischen Stellung als auch hinsichtlich den von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK verfolgten (europarechtlichen) Menschenrechtsschutz – nicht entgegen (vgl. hierzu VG Freiburg, U.v. 24.11.2021 – A 7 K 1773/20 – juris Rn. 32).
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c) Ob dem Kläger auch aus anderen Gründen ein Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots zugesteht, kann dahinstehen. Ferner bedarf es keiner Prüfung, ob daneben die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, weil es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – juris Rn. 17).
51
3. Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 155 Abs. 1 VwGO. Das Gericht bewertet die im Klageantrag verfolgten Anträge jeweils gleichwertig, so dass hinsichtlich des Obsiegens des Klägers hinsichtlich eines Klageantrags und der Klagerücknahme im Übrigen (Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes) eine Kostenquotelung im ausgesprochenen Umfang sachgerecht ist.
52
Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
53
4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.