Inhalt

LG Nürnberg-Fürth, Beschluss v. 30.06.2022 – 1 HK O 6156/21
Titel:

gerichtliche Feststellung zur Zusammensetzung des Aufsichtsrats

Normenketten:
AktG § 98
DrittelbG § 1 Abs. 1 Nr. 3
Leitsatz:
Aus dem vom Antragsteller vorgelegten Emailverkehr vom 29.9.2021 ergibt sich, dass zu diesem Tag 1676 Mitarbeiter bei der Antragsgegnerin tätig waren. Dafür, dass es sich dabei um eine kurzfristige „Beschäftigungsspitze“ gehandelt haben könnte, ist nichts ersichtlich oder vorgetragen. Die Zahl liegt aber über dem Dreifachen des Schwellenwerts von 500 Mitarbeitern.  (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aufsichtsrat, Zusammensetzung, Amtsermittlung
Rechtsmittelinstanz:
BayObLG, Beschluss vom 20.06.2023 – 101 W 34/23
Fundstelle:
BeckRS 2022, 48641

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass bei der Antragsgegnerin ein Aufsichtsrat nach den Vorschriften des Drittelbeteiligungsgesetzes zu bilden ist.
2. Die Gerichtskosten trägt die Antragsgegnerin. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
3. Der Gegenstandswert wird auf 50.000 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der tenorierten Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
2
Die Antragsgegnerin ist ein Unternehmen aus der Call-Center-Branche, der Antragsteller der bei ihr gebildete Gesamtbetriebsrat. Sie betreibt Callcenter in … Abgesehen von den Betrieben im … und … sind in allen Betrieben Betriebsräte gewählt. Stand September 2021 beschäftigt die Antragsgegnerin in ihren vorgenannten Betrieben 1.676 Mitarbeiter. Mit Schreiben vom 19.07.2021 wandte sich der Antragsteller an die Antragsgegnerin und teilte mit, dass wegen der Zahl der Beschäftigten ein Aufsichtsrat nach dem Drittelbeteiligungsgesetz zu bilden sei. Die Antragsgegnerin wurde dabei aufgefordert, zum Zwecke der Durchführung der Wahl gern. § 1 WODrittelbG eine entsprechende Unternehmensmitteilung bekanntzumachen. Am 27.09.2021 teilte der Personalleiter der Antragsgegnerin der Vorsitzenden der Antragstellerin mit, dass man auf Unternehmensseite keine Notwendigkeit für einen Aufsichtsrat sehen würde.
3
Die Antragstellerin ist der Ansicht, dass ihr Antrag begründet ist. Gern. § 1 Abs. 1 Nr. 3 DrittelbG stünde den Arbeitnehmern ein Mitbestimmungsrecht im Aufsichtsrat zu, wenn die GmbH regelmäßig mehr als 500, aber weniger als regelmäßig 2000 Arbeitnehmer beschäftige.
4
Die Antragstellerin beantragt
festzustellen, dass bei der Antragsgegnerin ein Aufsichtsrat nach den Vorschriften des Drittelbeteiligungsgesetzes zu bilden ist.
5
Nach mehrfach bewilligten Fristverlängerungen für eine Stellungnahme der Antragsgegnerin wurde dieser im Zusammenhang mit der zunächst unterlassenen Bekanntmachung des Antrags im elektronischen Bundesanzeiger mit Verfügung vom 25.02.2022 letztmalig Gelegenheit eingeräumt, sich zum Antrag inhaltlich zu äußern.
6
Unter dem 09.03.2022 teilte der Antragsgegner mit, dass der Antrag der Antragstellerin „unschlüssig bleibt“. Ansonsten erschöpft sich der Sachvortrag der Antragsgegnerin darin, auf ein hinsichtlich der Zusammensetzung des Aufsichtsrats der … zuletzt beim Landesarbeitsgericht … anhängiges Nichtigkeitsfeststellungsverfahren und ein beim Landgericht … anhängiges Statusverfahren verweisen, das der Gesamtbetriebsrat der … gegen die Antragsgegnerin mit dem Ziel eingeleitet hat, feststellen zu lassen, dass bei dieser ein Aufsichtsrat nach dem Mitbestimmungsgesetz zu errichten ist. Unter dem 19.04.2022 teilte die Antragsgegnerin mit, dass eine inhaltliche Auseinandersetzung zu den Auswirkungen dieses weiteren Statusverfahrens auf das hiesige Verfahren einem gesonderten Schriftsatz vorbehalten bleibt. Ein solcher ist bislang nicht bei Gericht eingegangen.
II.
7
Vor dem Hintergrund dieser sachverhaltlichen Feststellungen war dem Antrag der Antragstellerin stattzugeben; denn der Aufsichtsrat der Antragsgegnerin ist nach den Vorschriften des Drittelbeteiligungsgesetzes zu bilden.
8
1. Gern. § 98 Abs. 1 AktG entscheidet das Gericht über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats, wenn streitig oder ungewiss ist, nach welchen gesetzlichen Vorschriften dieser zusammenzusetzen ist. Antragsberechtigt ist gern. § 98 Abs. 2 Nr. 4 AktG der Gesamtbetriebsrat der Gesellschaft. Wird festgestellt, dass die Zusammensetzung des Aufsichtsrats nicht der gerichtlichen Entscheidung entspricht, ist der neue Aufsichtsrat nach den in der gerichtlichen Entscheidungen angegebenen gesetzlichen Vorschriften zusammenzusetzen (§ 98 Abs. 4 S. 1 AktG). Strittig ist zwischen den Parteien, ob bei der Antragsgegnerin ein Aufsichtsrat nach den Vorschriften des DrittelbG zu bilden ist. Gern. § 1 Abs. 1 Nr. 3 DrittelbG haben Arbeitnehmer ein Mitbestimmungsrecht nach Maßgabe des DrittelbG in Unternehmen, die in der Rechtsform einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung betrieben werden und regelmäßig mehr als 500 Arbeitnehmer beschäftigen. § 99 Abs. 1 AktG erklärt das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) für den Fall anwendbar, dass § 99 Abs. 2 bis 6 AktG keine Sonderregelung enthalten (Subsidiarität des FamFG). Der Gesetzgeber ließ sich dabei von der Vorstellung leiten, dass die Regeln des Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit der Eigenart des Streits besser entsprechen würden. Es gilt der Amtsermittlungsgrundsatz (§ 26 FamFG): Das Gericht hat von Amts wegen die maßgebenden Verhältnisse aufzuklären und die ihm erforderlich erscheinenden Beweise aufzunehmen (vgl. Drygala in: Schmidt, K./Lutter, AktG, 4. Aufl. 2020, § 99 AktG Rn. 2 m. w. N., zitiert nach juris). Die grundsätzliche Bedeutung des Amtsermittlungsgrundsatzes besteht darin, dass das Gericht ohne jegliche Bindung an Behauptungen und Beweisanträge der Beteiligten die entscheidungserheblichen Tatsachen ermitteln und in das Verfahren einführen kann. In Übereinstimmung damit formuliert etwa § 86 Abs. 1 VwGO ausdrücklich, dass das Gericht an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden ist. Begrenzungen kann diese allgemeine Verpflichtung des Gerichts zur Sachverhaltsermittlung zunächst durch die Mitwirkung der Beteiligten gern. § 27 FamFG erfahren. Auch soweit das Gesetz im Einzelnen den Beteiligten die Beibringung gewisser Unterlagen auferlegt (z. B. im Erbscheinsverfahren nach den §§ 2354 bis 2356 BGB) oder dem Antragsteller auferlegt, bestimmte Tatsachen glaubhaft zu machen, ist eine Einschränkung der Amtsermittlungspflicht gegeben (vgl. Prütting in: Prütting/Helms, FamFG, 5. Aufl. 2020, § 26 FamFG, Rn. 11 m. w. N., zitiert nach juris). Der Amtsermittlungsgrundsatz wird dadurch geprägt, dass das Gericht die Verantwortung dafür trägt, dass die gesamten Entscheidungsgrundlagen erfasst werden. Diese Tätigkeit des Gerichts reicht vom Sammeln des Prozessstoffs über das prozessordnungsgemäße Einbringen des Sachverhalts in das Verfahren bis hin zur Vornahme aller Maßnahmen, die der Beweiserhebung dienen und die letztlich das Gericht befähigen, eine Wahrheitsüberzeugung zu gewinnen. Der Amtsermittlung ist bis zur Grenze der Erheblichkeit eine Beschränkung des zu ermittelnden Tatsachenstoffs, aus dem im Rahmen der Sammlung des Prozessstoffs geschöpft wird, und ebenso eine gegenständliche Beschränkung des Sammelns des Prozessstoffs nicht immanent. Im Ergebnis muss daher das Gericht alle gebotenen Ermittlungsansätze ausschöpfen. Bei dem Sachverhalt, der i. S. v. § 26 FamFG zu ermitteln ist, handelt es sich um die Gesamtheit aller Tatsachen, die das Gericht als gegeben zugrunde legen muss, um seine Entscheidung über den Verfahrensgegenstand zu treffen. Der Umfang dieser Tatsachen wird also ganz wesentlich vom Verfahrensgegenstand bestimmt (vgl. Prütting in: Prütting/Helms, FamFG, 5. Aufl. 2020, § 26 FamFG, Rn. 27, zitiert nach juris). Gem. § 29 FamFG ist insoweit eine förmliche Beweisaufnahme nicht erforderlich. Das Gericht kann vielmehr im Freibeweisverfahren den entscheidungserheblichen Sachverhalt feststellen.
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2. Vorliegend ist allein die Frage entscheidend, wie viele Arbeitnehmer regelmäßig bei der Antragsgegnerin beschäftigt sind. Maßgeblich ist dabei das Überschreiten des Schwellenwertes von 500 Beschäftigten. Nur dieser Umstand ist daher Gegenstand der „Beweiserhebung“.
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a) Dabei sind bei Ermittlung der Zahl der Beschäftigte auch, wenn auch nicht uneingeschränkt, Leiharbeiter zu berücksichtigen. Denn mitzuzählen sind die betreffenden Arbeitsplätze bei der Bestimmung des Schwellenwerts nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG, wenn die Beschäftigung von Leiharbeitnehmern über die Dauer von sechs Monaten hinaus regelmäßig erfolgt (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Juni 2019, Az.: II ZB 21/18 Rn. 21, zitiert nach juris).
11
b) Vorliegend ergibt sich aus dem vom Antragsteller vorgelegten Emailverkehr vom 29.09.2021, dass zu diesem Tag 1676 Mitarbeiter bei der Antragsgegnerin tätig waren. Dafür, dass es sich dabei um eine kurzfristige „Beschäftigungsspitze“ gehandelt haben könnte, ist nichts ersichtlich oder vorgetragen. Die Zahl liegt aber über dem Dreifachen des Schwellenwerts von 500 Mitarbeitern. Dass sie falsch ist, behauptet der Antragsgegner zu keiner Zeit.
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c) Da somit zur Überzeugung des Gerichts feststeht, dass der Schwellenwert von 500 Mitarbeitern deutlich überschritten ist, kann davon ausgegangen werden, dass die Antragsgegnerin regelmäßig mehr als 500 Mitarbeiter beschäftigt. Vor diesem Hintergrund ist der Anwendungsbereich des DrittelbG eröffnet, weshalb dem Antrag des Antragstellers stattzugeben war.
13
3. Die Kostenentscheidung richtet sich nach § 23 Nr. 10 GNotKG. Die Kosten waren dem unterliegenden Antragsgegner aufzuerlegen. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 75 GNotKG).