Titel:
Ausweisung eines straffällig gewordenen serbischen Staatsangehörigen
Normenketten:
AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2, § 34 Abs. 2, Abs. 3, § 54 Abs. 2 Nr. 9
GG Art. 6 Abs. 1, Abs. 2
EMRK Art. 8 Abs. 1
Leitsätze:
1. § 34 Abs. 2 AufenthG beinhaltet keinen unmittelbaren Rechtsanspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, sondern regelt die automatische Veränderung des Rechtscharakters der einem Kind ursprünglich erteilten Aufenthaltserlaubnis hin zu einem eigenständigen Aufenthaltsrecht mit Erreichen der Volljährigkeit. (Rn. 49) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Bestehen eines eigenständigen Aufenthaltsrechts iSv § 34 Abs. 2 AufenthG ist Voraussetzung für eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis im Ermessensweg nach § 34 Abs. 3 AufenthG (wie OVG Münster BeckRS 2006, 24276). (Rn. 50) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Serbischer Staatsangehöriger, Lebensunterhaltssicherung, Ausweisungsinteresse, Ausnahmefall (verneint), Ausweisung, serbischer Staatsangehöriger, Sicherung des Lebensunterhalts, Straftaten, kein Ausnahmefall, Aufenthaltsrecht mit Erreichen der Volljährigkeit
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 26.05.2023 – 10 ZB 22.2550
Fundstelle:
BeckRS 2022, 48380
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der am … … … in … geborene Kläger ist serbischer Staatsangehöriger und wuchs dort mit seinem Vater, den Großeltern, fünf Brüdern, einer Schwester und seiner Stiefmutter auf. Zur leiblichen Mutter besteht kein Kontakt.
2
Er reiste erstmals im Jahr 2001 mit seinem Vater und seinen Geschwistern ins Bundesgebiet ein und lebt seither ununterbrochen in Deutschland. Im Sommer 2011 erreichte er den Hauptschulabschluss, besuchte im Anschluss den neunwöchigen Blockunterricht im Berufsvorbereitungsjahr und suchte eine Ausbildungsstelle. Nebenbei jobbte er als … Eine Berufsausbildung hat er nicht abgeschlossen. Nach strafgerichtlichen Feststellungen begann der Kläger im Alter von 16 Jahren mit dem Konsum von Marihuana, das er ab dem Alter von 18 Jahren regelmäßig konsumierte. Zuletzt war der Kläger nicht erwerbstätig, bezog nach eigenen Angaben Sozialleistungen und wohnte mietfrei bei seinem Bruder.
3
Am 21. Januar 2013 wurde dem Kläger eine bis 21. Januar 2014 befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 34 Abs. 2 AufenthG erteilt. Am 13. März 2014 erhielt der Kläger aufgrund eines wohl mündlich gestellten Antrag auf Erteilung/Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 4 AufenthG. Am 20. Oktober 2015 ging ein Formblattantrag bei der Beklagten ein.
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Strafrechtlich ist der Kläger im Bundesgebiet wie folgt in Erscheinung getreten:
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1. Amtsgericht … vom … März 2010, Diebstahl, Einstellung nach § 47 JGG, richterliche Weisung.
6
2. In einem Ermittlungsverfahren wegen falscher uneidlicher Aussage wurde mit Verfügung der Staatsanwaltschaft München I vom … März 2012 von der Verfolgung gem. § 45 Abs. 3 JGG gegen Ermahnung abgesehen.
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3. Amtsgericht … vom … Oktober 2013, vorsätzliche unerlaubte Einfuhr von Betäubungsmitteln, zwei Tage Jugendarrest, richterliche Weisung.
8
Hintergrund war, dass der Kläger aus den Niederlanden 30 g Marihuana in das Bundesgebiet einführte.
9
4. Amtsgericht … vom *. Oktober 2014, Erschleichen von Leistungen in vier tatmehrheitlichen Fällen, richterliche Weisung unter Einbeziehung der Entscheidung vom … Oktober 2013.
10
5. Amtsgericht … vom … April 2015, unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln, richterliche Weisung.
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Hintergrund war, dass der Kläger 0,4 g Marihuana mit sich führte und sich sodann einen Joint mit Tabak-Marihuana-Gemisch baute.
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6. Ein Ermittlungsverfahren wegen Erschleichens von Leistungen wurde mit Verfügung der Staatsanwaltschaft München I vom … Juni 2016 gemäß § 154 f StPO vorläufig eingestellt.
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7. Amtsgericht … vom *. Dezember 2016, unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln in zwei sachlich zusammentreffenden Fällen, 70 Tagessätze.
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Hintergrund war, dass der Kläger am … März 2016 einen Joint mit Tabak-Marihuana-Gemisch (Gesamtgewicht ca. 3 g) sowie am … Juni 2016 0,4 g Marihuana mit sich führte.
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8. In einem Ermittlungsverfahren wegen Erschleichens von Leistungen wurde mit Verfügung der Staatsanwaltschaft München I vom *. Februar 2017 gemäß § 154 Abs. 1 StPO von der Verfolgung abgesehen.
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9. In einem Ermittlungsverfahren wegen Erschleichens von Leistungen wurde mit Verfügung der Staatsanwaltschaft München I vom … Februar 2017 gemäß § 154 Abs. 1 StPO von der Verfolgung abgesehen.
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10. Amtsgericht … vom *. März 2018, unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln, ein Jahr zwei Monate Freiheitsstrafe zur Bewährung.
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Hintergrund war, dass der Kläger vor dem 1. Dezember 2016 von einem anderweitig Verfolgten 200 g Marihuana übernahm, das er für diesen gewinnbringend weiterverkaufen und selbst einen Teil des Gewinns behalten sollte. Der Kläger verkaufte absprachegemäß 25 g hieraus an unbekannte Abnehmer und erzielte einen Gewinn von 350 EUR. Am 1. Dezember 2016 einigten sich der Kläger und der anderweitig Verfolgte darauf, dass der Kläger 120 g des Marihuanas und 350 EUR zurückgibt; 50 g sollte er überwiegend zum Eigenkonsum für sich behalten. Die 120 g Marihuana sollte er seinem Bruder mitgeben. Gegen Mittag packte der Kläger in Umsetzung der Absprache seinem Bruder – von diesem unbemerkt – 124 g Marihuana in den Rucksack, der für den Nachmittag mit dem anderweitig Verfolgten verabredet war. Der Kläger bewahrte in der elterlichen Wohnung bei der polizeilichen Durchsuchung am *. Dezember 2016 48,5 g netto Marihuana auf. Das Gericht hat die Voraussetzungen des minder schweren Falls bejaht. Zugunsten des Klägers wurde berücksichtigt, dass es sich bei Marihuana um eine weiche Droge handelt und die nicht geringe Menge nicht erheblich überschritten wurde, dass der Kläger geständig war, die Betäubungsmittel überwiegend sichergestellt werden konnten und der Kläger sich mit der formlosen Einziehung einverstanden erklärte, dass der Handel auch der Finanzierung und Beschaffung des eigenen Konsums diente und die Ausführung insgesamt dilettantische und jugendhafte Züge hatte. Zwar ist der Kläger bereits mehrfach vorbestraft, hierbei handelt es sich jedoch fast ausschließlich um Jugendverfehlungen.
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Der Kläger wurde von der Ausländerbehörde … am 14. Juni 2018 ausländerrechtlich verwarnt.
20
Die zunächst auf drei Jahre festgesetzte Bewährungszeit wurde mit Beschluss vom 13. August 2019 wegen erneuter Straffälligkeit bis 11. Oktober 2021 verlängert. Mit Beschluss vom 28. September 2021 wurde die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen, da der Kläger in der laufenden Bewährungszeit mehrere neue einschlägige und vorsätzliche Straftaten begangen und dadurch gezeigt hat, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat.
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11. Amtsgericht … vom *. Juli 2019, Erschleichen von Leistungen in drei Fällen, 70 Tagessätze.
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12. Amtsgericht … vom … März 2021, Erschleichen von Leistungen in drei Fällen, 100 Tagessätze.
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13. Amtsgericht … vom … März 2021, unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln, 80 Tagessätze.
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Hintergrund war, dass der Kläger am 27. Januar 2021 einen Joint mit Tabak-Marihuana-Gemisch mit sich führte.
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Wegen dieser Straftat wurde der Kläger von der Beklagten am 9. August 2021 ausländerrechtlich verwarnt. Gleichzeitig wurde um Mitteilung gebeten, ob der Kläger wieder eine berufliche Tätigkeit ausübe. Für die Erteilung der beantragten Aufenthaltserlaubnis werde ein Nachweis über die Sicherung des Lebensunterhalts benötigt.
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14. Amtsgericht … vom … Oktober 2021, unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln, 80 Tagessätze.
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Hintergrund war, dass der Kläger am 23. September 2021 1,78 g Marihuana mit sich führte.
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15. In einem Ermittlungsverfahren wegen Erschleichens von Leistungen wurde mit Verfügung der Staatsanwaltschaft München I vom … November 2021 gemäß § 154 Abs. 1 StPO von der Verfolgung abgesehen.
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Vom 1. Mai bis 7. Juli 2017 sowie vom 10. Oktober 2021 bis 27. Januar 2022 befand sich der Kläger in Ersatzfreiheitsstrafe. Seit 28. Januar 2022 verbüßt er die Freiheitsstrafe.
30
Mit Schreiben vom 25. Oktober und 21. Dezember 2021 wurde der Kläger zur beabsichtigten Ablehnung seiner Anträge auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis angehört.
31
Mit Schreiben vom … Oktober 2021 teilte der Kläger im Wesentlichen mit, er sei geschockt über das Schreiben. Es tue ihm unendlich leid, dass es so weit gekommen und seine Bewährungsstrafe widerrufen worden sei. Er hasse sich zutiefst selber und könne es nicht in Worte fassen. Er habe wirklich gekämpft dafür, dass er nicht in den Knast komme. Er habe sich bemüht zu arbeiten, was er bei … als … auch getan habe. Er habe gesundheitliche Probleme gehabt (Bandscheibenvorfall) sowie Probleme mit dem Herzen. Aufgrund dessen habe er bei … einen Schlussstrich ziehen müssen. Daraufhin seien seine Zahlungen für seine Bewährungsauflagen ausgeblieben und deswegen sei die Bewährung widerrufen worden. Er sei schon seit 20 Jahren in Deutschland, sei hier zur Schule gegangen und habe eine Ausbildung gemacht und später in seiner Jugend viele Fehler begangen, die ihm heute schwer zu schaffen machten. Er habe es aufgrund seines Führungszeugnisses schwer gehabt, eine Arbeit zu finden. Er habe einen Wohnsitz gehabt und sei auf dem besten Weg gewesen, eine Wohnung über … zu bekommen. Leider habe das mit seiner Gesundheit alles auseinandergenommen. Er werde mit seinem Sozialarbeiter dafür sorgen, dass er als neuer Mensch rauskommen werde mit einem festen Wohnsitz und Arbeit. Mit … sei er gut auseinandergegangen und sie hätten gesagt, sobald es gesundheitlich besser gehe, könne er jederzeit wiederkommen. Zudem habe er eine Ausbildung als …- und … über das Jobcenter machen wollen. Das sei auch der Plan nach der Entlassung aus der JVA. Er habe niemanden getötet, er habe nur ab und an Marihuana konsumiert und sei mit kleinen Mengen erwischt worden. Es sei eine Therapie, dass er hier sitze, und eine Lehre zugleich. Er sei seit seinem 14. Lebensjahr auf sich allein gestellt und habe immer kämpfen müssen und das werde er auch jetzt. Er hoffe, dass er weiterhin in seiner Heimat, wo er schon seit 20 Jahren sei, leben dürfe.
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Mit Bescheid vom 10. November 2021 wurden der am 13. März 2014 formlos gestellte und der am 20. Oktober 2015 eingegangene Formblattantrag auf Verlängerung des Aufenthaltstitels abgelehnt (Nr. 1 des Bescheids) und dem Kläger eine Ausreisefrist von vier Wochen nach Haftentlassung gesetzt (Nr. 2 des Bescheids). Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung nach Serbien oder in einen anderen Staat angedroht, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist (Nr. 4 des Bescheids).
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, gemäß § 35 AufenthG sei einem minderjährigen Ausländer, der eine Aufenthaltserlaubnis nach §§ 27 ff. AufenthG besitze, eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn er im Zeitpunkt der Vollendung des 16. Lebensjahres seit fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sei. Der Kläger sei bei Vollendung des 16. Lebensjahres nicht seit fünf Jahren im Besitz der Aufenthaltserlaubnis gewesen. Erst am 21. Januar 2013 sei ihm erstmals eine Aufenthaltserlaubnis erteilt worden. Zu diesem Zeitpunkt sei er 18 Jahre alt gewesen. Nach § 34 Abs. 3 AufenthG könne die Aufenthaltserlaubnis nach § 34 AufenthG verlängert werden, solange die Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis und der Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU noch nicht vorliegen. Für die Verlängerung müssten die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG erfüllt sein. Der Kläger sei mehrfach zur Vorlage von Nachweisen über die Sicherung des Lebensunterhalts aufgefordert worden. Mit E-Mail vom … Mai 2021 habe er zwar drei Lohnabrechnungen vorgelegt, zugleich aber mitgeteilt, dass das Beschäftigungsverhältnis beendet worden sei. Vor seiner Inhaftierung habe er nach eigenen Angaben Sozialleistungen bezogen. Er habe zuletzt keine aktuellen Nachweise über einen gesicherten Lebensunterhalt vorlegen können. In Haft könne er ebenfalls keiner Erwerbstätigkeit auf dem regulären Arbeitsmarkt nachgehen. Die Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG sei mithin nicht erfüllt. Es seien auch keine Gründe ersichtlich, die ein Abweichen von der Regelbewertung rechtfertigen würden. Insbesondere habe es der Kläger seit 2014 nicht geschafft, seinen Lebensunterhalt aus eigener Erwerbstätigkeit zu bestreiten.
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Mit Schreiben vom … November 2021 teilte der Kläger mit, dass er Klage einreichen werde, weil die Behauptungen so nicht stimmten. Dass er am 31. März 2021 mit einer nicht geringen Menge erwischt worden sei, stimme so nicht. Es sei ein Stummel gewesen, der ihm angehängt worden sei, da er schon auf Bewährung gewesen sei. Es seien keine Beweise vorgelegt worden, weder sei ein Sicherheitsprotokoll durchgeführt worden noch habe er etwas unterschreiben müssen wie bei einer Routinekontrolle. Dass er seit seinem 18. Lebensjahr konsumiere und das regelmäßig, könne nicht einfach so behauptet werden und stimme auch nicht. Seit seiner Verurteilung im Jahr 2018 zur Bewährung habe er nicht mehr geraucht und davor auch nicht. Er habe eine Therapie bei der Beratungsstelle in … gemacht. Im September 2021 habe er konsumiert und sei mit einer sehr geringen Menge erwischt worden. Das gebe er zu. Aber er habe konsumiert, da seine Bewährungsstrafe widerrufen worden sei und er gedacht habe, dass er dagegen nichts mehr tun könne. Es sei alles zu viel gewesen und er habe Panik bekommen. Es tue ihm sehr leid und er könne nicht glauben, dass er das Land verlassen solle, obwohl er sich immer bemüht habe. Eine Ausbildung zum … und … habe er leider nicht beenden können, weil ein Mitarbeiter handgreiflich geworden sei und er gekündigt habe. Er sei kein Schwerverbrecher.
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Mit Schreiben vom … November 2021 führte der Kläger weiter aus, er habe keiner Arbeit auf dem regulären Arbeitsmarkt nachgehen können, weil er inhaftiert worden sei und man als Untersuchungshäftling keiner Arbeit nachgehen dürfe außer als Hausarbeiter. Zudem habe es viele Corona-Fälle gegeben, weswegen alle Betriebe in der JVA … geschlossen gewesen seien. Da sicher gewesen sei, dass er in die JVA … verlegt werde, habe er keiner Arbeit nachgehen können. In der JVA … sei er jetzt in Strafhaft und als Strafhafthäftling sehe es mit dem Arbeitsmarkt viel besser aus. Hier werde und müsse er einer Arbeit auf dem regulären Arbeitsmarkt nachgehen. Am 15. November 2021 solle ein Erstgespräch mit dem Sozialarbeiter stattfinden und es werde ein Profil erstellt. Danach werde entschieden, in welchen Betrieb er zugeteilt werde. Er wolle neu anfangen und nach der Entlassung weiter arbeiten, damit er endlich einen normalen Aufenthaltstitel bekomme.
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Mit Schriftsatz vom *. Dezember 2021, bei Gericht am 8. Dezember 2021 eingegangen, hat der Kläger Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München gegen den Bescheid vom 10. November 2021 erhoben.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, es tue ihm zutiefst leid, dass es zu einem Widerruf der Bewährung gekommen sei. Er sei zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und bereue es sehr, dass es so weit habe kommen müssen. Es stimme nicht, dass er in Haft keiner Erwerbstätigkeit auf dem regulären Arbeitsmarkt nachgehen könne. Nur wegen der steigenden Coronazahlen seien gerade alle Betriebe geschlossen und man könne noch nicht genau sagen, wann sie wieder hochgefahren werden. Er wolle und werde in der JVA … aber arbeiten. Er stehe zu den Taten in 2018, weswegen er verurteilt worden sei. Seit 2018 habe er kein Cannabis mehr konsumiert und auch eine Therapie gemacht. Im September 2021 habe er einen Fehler gemacht und sei mit einer sehr geringen Menge erwischt worden, da ihm alles zu Kopf gestiegen und seine Bewährung widerrufen worden sei, obwohl es keine Beweise gegeben habe wegen eines Stummels. Die Aussage des Polizisten sei gewesen, er werde es irgendeinem anhängen. Er habe nur Bekannte kurz gesehen und gegrüßt, die dann weggefahren seien. Er habe weitergehen wollen und sei gerufen worden, weil der Stummel gefunden worden sei.
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Mit Schriftsatz vom … Dezember 2021 führte der Kläger weiter aus, er sei seit 20 Jahren in Deutschland und sei hier zur Schule gegangen. Er habe ab und zu gegen das Gesetz verstoßen und büße gerade für seine Taten. Seine Bewährung sei kurz vor Ende der Bewährungszeit widerrufen worden. Er habe seine Aufgaben bei seiner Bewährungshilfe immer erfüllt. Er habe immer gearbeitet, es aber ab und an schwer gehabt, aufgrund seines Führungszeugnisses eine Arbeit zu finden und zu halten. Seit seiner Bewährungsstrafe sei er strafrechtlich nicht mehr in Erscheinung getreten und habe es auch nicht mehr vor. Er sei jung und unerfahren gewesen und habe sich von vielem leiten lassen, aber jetzt sei er in einem Alter, wo er wisse, was er wolle und das sei, ein geregeltes Leben zu führen. Er habe bei … … eine gute Arbeit gehabt, aber wegen eines Fehlers der Polizei und wegen einer Sache, die ihm angehängt worden sei, sei seine Bewährung widerrufen worden und er habe nicht rechtzeitig dagegen angehen können. Er werde jedoch um seinen Aufenthaltstitel kämpfen, da er keine Chance gehabt habe, in der JVA zu arbeiten und einen Aufenthaltstitel zu bekommen. Aufgrund von Corona seien alle Betriebe zu.
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Mit Schriftsatz vom 21. Dezember 2021 hat die Beklagte beantragt,
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Mit Schriftsatz vom … März 2022 hat sich die Klägerbevollmächtigte bestellt und mit Schriftsatz vom … Mai 2022 weiter ausgeführt, der Kläger sei in … geboren und im Alter von sechs Jahren mit seinem Vater und seinen Geschwistern nach Deutschland gekommen. Seit dieser Zeit lebe er in Deutschland. Seit nunmehr fast 21 Jahren sei er gerade einmal für ein Jahr im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gewesen. Zumindest bis 2012 habe dies nicht im Verantwortungsbereich des Klägers gelegen. Der Vater, der für die Erteilung und Beantragung verantwortlich gewesen wäre, habe entweder keine Zeit oder den falschen Adressaten benannt oder die Geburtsurkunde des Klägers nicht beibringen können. Aufgrund der Tatsache, dass der Kläger sämtliche Schulen in Deutschland besucht habe und überdies im deutschsprachigen Raum geboren sei, sei er als faktischer Inländer zu behandeln und zu bewerten. Im Bescheid seien Straftaten aufgelistet, allerdings handele es sich nicht um eine Ausweisungsverfügung. Die Straftaten seien durch die Verwarnung konsumiert worden. Diese Straftaten könnten daher weder bei einer Ausweisung noch bei einer Nichtverlängerung einer Aufenthaltserlaubnis dem Kläger entgegengehalten werden. Aufgrund des langen Aufenthalts und der langen Dauer der unterlassenen Verbescheidung seines Verlängerungsantrags aus dem Jahr 2014 könne und müsse ein legaler Aufenthalt des Klägers seit diesem Zeitpunkt unterstellt werden. Im Übrigen lägen die Voraussetzungen für eine Ablehnung nicht vor. Die zwei Hauptpunkte (Wohnraum und Lebensunterhaltssicherung) könnten vom Kläger erfüllt werden. Wie sich aus den Akten ergebe, könne der Kläger in der von seinem Bruder angemieteten Wohnung nach seiner Haftentlassung leben. Die Wohnung verfüge über eine Wohnfläche von über 62 m² und der Bruder lebe allein in der Wohnung. Die Miete werde von ihm getragen. Der Bruder des Klägers sei fest bei der … beschäftigt und habe ein Nettogehalt in Höhe von 2352,14 EUR. Bei einer Mietzinszahlung von 519 EUR könne der Bruder auch eine Verpflichtungserklärung für den Kläger abgeben. Somit könne die Lebensunterhaltssicherung auch vom Bruder gewährleistet werden. Der Kläger bemühe sich derzeit um einen Arbeitsvertrag, was erschwert werde, da er den genauen Entlassungszeitpunkt aus der JVA nicht benennen könne. Er könne bei seiner ehemaligen Firma … … wieder als … arbeiten; auch andere würden dem Kläger gute Arbeitsverhältnisse anbieten. Auf jeden Fall könne der Kläger nachweisen, dass sowohl sein Wohnsitz als auch sein Lebensunterhalt gesichert sei. Der Kläger habe keinen Bezugspunkt zu seinem sog. Heimatland Serbien. Er kenne dort niemanden und habe dort niemals gelebt. Sein soziales Leben finde in Deutschland statt, wo sich auch seine Familienangehörigen befänden. Beigefügt war eine Mietbescheinigung der … vom 16. Mai 2022 über das Mietverhältnis des Bruders des Klägers sowie dessen Gehaltsmitteilung für Mai 2022.
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In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerbevollmächtigte beantragt,
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den Bescheid vom 10. November 2021 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
44
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts oder die Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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1. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
46
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis nach § 34 Abs. 3 AufenthG oder auf Erteilung einer anderweitigen Aufenthaltserlaubnis (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Bescheid der Beklagten vom 10. November 2021 ist vielmehr rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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a) Der Kläger erfüllt nicht die Voraussetzungen für ein eigenständiges, unbefristetes Aufenthaltsrecht nach § 35 AufenthG, da er weder zum Zeitpunkt der Vollendung des 16. Lebensjahres noch danach seit fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen war. Der Kläger war lediglich vom 21. Januar 2013 bis 21. Januar 2014 im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis.
48
b) Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 34 Abs. 1 AufenthG scheidet schon deshalb aus, da der Kläger bereits zum Zeitpunkt seines Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis volljährig war.
49
c) § 34 Abs. 2 AufenthG regelt lediglich die automatische, mit Erreichen der Volljährigkeit von Gesetzes wegen eintretende Veränderung des Rechtscharakters der einem Kind ursprünglich erteilten Aufenthaltserlaubnis hin zu einem eigenständigen, vom Familiennachzug unabhängigen Aufenthaltsrecht. Die Norm beinhaltet selbst jedoch keinen unmittelbaren Rechtsanspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis (Tewocht in BeckOK AuslR, Stand: 1.10.2021, § 34 Rn. 10).
50
d) § 34 Abs. 3 AufenthG ermöglicht es, die Aufenthaltserlaubnis nach Ermessen zu verlängern, solange die Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis oder der Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU noch nicht vorliegen. Die Regelung bezieht sich auf die selbständige Aufenthaltserlaubnis nach § 34 Abs. 2 AufenthG (BT-Drs. 15/420, 83). Das Bestehen eines eigenständigen Aufenthaltsrechts i.S.v. § 34 Abs. 2 AufenthG ist demgemäß Voraussetzung für eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis im Ermessenswege nach § 34 Abs. 3 AufenthG (OVG NRW, B.v. 21.6.2006 – 18 B 1580/05 – juris; Tewocht in BeckOK AuslR, Stand: 1.10.2021, § 34 Rn. 12). Der Kläger war als Kind zu keinem Zeitpunkt im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis, so dass gem. § 34 Abs. 2 AufenthG mit Erreichen der Volljährigkeit die Verselbständigung des Aufenthaltsrechts unabhängig vom Familiennachzug kraft Gesetzes nicht eintreten konnte. Die dem Kläger erstmals am 21. Januar 2013 von der Beklagten erteilte und auf § 34 Abs. 2 AufenthG gestützte Aufenthaltserlaubnis ist rechtswidrig und kann nach alledem nicht Anknüpfungspunkt einer Verlängerung nach § 34 Abs. 3 AufenthG sein, geschweige denn einer Ermessensreduzierung auf Null.
51
Abgesehen davon erfüllt der Kläger auch nicht die allgemeinen Regelerteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG. Die Erfüllung der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen ist bei einer Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gem. § 34 Abs. 3 AufenthG erforderlich. Die Privilegierung in § 34 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bezieht sich nur auf das dort genannte akzessorische Aufenthaltsrecht, nicht aber auf das eigenständige Aufenthaltsrecht nach § 34 Abs. 3 AufenthG (VGH BW, B.v. 16.2.2021 – 11 S 1547/20 – juris).
52
Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist.
53
Nach § 2 Abs. 3 AufenthG ist der Lebensunterhalt eines Ausländers gesichert, wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Dies ist vorliegend nicht gegeben. Der Kläger befindet sich derzeit in Haft und geht keiner Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt nach. Selbst wenn er künftig in der JVA arbeiten sollte, handelt es sich hierbei nicht um eine Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt. Zwar hat er mit E-Mail vom … Mai 2021 drei Lohnabrechnungen vorgelegt, zugleich aber mitgeteilt, dass das Beschäftigungsverhältnis beendet worden ist. Vor seiner Inhaftierung hat er nach eigenen Angaben SGB II-Leistungen bezogen. Der Kläger hat zwar einen Hauptschulabschluss erreicht, jedoch keine Berufsausbildung abgeschlossen und war offenbar auch nie längerfristig beschäftigt. Über ausreichendes Vermögen, aus dem er seinen Lebensunterhalt sichern könnte, verfügt der Kläger ebenfalls nicht. Der Lebensunterhalt des Klägers ist nach alledem nicht gesichert.
54
Hieran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Kläger nach Angaben seiner Bevollmächtigten nach der Haftentlassung (wieder) mietfrei bei seinem Bruder wohnen und dieser mit seinem Einkommen auch dessen sonstigen Lebensunterhalt sichern könnte. Eine rechtliche Absicherung dieser angeblichen Zusage des Bruders in Form einer Verpflichtungserklärung ist bis dato nämlich nicht erfolgt.
55
Überdies ist nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in der Regel zu versagen, wenn ein Ausweisungsinteresse besteht. Vorliegend besteht ein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Danach wiegt ein Ausweisungsinteresse schwer, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat. Dabei ist § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG so zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur dann unbeachtlich ist, wenn er vereinzelt und geringfügig ist, hingegen immer beachtlich ist, wenn er vereinzelt, aber nicht geringfügig, oder geringfügig, aber nicht vereinzelt ist.
56
Eine vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich kein geringfügiger Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift. Unter engen Voraussetzungen kann es zwar auch bei vorsätzlich begangenen Straftaten Ausnahmefälle geben, in denen der Rechtsverstoß des Ausländers als geringfügig zu bewerten ist, was etwa dann in Betracht kommen kann, wenn ein strafrechtliches Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt worden ist (BVerwG, U.v. 24.9.1996 – 1 C 9/94 – juris Rn. 20 f. zu § 46 Nr. 2 AuslG 1990; so auch zuletzt NdsOVG, B.v. 20.6.2017 – 13 LA 134/17 – juris Rn. 10 m.w.N. zu § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG a.F.; BayVGH, B.v. 19.09.2017 – 10 C 17.1434 juris Rn. 6; BayVGH, B.v. 5.7.2016 – 10 ZB 14.1402 – juris Rn. 14 m.w.N). Bei der zuletzt vom Amtsgericht … am … Oktober 2021 abgeurteilten Straftat des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln handelt es sich aber um keinen geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften, da es sich um eine vorsätzlich begangene Straftat handelt, die mit einer erheblichen Geldstrafe in Höhe von 80 Tagessätzen geahndet wurde. Zudem handelt es sich auch nicht um einen vereinzelten Verstoß gegen Rechtsvorschriften, nachdem der Kläger in der Vergangenheit bereits vielfach strafrechtlich in Erscheinung getreten ist.
57
Gründe, die es rechtfertigen könnten, von den Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG im vorliegenden Fall ausnahmsweise abzusehen, liegen nicht vor. Ein Ausnahmefall ergibt sich insbesondere nicht aus Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK.
58
Nach der wertentscheidenden Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG hat der Staat die Pflicht, die Familie zu schützen und zu fördern. Jedoch ergibt sich auch hieraus kein unmittelbarer Anspruch auf Aufenthalt (vgl. nur BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Vielmehr verpflichtet Art. 6 Abs. 1 und 2 GG die Ausländerbehörde wie auch die Gerichte, die familiären Bindungen des Klägers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris – Rn. 16; BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14).
59
Die Aufenthaltsbeendigung von Ausländern, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug haben, nicht zuzumuten ist, kann zwar den in Art. 8 Abs. 1 EMRK zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, nach dem jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens hat, verletzen. Dies kommt grundsätzlich für solche Ausländer in Betracht, die aufgrund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse bei gleichzeitiger Entfremdung von ihrem Heimatland so eng mit der Bundesrepublik Deutschland verbunden sind, dass sie gewissermaßen deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt werden können, während sie mit ihrem Heimatland im Wesentlichen nur noch das formale Band ihrer Staatsangehörigkeit verbindet (BVerwG, U.v. 29.9.1998 – 1 C 8.96 – juris; VGH BW, U.v. 13.12.2010 – 11 S 2359/10 – juris Rn. 27; BayVGH, B.v. 3.7.2017 – 19 CS 17.551 – juris).
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Eine Entfremdung vom Heimatland im Verlauf eines langjährigen Aufenthalts im Gastland eröffnet für sich allein aber noch nicht den verfassungs- und völkerrechtlichen Schutz faktischer Inländer. Auch der Umstand, dass ein Ausländer im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen ist, reicht hierzu nicht aus. Hinzukommen muss vielmehr, dass der Ausländer im Bundesgebiet ein Leben führt, das durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen so geprägt ist und er faktisch so stark in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist, dass ihm das Verlassen des Bundesgebiets nicht zugemutet werden kann (BVerwG, U.v. 16.7.2002 – 1 C 8.02 – juris). Der besondere verfassungs- und völkerrechtlichen Schutz faktischer Inländer setzt damit voraus, dass sich der Ausländer in Deutschland nachhaltig integriert hat (VGH BW, B.v. 2.3.2020 – 11 S 2293/18 – juris).
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Eine derartige Integration hat im Fall des Klägers nicht stattgefunden. Obwohl der Kläger mit sechs Jahren nach Deutschland eingereist ist, hier die Schule besucht und den Hauptschulabschluss erreicht hat, seine wesentliche Prägung und Entwicklung in Deutschland erfahren hat und die Mehrzahl seiner Verwandten hier lebt, ist er nicht derart irreversibel in die deutschen Lebensverhältnisse eingefügt, dass eine Verweisung auf ein Leben in seinem Heimatland unzumutbar erscheint und somit ein Ausnahmefall von den Regelerteilungsvoraussetzungen anzunehmen wäre. Der Kläger ist seit dem Jahr 2010 bereits 15 Mal strafrechtlich in Erscheinung getreten, insbesondere im Bereich der Betäubungsmitteldelikte und der Leistungserschleichung. Von ihm geht eine erhebliche Wiederholungsgefahr aus. Weder ausländerrechtliche Verwarnungen noch die Verurteilung durch das Amtsgericht … vom *. März 2018 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten konnten den Kläger von der Begehung weiterer Straftaten abhalten. Vielmehr ist er während der laufenden Bewährung erneut mehrfach straffällig geworden, so dass die auf drei Jahre festgesetzte Bewährungszeit zunächst verlängert und schließlich die Strafaussetzung zur Bewährung mit Beschluss vom 28. September 2021 widerrufen wurde. Angesichts der Vielzahl der vom Kläger begangenen Straftaten, insbesondere im Bereich der Betäubungsmitteldelikte, und der von ihm auch weiterhin ausgehenden erheblichen Wiederholungsgefahr ist es für den Kläger zumutbar, in das Land seiner Staatsangehörigkeit zu übersiedeln. In wirtschaftlicher Hinsicht ist zu berücksichtigen, dass der Kläger über keine gesicherte berufliche Position verfügt. Der Kläger hat zwar einen Schulabschluss erreicht, aber keine Berufsausbildung abgeschlossen. Eine wirtschaftliche Integration in Deutschland hat somit nicht stattgefunden. Auch eine besondere gesellschaftliche Integration ist nicht erfolgt. Vielmehr ist der Kläger seit dem Jahr 2010 kontinuierlich strafrechtlich in Erscheinung getreten und hat damit seine Missachtung der deutschen Gesellschafts- und Rechtsordnung zum Ausdruck gebracht. Der Kläger ist weder verheiratet noch hat er Kinder. Er hat somit im Bundesgebiet keine eigene Kernfamilie gegründet. Zwar leben der Vater und wohl sechs Geschwister in Deutschland. Der Kläger ist jedoch als erwachsener Mann nicht mehr auf die Unterstützung seines Vaters oder seiner Geschwister angewiesen wie auch umgekehrt diese nicht auf den Kläger angewiesen sind. Diesen Bindungen kommt daher kein durchgreifendes Gewicht zu, die einen Ausnahmefall begründen könnten. Den Kontakt zu seinen im Bundesgebiet lebenden Verwandten kann der Kläger auch von Serbien aus über die verschiedenen Arten moderner Telekommunikation und Besuchsaufenthalte aufrechterhalten. Zudem besteht auch die Möglichkeit der Erteilung von Betretenserlaubnissen (§ 11 Abs. 8 AufenthG).
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Eine Integration in Serbien ist dem Kläger sowohl in wirtschaftlicher als auch sozialer Hinsicht zumutbar. Der Kläger ist bei seinem serbischen Vater und in … auch mit seinen Großeltern aufgewachsen. Es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger die serbische Sprache zumindest insoweit beherrscht, dass er etwaige Defizite mit zumutbarer Anstrengung ausgleichen kann, so dass dem Aufbau einer Existenz in Serbien keine unüberbrückbare sprachliche Barriere entgegensteht. Auch Sitten und Gebräuche seines Heimatlandes wurden ihm sicherlich von seinem Vater und seinen Großeltern vermittelt. Er kann die ggf. noch vorhandenen kulturellen Hürden daher mit einiger – zumutbarer – Anstrengung überwinden und sich in sein Heimatland integrieren. Der Kläger ist arbeitsfähig, so dass es ihm – zumal angesichts seiner guten Deutschkenntnisse – in Serbien gelingen wird, seinen Lebensunterhalt durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu erwirtschaften.
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Ein Ausnahmefall, bei dem von der Erfüllung der Regelerteilungsvoraussetzungen abzusehen wäre, liegt nach alledem nicht vor.
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e) Die Abschiebungsandrohung entspricht § 59 Abs. 1 AufenthG.
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2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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3. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2, Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).