Titel:
Krankheit, Erkrankung, Rentenversicherung, Angeklagte, Schadensersatz, Werbung, Arbeitnehmer, Krankenkasse, Arbeitszeit, Hauptverhandlung, Arbeitgeber, Angeklagten, Leistungen, Verkehrsunfall, freier Mitarbeiter, freie Mitarbeiter, im eigenen Namen
Normenkette:
StGB § 266 a Abs. 1 und Abs. 2; § 52; § 53; § 41; § 47; § 54; § 56 Abs. 1 und 3; § 73 Abs. 1; § 73c
Schlagworte:
Krankheit, Erkrankung, Rentenversicherung, Angeklagte, Schadensersatz, Werbung, Arbeitnehmer, Krankenkasse, Arbeitszeit, Hauptverhandlung, Arbeitgeber, Angeklagten, Leistungen, Verkehrsunfall, freier Mitarbeiter, freie Mitarbeiter, im eigenen Namen
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Urteil vom 08.03.2023 – 1 StR 188/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 47470
Tenor
I. Der Angeklagte Dr. S… ist schuldig des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 189 Fällen.
II. Er wird deshalb zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr verurteilt.
Die Vollstreckung dieser Freiheitsstrafe wird zu Bewährung ausgesetzt.
Daneben wird eine Gesamtgeldstrafe in Höhe vor 300 Tagessätzen zu je 200,- € (= 60.000,- €) ausgesprochen.
III. Die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 118.850,58 € wird angeordnet, soweit nicht eine Verrechnung mit den freiwillig geleisteten Krankenversicherungs-/Pflegeversicherungsbeiträgen erfolgt.
IV. Der Angeklagte Dr. S… er trägt die Kosten des Verfahrens und seine notwendigen Auslagen.
Entscheidungsgründe
1
Am 25.06.2019 hat die Staatsanwaltschaft Tr., bei Gericht am 27.06.2019 eingegangen, gegen den Angeklagten Dr. H. S… Anklage wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 394 tatmehrheitlichen Fällen gemäß §§ 266 a Abs. 1 und 2 Nr. 2, 52, 53 StGB erhoben.
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Mit Eröffnungsbeschluss vom 12.08.2021 hat das Landgericht – 6, Strafkammer – Traunstein die Anklage unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen und Termin zur Hauptverhandlung bestimmt auf den 02.11.2021 nebst Folgeterminen.
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Im Hinblick auf den Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 01.09.2020 (1 StR 58/19) und die dort getroffene neue obergerichtliche Rechtsprechung zur Verjährungsproblematik wurden die angeklagten Handlungen im Zeitraum von November 2005 bis einschließlich Januar 2013 wegen Verjährung gemäß § 78 Abs. 2 Nr. 4 StGB mit Beschluss vom 01.11.2021 nach § 206 a StPO eingestellt.
4
Vor Hauptverhandlungsbeginn haben verschiedene Rechtsgespräche – am 10.02.2021 (Bl. 1865 ff. d.A.), 01.03.2021 (Bl. 1867 d.A.), 19.04.2021, (Bl. 1888 d.A.), sowie 04.08.2021 (Bl. 1972 d.A.) – stattgefunden, hinsichtlich derer jeweils Vermerke gefertigt wurden, die – wie dem Protokoll vom 02.11.2021 zu entnehmen – im Rahmen der Hauptverhandlung verlesen wurden.
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Eine Verständigung hat aber weder vor noch in der Hauptverhandlung stattgefunden (§ 202 a, 212, 243 Abs. 4, 257 c 267 Abs. 3, 273 Abs. 1 a StPO).
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Der Tatvorwurf betreffend Dr. An...H… wurde auf Antrag der Staatsanwaltschaft gem. § 154 (a) Abs. 2 StPO nicht weiter verfolgt (vgl. Protokoll vom 23.11.2021), ebenso derjenige betr. Ul. A… (vgl. Protokoll vom 13.01.2022).
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Außerdem wurde das Verfahren insgesamt hinsichtlich der Nichtabführung der Unfallversicherungsbeiträge im Tatzeitraum gemäß § 154 (a) Abs. 2 StPO nicht weiter verfolgt (vgl. Protokoll vom 13.01.2022).
B. Persönliche und wirtschaftlich Verhältnisse des Angeklagten Dr. S…
I. Lebensgeschichtliche Entwicklung:
8
Hinsichtlich der persönlichen Verhältnisse des Angeklagten Dr. S… war festzustellen, dass er am 06.05.1949 in Al. geboren wurde, sein Vater war Polizeibeamter in B., Leiter der Ermittlungsgruppe.
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Er besuchte in B. die Volksschule und das Gymnasium, anschließend studierte er in M.Jura und legte nach sieben Semestern das 1. Staatsexamen mit Prädikat ab. In der Folgezeit begann er seine Dissertation (zum Thema gemischte Verträge und Umsatzsteuerrecht) zu schreiben, nebenbei studierte er auch einige Semester BWL. Mit 25 Jahren machte er – nach Verkürzung der Referendarzeit auf 2 Jahre – das 2. Staatsexamen.
10
Anschließend begann er ab 01.05.1995 in der Justiz in Traunstein. Er war auf verschiedenen Positionen bei verschiedenen Amtsgerichten (Altötting, Mühldorf, B., Laufen und Traunstein) sowohl im Zivil- als auch im Strafrecht tätig, anschließend auch in der 1. Zivilkammer des Landgerichts Traunstein.
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Nach dem Wechsel zur Staatsanwaltschaft und der Ernennung zum Staatsanwalt auf Lebenszeit im Jahr 1978 war er noch bis 15.08.1980 als Staatsanwalt tätig (aufgrund einer anderen Organisation damals zuständig für den Raum Berchtesgadener Land).
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In der Folge ließ er sich beurlauben.
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Er war dann freier Mitarbeiter in der Kanzlei Dr. R. & Kollegen, ehe er am 01.06.1982 seine eigene Kanzlei in … Bu... gründete (die 5-jährige Frist für die Sperrung als Rechtsanwalt im Bezirk Traunstein, wo er zuvor als Richter/Staatsanwalt tätig gewesen war, war auf 2 Jahre verkürzt worden). Ein Jahr später kam Rechtsanwalt F. als Partner hinzu, der 1995 ausschied. Am 01.07.1991 war Rechtsanwältin L. als Partnerin in die als GbR geführte Anwaltskanzlei eingetreten; diese betrieb sie gemeinsam mit dem Angeklagten bis zu ihrem Ausscheiden am 30.04.2012.
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Seit 1982 praktizierte der Angeklagte das „Modell der freien Mitarbeiterschaft“ hinsichtlich der in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen.
15
Im Jahr 2016 kam es zu einem Wechsel der Kanzleiräumlichkeiten in die W. in B.. Seit Sommer 2018 ist der Angeklagte als Einzelanwalt tätig, derzeit noch mit 30-40 Stunden pro Woche.
16
Der Angeklagte hat in seinem Leben verschiedene Ehrenämter innegehabt, war etwa auch mal stellvertretender Landrat und in der Rechtsanwaltskammer bis 2007.
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Im Jahr 1974 heiratete der Angeklagte; aus der Ehe ging eine 1980 geborene Tochter, die Ärztin ist, hervor, welche in einer eingetragenen Partnerschaft mit einer promovierten Literaturwissenschaftlerin lebt.
18
Der Angeklagte ist gemeinsam mit seiner Ehefrau und Tochter Miteigentümer eines abbezahlten Hauses in Österreich, …, 5122 H./Ach.
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Daneben ist er zu 1/2 Eigentümer von 6 Wohnungen im Gebäude … in B.. Dieses Gebäude aus dem 14. Jahrhundert wurde in 1999/2000 mit einem Aufwand von gut 1 Millionen € saniert; die Restverbindlichkeit bei der Rbk. B. beträgt 230.000,- €, die monatliche Belastung 2.500,- €. Diese Immobilie hat einen Schätzwert von ca. 1,9 Millionen €. Des Weiteren ist der Angeklagte zu 1/3 (neben seiner Ehefrau und seiner Tochter) Eigentümer verschiedener Wohnungen in der Immobilie W… ebenfalls in B.; unter Abzug von 2 Wohnungen, die nach Angaben der Verteidiger verkauft, bezüglich derer aber noch keine Berichtigung im Grundbuch erfolgte nebst Tiefgaragen Stellplatz, handelt es sich insgesamt um 7 Wohnungen nebst 6 Stellplätzen. Der Schätzwert dieser Wohnungen beläuft sich auf ca. 3 Millionen €.
20
Der Angeklagte hat zwei eigene Pkw (Audi A6, Baujahr 2015, Finanzierungsrate 534,07 € monatlich und einen Porsche, derzeit stillgelegt, Baujahr 2007).
21
Der Angeklagte, welcher in jüngeren Jahren viel Sport machte, u.a. Extrem-Skifahrer war, hat mehrere Bandscheiben-OPs hinter sich, fühlt sich sonst aber altersentsprechend gesund. Im September 2020 erkrankte er an Corona, beschreibt den Verlauf als mittelschwer.
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Hinweise auf Suchtprobleme des Angeklagten gibt es nicht, auch hat er sich in seinem bisherigen Leben weder in psychiatrischer, psychotherapeutischer noch suchtmedizinische ambulanter oder stationärer Behandlung befunden.
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Der Angeklagte Dr. S. ist nicht vorgeahndet.
C. Festgestellter Sachverhalt:
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Am 01.06.1982 hatte der Angeklagte seine eigene Kanzlei in der M… in B. gegründet. Ein Jahr später kam Rechtsanwalt F. als Partner hinzu.
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Seit 01.07.1991 war der Angeklagte zusammen mit Rechtsanwalt F. und Rechtsanwältin L… geschäftsführender Gesellschafter der als GbR geführten Anwaltssozietät Dr. S…, F., L… & Kollegen.
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Rechtsanwalt F. schied 1995 aus der Sozietät aus, Rechtsanwältin L… zum 30.04.2012, die der Angeklagte ab 01.05.2012 als Einzelunternehmen „Kanzlei Dr. S… & Kollegen“ fortführte.
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Seit 1982 praktizierte der Angeklagte ein von ihm als „Modell der freien Mitarbeiterschaft“ bezeichnetes „Modell“ hinsichtlich der in seiner Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen, welches tatsächlich aber ein „Modell der Scheinselbstständigkeit“ war, u.a. auch – in der zeitlichen Abfolge des Beginns ihrer anwaltschaftlichen Tätigkeit bei Dr. S… aufgelistet nebst Dauer der Tätigkeit – betreffend nachfolgend benannte Anwälte/innen:
Rechtsanwalt M. H… – ab 01.10.2000 bis 30.06.2013
Rechtsanwalt H… schloss eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung nebst Zusatzvereinbarung mit der als GbR geführten Anwaltssozietät Dr. S…, L… & Kollegen, unterschrieben vom Angeklagten, Frau L… und ihm am 02.10.2000/08.10.2000 mit folgendem Inhalt:
„Freier Mitarbeitervertrag“
1.) Hr. M. H… ist ab 01.10.2000 als freier Mitarbeiter in der Rechtsanwaltskanzlei Dr. S…, L… & Kollegen tätig.
2.) Hr. M. H… führt seine Sozialabgaben einschließlich Krankenkasse und Pflegeversicherung sowie seine Steuern selbst ab.
Die Sozietät zahlt die Berufshaftpflichtversicherung im Rahmen einer Gruppenversicherung und Kammerbeiträge eines freien Mitarbeiters. Beide Beträge sind zu erstatten. Die Erstattung ist im Jahreshonorar (Ziff. 7) bereits berücksichtigt.
3.) Die Zusammenarbeit ist nicht befristet. Sie kann von jeder Vertragsseite mit einer Frist von 3 Monaten zum jeweiligen Quartalsende gekündigt werden.
4.) Die Rechtsanwaltskanzlei Dr. S…, L… & Kollegen stellt dem freien Mitarbeiter für dessen Arbeiten Personal und Sachausstattung bei. Soweit der freie Mitarbeiter in der Rechtsanwaltskanzlei Dr. S…, L… & Kollegen tätig ist, wird ihm ein angemessenes Büro zur Verfügung gestellt.
5.) Der freie Mitarbeiter kann eigenes Personal beschäftigen. Die Vertragsparteien gehen davon aus, dass der freie Mitarbeiter direkt, gegebenenfalls in einer gemeinsamen Darstellung mit der Sozietät für den jeweiligen Mandanten tätig ist. Der freie Mitarbeiter gestaltet seine Tätigkeit frei. Anwesenheiten und Abwesenheiten koordinierte freie Mitarbeiter mit dem allgemeinen Kanzleibetrieb.
6.) Die Rechtsanwaltskanzlei Dr. S… L… & Kollegen beschäftigt keine Angestellten, die eine der Tätigkeit des freien Mitarbeiters vergleichbare Arbeit verrichten. Er kann selbst werben bzw. seine Werbung mit den Werbemaßnahmen der Kanzlei Dr. S…, L… & Kollegen koordinieren.
7.) Hr. M. H… erhält für seine Tätigkeit ein Jahreshonorar von DM 65.000,- zuzüglich Mehrwertsteuer. Von diesem Jahreshonorar können monatliche Teilleistungen Berechnung abgerufen werden.
8.) Auslagen für Termine (Fahrtkosten und Abwesenheitsgelder) werden dem freien Mitarbeiter von der Sozietät nach den Grundsätzen der BRAGO erstattet.
1.) Die Beschäftigung eigenen Personals durch den freien Mitarbeiter und die Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei bedürfen der Zustimmung der Sozietät.
2.) Werbemaßnahmen des freien Mitarbeiters sind mit der Sozietät abzustimmen und von dieser zu genehmigen.
3.) Weiterbildungsmaßnahmen werden von der Kanzlei bei angemessener Gestaltung ohne Abrechnung i.S. Ziff. 6 bei Honorarfortzahlung gefördert und bezahlt.
4.) Die Honorarzahlung verändert sich bis zu einer maximalen Jahresabwesenheit ohne Krankheit bis 28 Werktage und einer Abwesenheit mit Krankheit bis zu 30 Werktagen nicht.
5.) Über die Anhebung des Mitarbeiterhonorars wird einvernehmlich und partnerschaftlich in Zeitabständen verhandelt.
6.) Die Sozietät stellt grundsätzlich die Möglichkeit einer Beteiligung in Aussicht.
Rechtsanwalt U. V… – ab 01.01.2001 bis 30.09.2015
Rechtsanwalt V… schloss eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung nebst Zusatzvereinbarung mit der als GbR geführten Anwaltssozietät Dr. S… L… & Kollegen, beides unterschrieben vom Angeklagten, Frau L… und ihm am 16.11.2000 mit folgendem Inhalt:
„Freier Mitarbeitervertrag“
Ziffer 1. bis 8. mit identischem Inhalt wie bei Rechtsanwalt H… nur der Beginn der Beschäftigung ist mit 01.01.2001 angegeben
Ziffer 1. bis 6. mit identischem Inhalt wie bei Rechtsanwalt H…
Rechtsanwalt An. H… – ab 04.05.2006 bis 30.06.2015
Rechtsanwalt H… schloss eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung nebst Zusatzvereinbarung mit der als GbR geführten Anwaltssozietät Dr. S… L… & Kollegen, beides unterschrieben vom Angeklagten, Frau L… und ihm am 12.02.2007 mit folgendem Inhalt:
„Freier Mitarbeitervertrag“
Ziffer 1. bis 6. und 8. mit identischem Inhalt wie bei Rechtsanwalt H… nur der Beginn der Beschäftigung ist mit 04.05.2006 angegeben Ziffer 7. lautet wie folgt:
„Herr An. H… erhält für seine Tätigkeit ein Jahreshonorar von 36.000,- € zuzüglich Mehrwertsteuer. Von diesem Jahreshonorar können monatliche Teilleistungen Berechnung abgerufen werden.“
Ziffer 1. bis 6. mit identischem Inhalt wie bei Rechtsanwalt H…
Rechtsanwalt R. B… – ab 01.07.2006 bis 30.06.2015
Rechtsanwalt B… schloss eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung nebst Zusatzvereinbarung mit der als GbR geführten Anwaltssozietät Dr. S…, L… & Kollegen, beides unterschrieben vom Angeklagten, Frau L… und ihm am 21.03.2007 mit folgendem Inhalt:
„Freier Mitarbeitervertrag“
Ziffer 1. bis 6. und 8. mit identischem Inhalt wie bei Rechtsanwalt H… nur der Beginn der Beschäftigung ist mit 01.07.2006 angegeben
Ziffer 7. lautet wie folgt:
„Herr R. B… erhält für seine Tätigkeit ein Jahreshonorar von 36.000,- € zuzüglich Mehrwertsteuer. Von diesem Jahreshonorar können monatliche Teilleistungen Berechnung abgerufen werden.“
Ziffer 1. bis 6. mit identischem Inhalt wie bei Rechtsanwalt H…
Rechtsanwalt Ro. B… – ab 01.01.2010 bis 31.03.2015
Rechtsanwalt B… schloss eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung nebst Zusatzvereinbarung mit der als GbR geführten Anwaltssozietät Dr. S…, L… & Kollegen, beides unterschrieben vom Angeklagten, Frau L… und ihm am 10.12.2009 mit folgendem Inhalt:
„Freier Mitarbeitervertrag“
Ziffer 1. bis 6. und 8. mit identischem Inhalt wie bei Rechtsanwalt H… nur der Beginn der Beschäftigung ist mit 01.01.2010 angegeben
In Ziffer 3. findet sich zusätzlich folgender Satz:
Bis 30.10.2010 besteht ein Probearbeitsverhältnis mit einer Kündigungsfrist von 2 Wochen zum Monatsende.
Ziffer 7. lautet wie folgt:
„Herr Ro. B… erhält für seine Tätigkeit ein Jahreshonorar von 36.000,- € zuzüglich Mehrwertsteuer. Von diesem Jahreshonorar können monatliche Teilleistungen per Rechnung abgerufen werden.“
In Ziffer 3. findet sich zusätzlich folgender Satz:
Bis auf weiteres ist Herr B… wöchentlich mit 3 Tagen tätig. Das Honorar reduziert sich entsprechend.
Ziffer 1., 2., sowie 4. und 5. mit identischem Inhalt wie bei Rechtsanwalt H…,
Ziffer 3. lautet wie folgt:
„Genehmigte Weiterbildungsmaßnahmen werden von der Kanzlei bei angemessener Gestaltung ohne Anrechnung gefördert und bezahlt.“
Ziffer 6. Ist nicht enthalten.
- Ausscheiden von Rechtsanwältin S. L… zum 30.04.2012 -
Rechtsanwältin K. B… – ab 15.05.2012 bis März 2017
Rechtsanwältin B… geb. H…, schloss eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung nebst Zusatzvereinbarung mit der als GbR geführten Anwaltssozietät Dr. S…, L… & Kollegen, beides unterschrieben vom Angeklagten und ihr am 01.05.2012 mit folgendem Inhalt:
„Freier Mitarbeitervertrag“
Ziffer 1. mit identischem Inhalt wie bei Rechtsanwalt H… nur der Beginn der Beschäftigung ist mit 15.05.2015 angegeben
In Ziffer 2. fehlt der Zusatz, dass beide Beträge zu erstatten sind und die Erstattung im Jahreshonorar bereits berücksichtigt ist.
Ziffer 3., 4., 5., 6. und 8. wie bei Rechtsanwalt H…
Ziffer 7. lautet wie folgt:
„Frau H… erhält für ihre Tätigkeit ein Jahreshonorar von 30.000,- € zuzüglich Mehrwertsteuer. Von diesem Jahreshonorar können monatliche Teilleistungen per Rechnung abgerufen werden.“
Ziffer 1. bis 6. mit identischem Inhalt wie bei Rechtsanwalt H…
nur in Ziffer 1. letztes Wort „Kanzlei“ (anstelle Sozietät), Ziffer 3. Verweis auf Ziffer 7. des Mantelvertrages (nicht Ziffer 6.) und Ziffer 6. entfällt insgesamt.
Rechtsanwalt B. W. – ab 01.06.2012 bis 15.04.2016
Rechtsanwalt W. schloss eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung nebst Zusatzvereinbarung mit der als Einzelunternehmen fortgeführten Kanzlei Dr. S… & Kollegen, beides unterschrieben vom Angeklagten und ihm am 23.05.2012 mit folgendem Inhalt:
„Freier Mitarbeitervertrag“
1.) Hr. W… ist ab 01.06.2012 als freier Mitarbeiter in der Rechtsanwaltskanzlei Dr. S… & Kollegen tätig.
2.) Hr. W… führt seine Sozialabgaben einschließlich Krankenkasse und Pflegeversicherung wie seine Steuern selbst ab.
Die Sozietät zahlt die Berufshaftpflichtversicherung im Rahmen einer Gruppenversicherung und Kammerbeiträge eines freien Mitarbeiters.
3.) Die Zusammenarbeit ist nicht befristet. Sie kann von jeder Vertragsseite mit einer Frist von 3 Monaten zum jeweiligen Quartalsende gekündigt werden.
4.) Die Rechtsanwaltskanzlei Dr. S… & Kollegen stellt dem freien Mitarbeiter für dessen Arbeiten Personal und Sachausstattung bei. Soweit der freie Mitarbeiter in der Rechtsanwaltskanzlei Dr. S… & Kollegen tätig ist, wird ihm ein angemessenes Büro zur Verfügung gestellt.
5.) Der freie Mitarbeiter kann eigenes Personal beschäftigen. Die Vertragsparteien gehen davon aus, dass der freie Mitarbeiter direkt, gegebenenfalls in einer gemeinsamen Darstellung mit der Kanzlei für den jeweiligen Mandanten tätig ist. Der freie Mitarbeiter gestaltet seine Tätigkeit frei. Anwesenheiten und Abwesenheiten koordiniert der freie Mitarbeiter mit dem allgemeinen Kanzleibetrieb.
6.) Die Rechtsanwaltskanzlei Dr. S… & Kollegen beschäftigt keine Angestellten, die eine der Tätigkeit des freien Mitarbeiters vergleichbare Arbeit verrichten. Er kann selbst werben bzw. seine Werbung mit den Werbemaßnahmen der Kanzlei Dr. S… & Kollegen koordinieren.
7.) Hr. W… erhält für seine Tätigkeit ein Jahreshonorar von 27.600,- € zuzüglich Mehrwertsteuer. Von diesem Jahreshonorar können monatliche Teilleistungen Berechnung abgerufen werden.
8.) Auslagen für Termine (Fahrtkosten und Abwesenheitsgelder) werden dem freien Mitarbeiter von der Kanzlei nach den Grundsätzen der RVG erstattet.
1.) Die Beschäftigung eigenen Personals durch den freien Mitarbeiter und die Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei bedürfen der Zustimmung der Sozietät.
2.) Werbemaßnahmen des freien Mitarbeiters sind mit der Sozietät abzustimmen und von dieser zu genehmigen.
3.) Weiterbildungsmaßnahmen werden von der Kanzlei bei angemessener Gestaltung ohne Abrechnung i.S. Ziff. 6 bei Honorarfortzahlung gefördert und bezahlt.
4.) Die Honorarzahlung verändert sich bis zu einer maximalen Jahresabwesenheit ohne Krankheit bis 28 Werktage und einer Abwesenheit mit Krankheit bis zu 30 Werktagen nicht.
5.) Über die Anhebung des Mitarbeiterhonorars wird einvernehmlich und partnerschaftlich in Zeitabständen verhandelt.
Rechtsanwältin Dr. St. M… – ab 01.03.2013 bis 30.06.2018
Rechtsanwältin Dr. M… schloss eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung nebst Zusatzvereinbarung mit der als Einzelunternehmen fortgeführten Kanzlei Dr. S… & Kollegen, unterschrieben vom Angeklagten und ihr am 08.02.2013/11.02.2013 mit folgendem Inhalt:
„Freier Mitarbeitervertrag“
Ziffer 1. bis 4., 6. und 8. mit identischem Inhalt wie bei Rechtsanwalt W…, nur der Beginn der Beschäftigung ist mit 01.03.2013 angegeben
Ziffer 5. lautete wie folgt:
Die freie Mitarbeiterin gestaltet ihre Tätigkeit frei. Anwesenheiten und Abwesenheiten werden mit dem allgemeinen Kanzleibetrieb koordiniert.
Ziffer 7. ist wie folgt gefasst:
Frau Dr. M… erhielt für ihre Tätigkeit ein Monatshonorar von 1.700,- € zuzüglich Mehrwertsteuer. Es werden 15 Wochenstunden zugrunde gelegt, die nach Möglichkeit in 3 Halbtagen geleistet werden.
Ziffer 1. bis 3. mit identischem Inhalt wie bei Rechtsanwalt W…,
Ziffer 4. ist wie folgt gefasst:
Die Honorarzahlung verändert sich nicht bis zu einer maximalen Jahresabwesenheit in Krankheit und sonstiger Abwesenheit bis zu 18 Halbtage.
Rechtsanwältin An. D… – ab 16.09.2013 bis 30.11.2016
Rechtsanwältin D… schloss eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung nebst Zusatzvereinbarung mit der als Einzelunternehmen fortgeführten Kanzlei Dr. S… & Kollegen, beides unterschrieben vom Angeklagten und ihr, am 16.09.2013
„Freier Mitarbeitervertrag“
Ziffer 1. bis 4., 6. und 8. mit identischem Inhalt wie bei Rechtsanwalt W… nur der Beginn der Beschäftigung ist mit 16.09.2013 angegeben
Ziffer 5. ist wie folgt gefasst:
Die freie Mitarbeiterin gestaltet ihre Tätigkeit frei. Anwesenheit und Abwesenheiten werden mit dem allgemeinen Kanzleibetrieb koordiniert.
Frau An. Da. erhält für ihre Tätigkeit ein Jahreshonorar von 30.000,- € zuzüglich Mehrwertsteuer.
Ziffer 1. und 2. mit identischem Inhalt wie bei Rechtsanwalt W… nur heißt das letzte Wort in Ziffer 1 Kanzlei (anstatt Sozietät)
Ziffer 3. ist wie folgt gefasst:
Von den Weiterbildungsmaßnahmen werden die reinen Kurskosten von der Kanzlei bei angemessener Gestaltung gefördert und ohne Fahrt- und Abwesenheitsgelder bezahlt.
Ziffer 4. ist wie folgt gefasst:
Die Honorarzahlung verändert sich nicht bis zu einer maximalen Jahresabwesenheit von 28 Werktage nicht.
Ziffer 5. mit identischem Inhalt wie bei Rechtsanwalt W…, nur heißt es am Ende eine Einigung abgestrebt – gemeint ist wohl angestrebt – (anstatt verhandelt).
Rechtsanwältin St. F. – ab 01.08.2015 bis Februar 2016
Rechtsanwältin F. schloss eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung nebst Zusatzvereinbarung mit der als Einzelunternehmen fortgeführten Kanzlei Dr. S… & Kollegen, beides unterschrieben am 01.06.2015.
„Freier Mitarbeitervertrag“
Ziffer 1. bis 4., 6. mit identischem Inhalt wie bei Rechtsanwalt W… nur der Beginn der Beschäftigung ist mit 01.08.2015 angegeben
Ziffer 5. lautete wie folgt (wie bei Rechtsanwältin Dr. M…):
Die freie Mitarbeiterin gestaltet ihre Tätigkeit frei. Anwesenheiten und Abwesenheiten werden mit dem allgemeinen Kanzleibetrieb koordiniert.
Ziffer 7.-9. sind abweichend von dem Vertrag „W…“ wie folgt formuliert:
7. Frau St.F. erhält für ihre Tätigkeit ein Jahreshonorar von 72.000,- € zuzüglich Mehrwertsteuer bei voller Arbeitsleistung (40-60 Stunden/Woche). Beispielsweise wird bei einer reduzierten Leistungseinheit von 2 halben Tagen/Wochen 1/5 des Grundentgeltes zu Grunde gelegt mit entsprechender linearer Anpassung für die Zukunft. Beabsichtigt ist eine Halbtagstätigkeit ab Frühjahr 2016.
8. Auslagen für Auswärtstermine (Fahrtkosten und Abwesenheitsgelder) werden von der Kanzlei gemäß RVG erstattet, sofern diese Gelder im Mandat realisiert werden können.
9. Eine Beteiligung an der Kanzlei Dr. S… & Kollegen wird in Aussicht gestellt.
Ziffer 1. und 2. mit identischem Inhalt wie bei Rechtsanwalt W…, nur heißt das letzte Wort in Ziffer 1 Kanzlei (anstatt Sozietät)
Ziffer 3., 4. und 5. inhaltlich identisch mit Zusatzvereinbarung D…
Rechtsanwalt N. L… – ab 01.05.2016 bis April 2018
Rechtsanwalt L… schloss eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung mit der als Einzelunternehmen fortgeführten Kanzlei Dr. S… & Kollegen, unterschrieben vom Angeklagten und ihm, am 24.03.2016/06.04.2016; eine Zusatzvereinbarung wurde nicht geschlossen.
„Freier Mitarbeitervertrag“
Ziffer 1., 2. und 3. mit identischem Inhalt wie bei Rechtsanwalt W… nur der Beginn der Beschäftigung ist mit 01.05.2016 angegeben
Ziffer 3. aber mit folgender Ergänzung:
Bis 01.08.2016 besteht eine Probezeit mit beiderseitiger Kündigungsmöglichkeit von 2 Wochen zum Monatsende.
Die Rechtsanwaltskanzlei Dr. S… & Kollegen stellt dem freien Mitarbeiter Personal und Sachausstattung sowie ein angemessenes Büro zur Verfügung.
Ziffer 5. lautete wie folgt (wie bei Rechtsanwältin Dr. M… und F.):
Die freie Mitarbeiterin gestaltet ihre Tätigkeit frei. Anwesenheiten und Abwesenheiten werden mit dem allgemeinen Kanzleibetrieb koordiniert.
Von Weiterbildungsmaßnahmen wie auch von Fachanwaltskursen werden die reinen Kurskosten von der Kanzlei Dr. S… & Kollegen angemessen gefördert.
Die Honorarzahlung verändert sich bis zu einer Abwesenheit von 30 Werktagen p.a. nicht.
Über die Höhe des Mitarbeiterhonorars wird einvernehmlich und partnerschaftlich in Zeitabständen leistungsbezogen verhandelt.
Eine Umsatzbeteiligung gemäß den allgemeinen Regeln der Kanzlei wird dem freien Mitarbeiter optional angeboten.
Ziffer 10. entspricht Ziffer 6. der Vereinbarung „W…“
Herr L… erhält für seine Tätigkeit während der Probezeit 3.000,— €/Monat und ab 01.08.2016 3.200,- €/Monat zuzüglich Mehrwertsteuer bei voller Arbeitsleistung. Das Entgelt wird monatlich gegen Rechnungsstellung bezahlt.
Auslagen für Auswärtstermine (Fahrtkosten und Abwesenheitsgelder) werden von der Kanzlei gemäß RVG erstattet, sofern diese Gelder im Mandat realisiert werden können.
Eine Beteiligung an der Kanzlei Dr. S… & Kollegen wird in Aussicht gestellt.
Rechtsanwältn An. K… – ab 18.07.2016 bis 30.09.2017
Rechtsanwältin K… schloss eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung mit der als Einzelunternehmen fortgeführten Kanzlei Dr. S… & Kollegen, unterschrieben vom Angeklagten und ihr am 17.06.2016/21.06.2016; eine Zusatzvereinbarung wurde nicht geschlossen.
„Freier Mitarbeitervertrag“
Ziffer 1. bis 3. mit identischem Inhalt wie bei Rechtsanwalt W…, nur der Beginn der Beschäftigung ist mit 18.07.2016 angegeben
Ziffer 4. bis 10. und 12. wie bei Rechtsanwalt L…
Frau K… erhält für ihre Tätigkeit in den Monaten Juli, August, September 2016 3.000,- €/Monat und Auslagen zuzüglich Mehrwertsteuer bei voller Arbeitsleistung. Das Entgelt wird monatlich gegen Rechnungsstellung bezahlt. Ab 01.10.2016 wird über die Erhöhung des Leistungsentgelts verhandelt.
28
Sämtliche der vorgenannten Rechtsanwälte, betr. derer die einzelnen vertraglichen Vereinbarungen keinerlei Tätigkeitsumschreibung enthielten, waren tatsächlich jedoch abhängig beschäftigt und somit „Scheinselbstständige“.
29
Bereits aus der jeweils geschlossenen und als „freier Mitarbeitervertrag“ bezeichneten Vereinbarung und der (mit Ausnahme von L… und K…) zusätzlich geschlossenen Zusatzvereinbarung ergaben sich mit freier Mitarbeiterschaft unvereinbare Regelungen bzw. wurden Regelungen des Mantelvertrages wieder „gekappt“. So durften die Anwälte (laut Zusatzvereinbarung abweichend vom Mantelvertrag) ohne Zustimmung und Genehmigung kein eigenes Personal beschäftigen, ohne Zustimmung und Genehmigung der Kanzlei keine Werbung betreiben und ohne Zustimmung und Genehmigung der Kanzlei keine Mandate außerhalb der Kanzlei bearbeiten. Auch enthielten die vertraglichen Regelungen Begrifflichkeiten (Arbeitszeit, Probearbeitsverhältnis, unveränderte Honorarfortzahlung bei Abwesenheiten), die freier Mitarbeiterschaft wesensfremd sind.
30
Dem/der jeweiligen Rechtsanwalt/in war die als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung nebst Zusatzvereinbarung vom Angeklagten vorgefertigt zur Unterschrift vorgelegt worden, ohne ein Aushandeln, auch nicht betr. die Honorarhöhe, deren Zusammensetzung den Anwälten nicht bekannt war. Im Rahmen des jeweiligen Anbahnungs-/Einstellungsgespräches war eine andere Form der Beschäftigungsgestaltung nie diskutiert worden. Der Angeklagte äußerte immer wieder, dass mit dem Beruf des/r Rechtsanwaltes/in eine andere Beschäftigungsgestaltung als die der freien Mitarbeiterschaft unvereinbar sei.
31
Die Rechtsanwälte/innen unterlagen zwar keiner Zeiterfassung, waren aber bereits entsprechend der vertraglichen Vereinbarung gehalten, An- und Abwesenheiten mit dem Kanzleibetrieb zu koordinieren. Unter Berücksichtigung der tatsächlich gelebten Verhältnisse hat der Angeklagte daneben die Anwesenheit während der Kanzleiöffnungszeiten (sofern sich Anwälte nicht daran hielten) eingefordert.
32
Alle Rechtsanwälte/innen erbrachten ihre anwaltschaftlichen Tätigkeiten für die Kanzlei – ihre vertraglich vereinbarte Hauptpflicht – (nahezu) ausschließlich in den Kanzleiräumlichkeiten vor Ort, hatten keine eigene Betriebsstätte. Mit Beginn ihrer Tätigkeit wurde ihnen jeweils ein eigenes Büro in der Kanzlei zur Verfügung gestellt, wo auch die Mandantenkontakte stattfanden. Das Aktenarchiv befand sich ebenfalls in den Kanzleiräumlichkeiten, für beendete Mandate im Keller, für laufende in den, den jeweiligen Rechtsanwälten zugeordneten Sekretariaten bzw. dem eigenen Büro.
33
Zudem stand jedem/r Rechtsanwalt/in geschultes kanzleieigenes Personal zur Verfügung, welches u.a. Kontakte/potentielle Mandate telefonisch in Empfang nahm und den Anwälten nach Fachgebieten zuteilte, ein System, welches ebenfalls der Angeklagte mit Kanzleigründung installiert hatte, die Sekretärinnen entsprechend ein- und angewiesen hatte. Der Empfang/die Sekretärinnen trugen Beratungsgespräche für den jeweiligen Anwalt in den Kanzleikalender ein bzw. stellten den Kontakt direkt durch. Keiner der Anwälte hat einen genauen Einblick hinsichtlich des Verteilungsschlüssels – insbesondere hinsichtlich der Verteilung, wenn mehrere Anwälte das gleiche Fachgebiet bearbeiteten -. Auch bekamen die jeweils „Neuen“ die wenig lukrativen, kleinen Zivilmandate zugeteilt. Empfang und Sekretärinnen legten aber auch Akten an und verwalteten diese, führten den Fristenkalender und kontrollierten Fristen, schrieben Diktate, Rechnungen an die Mandanten, ggf. auch Mahnungen und trieben Forderungen ein, etc.
34
Den Rechtsanwälten/innen stand gegenüber dem Personal keine Weisungsbefugnis zu. Eigenes Personal beschäftigten sie nicht.
35
Keinem der Rechtsanwälte/innen wurden anteilig Kosten für die Nutzung des Büroraumes einschließlich Ausstattung in Form von Möbeln, EDV, Drucker, FAX, Literatur, Heizung, Strom, Wasser, Telefon, Papier o.ä. und sonstigen Betriebsmitteln, sowie für die Sekretärinnen/Rechtsanwaltsfachangestellten in Rechnung gestellt. Sie kannten auch die dafür entstehenden Kosten im einzelnen nicht, auch nicht den Kostenanteil, der auf ihre jeweilige Person für die Nutzung der Kanzleiinfrastruktur entfallen wäre. Die detaillierte Kostenaufstellung der Kanzlei und die Auswertung derselben war in einer passwortgeschützten Datei in der EDV der Kanzlei abgelegt, zu der nur der Angeklagte Zugang hatte (nicht die Anwälte).
36
Alle Anwälte wurden also in den bereits bestehenden Kanzleibetrieb und die bereits etablierten Rahmenbedingungen und Organisationsabläufe jeweils eingegliedert.
37
Keiner der Anwälte hat ein Mitspracherecht bezüglich der Beschaffung von Betriebsmitteln oder Neueinstellung bzw. Kündigung von Sekretärinnen oder anderen Rechtsanwälten/innen. Die Entscheidungen traf der Angeklagte auch insoweit (nicht nur den Organisationsbetrieb der Kanzlei betreffend) letztendlich alleine, auch bereits in der Zeit vor dem Ausscheiden von Rechtsanwältin L… Maßgeblich war die Stimme des Angeklagten, er war der „Entscheider“.
38
Kontakte zu Mandanten/Fällen wurden den jeweiligen Rechtsanwälten/innen – wie erwähnt – überwiegend bei Anrufen von Kontakten am Empfang bzw. Sekretariat nach Fachgebieten zugeordnet, es erfolgten aber auch direkte Akten-/Mandatszuweisungen durch den Angeklagten bzw. immer wieder auch Anweisungen des Angeklagten, Mandate zu bearbeiten, die der jeweilige Anwalt/Anwältin andernfalls nicht (weiter-)bearbeitet hätte.
39
Die Vollmachten wurden jeweils auf einem Formular mit Kanzleibriefkopf erteilt, das Mandatsverhältnis kam jeweils nach Unterschreiben der Vollmacht zwischen der Kanzlei und der Person/Firma zustande, es handelte sich ausschließlich um Kanzleimandate. Die Rechtsanwälte/innen hatten in der Zeit ihrer jeweiligen Tätigkeit für die Kanzlei des Angeklagten keine (relevanten) eigenen Mandate – bzw. waren vereinzelt auf ihren Namen zustandegekommene Mandate rechtlichen und taktischen Erwägungen und damit verbundenen Anweisungen durch den Angeklagten geschuldet. Auch hatten die Anwälte keine (bzw. keine wirtschaftlich relevanten – dies auch nur in Abstimmung mit dem Angeklagten) anderen Auftraggeber. Die in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte hatten grundsätzlich keinen eigenständigen Außenauftritt, sie waren Teil der Kanzlei, die nach dem Wunsch des Angeklagten einheitlich nach außen auftrat und Vertragspartner der Mandanten war.
40
Abgerechnet wurde das jeweilige Mandat ebenfalls auf Rechnungen mit Kanzleibriefkopf, unter Angabe der Kanzlei-Steuernummer. Die Zahlungen erfolgten auf Kanzleikonten, zu denen die Rechtsanwälte/innen keinen Zugang hatten. Grundsätzlich stellte keiner der Rechtsanwälte/innen während der Zeit seiner/ihrer Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten Rechnungen auf eigenen Namen.
41
Bei Fragen von Ratenzahlung bzw. Stundung hatten die Anwälte durchaus eigene Entscheidungsbefugnisse, jedenfalls bis zu einer gewissen Forderungshöhe, was grundsätzlich vom Angeklagten gebilligt worden war. Mahnungen und Forderungseintreibungen wurden durch die Kanzlei vorgenommen, über die Fragen des Forderungserlasses konnten die Anwälte grundsätzlich nicht alleine entscheiden.
42
Zu Beginn der Tätigkeit eines jeden/r Rechtsanwaltes/in, gab es eine „Einarbeitungszeit“, „Probearbeitszeit“, „Ausbildungszeit“ bzw. „Probezeit“. Während dieser Zeit wurde „der/die Neue“ vom Angeklagten an die Hand genommen, musste dem Angeklagten alle Schriftsätze vorlegen, welcher diese nicht nur in sprachlicher Hinsicht, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht, Rechtsfragen betreffend, korrigierte, Korrekturen, die der/die jeweilige Rechtsanwalt/in dann übernahm, sich als Berufsanfänger nicht getraut hätte, dies nicht zu tun. Dem Angeklagten war auch insoweit ein einheitliches Auftreten, ein einheitlicher Stil der Kanzlei wichtig. Diese jeweilige Einarbeitungs-/Ausbildungs- bzw. Probearbeitszeit dauerte wenige Monate bis zu 2-3 Jahre. Auch nach dieser Ausbildungs-/Einarbeitungszeit kam es immer wieder vor, dass der Angeklagte inhaltlich betreffend die Bearbeitung einzelner Mandate Weisungen erteilte.
43
Alle Anwälte hatten grundsätzlich eine persönliche Leistungserbringungspflicht, es war ihnen nicht erlaubt, kanzleifremdes Personal zur Bearbeitung der Mandate oder für Vertretungen heranzuziehen.
44
Sie brachten ihre Arbeitskraft ein für die ihnen zugewiesenen Fälle, erbrachten keine projektbezogenen Tätigkeiten.
45
Mit den meisten Rechtsanwälte/innen war ein festes Jahreshonorar vereinbart, von dem monatlich pauschale Teilleistungen per Rechnung abgerufen werden konnten und wurden. Diese monatlichen Pauschalleistungen (Jahreshonorar : 12) erfolgten unabhängig vom Gewinn und Verlust, unabhängig von dem durch den/die jeweiligen Rechtsanwalt/in erwirtschaften Umsatz, sowie unabhängig von der Gesamtumsatzsituation der Kanzlei, unabhängig von krankheits-/urlaubsbedingten Abwesenheiten bis zu der vertraglich vereinbarten „Obergrenze“ von 28 bzw. 30 Werktagen und unabhängig davon, ob die Mandanten ihrerseits zahlten.
46
Betreffend die Rechtsanwälte Dr. St. M…, L… und K… war jeweils eine monatliche feste Pauschalvergütung vereinbart, die von diesen Rechtsanwälten in Rechnung gestellt wurde, allerdings ebenfalls unabhängig von Gewinn und Verlust, unabhängig von dem durch den/die jeweiligen Rechtsanwalt/in erwirtschaften Umsatz, sowie unabhängig von der Gesamtumsatzsituation der Kanzlei und unabhängig von krankheits-/urlaubsbedingten Abwesenheiten bis zu der vertraglich vereinbarten „Obergrenze“ von 28 bzw. 30 Werktagen und unabhängig davon, ob die Mandanten ihrerseits zahlten.
47
Keiner der Anwälte trug ein Haftungsrisiko betreffend Forderungsausfälle als Folge von Zahlungsunfähigkeit von Mandanten oder solchen bei Schlechtleistung der Anwälte.
48
Der Angeklagte zahlte Fortbildungs- und Fachanwaltskosten für die in seiner Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen, ebenso Haftpflichtversicherung und Kammerbeiträge, ebenso Literatur.
49
Alle im maßgeblichen Zeitraum in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen waren de facto nur für den Angeklagten tätig; andere relevante wirtschaftliche Einnahmequellen hatten sie nicht, hätten dazu auch, da sie nach den gelebten Beschäftigungsverhältnissen in der Kanzlei des Angeklagten „Akten ohne Ende hatten“, bereits in zeitlicher Hinsicht keine Möglichkeit gehabt.
50
Nach außen traten alle Anwälte im Namen der Kanzlei auf, hatten keinen eigenständigen Auftritt in der Branche ohne Kanzleibezug, keine eigene Visitenkarten, betrieben keine eigene Werbung, hatten keine eigenen Geschäftsbücher.
51
Der Angeklagte hat die in seiner Kanzlei tatsächlich gelebten Beschäftigungsbedingungen als solche abhängig Beschäftigter in einem Über-Unterordnungs-Verhältnis gestaltet, den in seiner Kanzlei tätigen Anwälten nicht die Möglichkeit gewährt, ihre Dienstleistung tatsächlich als eine solche eines freien, persönlich und wirtschaftlich unabhängigen Mitarbeiters zu erbringen.
52
Der Angeklagte wusste über den gesamten Zeitraum, dass die in seiner Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen bei wertender Gesamtbetrachtung abhängig Beschäftigte waren und, dass es sich deshalb bei ihnen um Arbeitnehmer handelte, die in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis i.S.d. § 28 a SGB IV stehen.
53
Nach den gelebten Verhältnissen war der Angeklagte Arbeitgeber der in seiner Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen und als solcher verpflichtet, den Beginn jedes versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses zu melden (§ 28 a Abs. 1 Nr. 1 SGB IV), die Sozialversicherungsbeiträge vom Arbeitsentgelt zu berechnen, den Arbeitnehmeranteil einzubehalten und den Gesamtsozialversicherungsbetrag, bestehend aus Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil, an die gemäß § 28 h SGB IV zuständige Einzugsstelle abzuführen (§§ 28 e, 28 f SGB IV).
54
Die nach dem Arbeitsentgelt zu berechnenden Sozialversicherungsbeiträge sind seit dem 01.01. 2006 spätestens am drittletzten Bankarbeitstag (Werktag) des Monats, in dem die für das Arbeitsentgelt oder das Arbeitseinkommen maßgebliche Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt wird, in voraussichtlicher Höhe der Beitragsschuld fällig; ein verbleibender Restbeitrag wird zum drittletzten Bankarbeitstag des Folgemonates fällig (§ 23 Abs. 1 SGB IV).
55
Der Angeklagte handelte bei der jeweiligen Nichtabführung der fälligen Sozialversicherungsbeiträge mit Wissen und Wollen, also vorsätzlich sowohl betreffend die maßgeblichen, statusbegründenden tatsächlichen Umstände des jeweiligen Beschäftigungsverhältnisses als auch hinsichtlich der daraus erwachsenen Konsequenzen des Arbeits-/Sozialversicherungsrechtes in Form der Abführungspflicht.
56
Er hatte den Mantelvertrag und die diesen konterkarieren Zusatzvereinbarungen formuliert. Mantelvertrag und Zusatzvereinbarung waren bewusst auf getrennten Blättern abgefasst. Ebenso hat er ein „2-Blatt-Rechnungs-System“ betreffend die an die jeweiligen Anwälte ausgeschütteten monatlichen Pauschalhonorare entwickelt, welches zum einen die „Neuen“ jeweils übernahmen und zum anderen dazu geeignet war, den Umstand der Pauschalhonorarzahlung (ohne Erbringung einer projektbezogenen Tätigkeit) zu verschleiern und variierende Vergütungen vorzuspiegeln.
57
Die Frage des Status der in seiner Kanzlei tätigen Anwälte wurde gegenüber dem Angeklagten zum einen von den Anwälten selbst immer wieder in Frage gestellt, in persönlichen Gesprächen, aber vor allem auch in Schrift- und E-Mail-Verkehr, dies vor Beginn des noch verbliebenen, nicht verjährten Tatzeitraumes, aber auch während dessen (Schreiben datierend vom 12.10.2010, 21. 11.2012, 17.07.2013, 20.11.2013, 15.04.2013 und 14.06.2015).
58
Auch wurde der Angeklagte im Rahmen einer Betriebsprüfung im Jahr 2013 – bei welcher allerdings der Status der freien Mitarbeiter keiner Prüfung unterzogen wurde – generell auf die Problematik der freien Mitarbeiterschaft der bei ihm tätigen Anwälte in Abgrenzung zur abhängigen Beschäftigung seitens seiner steuerberaterlichen Kontakte hingewiesen (Schreiben 24.10.2013, Gespräch F. – Dr. S…).
59
Obwohl der Angeklagte sich der „Problematik“ bewusst war, gab er, sofern an ihn kritische Fragen zur Abgrenzung und zum Status der in seiner Kanzlei tätigen Anwälte herangetragen wurden, wahrheitswidrig an, dass alles geprüft und in Ordnung sei, eine falsche Aussage, die dazu führte, dass die in der Kanzlei tätigen Anwälte (durchweg Berufsanfänger), die Problematik (zunächst) nicht weiter hinterfragten. Tatsächlich ist es allerdings nie zu einer Statusprüfung betreffend die in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte gekommen.
60
Der Angeklagte hat sein „Modell der Scheinselbständigkeit“ bereits mit Kanzleigründung in den 80ziger Jahren entwickelt, in der Folgezeit aufrechterhalten und fortentwickelt.
61
Insgesamt wurden im Zeitraum Februar 2013 bis Dezember 2017 durch den Angeklagten in Kenntnis aller relevanten Tatumstände Sozialversicherungsbeiträge die Höhe von insgesamt 118.850,58 € in 189 Einzelfällen nicht abgeführt.
62
Diese verteilen sich wie folgt auf Arbeitnehmer und Einzugsstellen:
Arbeitsgeber-
|
Arbeitsnehmer-
|
Summe/Beiträge
|
anteil
|
anteil
|
|
Einzugstelle AOK ... – 59 Fälle -
|
|
|
17.183,51 €
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17.370,83 €
|
34.554,34 €
|
Einzugsstelle T. (T.K.)
|
- 46 Fälle -
|
|
11.973,74 €
|
12.457,28 €
|
24.431,02 €
|
Einzugsstelle B. – 26 Fälle -
|
|
|
1.621,53 €
|
1.621,53 €
|
3.243,06 €
|
Einzugsstelle K. (Kaufmännische Krankenkasse)
|
- 58 Fälle -
|
|
28.170,51 €
|
28.451,65 €
|
56.622,16 €
|
63
Insgesamt errechnen sich damit 189 Teter und folgender Gesamtschadensbetrag (strarechtliche Schadensbetrachtung):
Arbeitsgeber-
|
Arbeitsnehmer-
|
Summe/Beiträge
|
anteil
|
anteil
|
|
58.949,29 €
|
59.901,29 €
|
118.850,58 €
|
64
Anhaltspunkte dafür, dass die Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten im Tatzeitraum auch nur erheblich eingeschränkt gewesen sein könnte, haben sich nicht ergeben.
I. Hinsichtlich der persönlichen wirtschaftlichen Verhältnisse der Angeklagten
- -
-
eigene Einlassung zur lebensgeschichtlichen und beruflichen Entwicklung, einschließlich vorgelegter und in Augenschein genommener Urkunde vom 25.04.1978 (Anlage 42 zu Protokoll, Berufung des Angeklagten in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit zum Staatsanwalt),
- -
-
sowie zu den wirtschaftlichen Verhältnissen, nebst ergänzendem Vortrag im Schriftsatz der Verteidiger vom 03.01.2022 (Anlage 37 zu Protokoll) zum Gesamtnettoeinkommen;
- -
-
im Selbstleseverfahren „11“ eingeführter Bericht zu den Vermögensermittlungen (Anlage 41 zu Protokoll),
- -
-
verlesene Auskunft aus dem Bundeszentralregister vom 06.09.2021.
II. Betr. die festgestellten Sachverhalte:
1.) Keine persönliche Einlassung des Angeklagten Dr. S… zur Sache:
65
Der Angeklagte hat im Rahmen der Hauptverhandlung zur Sache persönlich keine Angaben gemacht.
66
Durch seine Verteidiger wurden zu jedem Hauptverhandlungstag Erklärungen nach § 257 Abs. 2 StPO abgegeben (überwiegend schriftlich und insoweit jeweils als Anlagen zu Protokoll genommen), welche sich auf eine Bewertung der an dem jeweiligen Hauptverhandlungstag erhobenen Beweise und dazu vorgenommene Rechtsausführungen beschränkten.
67
Insoweit ist bereits an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass gegen den Inhalt dieser § 257 Abs. 2 StPO – Erklärungen zum einen jeweils seitens der Staatsanwaltschaft Widerspruch betreffend die Richtigkeit der inhaltlichen Wiedergabe der Zeugenaussagen erhoben wurde, zum anderen betreffend die Inhaltswiedergabe der Zeugenaussagen die Darlegungen in wesentlichen Punkten unvollständig sind.
68
Unter dem 22.08.2019 hatte der Angeklagte eine Erklärung gemäß § 163 a StPO abgegeben, welche im Selbstleseverfahren „1“ VII. (Anlage 2 zu Protokoll) in die Hauptverhandlung eingeführt wurde.
69
Der Angeklagte erklärte am 30.12.2021, dass er hinsichtlich der Frage, ob seine Stellungnahme vom 22.08.2019 Gegenstand seiner Einlassung im Rahmen der Hauptverhandlung sein solle, keine Angaben machen zu wollen.
70
Die Kammer hat diese Erklärung daher im Wege des Urkundsbeweises als Sachvortrag vor Hauptverhandlungsbeginn eingeführt.
71
Die von der Kammer getroffenen Feststellungen basieren auf den Beweismitteln, die ausweislich des Sitzungsprotokolles Gegenstand der Hauptverhandlung waren.
72
Da die Einordnung der Tätigkeit für jeden einzelnen Rechtsanwalt zu prüfen war, mussten auch für jeden einzelnen Anwalt die mit ihm vertraglich getroffenen Vereinbarungen, sowie die betreffend seine Person tatsächlich gelebten Beschäftigungsverhältnisse fest- und dargestellt werden.
73
Soweit sich aus den von der Verteidigung als Anlage zu Protokoll gereichten Zwischenerklärungen/-plädoyers Abweichungen betreffend den Inhalt der Zeugenaussagen ergeben, sind diese Darlegungen unzutreffend bzw. unvollständig.
74
Aufgrund der erhobenen Beweise sind folgerde Feststellungen zu treffen gewesen:
75
a) Im Zeitraum zwischen Februar 2013 und Ende Dezember 2017 übten folgende nachbenannte Personen anwaltschaftliche Tätigkeiten in der Anwaltskanzlei Dr. S… & Kollegen aus.
76
Zudem wurde wie nachbenannt festgestellt, wann die jeweilige Tätigkeit begann, wie lange sie andauerte und was Gegenstand der vertraglichen Vereinbarung zwischen den jeweiligen Rechtsanwälten und der als GbR geführten Anwaltssozietät Dr. S…, L… & Kollegen (sofern die Verträge vor Mai 2012 geschlossen wurden) bzw. der Anwaltskanzlei Dr. S… & Kollegen war.
77
a) 1. Zeitliche Vertragsabfolge bzw. Einstieg in die anwaltschaftliche Tätigkeit bei Dr. Sta.
1.) Rechtsanwalt M. H… – ab 01.10.2000 bis 30.06.2013
2.) Rechtsanwalt U. V…- ab 01.01.2001 bis Ende September 2015
3.) Rechtsanwalt An. H… – ab 04.05.2006 bis 30.06.2015
4.) Rechtsanwalt R. … – ab 01.07.2006 bis 30.06.2015
5.) Rechtsanwältin Ul. A… – ab Mai 2008 bis Mai 2018
- kein schriftlicher Vertrag (§ 154 (a) Abs. 2 StPO)
6.) Rechtsanwalt Ro. B… – ab 01.01.2010 bis 31.03.2015
7.) Rechtsanwältin K. B…, geb. H. – ab 15.05.2012 bis
8.) Rechtsanwalt B. W… – ab 01.06.2012 bis 15.04.2016
9.) Rechtsanwältin Dr. St. M… – ab 01.03.2013 bis 30.06.2018
10.) Rechtsanwältin An. D… – ab 16.09.2013 bis 30.11.2016
11.) Rechtsanwältin Dr. An.… – ab 14.03.2016 bis 15.04.2016 (§ 154 (a) Abs. 2 StPO)
12.) Rechtsanwältin St.F. – ab 01.08.2015 bis Februar 2016
13.) Rechtsanwalt N. L… – ab 01.05.2016 bis April 2018
14.) Rechtsanwältin An. K… – ab 18.07.2016 bis 30.09.2017
78
a) 2. Der Inhalt der jeweils geschlossenen, als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichneten Vereinbarung nebst (soweit abgeschlossen) Zusatzvereinbarung (keine Zusatzvereinbarung hatten die Rechtsanwälte N. L… und An. K…) ergibt sich aus den im Selbstleseverfahren „1“ I. eingeführten entsprechenden Urkunden, die zudem bei der jeweiligen Zeugeneinvernahme der Rechtsanwälte/innen nochmals in Augenschein genommen und auszugsweise verlesen wurden. Daraus ergab sich der Inhalt wie Ziffer C. zugrunde gelegt.
79
Bzgl. Rechtsanwältin F. wurde die Zusatzvereinbarung versehentlich nicht ins Selbstleseverfahren „1“ I. kopiert, aber aus Bd. 21 „F.“- Bl. 21003 verlesen.
80
Bzgl. Rechtsanwältin D… wurden ergänzend zum Selbstleseverfahren „1“ I. aus Bd. 10 „D…“ – Bl. 10165-10167 (Mantelvertrag und Zusatzvereinbarung) nochmals klarstellend verlesen (da das Selbstleseverfahren auch Entwürfe aus dem Jahr 2016 für eine Vertragsänderung enthielt, zu der es allerdings nie kam).
81
Alle Rechtsanwälte/innen, die mit der als GbR geführten Anwaltssozietät Dr. S…, L… & Kollegen (sofern die Verträge vor Mai 2012 geschlossen waren) bzw. der Anwaltskanzlei Dr. S… & Kollegen eine schriftliche Vereinbarung nebst Zusatzvereinbarung (bzw. nur den Mantelvertrag – L…/K…) getroffen haben, gaben übereinstimmend an, dass diese ihnen vorgefertigt vom Angeklagten zur Unterschrift vorgelegt wurde, es nicht zu einem Aushandeln kam, auch nicht betr. einzelne Regelungen wie etwa die Honorarhöhe; der Inhalt war nicht diskutabel und von den bereits anwesenden Kollegen hieß es, dass das der Standardvertrag sei (vgl. insoweit nachfolgende Angaben der Rechtsanwälte/innen im Rahmen ihrer jeweiligen Zeugeneinvernahme, D. II. 2.) a) 3.).
82
a) 3. Zeugen/Rachtsanwälte/innen, die im verfahrensgegenständlichen Zeitraum in der Kanzlei des Angeklagten tätig waren (chronologisch – Eintrittszeit):
83
Im Zeitraum vom 01.10.2000 bis 30.06.2013 war der Zeuge M. H… in der Kanzlei Dr. S…, L… & Kollegen bzw. der Kanzlei Dr. S… & Kollegen als Rechtsanwalt tätig.
84
Er schilderte, dass ihm der Angeklagte als passionierter Golfspieler bekannt gewesen sei und er sich dann kurz vor seinem Beschäftigungsbeginn Anfang 2000 auf ein Zeitungsinserat hin in der Anwaltskanzlei vorgestellt habe. Das Einstellungsgespräch habe nur mit dem Angeklagten stattgefunden, es sei nicht viel geredet worden, außer, dass ein Kollege aufgehört habe. Auch sei über Golf geredet worden.
85
Es sei dann ein „Freier Mitarbeitervertrag“ von ihm, dem Angeklagten und Frau L… unterzeichnet worden. Dieser sei ihm vorgefertigt vorgelegt worden, da sei nichts ausgehandelt worden. Zu den Inhalten dieses Vertrages könne er nichts sagen, die seien ihm nicht erinnerlich; ob eine Zusatzvereinbarung abgeschlossen worden sei, wisse er auch nicht mehr.
86
Mit dem Zeugen M. H… und den Verfahrensbeteiligten wurde die als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung des Zeugen H… vom 02.10.2000/08.10.2000, sowie die mit gleichem Datum geschlossene Zusatzvereinbarung mit der Kanzlei Dr. S…, L… & Kollegen (die im Selbstleseverfahren „1“ I. eingeführt wurden) durchgegangen. Der Zeuge blieb dabei, sich an Einzelheiten nicht mehr erinnern zu können, der Inhalt, sowohl des Vertrages wie der Zusatzvereinbarung, sei vom Angeklagten vorgegeben und von ihm nur unterschrieben worden.
87
Es sei aber, wenn ihm der Vertrag vorgehalten würde, wohl richtig, dass er anfangs ein Jahreshonorar von 65.000,- DM erhalten habe. Von diesem Jahreshonorar habe er monatlich Teilleistungen per Rechnung abgerufen; er sei ja immerhin 13 Jahre beim Angeklagten gewesen, habe zuletzt seiner Erinnerung nach ein Fixum von 6.000,- € monatlich nebst Tages-/Abwesenheitsgeldem nach BRAGO bzw. RVG erhalten.
88
Hinsichtlich Ziffer 4. der Zusatzvereinbarung – Die Honorarzahlung verändert sich bis zu einer maximalen Jahresabwesenheit ohne Krankheit bis 28 Werktage und einer Abwesenheit mit Krankheit bis zu 30 Werktagen nicht – äußerte der Zeuge, dass er während seiner Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S… nur einmal länger krank gewesen sei (3 Wochen wegen Pfeifferschen Drüsenfieber), ansonsten allenfalls mal 1-2 Tage. Dafür habe er keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen müssen. Ob und wie Krankheiten eingetragen bzw. in der Kanzlei vermerkt worden seien, wisse er nicht. Urlaubstage seien jedenfalls im Kanzleikalender mit dem jeweiligen Kürzel des Anwaltes vermerkt worden, damit für diesen während dieser Zeit keine Termine vereinbart würden. Einen förmlichen Urlaubsantrag oder eine förmliche Urlaubsgenehmigung habe es nicht gegeben, nur, wie gesagt, eine interne Abstimmung. Er habe ohnehin weniger Urlaubstage genommen, als ihm eigentlich zugestanden hätten.
89
Zum jeweiligen Monatsende habe er immer eine Rechnung gestellt. Aus dem Jahresfixum, welches im Vertrag vereinbart gewesen sei (bzw. dem über die Jahre angepassten Jahreshonorar), habe sich sein monatlicher Anspruch ergeben. Das Geld habe er immer erhalten, unabhängig von Gesundheit und Krankheit bzw. urlaubsbedingter Abwesenheit und ebenso unabhängig vom erwirtschafteten Umsatz. Eine Gewinn- und Verlustbeteiligung sei zwar mal als Anreiz angedacht gewesen, habe es letztlich aber nicht gegeben.
90
Mit dem Zeugen H… und den Verfahrensbeteiligten wurde exemplarisch die Rechnung vom 02.04.2013 für den Leistungszeitraum März 2013 – Bd. 11 „H…“ – Bl. 11217 f. – in Augenschein genommen. Die Rechnung besteht aus zwei Blättern:
91
Blatt 1 enthält die Posten „Vergütung als freier Mitarbeiter“: 6.407,40 € und „USt/MWSt“ - 6.407,40 € = Summe aus vereinbartem Honorar = 6.000,- € + RVG-Geldern, steht so nicht auf Blatt 1 der Rechnung - Blatt 2 die Posten nach RVG i.H.v. 407,40 €.
92
Die in Rechnung gestellte „Vergütung als freier Mitarbeiter“ sei in Abhängigkeit der Posten nach RVG somit von Monat zu Monat auf Blatt 1 der jeweiligen Rechnung unterschiedlich hoch ausgewiesen worden.
93
Für die Dauer von ca. 6 Monaten habe der Angeklagte zwar mal – wann das genau gewesen sei, wisse er nicht mehr, aber eher zu Beginn seiner Tätigkeit – dann, wenn die als Ziel ins Auge gefassten Umsätze von einem Anwalt erreicht bzw. übertroffen worden seien, Sonderzahlungen veranlasst, dieses Modell sei danach aber wieder abgeschafft worden.
94
Eine Reduzierung des Honorars der Rechtsanwälte/innen bei schlechten Umsätzen habe es nicht gegeben. Auch in den Jahren 2010/2011, als die finanzielle Situation der Kanzlei angespannt gewesen sei, sei über Kürzungen der Rechtsanwaltshonorare nicht kommuniziert worden, nur darüber, ob sich die Kanzlei eine derart große Mitarbeiterschaft leisten könne.
95
Der Angeklagte habe auch für alle Kanzleimitarbeiter, also Sekretärinnen und Anwälte etwa 2007 zum Kanzleijubiläum einen Rom-Ausflug organisiert und dabei alles – Flug, Unterkunft, Essen etc. – komplett bezahlt.
96
Als er im Oktober 2000 in der Kanzlei des Angeklagten angefangen habe, habe er ein eigenes Büro unentgeltlich zur Verfügung gestellt bekommen. Er habe auch keine eigenen Arbeitsmittel oder EDV-Mittel gehabt, PC/EDV, Bücher usw. eingebracht, habe das alles von der Kanzlei gestellt bekommen. Jeder Anwalt – auch er – habe eine Sekretärin (bzw. eine sei grundsätzlich für zwei, dem gleichen Fachgebiet zugehörige Rechtsanwälte/innen zuständig gewesen) zugeordnet bekommen. Das Personal sei ebenso von der Kanzlei bezahlt worden wie die Kosten für Miete, die kanzleiinterne Infrastruktur, Wartungsarbeiten etc.. Die Sekretärinnen/Rechtsanwaltsgehilfinnen der Kanzlei hätten sich neben den Schreibarbeiten um die gesamte Logistik, Termine, Fristenüberwachung etc. gekümmert. Die Akten der in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen seien entweder im kanzleieigenen Archiv oder betreffend die laufenden in den verschiedenen Vorzimmern aufbewahrt worden.
97
Zu Hause habe er kein eigenes Büro gehabt, nirgends anders gearbeitet, als für den Angeklagten und in den Kanzleiräumlichkeiten. Soweit – auch in der Stellungnahme des Angeklagten selbst vom 22.08.2019, welche im Selbstleseverfahren „1“ VII. (Bl. 1686) eingeführt wurde – die Rede davon gewesen sei, er habe auch in der Rechtsanwaltskanzlei seiner späteren Ehefrau, St. L… mitgearbeitet, sei dies falsch. Er habe in der Kanzlei des Angeklagten „Akten ohne Ende gehabt“, eine Arbeit wo anderes wäre ihm aus zeitlichen Gründen gar nicht möglich gewesen.
98
Während seiner Tätigkeit für die Kanzlei Dr. S…, L… & Kollegen bzw. ab Mai 2012 Dr. S… & Kollegen habe er keine Werbung geschaltet; die Kanzlei habe Werbung betrieben und bezahlt. Er habe Visitenkarten mit dem Kanzleinamen auf der einen Seite und seinen Namen auf der anderen Seite gehabt, aber keine eigenen.
99
Zu Beginn seiner Tätigkeit habe er vom Angeklagten selbst Mandate/Fälle bekommen. Die Kontakte seien aber im Wesentlichen über den Empfang entsprechend der jeweiligen Fachgebiete vermittelt worden. Mit der Zeit sei es so gewesen, dass aber auch Leute, die ihn gekannt hätten, anriefen und wünschten, von ihm vertreten zu werden. Das Mandatsverhältnis sei aber immer mit der Kanzlei zustande gekommen, die Mandatsbearbeitung sei auch immer über die Kanzlei abgerechnet worden.
100
Soweit die Kontakte über den Empfang nach Fachgebieten vermittelt worden seien, seien diese dann entweder direkt zu ihm durchgestellt oder es sei für ihn ein Besprechungstermin in den kanzleieigenen Terminkalender eingetragen worden. Später sei dann mit dem interessierten Kontakt eine Vollmacht gefertigt worden, wobei das Vollmachtsformular im Briefkopf auf die Kanzlei Dr. S… (- bis Mai 2012 L…) & Kollegen gelautet habe, seitlich angeordnet daneben alle in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen. Auf der Strafprozessvollmacht seien allerdings nur drei Rechtsanwälte (Dr. S…, M… H…) aufgelistet gewesen.
101
Am Anfang seiner Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten habe er diesem alle Schriftsätze vorlegen müssen. Der Angeklagte habe nicht nur betreffend die Formulierungen, sondern auch inhaltlich Vorgaben gemacht, allerdings sei dies nach einiger Zeit, etwa 3 Jahren, weniger geworden. Zu Beginn seiner Tätigkeit sei er jedenfalls „Assistent“ von Dr. S… gewesen. Dieses Procedere sei bei allen Rechtsanwälten/innen zu Beginn ihrer jeweiligen Tätigkeit so gewesen.
102
In dieser Anfangszeit habe er mit der Kollegin L… igentlich keine Berührungspunkte gehabt.
103
Im fraglichen Zeitraum habe er persönlich nie Rechnungen an Mandanten gestellt. Die Rechnungen seien auf Kanzleinamen – Briefkopf der Kanzlei „Dr. S… (bis Mai 2012 L…) & Kollegen (die Kollegen seien aufgelistet gewesen)“ – an die Mandanten gestellt und von dem/der für das Mandat zuständigen Rechtsanwalt/in unterschrieben worden. Von dieser Praxis habe es nur einmal eine Ausnahme gegeben: Es sei zu einem Rechtsstreit zwischen zwei Bekannten des Angeklagten gekommen; einer der beiden sei von ihm vertreten worden; der Angeklagte habe nicht gewollt, dass die Rechnung an diesen Mandanten mit Kanzleibrief versandt würde. Es sei mit dem Angeklagten abgesprochen gewesen, dass diese Rechnung auf seinen Namen/H… laufe.
104
Auf der jeweiligen Kostennote sei die Steuernummer der Kanzlei angegeben gewesen; die Zahlungen seien auf eines der Kanzleikonten erfolgt; auf die Kanzleikonten habe er keinen Zugriff gehabt, er habe keine Vollmacht gehabt.
105
Sofern ein Mandant eine Ratenzahlung haben wollte, habe er dies allein entscheiden dürfen. Forderungseintreibungen seien durch die Kanzlei gemacht worden.
106
Er habe während der gesamten Zeit, in der er in der Kanzlei Dr. S… tätig gewesen sei, keine eigenen Klienten gehabt.
107
Er habe während seiner Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten den Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht gemacht, auch den für Verkehrsrecht, dies sei auch vom Angeklagten bezahlt worden.
108
Die Kanzleizeiten seien von 08:00 Uhr bis 18:00 Uhr gewesen; die Kanzlei habe auch mittags besetzt seien müssen.
109
Es habe die Anweisung von Dr. S… gegeben, dass der/die Anwalt/in zu Kanzleizeiten habe anwesend sein sollen; dies sei eine allgemeine, bei Kanzleibesprechungen immer wieder wiederholte Anweisung gewesen.
110
Auf Vorhalt seiner Zeugenaussage beim Zoll erklärte der Zeuge, es sei richtig, dass er in Ausnahmefällen auch mal einen Nachmittag habe freinehmen können; das habe er auch praktiziert, dann habe er halt abends nachgearbeitet.
111
Während seiner gesamten Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S… habe er keine anderen Auftraggeber gehabt, das sei ihm auch gar nicht möglich gewesen, da er vollständig mit Arbeit eingedeckt gewesen sei. Durch die hohe Arbeitsbelastung habe er gar keine Chance gehabt, selber unternehmerisch tätig zu werden bzw. einen eigenen Mandantenstamm aufzubauen.
112
Es sei in der Kanzlei Dr. S… schon diskutiert worden, ob die Anwälte nicht hätten angemeldet werden müssen. Diesbezüglich sei es zwischen ihm und dem Angeklagten auch zu einem Streit gekommen, da habe aber schon festgestanden, dass er in der Kanzlei aufhöre.
113
Ein Statusfeststellungsverfahren bei der Rentenversicherung sei nicht durchgeführt worden, sei aber von verschiedenen Anwälten, wenn diese aus der Kanzlei ausgeschieden seien, angedroht worden.
114
Im Zuge des angedeuteten Streites zwischen ihm und dem Angeklagten habe er unter dem 17.07.2013 an diesen auch ein Schreiben verfasst, in dem er auch auf seine eigene Scheinselbstständigkeit Bezug genommen habe.
115
In dem Schreiben – welches dem Zeugen vorgehalten wurde – (und das im Selbstleseverfahren „2“, – Bd. 11 „H…“ – Bl. 11025 ff. – eingeführt wurde) heißt es u.a.: Hilfsweise erkläre ich die Aufrechnung mit den von mir verauslagten Kosten der letzten 4 Jahre für Sozialversicherungsträger. Ich habe meinen Beschäftigungsstatus bei Dir zwischenzeitlich von den Kollegen G… und W… – Fachanwälte für Arbeitsrecht – prüfen lassen. Diese sind sicher, dass bei meinem Beschäftigungsverhältnis die Voraussetzungen der Scheinselbstständigkeit erfüllt sind. Diese Auffassung wird auch von der Kollegin L… geteilt. Sie hat den Kollegen H… angestellt. Solltest Du es dennoch auf einen Rechtsstreit ankommen lassen, können die Grundsätze der Scheinselbstständigkeit gerne vor dem Arbeitsgericht erörtert werden. Hilfsweise berufe ich mich auf Verjährung. Du hast meine Abrechnung monatlich überprüft und abgezeichnet.
116
Der Zeuge gab an, dass er, soweit er auch die Kollegen G… und W… Bezug genommen habe, die beiden keine konkrete Prüfung vorgenommen hätten, er dies nur aus Verärgerung geschrieben habe. Gesprächsthema sei die Scheinselbstständigkeit allerdings schon gewesen.
117
Er habe das Thema „Scheinselbstständigkeit“ auch während seiner Tätigkeit bei Dr. S… mit älteren Kollegen erörtert, etwa Fragen gestellt wie: Warum man in der Kanzlei des Angeklagten nicht angestellt werde?. Die Antwort sei eigentlich immer gewesen, nämlich, dass das Dr. S… schon immer so gemacht habe.
118
Im Jahr 2009, als der Kollege G… dann letztendlich die Kanzlei verlassen habe, sei Scheinselbstständigkeit schon auch Thema gewesen. G… habe die Statusfeststellung gewollt, damit auch dem Angeklagten gedroht. Er sei mit G…, der zu Beginn des Jahres 2010 aus der Kanzlei ausgeschieden sei, befreundet gewesen, deshalb habe man auch ab und an noch mal darüber geredet.
119
Auch anlässlich der Kanzleibesprechungen sei während seiner Zeit immer mal wieder darüber gesprochen worden, dass den Rechtsanwälten/innen Vorgaben gemacht würden, sie allerdings nicht angestellt würden.
120
Mit S. L… sei er befreundet gewesen und habe über sie mitbekommen, dass aufgrund einer anonymen Anzeige ein Verfahren gegen den Angeklagten eingeleitet worden sei, wobei niemand ihm gegenüber in der Folgezeit den Vorwurf gemacht habe, dass die anonyme Anzeige von ihm gekommen sei, was auch nicht der Fall sei.
121
Gleichfalls habe er den Kollegen M… mal gefragt, ob man in Gesprächen mit dem Angeklagten über Gehaltsvorstellungen einbringen könne, dass man eigentlich angestellt sei. M… habe gesagt: Nein.
122
Er habe dann – wie im Selbstleseverfahren „2“ – Bd. 11 „H…“ – Bl. 11008 f. eingeführt – eine schriftliche Kündigung des freien Mitarbeitervertrages vom Angeklagten (Datum: 21.06.2013) erhalten.
123
Es sei so gewesen, dass er die Woche zuvor in Urlaub gewesen, am Montag zurück in die Kanzlei und in sein Büro gekommen sei. Er habe nicht mehr ins Vorzimmer gekonnt, auch sein PC sei abgestellt gewesen. Daraufhin sei er zu Dr. S… ins Büro, der ihm die Kündigung ausgehändigt habe.
124
Das Ausscheiden sei problembehaftet gewesen. Etwa habe Dr. S… ihm sein letztes Gehalt nicht ausgezahlt (im Übrigen auch seiner Frau, St. L…, nicht). Während seine Frau deshalb eigentlich einen Arbeitsgerichtsprozess habe führen wollen, habe er eigentlich nur die Zukunft im Auge gehabt, habe diese nicht mit Streitereien vertun wollen, auch, weil seine Frau (St. L…) damals hochschwanger gewesen sei. Daher habe er sich letztlich entschieden, keinen Arbeitsrechtsstreit zu führen.
125
Bei seinem Ausscheiden aus der Kanzlei Dr. S… & Kollegen sei es natürlich auch um die Mandatsverteilung gegangen.
126
Er habe betr. alle laufenden Mandate die Mandanten angeschrieben, ob das Mandat von der Kanzlei Dr. S… fortgeführt werden solle, oder ob sie mit ihm/H… gehen wollten. 90 % der Mandanten hätte mit ihm gehen wollen, deshalb dann das Mandat mit der Kanzlei gekündigt und ihn – sofern erforderlich – in der Folge neu bevollmächtigt.
127
Er habe dafür nichts an die Kanzlei gezahlt, er sei aber auch mit der Abrechnung der jeweiligen Mandate gegenüber der Kanzlei immer auf dem aktuellen Stand gewesen.
128
In diesem Zusammenhang wurde dem Zeugen H… Ziffer 3. der im Selbstleseverfahren „2“ – Bd. 11 „H…“ – Bl. 11010 – eingeführten Anweisung von Dr. S… für Rechtsanwalt M. H… als Folge der fristlosen Kündigung vorgehalten, wo es heißt: Herrn H… ist es untersagt, Akten oder sonstige Unterlagen der Kanzlei mitzunehmen, Kanzleidateien mitzunehmen oder auszudrucken. Die Mitnahme beschränkt sich auf seine persönlichen Sachen.
129
Hierzu äußerte der Zeuge, dass der Angeklagte dies tatsächlich so habe praktizieren wollen.
130
Er habe zunächst die Mandanten anschreiben wollen. Das sei aber schwierig gewesen, da der Angeklagte ihm Stammdaten, Anschriften und Adressen, den Zugang zum PC etc. verweigert habe. Er habe – ohne die entsprechenden Namen nennen zu wollen – dann von Kollegen erfahren, dass der Angeklagte diesen gegenüber die Anweisung erteilt habe, „den H… von allen Zugängen auszuschließen“. Über Freunde in der Kanzlei sei er aber dann doch an die Daten gekommen, habe, wie erwähnt, die Mandanten angeschrieben, ob das Mandat von der Kanzlei Dr. S… fortgeführt werden solle, oder ob sie mit ihm/H… gehen wollten. Betreffend die Mandanten, die das Mandat mit der Kanzlei gekündigt hätten und ihm gefolgt seien, habe er die Akten etc. dann auch nicht ohne weiteres in der Kanzlei abholen können. So sei er einmal dort gewesen, um Akten zu holen, da habe der Angeklagte herumgebrüllt, ihm die Aktenherausgabe verweigert und ein Hausverbot gegen ihn ausgesprochen.
131
Auf Vorhalt der Verteidigung, ob das Thema „Scheinselbstständigkeit“ nicht eigentlich nur Auswuchs des Streites zwischen ihm/H… und Dr. S… im Zusammenhang mit der Kündigung und dem Ausscheiden gewesen sei, äußerte der Zeuge: „Nein, ich habe meine Tätigkeit selbst als Scheinselbstständigkeit eingeordnet“.
132
Auf weiteren Vorhalt äußerte der Zeuge, dass er trotzdem seine Einkünfte als solche aus selbstständiger Tätigkeit – etwa gegenüber der Versorgungskammer oder im Erhebungsbogen – deklariert habe, so wie die anderen auch.
133
Die Rechtsanwaltshaftpflichtversicherung sei für seine Person durch die Kanzlei Dr. S… bezahlt worden, auch die Beiträge zur Rechtsanwaltskammer. Es sei so gewesen, dass er diese Rechnungen einfach an Dr. S… weitergegeben habe, die Rechnungen seien dann überwiesen worden. Kranken-/Pflegeversicherung habe er selbst gezahlt, ab Anfang 2000 sei er von der Rentenversicherung befreit gewesen.
134
Bzgl. die Person von M. H… war somit nach seiner glaubhaften und glaubwürdigen Aussage für das Gericht festzustellen, dass er zwar schriftlich mit der Kanzlei Dr. S… L… & Kollegen eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung geschlossen und Umsatzsteuer abgeführt hat, sowie im Fall der Erkrankung keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen, Urlaub auch nicht förmlich beantragen und genehmigen lassen musste, und es auch keine Arbeitszeitaufzeichnungen gab, allerdings die Anweisung zur Anwesenheit während der Kanzleikernzeiten durch Dr. S… bestand.
135
H… legte weiter dar, dass die als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung ihm vorgefertig vorgelegt wurde, ebenso die auf einem gesonderten Blatt abgefasste Zusatzvereinbarung, die zum Teil Regelungen des Mantelvertrages konterkarierte; es gab kein Aushandeln, er unterschrieb nur noch. Er war in den Kanzleibetrieb eingegliedert, bekam dort kostenfrei ein eigenes, voll ausgestattetes Büro (hatte keine eigene Betriebsstätte) und Infrastruktur, sowie geschultes Personal zur Verfügung (beschäftigte kein eigenes Personal) gestellt. Er bekam bei einer maximalen Jahresabwesenheit ohne Krankheit bis 28 und mit Krankheit bis 30 Werktage sein „Honorar“ fortgezahlt, bekam dieses auch gezahlt unabhängig vom eigenen erwirtschafteten Umsatz und unabhängig von dem durch die Kanzlei insgesamt erwirtschafteten Umsatz. Kontakte wurden ihm im Wesentlichen über den Empfang nach Fachgebiet vermittelt. Die Mandatsverhältnisse, die mit der Kanzlei zustande kamen, wurden über die Kanzlei auf dem Kanzleikonto abge- und verrechnet, auf welches er keinen Zugriff hatte. Er hatte keine anderen Auftraggeber, war insbesondere entgegen der Behauptung des Angeklagten auch nicht in der Kanzlei seiner Ehefrau tätig. Er verneint unternehmerische Risiken ebenso wie unternehmerische Chancen, da er in den Kanzleibetrieb eingebunden und mit so viel Arbeit eingedeckt war, dass dies ausschied. Er betrieb keine eigene Werbung, hatte keine Visitenkarten auf seinen eigenen Namen, keine eigene Außendarstellung bzw. kein eigenständiges Auftreten auf dem Markt/in der Branche, keine eigenen Mandate, keine anderen Auftraggeber.
136
Betreffend die Mandatsbearbeitung an sich schilderte der Zeuge, dass er etwa 3 Jahre lang alle Schriftsätze dem Angeklagten vorgelegen musste, der auch inhaltlich-juristische Vorgaben machte (er/H… sieht sich selbst als Assistent des Angeklagten), ein Procedere, welches bei allen Rechtsanwälten/innen zu Beginn ihrer jeweiligen Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten so vollzogen wurde. Neben dieser inhaltlichen Einflussnahme auf die Arbeit an sich gab der Angeklagte etwa bei Kanzleibesprechungen allgemein immer wieder die Anweisung, dass die Anwälte zu den Kanzleizeiten anwesend zu sein hatten, d.h. dadurch bedingt lag eine Weisung in zeitlicher und räumlicher Hinsicht vor. Der Zeuge erbrachte seine Arbeit dementsprechend überwiegend im Büro in der Kanzlei, in deren Betriebsablauf er fest eingegliedert war. Die von der Kanzlei gestellten Sekretärinnen übernahmen die Terminsvereinbarung, kontrollierten Fristen etc. Fortbildungskosten und Kosten für den Fachanwalt übernahm der Angeklagte.
137
Die Rechnungen, die der Zeuge gegenüber der Kanzlei für seine Tätigkeit stellte, bestanden aus 2 Blättern, welche nicht fest miteinander verbunden waren. Der Posten „Vergütung als freier Mitarbeiter“ schien unter Berücksichtigung nur von Blatt 1 zu variieren, da die RVG-Posten ohne entsprechende Ausweisung auf Blatt 1 zur Vergütung hinzuaddiert wurden.
138
Das Thema „Scheinselbstständigkeit“ ist immer wieder unterschwellig zwischen den Kollegen, aber auch gegenüber dem Angeklagten, diskutiert worden, etwa auch im Jahre 2009 mit Ausscheiden des Kollegen G… der zudem ein Statusfeststellungsverfahren wünschte, was der Angeklagte aber nicht wollte. Der Zeuge H… äußerte selbst auf Frage der Verteidigung: Ich habe meine Tätigkeit selbst als scheinselbstständige eingeordnet.
139
Im Rahmen des Ausscheidens des Zeugen erteilte der Angeklagte ihm/H… die Anweisung, nur seine persönlichen Sachen mitnehmen zu können; betreffend die Mitnahme von Mandantenakten hinsichtlich Mandanten, die gegenüber der Kanzlei bereits gekündigt hatten, verweigerte der Angeklagte die Herausgabe, nicht einmal betreffend diese Mandate kam H… an die Stammdaten der Mandanten.
140
Der Zeuge U. V… äußerte zunächst, dass er in der Zeit vom 01.01.2001 bis Ende September 2015 in der Kanzlei des Angeklagten als Anwalt tätig gewesen sei.
141
Vor Beginn seines Tätigwerdens habe er in der Kanzlei mit Dr. S… und Frau L… ein Bewerbungsgespräch geführt; er glaube, dass er sich zuvor förmlich beworben habe, wisse dies aber nicht mehr genau. Was anlässlich des Bewerbungsgespräches besprochen worden sei, wisse er auch nicht mehr im Detail. Er könne sich lediglich erinnern, dass darüber gesprochen worden sei, dass jeder Rechtsanwalt/in so sein/ihr Spezialgebiet habe. Er habe geäußert, dass er gerne Baurecht (öffentliches und privates) machen wolle.
142
Es sei ihm dann von Dr. S… ein Vertrag vorgelegt worden, den er unterschrieben habe. Dr. S… habe bereits im Rahmen des Bewerbungsgespräches geäußert, dass er mit Al. G… einen Vertrag geschlossen habe und er, V…, auch so einen bekäme. Als er sich beworben habe, seien zu dieser Zeit in der Kanzlei nur freie Mitarbeiter gewesen.
143
Mit dem Zeugen wird der im Selbstleseverfahren „1“ I. eingeführte „Freie Mitarbeitervertrag“ nebst Zusatzvereinbarung, beides unterschrieben am 16.11.2000, nochmals durchgegangen.
144
Der Zeuge gibt an, den ihm zur Unterschrift vorgelegten Vertrag unterschrieben zu haben, sich aber nicht mehr erinnern zu können, dass der Vertrag aus 2 Teilen („Freier Mitarbeitervertrag“ und Zusatzvereinbarung) bestanden habe. Die freie Mitarbeiterschaft sei vorgegeben gewesen, er habe keine Wahl gehabt. Es habe diesen vorgefertigten Vertrag gegeben, von dem es geheißen habe, dass ein solcher Vertrag mit allen in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälten/innen geschlossen worden sei. Er sei nicht gefragt worden, ob er etwas anderes wolle, er habe dies aber auch nicht geäußert.
145
Im Rahmen des Vertragsabschlusses sei also nichts, auch nicht die Höhe des Honorars, ausgehandelt worden. Er sei auch nicht in der Position gewesen, da er ja noch Berufsanfänger gewesen sei (zuvor sei er nur ein halbes bzw. Dreivierteljahr in einer Kanzlei in M.gewesen; damals habe er noch in Regensburg gewohnt und sei immer gependelt, das sei ihm zu viel gewesen, weswegen er im Raum Altötting/B. ein Tätigkeitsfeld gesucht habe). In die Kalkulation des Jahreshonorars, welches er in monatlichen Teilleistungen habe abrufen können, sei er nicht einbezogen gewesen, kenne sie auch nicht.
146
Er habe dann jedenfalls zu Beginn des Jahres 2001 in der Kanzlei begonnen.
147
Bezüglich der Arbeitszeit habe es keine Dokumentationspflicht bzw. eine Stechuhr gegeben. Er habe sich seine Arbeitszeit einteilen können. Allerdings sei völlig klar gewesen, dass man zu bestimmten Zeiten, insbesondere den Kanzleiöffnungszeiten, habe da sein müssen. Im Rahmen der alle 1-2 Monate stattfinden Kanzleibesprechungen habe Dr. S… gegenüber allen Rechtsanwälten/innen schon immer wieder darauf hingewiesen, dass man während der Kanzleikernzeiten da sein solle. Ihm gegenüber konkret habe Dr. S… allerdings nie mehr Anwesenheit gefordert. Er/V… sei aber auch grundsätzlich während der Kanzleiöffnungszeiten da gewesen; ab und an sei es schon mal vorgekommen, dass er vorübergehend am Vormittag oder Nachmittag, da er private Dinge zu erledigen gehabt habe, nicht in der Kanzlei gewesen sei; das habe er dann aber eigenständig aufgeholt, etwa nach Feierabend oder am Wochenende.
148
In der Kanzlei Dr. S… L… & Kollegen habe er ein eigenes Büro gehabt. Kosten dafür seien ihm nicht entstanden. Er habe sämtliche Arbeiten im Büro erledigt, daheim zu arbeiten sei kein Thema gewesen (wenn er auch gelegentlich mal Akten am Wochenende mitgenommen habe); er habe zuhause auch kein Arbeitszimmer gehabt, wo er für die Kanzlei gearbeitet habe. Die Akten seien in der Kanzlei gewesen, laufende in seinem Vorzimmer bzw. Büro, erledigte im Archiv.
149
Die IT-Ausstattung und sonstige Arbeitsmittel seien im Büro in der Kanzlei vorhanden gewesen; er sei telefonisch über eine eigene Nebenstelle erreichbar gewesen. In der Kanzlei habe es mehrere Vorzimmer mit Sekretärinnen gegeben; ihm sei (gemeinsam mit einem Kollegen) ein Vorzimmer mit zwei Sekretärinnen zugeordnet gewesen, die hauptsächlich seine Schreibarbeiten erledigt hätten; die Kosten für das Personal seien von der Kanzlei getragen worden. Gleiches gelte für die Miete des Kanzleibüros, die allgemeine Infrastruktur, EDV, Geräte (Drucker, Kopierer etc.) nebst Wartung, Nebenkosten und Bürobedarf (Papier, Porto) etc.. In der Kanzlei sei auch Literatur vorhanden gewesen; er habe zudem vom Studium her einige Bücher mitgebracht bzw. Bücher zum Reiserecht, welche er sich bereits im Rahmen seiner Tätigkeit in der Münchner Kanzlei angeschafft gehabt habe.
150
Bei der Frage der Anschaffung von Betriebsmitteln einschließlich Personal (Rechtsanwaltsgehilfinnen, neue Rechtsanwälte – Einstellung/Kündigung) in der Kanzlei Dr. S…, L… & Kollegen habe er kein Mitspracherecht gehabt.
151
In Angelegenheiten hinsichtlich Organisation und Personal sei der Angeklagte Dr. S… federführend gewesen – nicht L….
152
Die Fälle/Mandate seien vom Empfang, grundsätzlich nach Fachgebieten, an die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte zur Bearbeitung übertragen worden. Im Hintergrund sei aber der Angeklagte Dr. S… für die Verteilung nach Rechtsgebieten verantwortlich gewesen.
153
Die einzelnen, ihm übertragenen Mandate habe er dann schon nach einiger Zeit selbstständig bearbeitet. Vor allem in der ersten Zeit – einige Monate lang – sei es aber so gewesen, dass Dr. S… gewisse Richtlinien in der Bearbeitung vorgegeben habe, einen einheitlichen Stil gewünscht habe. Es habe eine Mappe gegeben; mittels dieser habe er die von ihm gefertigten Schriftsätze Dr. S… vorgelegt. Die Mappe sei dann zurückgekommen; da habe er gesehen, was Dr. S… abgeändert habe, das habe er übernommen. Es habe sich überwiegend um Formulierungsänderungen gehandelt, zum Teil habe es sich aber auch um inhaltliche Vorgaben gehandelt.
154
Befragt danach, ob eine persönliche Leistungserbringungspflicht bestanden habe, äußerte der Zeuge V…, dass er das nicht wisse, da es nie Thema gewesen sei, ebenso wenig wie die Frage, ob er ein Mandat einfach so hätte ablehnen können.
155
Neben der Zuteilung von Mandaten über den Empfang/die Vorzimmer – er habe halt Verwaltungsrechts- und Baurechtsfälle bekommen – habe er gelegentlich Mandate aus dem privaten Umfeld in die Kanzlei gebracht, d.h., diese Mandate habe er in der Kanzlei für die Kanzlei bearbeitet und auch abgerechnet, ebenso wie die über den Empfang/die Vorzimmer übertragenen Mandate, wie eben alle anderen Mandate auch.
156
Andere Auftraggeber habe er nicht gehabt, sei insbesondere auch nicht in der Kanzlei seiner Ehefrau tätig gewesen (wie der Angeklagte in seiner Stellungnahme vom 22.08.2019, eingeführt im Selbstleseverfahren „1“ VII. vorträgt, bzw. auch die Zeugin R… angab, die allerdings auch erst nach Ausscheiden des Zeugen V… im September 2015, nämlich ab September 2016 in der Kanzlei arbeitete; vgl. i.E. D. II. 2.) d) 3.), vielmehr habe diese stundenweise auch mal in der Kanzlei Dr. S… gearbeitet.
157
Wie die Vollmacht im Einzelnen ausgesehen habe, wisse er heute nicht mehr, es sei aber der Briefkopf der Kanzlei gewesen, glaublich dann die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen erwähnt worden. Er habe keinen eigenen Briefkopf verwandt, die Außendarstellung habe sich immer auf die Kanzlei bezogen, nie auf ihn persönlich.
158
Nach Beendigung des jeweiligen Mandats sei eine Rechnung an den jeweiligen Mandanten geschrieben worden, und zwar mit Briefkopf der Kanzlei, zu zahlen auf ein Kanzleikonto, zu dem er keinen Zugriff gehabt habe. Wenn die Frage etwa einer Ratenzahlung im Raum gestanden habe, habe er dies eigenverantwortlich entschieden; nur bei größeren Beträgen hätte er Rücksprache mit Dr. S… gehalten, dass nicht einfach so gemacht. Mahnbescheide o.ä. seien von den Sekretärinnen gemacht worden, d.h., er habe in seinen Mandaten solchenfalls gesagt, dass die Vollstreckung zu machen sei und die Sekretärinnen hätten dies dann im Namen der Kanzlei relativ selbstständig erledigt.
159
Befragt danach, ob er bei Uneinbringlichkeit einer Forderung die Schuld auch habe eigenverantwortlich gegenüber einem Mandanten erlassen können, äußerte U. V…, dass solchenfalls die Forderungen irgendwann ausgebucht worden seien, er wisse aber nicht mehr, wer dies entschieden habe.
160
Die Kanzlei habe auch Kosten für Werbung getragen, die Werbung habe sich auch auf seine Person und seine Fachanwaltsgebiete bezogen, es sei aber immer der Hinweis auf die Kanzlei vorhanden gewesen. Gleiches gelte für die Visitenkarte: Dort sei der Hinweis auf die Kanzlei, die Kanzleiadresse vorhanden gewesen, es sei aber auch sein Name und seine Fachanwaltszulassung erwähnt worden (eigene Visitenkarten ohne Kanzleibezug habe er nicht gehabt). Die Werbung sei von der Kanzlei bezahlt worden, ebenso seien die Visitenkarten über die Kanzlei bestellt und von dieser gezahlt worden.
161
Hinsichtlich Urlaub könne er angeben, so der Zeuge V… weiter, dass er keinen Antrag und keine Genehmigung durch die Kanzlei benötigt habe. Er habe selbst entschieden, wann er in den Urlaub gehe, dies nur mit dem Vorzimmer abgesprochen und in den Kanzleikalender am Empfang eingetragen.
162
Wenn er krank gewesen sei – er wisse heute überhaupt nicht mehr, ob dies mal der Fall gewesen sei, wenn überhaupt jedenfalls nur kurzfristig – habe er glaublich Bescheid am Empfang bzw. im Vorzimmer gegeben, keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen müssen.
163
Auf Vorhalt von Ziffer 4.) der Zusatzvereinbarung (Die Honorarzahlung verändert sich bis zu einer maximalen Jahresabwesenheit ohne Krankheit bis 28 Werktage und einer Abwesenheit mit Krankheit bis zu 30 Werktagen nicht) äußert der Zeuge, dass ihm diese Regelung und zeitliche Begrenzung nicht bewusst sei.
164
Er habe mit der Kanzlei einen pauschalen Monatsbetrag (d.h. jeden Monat habe er den gleichen Honorarbetrag abgerechnet) zuzüglich Fahrkostenpauschale und Abwesenheitsgelder nach BRAGO bzw. RVG vereinbart. Das vereinbarte Monatshonorar sei in unregelmäßigen Abständen neu erhöht worden, abhängig von Umsatz und Arbeitsaufwand. Die Honorarrechnungen habe er selber erstellt und an die Kanzlei gerichtet.
165
An Gewinnen und Verlusten der Kanzlei sei er nicht direkt beteiligt gewesen.
166
Mit dem Zeugen V… und den Verfahrensbeteiligten wurde eine Rechnung vom 01.08.2014 für den Abrechnungszeitraum Juli 2014 – Bd. 06 „V…“ – Bl. 06257 f. – in Augenschein genommen. Die Rechnung besteht aus zwei Blättern (an eine Vorgabe, diese nicht zu tackern, erinnerte sich der Zeuge nicht):
167
Auf Blatt 1 befinden sich 2 Positionen: „Vergütung laut Vereinbarung“: 6.595,60 € und der „Mehrwertsteuerbetrag“ - 6.595,60 € = Summe aus vereinbartem Honorar = 6.000,- € + RVG-Geldern, steht so nicht auf Blatt 1 der Rechnung - Auf Blatt 2 befindet sich eine Aufstellung der Fahrtkosten und Abwesenheitsgelder nach RVG i.H.v. 595,60 €.
168
Dies ist der Betrag, der der vom vereinbarten Jahreshonorar monatlich abrufbaren Teilleistung per Rechnung, zum damaligen Zeitpunkt 6.000,- €, hinzugerechnet wurde.
169
Die in Rechnung gestellte „Vergütung laut Vereinbarung“ sei in Abhängigkeit der Posten nach RVG somit von Monat zu Monat auf Blatt 1 der jeweiligen Rechnung unterschiedlich hoch ausgewiesen worden. Er habe sich keine Gedanken dahingehend gemacht, dass die Fahrt-/Abwesenheitsgelder in die laut Vereinbarung festgesetzte Vergütung (ohne gesonderte Ausweisung) einfach eingerechnet worden seien. Er wisse nicht, warum das so gewesen sei, eine entsprechende Vorgabe des Angeklagten sei ihm nicht erinnerlich, er habe das einfach so von den anderen in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälten/innen übernommen.
170
Er sei bei der AOK krankenversichert und bei der Rechtsanwaltsversorgungskammer (berufsständische Vertretung) rentenversichert gewesen; ebenso habe er eine Unfallversicherung abgeschlossen. Die Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung habe er immer zu 100 % selbst bestritten. Berufshaftpflichtversichert sei er über die Kanzlei (Gruppenversicherung) gewesen; diesbezüglich habe er keine Beiträge/keinen Anteil leisten müssen.
171
Befragt danach, ob er betreffend die Rentenversicherung einen Befreiungsantrag gestellt habe, äußert der Zeuge, dass er dies nicht erinnern könne.
172
Kurz bevor er in der Kanzlei Dr. S… 2015 gekündigt habe, sei Thema gewesen, dass die freien Mitarbeiter als Partner einsteigen bzw. sich beteiligen sollten. Es sei vom Angeklagten gefragt worden, wer Interesse habe, Anteile der Kanzlei zu erwerben. Er/V… habe das nicht gewollt, die Kanzlei sei ihm zu groß gewesen, das sei für ihn nicht in Frage gekommen.
173
Beim Ausscheiden habe es keinen Streit gegeben, auch nicht betreffend die laufenden Mandate/Akten; diese seien zum Stand des Verfahrens noch mit der Kanzlei Dr. S… abgerechnet worden, dann habe er die laufenden Mandate mitgenommen, dafür nichts bezahlt.
174
Nach seinem Ausscheiden aus der Kanzlei Dr. S… Ende 2015 habe er sich mit dem Kollegen R. B… selbstständig gemacht in Form einer Partnerschaftsgesellschaft. Inhaltlich sei diese Tätigkeit eigentlich nicht anders als in der Kanzlei Dr. S…. Es sei aber so, dass er gemeinsam mit seinem Partner B… die gesamte Logistik der Partnerschaftsgesellschaft entscheiden müsse, d.h. von der Bestellung des Büromaterials über die Ausstattung, Miete, die Frage von Investitionen, Anschaffungen etwa betreffend EDV-Geräte oder Büroausstattung etc. und auch im Hinblick auf Einnahmen und Ausgaben unternehmerisch kalkulieren müsse. Das habe er in der Kanzlei des Angeklagten natürlich nicht gemacht. In der mit dem Kollegen B… geführten Partnerschaftsgesellschaft seien er und der Kollege auch zeichnungsberechtigt, sie beide hätten auch Vollmacht zu den Konten der Gesellschaft, das habe er – wie erwähnt – in der Kanzlei des Angeklagten nicht gehabt.
175
Auch wenn er in der Kanzlei des Angeklagten keine unternehmerischen Entscheidungen getroffen bzw. diesbezüglich kein Mitspracherecht gehabt habe, habe er sich während dieser Zeit, da er die Mandate weitgehend selbstständig bearbeitet und in der inhaltlichen Arbeit frei gewesen sei, als freier Mitarbeiter gefühlt.
176
„Scheinselbstständigkeit“ sei seiner Erinnerung nach in den Kanzleibesprechungen oder im direkten Kontakt mit dem Angeklagten kein Thema gewesen. Er/V… selbst habe sich insoweit keine Gedanken gemacht, wisse aber nicht mehr genau, ob dies zwischen anderen Kollegen Thema gewesen sei. Er wisse nur, dass vor dem Ausscheiden des Kollegen Al. G… Streit mit dem Angeklagten bestanden habe; ob dies auch wegen Statusfragen gewesen sei, wisse er aber nicht.
177
Auch habe er nichts von einer Betriebsprüfung oder gar deren Umfang und Ergebnis mitbekommen.
178
Betreffend den Kollegen G… sei die Führung eines arbeitsgerichtlichen Prozesses gegen die Kanzlei Dr. S… mal Thema gewesen, auch betr. Fr. Z… (Buchhalterin). Genaueres dazu wisse er aber ebenfalls nicht.
179
Auf Vorhalt, ob er nach seinem Ausscheiden mitbekommen habe, dass sich der Kanzleibriefkopf geändert habe (im November 2016 wurde hinter den aufgelisteten Rechtsanwälten/innen der Zusatz * „in freier Mitarbeit“ angebracht), äußerte der Zeuge V…, dass er das nicht mitbekommen habe.
180
Damit hat der Zeuge V… für das Gericht zusammengefasst in seiner Aussage gleichfalls den Abschluss einer als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichneten Vereinbarung (allerdings nebst zum Teil widersprechender Zusatzvereinbarung auf gesondertem Blatt), das Abführen von Umsatzsteuer, das Fehlen der Verpflichtung, im Falle der Erkrankung eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen und Urlaub förmlich beantragen, sowie genehmigen lassen zu müssen, erwähnt, gleichfalls das Nichtvorhandensein einer Stechuhr, Umstände, die gegen eine abhängige Beschäftigung sprechen. Auch sah der Zeuge sich selbst als freier Mitarbeiter.
181
Andererseits hat sich auch bei dem Zeugen V… gezeigt, dass hinsichtlich der tatsächlich gelebten Verhältnisse er nach eigener Aussage in den Kanzleibetrieb fest eingegliedert war. Er nutzte ein eigenes, zugewiesenes, voll ausgestattetes Büro (keine eigene Betriebsstätte), nahm die Arbeitsleistung des in der Kanzlei angestellten, geschulten Personals in Anspruch, nutzte auch die übrige Kanzleiinfrastruktur, ohne dafür etwas zu zahlen, ohne Kenntnis hinsichtlich der Kostenzusammensetzung im Einzelnen zu haben, auch nicht welcher Kostenanteil auf ihn entfiel und ohne irgendeinen Einfluss oder ein Mitspracherecht auf die Kostenkalkulation u.ä. zu haben. Ebenso hatte er keinen Einfluss und kein Mitspracherecht hinsichtlich der Anschaffung von Betriebsmitteln und Personalentscheidungen, weder betreffend die Sekretärinnen noch Anwaltskollegen. Auch er erhielt – ohne projektbezogen tätig zu werden – ein vereinbartes Pauschalhonorar unabhängig von Gewinn und Verlust, erwirtschafteten Umsätzen oder Abwesenheitszeiten durch Krankheit und Urlaub.
182
Stundenaufzeichnungen oder Stechuhren gab es nicht, ebensowenig eine Dokumentationspflicht betreffend die Arbeitszeit; allerdings war es nach Angaben des Zeugen völlig klar, dass man zu bestimmten Zeiten, insbesondere den Kanzleiöffnungszeiten, da sein musste, was auch in den Kanzleibesprechungen gegenüber den Rechtsanwälten/innen, die sich nicht daran hielten, immer wieder angemahnt wurde. Der Zeuge verrichtete seine Arbeit im Kanzleibüro, hatte zu Hause kein Arbeitszimmer, wo er für die Kanzlei arbeitete. Für den Zeugen gab es eine einige Monate andauernde Einarbeitungszeit: Der Angeklagte wünschte einen einheitlichen Stil und ließ sich vom Zeugen gefertigte Schriftsätze mittels Mappe vorlegen, nahm Korrekturen vor, überwiegend Formulierungsänderungen, zum Teil aber auch inhaltlicher Art, die V… übernahm. Nach der Einarbeitungszeit war die Arbeit inhaltlich frei.
183
Eigene Mandate hatte der Zeuge nicht. Kontakte wurden ihm im Wesentlichen über den Empfang nach Fachgebiet vermittelt, eine Verteilung, für die Dr. S… verantwortlich war. Die Mandatsverhältnisse kamen mit der Kanzlei zustande, auch bezüglich Fällen, die er im Freundes- und Bekanntenkreis akquiriert hatte. Rechnungen an Mandanten und Zahlungen durch die Mandanten erfolgten auf Kanzleikonten, hinsichtlich derer der Zeuge keinen Zugriff hatte. Über Ratenzahlungen und Stundungen konnte er grdsl. eigenverantwortlich entscheiden, bei größeren Beträgen hätte er mit dem Angeklagten Rücksprache gehalten, ebenso bei Zahlungsausfällen.
184
Die Honorarzahlungen durch die Kanzlei des Angeklagten bildeten die Existenzgrundlage für den Zeugen, andere Auftraggeber hatte er nicht.
185
Nach außen hin trat er als Mitglied der Kanzlei auf, nicht nur auf Vollmachten, Rechnungen, Briefbögen, auch im Rahmen der Werbung oder betreffend Visitenkarten. Eigenes Personal hatte er nicht, er betrieb keine eigene Werbung, führte keine eigenen Geschäftsbücher, hatte keine eigene Außendarstellung in der Branche ohne Kanzleibezug. Einblicke in die Gesamtkalkulation der Kanzlei (geschweigedenn in Details) hatte er nicht, ebenso kein diesbezügliches Mitspracherecht, also kein eigenes unternehmerisches Risiko bzw. Tätigwerden.
186
Nach Ausscheiden aus der Kanzlei des Angeklagten machte er sich in Form einer Partnerschaftsgesellschaft selbstständig. Inhaltlich änderte sich seine Tätigkeit im Verhältnis zu derjenigen in der Kanzlei des Angeklagten nicht wesentlich, allerdings traf er jetzt gemeinsam mit seinem Partner alle unternehmerisch erforderlichen Entscheidungen (Organisation der gesamten Logistik und Kanzleiinfrastruktur einschließlich Bestellung von Bürobedarf, Klärung von Fragen des Investitionsbudgets, Anschaffungen, Miete, Ausstattung etc.) und kalkulierte im Hinblick auf Einnahmen und Ausgaben; auch hatte er Zugang zu Konten, auf die Zahlungen der Mandanten eingingen.
187
Der Zeuge An. H… war ab 04.05.2006 bis zum 30.06.2015 in der Anwaltskanzlei „Dr. S…, L… & Kollegen“ bzw. der Kanzlei „Dr. S… & Kollegen“ anwaltlich tätig, wobei er zunächst allgemeines Zivilrecht machte, dann Banken- und Kapitalmarktrecht, auch Verkehrsrecht.
188
Über einen Studienfreund sei er zur Kanzlei gekommen. Der Angeklagte habe ihn dann angerufen und es sei zu einer Art „Vorstellungsgespräch“ im Dezember 2005 gekommen, bei dem neben dem Angeklagten und ihm auch Rechtsanwältin L… zugegen gewesen sei. Danach habe der Angeklagte ihn zurückgerufen, glaublich im Januar/Februar 2006 und habe gefragt, ob er Interesse habe, beginnen wolle. Er habe dann erst am 04.05.2006 angefangen, da er zuvor in M.noch einen Zusatzkurs über die Arbeitsagentur belegt gehabt habe.
189
Es sei ein „Freier Mitarbeitervertrag“ sowie eine Zusatzvereinbarung unterfertigt worden, seiner Erinnerung nach gleichzeitig und noch vor Arbeitsbeginn.
190
Mit dem Zeugen und allen Verfahrensbeteiligten wird die als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung nebst Zusatzvereinbarung, Datum 12.02.2007 (eingeführt im Selbstleseverfahren „1“ I.), in Augenschein genommen. Der Zeuge erklärt hierzu, dass er sich nicht erinnern könne, warum dies erst ca. 9 Monate nach dem Beginn seiner Tätigkeit in der Kanzlei geschehen sei, das wisse er nicht mehr.
191
Über Details der schriftlichen Vereinbarung habe er sich keine Gedanken gemacht. Der Vertrag sei ihm zu Unterschrift so formuliert vorgelegt worden. Er habe ihn sich gar nicht großartig angeschaut; er sei einfach froh gewesen, in der renommierten Kanzlei beginnen zu können, sei in keiner Verhandlungsposition gewesen. Zudem habe jeder der Kollegen ihm gegenüber geäußert, dass dies der Standardvertrag der Kanzlei sei und jeder einen solchen bekommen habe.
192
Das vereinbarte Jahreshonorar habe er in monatlichen Teilleistungen per Rechnung abgerufen. Zu Beginn seiner Tätigkeit habe er vom Kollegen H… insoweit ein Muster bekommen. Das habe er übernommen und dann halt seine Daten entsprechend monatlich eingefügt.
193
Mit dem Zeugen und allen Verfahrensbeteiligten wird aus Bd. 13 „H…“ – Bl. 13188 f. – exemplarisch die vom Zeugen an die Kanzlei gestellte Rechnung vom 01.09.2013 in Augenschein genommen:
194
Die Rechnung besteht aus 2 Blättern:
195
Auf Blatt 1 sind 2 Positionen ausgewiesen: „Vergütung laut Vereinbarung“: 5.099,20 € und der „Mehrwertsteuerbetrag“ - 5.099,20 € = Summe aus vereinbartem Honorar = 5.000,- € + RVG-Geldern, steht so nicht auf Blatt 1 der Rechnung - Auf Blatt 2 befindet sich eine Aufstellung der Fahrtkosten und Abwesenheitsgelder nach RVG i.H.v. 99,20 €.
196
Dies ist der Betrag, der der monatlich vom vereinbarten Jahreshonorar abrufbaren Teilleistung per Rechnung, zum damaligen Zeitpunkt 5.000,- €, hinzugerechnet wurde.
197
Die in Rechnung gestellte „Vergütung laut Vereinbarung“ sei in Abhängigkeit der Posten nach RVG somit von Monat zu Monat auf Blatt 1 der jeweiligen Rechnung unterschiedlich hoch ausgewiesen worden.
198
Mit dem Zeugen und allen Verfahrensbeteiligten wird auch die Rechnung aus Bd. 13 „H…“ – Bl. 13019 f. –, die der Zeuge am 07.06.2006 an die Kanzlei gestellt hat, in Augenschein genommen: Die Rechnung besteht wie die vorgenannte aus 2 Blättern. Handschriftlich ist auf Blatt 1 vermerkt: Grundgehalt gleich 2.850,- €/Monat. Er habe diesen Zusatz nicht auf der Rechnung angebracht. Es sei aber so, dass sein Grundgehalt am Anfang der Tätigkeit etwas geringer gewesen sei, jedenfalls nicht, wie der schriftlichen Vereinbarung vom 12.02.2007 zu entnehmen, 3.000,- €.
199
Er sei im Prinzip Vollzeit tätig gewesen, sei nahezu jeden Tag in der Kanzlei gewesen. Am Anfang habe er schon mehr als 40 Wochenstunden gehabt, zum Ende sei er mit den 40 Wochenstunden ausgekommen.
200
Die Höhe des Jahreshonorar sei nicht verhandelt worden, dies sei ein Vorschlag des Angeklagten und Frau L… gewesen, das habe für ihn aber auch gepasst. Die Grundlagen der Berechnung für dieses Jahreshonorar sei nicht besprochen worden, ihm auch nicht bekannt.
201
Im Laufe der Zeit habe es dann schon Honorarsteigerungen gegeben (zuletzt vor seinem Ausscheiden habe er monatlich 5.500,- € per Rechnung abgerufen). In unregelmäßigen Abständen hätten entsprechende Gespräche stattgefunden. Grundlage seien die erwirtschafteten Umsätze gewesen, wie allerdings die Erhöhung berechnet worden sei, wisse er nicht.
202
Die 5.500,- € seien brutto gewesen, auf die Hand habe er etwas unter 3.000,- € bekommen. Für seine derzeitige Angestelltentätigkeit mit einer Stundenzahl von 36 pro Woche erhalte er ca. 4.000,- € netto.
203
Während seiner gesamten Tätigkeit in der Kanzlei habe er nur eine andere Tätigkeit ausgeübt, nämlich ab 2013 (bis Juni 2015) an der Berufsoberschule, FOS, in Al. eine Lehrtätigkeit. Für diese angestellte Tätigkeit habe er monatlich um die 1.200,- € brutto verdient.
204
Diese Lehrtätigkeit habe er mit Dr. S… abgestimmt, dies sei auch Werbung für die Kanzlei gewesen. Im ersten Jahr habe er 3 Klassen unterrichtet, 10 Wochenstunden, das sei dann doch etwas viel gewesen. Deshalb habe er diese Lehramtstätigkeit im zweiten Jahr nur noch 3-4 Wochenstunden (Blockunterricht an einem Vormittag) ausgeübt. Danach sei er immer in die Kanzlei gegangen und habe die Zeit „wieder rein gearbeitet“; es sei nicht zu einem Umsatzrückgang bei ihm gekommen, auch habe es keine Honoraranpassung gegeben.
205
Auf Nachfrage äußerte der Zeuge, dass, hätte der Angeklagte diese Lehramtstätigkeit nicht gewollt und dies nachvollziehbar begründet, er das auch gelassen hätte.
206
Mit Beginn seiner Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten habe er ein eigenes, voll ausgestattetes Büro zugewiesen bekommen. Er habe zwar zu Hause in der Firma seines Vaters auch ein Büro gehabt, dass er zum Teil an Wochenenden genutzt habe. Seine Tätigkeit für die Kanzlei habe er aber zu 98-99 % im Kanzleibüro von Montag bis Freitag erbracht, allenfalls 1-2 % zu Hause. Die laufenden Akten seien im Vorzimmer gewesen, die beendeten in einem Archiv im Keller.
207
Er habe die komplette Kanzleiinfrastruktur – Büroraum, Mobiliar, EDV, Literatur, Bücher etc. und Vorzimmerpersonal – nutzen können, ohne dass dies in irgendeiner Form berechnet oder in die Höhe des Honorars eingeflossen sei. Möglicherweise habe der Angeklagte aber, als er ihm das Jahreshonorar vorgegeben habe, dies wohl schon mit in die Kalkulation einbezogen, er/Ha. wisse aber nicht wie, in welchem Umfang.
208
Er habe keinerlei Einflussmöglichkeit auf das. Ob und Wie von Betriebsmittelanschaffungen gehabt, ebenso wenig betreffend die Personalpolitik (Einstellung/Kündigung von Sekretärinnen und Anwaltskollegen).
209
Bezüglich dem zeitlichen Aspekt seiner Arbeit sei er grundsätzlich frei gewesen. Es habe keine Dokumentationspflicht hinsichtlich der erbrachten Arbeitszeit bestanden, auch habe es keine Stechuhr oder Zeiterfassung gegeben. Es sei aber gewünscht gewesen, dass man während der üblichen Besprechungs- und Kanzleizeiten, anfangs von etwa 09:00 Uhr bis 18:00 Uhr, später von 09:00 Uhr bis etwa 17:00/17:30 Uhr anwesend sei. Dies sei für den Kanzleiablauf auch relevant gewesen, da Termine für Mandanten zur Besprechung bestanden hätten, teilweise auch Anrufer hätten durchgestellt werden wollen und müssen.
210
In den monatlich bzw. etwa alle 4-6 Wochen stattfindenden Kanzleibesprechungen (bei denen grundsätzlich alle Rechtsanwälte anwesend gewesen seien) sei das Thema „Anwesenheit“ schon immer wieder erörtert worden. Frau L…, aber auch der Angeklagte, habe eher Kritik geübt, andere Anwälte auch bezüglich der Kanzleianwesenheit angesprochen, konkret mehr Anwesenheit gefordert. Er/H… habe sich davon aber nicht angesprochen gefühlt, da er viel da gewesen sei, spätestens um 09:00 Uhr und dann auch mindestens bis 17:00/18:00 Uhr und ja auch gute Umsätze gehabt habe.
211
Wenn er mal nicht da gewesen wäre bzw. an einem Tag keine Besprechungstermine gewollt habe, dann habe er in den Kanzleikalender einen Strich gemacht oder „AH nicht da“ eingetragen.
212
Das Thema Anwesenheit habe immer im Zusammenhang mit dem Umsatz gestanden. Kritik hinsichtlich der Anwesenheitsmoral sei vor allem an den Rechtsanwälten/innen geübt worden, die weniger Umsatz gehabt hätten. Das sei teilweise schwierig und zum Teil auch ungerecht gewesen, etwa beim Kollegen B…, da dieser häufig die wenig lukrativen TelekomMandate gehabt habe. In den Kanzleibesprechungen seien dann auch jeweils Umsatzlisten einsehbar gewesen.
213
Hinsichtlich der Art der Ausführung seiner Tätigkeit könne er angeben, dass er zu Beginn, etwa für die Dauer von 3 Monaten, dem Angeklagten alles vorgezeigt habe. Konkret sei so gewesen, dass er seine Schriftsätze diktiert, von den Sekretärinnen habe schreiben lassen und dann per Mappe mit dem Angeklagten vorgelegt habe. Dieser habe vor allem stilistische Korrekturen vorgenommen, aber auch rechtlich mal was angemerkt. Nach dieser Einarbeitungszeit „im Wege der Mappenvorlage“ habe er seine Fälle völlig frei bearbeitet.
214
Er habe die Leistungen persönlich erbringen müssen, aus seiner Sicht sei es ausgeschlossen gewesen, die Arbeit an andere (kanzleifremde) Anwälte zu delegieren.
215
Er habe keine eigenen Mandate mitgebracht, als er in der Kanzlei angefangen habe. Er sei über den „üblichen Ablauf“ an die Mandate gekommen: Es habe halt jemand angerufen, die Empfangsdame habe geschaut, welches Rechtsgebiet „gefragt“ sei und dann für eine Besprechung den jeweiligen Kontakt dem Fachgebietsanwalt in den Kanzleikalender eingetragen, gelegentlich Anrufe auch direkt durchgestellt. Da er das Fachgebiet Banken- und Kapitalmarktrecht gehabt habe, aber kein anderer Kollege, seien ihm die entsprechenden Fälle halt zugeteilt worden. Er wisse nicht, wie bei Fachgebieten, die von mehreren Rechtsanwälten/innen „besetzt worden seien“, der Verteilungsschlüssel gewesen sei.
216
Das Mandatsverhältnis sei dann durch Unterfertigung der Vollmacht zustande gekommen. Die Vollmacht habe auf den Kanzleinamen gelautet, d.h. das Mandatsverhältnis sei mit der Kanzlei zustande gekommen.
217
Die Rechnungen an die Mandanten, die er diktiert habe, seien auf Kanzleibriefpapier mit Kanzleibriefkopf, von ihm unterschrieben, gefertigt worden. Die Zahlungen seien an die Kanzlei, auf die Kanzleikonten gegangen, zu denen er keinen Zugang gehabt habe.
218
Wenn es mit der Begleichung von an Mandanten gestellten Rechnungen Probleme gegeben habe, habe er bei kleineren Beträgen (so etwa bis 200,-/300,- €) selbst über Fragen der Stundung, Ratenzahlung und des Erlasses entschieden. Bei größeren Summen habe er sich mit dem Angeklagten abgestimmt. Die Forderungseintreibung, wenn ein Mandant gar nicht gezahlt habe, sei über die Kanzlei gelaufen.
219
Er sei der Ansicht, dass ihm grundsätzlich schon eine Mandatsablehnung möglich gewesen sei. Eine solche Situation habe sich ihm während der Tätigkeit in der Kanzlei einmal gestellt, da habe er das Mandat niedergelegt, das aber vorher mit dem Angeklagten abgestimmt.
220
Nach den tatsächlich gelebten Verhältnissen betreffend Urlaub und Krankheit befragt, äußerte der Zeuge H…, dass er Urlaubsabwesenheit in den Kanzleikalender eintrug („AH nicht da“). Ihm sei es dabei egal gewesen, ob und wie viele andere Kollegen weg gewesen seien, da seine Fälle auch nur durch ihn bearbeitet worden seien (nur er habe das Fachgebiet Banken- und Kapitalmarktrecht bearbeitet). Er habe keine Genehmigung des Angeklagten einholen müssen. Auf Ziffer 4. der Zusatzvereinbarung angesprochen (Die Honorarforderung verändert sich bis zu einer maximalen Jahresabwesenheit ohne Krankheit bis 28 Werktage und einer Abwesenheit mit Krankheit bis zu 30 Werktagen nicht), äußerte der Zeuge, dass er das bestimmt nicht überschritten habe. Er habe gar nicht länger weg sein können, da seine Mandate ja von keinem anderen wirklich bearbeitet worden seien; nach 2 Wochen hätten sich im Büro bereits die Akten gestapelt.
221
Auch betreffend krankheitsbedingte Abwesenheiten könne er eigentlich nur angeben, dass das bei ihm kein Thema gewesen sei. Er sei in den 10 Jahren, soweit erinnerlich, insgesamt vielleicht 3-5 Tage krank gewesen. Da habe er natürlich dem Empfang Mitteilung gemacht (wegen Terminkalender und Planung; Besprechungstermine, die er nicht habe wahrnehmen können, hätten halt abgesagt werden müssen und für den Krankheitstag keine neuen eingetragen werden können). Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung habe er nicht vorlegen müssen.
222
In der Kanzlei habe es eine interne Vertretungsregelung gegeben, d.h., wenn er abwesend gewesen sei, habe er sich gegenseitig mit M. H… vertreten, jedenfalls am Anfang, später mit dem B. W….
223
Bei Abwesenheiten habe eine Vergütungsreduzierung nie im Räume gestanden, seine Umsätze hätten darunter auch nicht gelitten.
224
Anteile an der Kanzlei habe er nicht gekauft.
225
Er habe sich immer als Teil der Kanzlei gefühlt, keinen eigenen Außenauftritt etwa durch Werbung, eigene Visitenkarten nur mit seinem Namen o.ä. gehabt. Er habe keine eigenen Geschäftsbücher gehabt, sich lediglich Rechnungen etwa für Fortbildungen oder den Fachanwalt aufgehoben. Ebenso wenig habe er eigene Angestellte gehabt.
226
Bereits vor Eintritt in die Kanzlei habe er den Fachanwalt für Arbeitsrecht gehabt. Während seiner Tätigkeit in der Kanzlei habe er dann den Fachanwalt für Banken- und Kapitalrecht gemacht, das sei auch von der Kanzlei bezahlt worden (er wisse es heute nicht mehr genau, aber es habe sich um Kosten in Höhe von etwa 2.000,- bis 4.000,- € gehandelt). Glaublich im Jahr 2013/2014 – vielleicht aber auch schon vorher – habe er dann auch noch den Fachanwalt für Gesellschafts- und Handelsrecht gemacht; den habe er allerdings selber bezahlt, da Frau L… geäußert habe, dass dies nicht notwendig sei.
227
Die Kanzlei habe über eine Gruppenversicherung für ihn die Haftpflicht bezahlt, ebenso den Rechtsanwaltskammerbeitrag. Er habe selbst Kranken- und Pflegeversicherung gezahlt, auch die Kosten für die Rechtsanwaltsversorgung.
228
Bei seinem Ausscheiden, das nicht im Streit verlaufen sei, seien die Mandate in der Kanzlei verblieben. Zum einen habe der Angeklagte die Auffassung vertreten, es seien Akten und Mandate der Kanzlei. Zum anderen sei es aber auch so gewesen, dass er kein Interesse an den Akten gehabt habe, da er nach dem Ausscheiden aus der Kanzlei des Angeklagten zum 01.07.2015 Syndikusanwalt geworden sei. Sein Ausscheiden habe persönliche Gründe gehabt, seine jetzige Frau sei an der Uni in M.angestellt gewesen und habe sich räumlich nicht verändern können.
229
Er wisse aber, dass das Thema „Mitnahme der Akten“ beim Ausscheiden anderer Kollegen, eigentlich so gut wie bei jedem ausscheidenden Kollegen, insbesondere aber bei H… und B… ein Problem gewesen sei; es habe darüber Differenzen mit dem Angeklagten gegeben, auch hinsichtlich der Frage, was bei Mitnahme von den ausscheidenden Kollegen zu bezahlen sei. H… habe dann mal Akten abholen wollen, da habe es im Empfangsbereich ein großes Theater und Geschrei gegeben, er habe sich da aber nicht eingemischt. Einzelheiten wisse er nicht, er habe nicht zwischen die Fronten geraten, eine moralische Interessenkollision vermeiden wollen.
230
Vom Kollege G… – der viele Mandate mitgenommen habe – habe er die verbliebenen Fälle weiter bearbeitet. Soweit G… für die mitgenommenen Mandate 17.500,- € gezahlt habe, erachte er dies im Hinblick auf ein angebliches freies Mitarbeiterverhältnis für ungewöhnlich; die Mandanten hätten die Kanzleimandate kündigen und zu G… gehen können.
231
Auch sei es so gewesen, das Dr. S… Kollegen, die ausgeschieden seien, eigentlich immer „madig“ gemacht, geäußert habe, dass die Ausscheidenden ohnehin keine guten Anwälte gewesen seien.
232
Beim Ausscheiden aus der Kanzlei habe er ein Empfehlungsschreiben erhalten; er habe dem Angeklagten einen entsprechenden Entwurf geschickt; dieser sei vom Angeklagten ihm korrigiert zurückgesandt worden. Das Empfehlungsschreiben sehe aus wie ein Arbeitszeugnis.
233
In diesem Zwischenzeugnis datierend vom 27.05.2015, welches vom Zeugen übersandt, verlesen und anschließend als Anlage 38 zu Protokoll genommen wurde, heißt es u.a.:
234
Herr H… arbeitete stets sehr ausdauernd und ist jederzeit äußerst belastbar, sodass er auch unter schwierigsten Arbeitsbedingungen wie extremen Termindruck immer allen Aufgaben glänzend gewachsen ist. Er zeigte stets ein Höchstmaß an Eigeninitiative und eine immense Leistungsbereitschaft. Herr H… hat einen sicheren Blick für das wichtige und wesentliche und arbeitet jederzeit über aus planvoll, methodisch und sehr gründlich. Auf dieser Grundlage entspricht die Qualität seiner Arbeit immer unseren sehr hohen Ansprüchen. Herr H… erledigt die ihm übertragenen Aufgaben stets zu unserer vollsten Zufriedenheit.
235
Sein Verhalten gegenüber Vorgesetzten und Kollegen ist immer vorbildlich.
236
Die Verteidigung des Angeklagten erklärte zu diesem verlesenen Zwischenzeugnis, dass dies ein typisches Arbeitszeugnis, ein Standardzeugnis sei, was natürlich arbeitnehmerfreundlich formuliert sein müsse. Bei Ausscheiden eines freien Mitarbeiters schreibe man eher Referenzen. Dass der Begriff „Vorgesetzter“ verwendet werde, sei keine Anzeichen für das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses.
237
Auf Nachfrage schilderte der Zeuge, dass er jetzt hauptberuflich als Arbeitnehmer tätig sei, konkret 36 Stunden als Syndikusanwalt in München. Eine Zeiterfassung gäbe es dort auch nicht. Er arbeite dort in der Personalabteilung, das sei nicht mit der Arbeit in der Kanzlei des Angeklagten vergleichbar. Nebenbei sei er noch freiberuflich als selbstständiger Rechtsanwalt im Bereich Banken-, Kapitalmarkt- und Arbeitsrecht tätig, in dem Büro in der Firma seines Vaters. Dort habe er jetzt eine eigene Kanzleieinrichtung, habe auch entsprechende Anschaffungen wie Büromöbel, PC, Drucker, Software etc. oder eine Homepage gehabt und dafür Kosten aufgebracht.
238
Während seiner Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten sei er nur auf der Kanzleihomepage mit erwähnt gewesen. Seiner Ansicht nach wäre es vom Angeklagten nicht erwünscht gewesen, eine eigene, nur auf seinen Namen lautende Homepage zu installieren.
239
Mit dem Zeugen wird sodann auszugsweise seine E-Mail vom 14.06.2015 an den Angeklagten (eingeführt im Selbstleseverfahrens „1“ II.) durchgegangen und einzelne Passagen nochmals verlesen, konkret folgende:
„Richtig ist, dass ich dir grundsätzlich angeboten habe, unser Vertragsverhältnis zum 30.06.2015 zu beenden. Damit würde ich dir entgegenkommen über 15.000,- € an Vergütung ersparen“.
„Besonders entsetzt mich, dass du angebliche „Urlaubstage“ von mir im Kalender versucht hast zu „zählen“. …. Alle meine Bemühungen für die Kanzlei waren für mich aufgrund unserer langjährigen guten Beziehung bislang selbstverständlich. Umso mehr enttäuscht es mich, dass nunmehr wohl durch das Konstruieren von angeblichen Urlaubstagen versucht wird, mir vorzuwerfen, ich hätte nicht genug gearbeitet oder das Zählen angeblicher Urlaubstage dazu dient, Vergütungszahlungen nicht vornehmen zu müssen. …"
„Mit Verwunderung nehme ich als Fachanwalt für Arbeitsrecht zur Kenntnis, dass du in deinem Schreiben sehr deutlich von einem arbeitgeberseitigen Direktionsrecht Gebrauch machst. Ich bin bislang davon ausgegangen, dass unser Vertragsverhältnis eine freie Mitarbeiterschaft (auch wenn es bei meinen Kollegen möglicherweise faktisch anders sein mag) darstellt.“ ….
„Falls du von deinem arbeitgeberseitigen Direktionsrecht bezüglich des Arbeitsortes Gebrauch machen willst, ersuche ich dich um Mitteilung. ….“
„Ich wurde bereits im Vorfeld gewarnt, dass du Schwierigkeiten mit der letzten Vergütung machen würdest. Ich habe aufgrund unserer vernünftigen Gespräche und aufgrund unserer guten Beziehung dennoch nicht damit gerechnet. Maßnahmen wie das Zählen angeblicher „Urlaubstage“ lassen mich nun daran zweifeln. Ich habe auch keine 32 „Urlaubstage“ genommen. Anscheinend haben dir da deine Berater falsche Informationen geliefert. Ich bitte um schriftliche Mitteilung, von welcher Tagewoche bzw. Wochenarbeitszeit du bei der Berechnung der Urlaubstage ausgegangen bist. ….“
240
Der Zeuge äußert hierzu, dass er sich als freier Mitarbeiter gesehen habe und ihn deshalb der Duktus, der vom Angeklagten verwendet worden sei („Urlaub und Zählen von Urlaubstagen etc.“) sehr verwundert habe. Auch, dass der Angeklagte ein Weisungsrecht etwa bezüglich des Ortes der Erbringung der Arbeitsleistung in den Raum gestellt habe.
241
Dass die Urlaubstage vom Angeklagten tatsächlich gezählt worden seien, ergäbe sich aus einer Wh.-A. Nachricht, die er erhalten habe; die entsprechende Nachricht sei vom Angeklagten gewesen, eine Sekretärin habe diese nur, da der Angeklagte nicht mit Wh.-A. umgehen könne, an ihn weitergeleitet.
242
Der Inhalt dieser Wh.-A. Nachricht, welche Gegenstand des Bd. 13 „H…“ – Bl. 13013 ist, wurde verlesen: Sie lautet wie folgt:
Du hattest mir Deine Arbeitsleistungen mehr oder weniger bis Ende Juni 2015 zugesagt. Dein derzeitiger Urlaub passt nicht in die Abläufe, zumal Du im 1. Halbjahr 2015 bereits 32 Urlaubstage gebucht hast, abgesehen von den Abwesenheiten für die Schule und von Krankheitstagen.
Ich bitte um Bearbeitung der laufenden Verfahren bis zu Deinem Ausscheiden. Ich bitte dringend um weitere Veranlassung insbesondere auch im Mandat Dr. L….
Es findet sich der handschriftliche Vermerk: per Wh.-A. an An. geschickt am 11.06.2015
Wenn er/H… heute aber die Vereinbarung und die Zusatzvereinbarung lese, würde er vor allem die Zusatzvereinbarung schon für sehr bedenklich erachten, etwa im Hinblick auf Ziffer 1. (Die Beschäftigung eigenen Personals durch den freien Mitarbeiter und die Bearbeitung von Mandanten außerhalb der Kanzlei bedürfen der Zustimmung der Sozietät), ein Passus, der eigentlich im Widerspruch zu Ziffer 5. des Freien Mitarbeitervertrages stehe (Der freie Mitarbeiter kann eigenes Personal beschäftigen) und im Hinblick auf Ziffer 4. der Zusatzvereinbarung (Die Honorarzahlung verändert sich bis zu einer maximalen Jahresabwesenheit ohne Krankheit bis 28 Werktage und einer Abwesenheit mit Krankheit bis zu 30 Werktagen nicht), dies sei für ihn eine Art Lohnfortzahlung. Insoweit handele es sich zumindestens um Kriterien, die für die Abgrenzung von Freier Mitarbeiterschaft und abhängiger Beschäftigung seiner Ansicht nach relevant seien.“
243
Vor seinem Ausscheiden sei die Kanzleiübernahme mal Thema gewesen. Dr. S… habe aufhören und seine Kanzleianteile verkaufen wollen. Da sei unter den Kollegen diskutiert worden, wer welche Anteile kaufen würde und wie eine neue Partnerschaft aussehen könne, wer welches Fachgebiet fortsetzen würde etc.. Konkreteres sei aber nicht besprochen worden. Für ihn sei das ja auch kein Thema gewesen, da er im Hinblick auf seinen persönlichen background (Frau in München) nicht habe bleiben wollen. Dem Kollegen B…, der sich auch mit dem Inhalt eines Ordners betreffend Einnahmen/Ausgaben beschäftigt habe, sei der Anteilspreis aber zu hoch gewesen. Insoweit sei natürlich auch das Augenmerk auf den Gesamtumsatz der Kanzlei gerichtet gewesen. Die Umsätze der Kanzlei seien am Anfang sehr hoch gewesen, nach Ausscheiden der Kollegen G… M… und G… weniger geworden und auch nach Ausscheiden der Kollegin L… noch mal geschrumpft; es sei kontinuierlich bergab gegangen. Da sei dann schon auch Thema gewesen, dass, wenn auch Dr. S… noch ausscheiden würde, mit einem weiteren Umsatzrückgang zu rechnen sei.
244
Das Thema „Scheinselbstständigkeit“ sei zum Ende seiner Tätigkeit hin, zeitlich könne er das aber nicht genau einordnen, in den Kollegen-Grüppchen schon ab und an erörtert worden. Sinngemäß sei darüber gesprochen worden, ob man wirklich von einem freien Mitarbeiterverhältnis ausgehen könne, oder von Scheinselbstständigkeit ausgehen müsse. Konkretes könne er aber nicht erinnern, er wisse auch nicht, wer was gesagt habe. Das Thema sei bei den täglichen Kaffeerunden oder der täglichen Mittagspause immer wieder aufgetaucht. Er habe sich davon nicht richtig betroffen gefühlt, jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Wh.-A. Nachricht vom 11.06.2015 nicht, die Anlass für seine E-Mail vom 14.06.2015 gewesen sei. Er sei heute auch der Ansicht, dass die Zusatzvereinbarung im Hinblick auf freie Mitarbeiterschaft schon sehr bedenklich sei.
245
Nach seinem Ausscheiden habe er von einem Kollegen – glaublich B…, B… oder W… – erfahren, dass eine Kollegin – den Namen wisse er heute auch nicht mehr –, die nur ganz kurz, 1-2 Monate, in der Kanzlei gewesen sei, die Gestaltung der Vertragsverhältnisse problematisch gesehen, eine Scheinselbstständigkeit angenommen und deshalb gekündigt habe. Das wisse er aber nur vom Hören-Sagen.
246
Im Ergebnis war damit für das Gericht hinsichtlich der Person H… festzustellen, dass dieser als Aspekte, die gegen eine abhängige Beschäftigung sprechen, ins Feld führte, dass ein „Freier Mitarbeitervertrag“ geschlossen wurde, er Umsatzsteuer abführte, sowie im Falle der Erkrankung keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen, ebenso Urlaub nicht förmlich beantragen und genehmigen lassen musste. Arbeitszeitaufzeichnungen gab es nicht, es war allerdings die Anwesenheit während der üblichen Kanzleizeiten gewünscht. Auch hat der Zeuge sich selbst während seiner Tätigkeit als freier Mitarbeiter gesehen. Demgegenüber führte er aus, dass ihm der Vertrag vorformuliert vorgelegt wurde, eine inhaltliche Verhandlungsbasis nicht gegeben war, auch nicht bezüglich des Honorars, dessen Zusammensetzung er im Übrigen nicht kannte. Er sah die auf einem gesonderten Blatt abgefasste Zusatzvereinbarung als sehr bedenklich an.
247
Der Zeuge H… war in den Kanzleibetrieb fest integriert, nutzte dort (zu 98-99 %) ein ihm zugewiesenes, vollständig ausgestattetes Büro einschließlich Infrastruktur und Personal, ohne dass ihm dafür Kosten berechnet wurden, er kannte diese auch nicht. Einfluss oder gar ein Mitspracherecht im Hinblick auf Einstellung/Kündigung von Personal (Sekretärinnen, aber auch Anwaltskollegen) hatte er ebenso wenig wie auf das Ob und Wie der Betriebsmittelbeschaffung. Eigene Angestellte hatte er nicht, er betrieb keine eigene Werbung, eigene Visitenkarten unterhielt er nicht, auch keine eigenen Geschäftsbücher. Er unterlag zwar keiner Arbeitszeiterfassung, es war aber gewünscht, zu den üblichen Kanzleizeiten anwesend zu sein, ein Wunsch dem er immer entsprach. Anwaltskollegen, die diesem Wunsch nicht entsprachen, wurden in den Kanzleibesprechungen, auch vom Angeklagten, entsprechend gemaßregelt.
248
Während einer Einarbeitungszeit von etwa 3 Monaten legte er dem Angeklagten in einer Mappe alles vor, danach war er in der Bearbeitung seiner Fälle frei. Seine Leistung hatte er persönlich zu erbringen, er hätte sie nicht an andere Anwälte (außerhalb der Kanzlei; nur kanzleiinterne Vertretung) delegieren können. Er war nicht projektbezogen tätig, erhielt seine Mandate vielmehr letztlich über die Empfangsdamen; eigene Mandate brachte er nicht mit, hatte auch keine. Das jeweilige Mandatsverhältnis kam mit der Kanzlei zustande und wurde auch über deren Konten abgerechnet, zu denen er keinen Zugang hatte. Forderungseintreibungen wurden von der Kanzlei vorgenommen. Bzgl. der Frage von Stundung oder Ratenzahlung bei Summen über 300,- € war eine Abstimmung mit dem Angeklagten erforderlich, ebenso, wenn er Mandate hätte ablehnen wollen.
249
Er erhielt das vereinbarte Pauschalhonorar unabhängig von Gewinn und Verlust, erwirtschafteten Umsätzen oder Abwesenheitszeiten durch Krankheit und Urlaub; er war am Umsatz nicht direkt beteiligt.
250
Die Rechnungen, die der Zeuge gegenüber der Kanzlei für seine Tätigkeit stellte – entsprechend einem ihm von Kollegen vorgelegten Muster –, bestanden aus 2 Blättern, welche nicht fest miteinander verbunden waren. Der Posten „Vergütung laut Vereinbarung“ schien unter Berücksichtigung nur von Blatt 1 zu variieren, da die RVG-Posten ohne entsprechende Ausweisung also solche auf Blatt 1 zur Vergütung hinzuaddiert wurden.
251
Ein eigenes unternehmerisches Risiko hat für den Zeugen H… nicht bestanden, Einblicke in die Gesamtkalkulation der Kanzlei hatte er nicht. Fortbildungskosten einschließlich Kosten für den Fachanwalt wurden von der Kanzlei getragen.
252
Das vereinbarte Pauschalhonorar stellte auch die wesentliche Einkommensquelle des Zeugen H… dar, der zwar in zwei Schuljahren (2013-2015) auch einer Lehrtätigkeit nachging, allerdings im ersten Jahr 10 Wochenstunden, im zweiten – da es neben der Arbeit in der Kanzlei zu viel wurde – nur noch 3-4 Wochenstunden, wobei er für diese angestellte Tätigkeit monatlich um die 1.200,- € brutto erhielt (daneben das Honorar von 5.000,- € bis 5.500,- € in diesem Zeitraum durch den Angeklagten). Die Lehrtätigkeit hatte der Zeuge zudem mit dem Angeklagten abgestimmt, der darin auch eine Werbung für die Kanzlei sah.
253
Zudem ist einzubeziehen, dass sich aus dem Schriftverkehr im Rahmen des Ausscheidens des Zeugen aus der Kanzlei ergibt, dass der Angeklagte offensichtlich Urlaubstage gezählt hat/zählen ließ und auch ein arbeitgeberseitiges Direktionsrecht geltend machte, Aspekte, die mit einer freien Mitarbeiterschaft nicht vereinbar sind.
254
Schon vor seinem Ausscheiden aus der Kanzlei wurde das Thema „Scheinselbstständigkeit“ unter den Kollegen immer wieder angesprochen, war also in der Kanzlei unter den Anwaltskollegen virulent – was dafür spricht, dass die Einordnung der eigenen anwaltschaftlichen Tätigkeit, der jeweilige Status kritisch gesehen wurde –, wenn auch der Zeuge Konkretes nicht mehr erinnern konnte oder wollte. Aus persönlichen Gründen wollte der Zeuge zwar keine Mandate mitnehmen, gab aber ebenso an, dass der Angeklagte der Ansicht war, dass es ohnehin Akten und Mandate der Kanzlei sind, weshalb es beim Ausscheiden anderer Kollegen Streitigkeiten gab.
255
Er selbst hat zudem den „Freien Mitarbeitervertrag“ im Kontext mit der Zusatzvereinbarung – nachdem er beides nochmals las – als bedenklich eingeordnet.
256
Der Zeuge R. B… gab an, dass er bereits im Rahmen seines Studiums ein Praktikum in der Kanzlei Dr. S… gemacht habe. Nachdem er nach dem 2. Staatsexamen für ca. 1 Jahre in einer anderen Kanzlei in B. tätig gewesen sei und dort auch begonnen habe, seinen Fachanwalt für gewerblichen Rechtsschutz zu machen, habe er sich nach einer anderen Kanzlei umgeschaut, mit dem Ziel, dort ein neues Referat für gewerblichen Rechtsschutz aufbauen zu können. Da er Dr. S…, wie erwähnt, von einem früheren Praktikum gekannt habe, habe er sich bei diesem nochmals vorgestellt, ihm seine Idee des neuen Referates vorgetragen. Dr. S… sei sofort sehr interessiert gewesen.
257
Seiner Erinnerung nach habe es zwei Gespräche gegeben, das erste habe er allein mit Dr. S… geführt, beim zweiten sei auch Frau L… dabei gewesen.
258
Diese habe aber seiner Ansicht nach bei differierenden Ansichten zu Dr. S… betr. sein Tätigwerden nicht ein gleichberechtigtes Mitspracherecht gehabt, vielmehr habe der Angeklagte die letzte Entscheidungsbefugnis gehabt. Dies sei auch später, etwa bei auch bei der Bewerbung des Kollegen B… und seiner Einstellung, der glaublich ab 2010 in der Kanzlei beschäftigt gewesen sei, der Fall gewesen.
259
Am 01.07.2006 habe er dann in der Anwaltskanzlei Dr. S…, L… & Kollegen angefangen zu arbeiten, sei letztendlich bis 30.06.2015 dort tätig gewesen.
260
Zum Abschluss des als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichneten Vereinbarung nebst Zusatzvereinbarung sei es erst am 21.03.2007 gekommen (wie auch aus dem mit allen Verfahrensbeteiligten in Augenschein genommenen Freien Mitarbeitervertrag nebst Zusatzvereinbarung zu entnehmen, beides eingeführt im Selbstleseverfahren „1“ I.). Warum dies erst ca. 9 Monate nach dem Beginn seiner Tätigkeit in der Kanzlei geschehen sei, könne er heute nicht mehr sagen.
261
Der Vertrag sei ihm dann jedenfalls vom Angeklagten vorgelegt worden. Er könne sich nicht erinnern, dass der Vertrag ausgehandelt worden sei oder er irgendwelche Ausbesserungen vorgenommen habe. Er wisse es nicht mehr genau, gehe aber davon aus, dass er vor der Unterschrift den Vertrag schon gelesen habe; über die rechtliche Ausgestaltung habe er sich aber keine weiteren Gedanken gemacht. Die Kollegen hätten geäußert, dass das ein Standardvertrag in der Kanzlei sei, es nichts anderes, als einen freien Mitarbeitervertrag gäbe; sämtliche beschäftigten Anwälte seien seiner Kenntnis nach stets freie Mitarbeiter gewesen.
262
Für ihn sei das Wichtigste der Job gewesen und der Ausbildungsaspekt. Die Kanzlei habe einen guten Ruf gehabt und er habe Rechtsgebiete im Zusammenhang mit dem gewerblichen Rechtsschutz wie Recht der neuen Medien mit Internetbezug, bearbeiten können; daneben habe er auch gelegentlich im Zivilrecht Fälle bearbeitet und ganz ausnahmsweise auch mal Strafrecht.
263
Die ersten zwei Jahre seiner Tätigkeit in der Kanzlei sei seine Arbeit sehr stark auch inhaltlich durch den Angeklagten geprägt gewesen; das sei für ihn am Anfang wie eine Ausbildungsstation gewesen. Der Angeklagte habe eigentlich alle Fälle mit ihm in rechtlicher Hinsicht besprochen; Dr. S… habe sich die Schriftsätze, die er/B… verfasst habe, vorlegen lassen. Es sei nicht nur um den sprachlichen Ausdruck gegangen, es sei auch in inhaltlicher und rechtlicher Hinsicht viel besprochen worden. Der Angeklagte habe die Schriftsätze handschriftlich korrigiert, etwa hinsichtlich des Klageantrages oder der Zinshöhe. Dem Angeklagten sei es auch um eine gute gemeinsame Außendarstellung gegangen.
264
Nach den ersten zwei Jahren sei die Arbeit dann inhaltlich freier geworden, er habe aber schon auch inhaltliche Fragen immer wieder mit dem Angeklagten abgestimmt.
265
Die Frage, ob die Möglichkeit bestanden habe, seine Arbeit an andere Anwälte zu delegieren, habe sich für ihn eigentlich nie gestellt. Es sei lediglich in Ausnahmefällen mal vorgekommen, dass er bei Auswärtsterminen, die weiter weg gewesen seien – ihm sei ein Fall vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf erinnerlich –, einem Anwaltskollegen Untervollmacht erteilt habe.
266
Gearbeitet habe er schwerpunktmäßig in der Kanzlei, in einem eigenen, ihm dort zur Verfügung gestellten Büro, welches voll ausgestattet gewesen sei, d.h. mit Einrichtung, Büromaterialien, PC, Internetzugang, Büchern und Zeitschriften, dem Netzwerk der Kanzlei etc. Ihm habe auch kanzleieigenes Personal in Form von Sekretärinnen zur Verfügung gestanden. Er habe weder einen Mietanteil für den Büroraum noch sonstige Kosten für die Nutzung der kanzleiinternen Infrastruktur zahlen müssen. Wenn er beispielsweise einen neuen Kommentar gebraucht habe, dann habe er das geäußert und der Kommentar sei auf Kosten der Kanzlei angeschafft worden, gleiches gelte für Betriebsmittel wie Papier, Drucker, Fax etc. Er habe selbst keine eigenen Angestellten gehabt.
267
Die Akten seien in der Kanzlei aufbewahrt worden, die laufenden in den Vorzimmern bzw. den Büros der sie bearbeitenden Rechtsanwälte/innen, die erledigten/beendeten im Kanzleikeller.
268
Selbst habe er lediglich ein online-Recherche-Tool angemietet, für welches er eine monatliche Pauschale (glaublich 80,- €) gezahlt habe. Dieses habe er aber bereits vor Beginn seiner Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S…, L… & Kollegen installiert gehabt; es sei halt weiter gelaufen und er wisse heute auch nicht mehr, warum er beim Angeklagten nicht mal gefragt habe, ob der die Kosten dafür übernehme, da der Angeklagte ja etwa auch dann, wenn er einen neuen Kommentar gebraucht habe, die Kosten dafür übernommen habe. Ebenfalls habe er vor der Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten auch einen eigenen Laptop gehabt; diesen habe er sich während der Tätigkeit für die Kanzlei, in der er zuvor tätig gewesen sei, angeschafft.
269
Zuhause habe er auch eine Räumlichkeit zum Arbeiten gehabt, dort aber beispielsweise nie Mandanten empfangen; er habe aber etwa 95 % seiner Tätigkeit für die Kanzlei im dortigen Büro verrichtet, 5 % zu Hause.
270
Während der „Kernzeiten“, d.h. den üblichen Öffnungszeiten der Kanzlei, sei die Präsenz der Rechtsanwälte/innen von Dr. S… gewünscht gewesen.
271
Er/… habe sich aber nicht an absolut fixe Arbeitszeiten gebunden gefühlt wie etwa, dass er um 08:00 Uhr kommen und bis 18:00 Uhr bleiben müsse; es sei ihm selbst überlassen gewesen zwischen 08:00 Uhr und 09:00 Uhr zu kommen, auch mal mittags länger als ein bis eineinhalb Stunden weg zu sein und dafür dann bis 19:00 Uhr oder 21:00 Uhr zu bleiben.
272
Es habe keine Stundenaufzeichnungen gegeben, auch keine Stechuhr.
273
Im Rahmen der monatlich stattfindenden Kanzleibesprechungen sei es aber schon immer wieder vom Angeklagten thematisiert worden, dass die Präsenz der Rechtsanwälte/innen während der Kanzleiöffnungszeiten gewünscht sei.
274
In diesen Kanzleibesprechungen seien auch etwa immer wieder Thema gewesen die Kanzleiabläufe, Umstrukturierungsmaßnahmen z.B. betreffend die Digitalisierung. Es sei aber auch durch den Angeklagten etwa vorgebracht worden, wenn sich neue Sekretärinnen oder Rechtsanwälte/innen beworben hätten; da habe man schon eine Meinung zu äußern können, ein Mitspracherecht der Rechtsanwälte/innen habe aber nicht bestanden. Letztendlich seien die Entscheidungen von Dr. S… getroffen worden. Er jedenfalls habe keinen Einfluss auf Entscheidungen über Mitarbeiter, Kündigung der Angestellten o.ä. gehabt. Insgesamt sei Dr. S… für alles Organisatorische, was die Kanzlei betroffen habe, zuständig gewesen und habe auch die entsprechenden Entscheidungen getroffen.
275
Betreffend die Frage, wie er an seine Mandate gelangt sei, könne er zunächst sagen – so der Zeuge B… weiter –, dass er sich nicht erinnern könne, eigene aktive Mandate mit in die Anwaltskanzlei Dr. S…, L… & Kollegen gebracht zu haben.
276
Es sei grundsätzlich so gewesen, dass eben Personen, potentielle Mandanten, in der Kanzlei angerufen hätten und dann von der Empfangsdame oder der Sekretärin der Kontakt an den jeweiligen, für das in Frage stehende Rechtsgebiet tätige/n Rechtsanwalt/in weiter geleitet worden seien. Er habe, wie bereits erwähnt, die Rechtsgebiete gewerblicher Rechtsschutz, Marken-, Urheber-, Patentrecht, Recht der neuen Medien bearbeitet, sei außer dem Angeklagten der einzige Anwalt gewesen, der diese Rechtsgebiete bearbeitet habe, weshalb er dann auch automatisch entsprechende Anrufe durchgestellt bekommen bzw. für ihn automatisch, sofern diese Fachgebiete in Frage standen, ein Besprechungstermin im Terminkalender eingetragen worden sei.
277
Auch habe er gelegentlich Akquisition bei Freunden oder Bekannten betrieben, aber nur so, dass er gesagt habe, er sei jetzt in der Kanzlei Dr. S… und man könne ihn dort beauftragen.
278
Das Mandatsverhältnis sei dann durch Unterschreiben einer Vollmacht zustande gekommen, wobei auf der Vollmacht der Briefkopf der Anwaltskanzlei Dr. S…, L… & Kollegen, nach Ausscheiden der Kollegin L… der Kanzlei Dr. S… & Kollegen gedruckt gewesen sei, danach aufgelistet alle in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen. Das Mandatsverhältnis sei seiner Ansicht nach zwischen der jeweiligen Person/Firma und der Anwaltskanzlei zustandegekommen.
279
Es habe insoweit nur eine einzige Ausnahme gegeben, nämlich betreffend Treuhandangelegenheiten; insoweit sei mit Dr. S… abgestimmt gewesen – zum Schutze der eigentlichen Markeninhaber –, dass er/B… sowohl die Vollmacht als auch Rechnungen im eigenen Namen mit dem Mandanten bzw. an die Mandanten gefertigt habe. Es habe der tatsächliche Markenrechtsinhaber für Mitbewerber nicht erkennbar sein sollen, daher sei die entsprechende Marke dann auf seinen Namen eingetragen worden gegenüber dem Markenregister und mit dem eigentlichen Markeninhaber ein Treuhandvertrag geschlossen worden; später sei es betreffend den tatsächlichen Markeninhaber zur Übertragung der Rechte gekommen. Es habe sich betreffend diese Ausnahmefälle während der gesamten, 9-jährigen Zeit seiner Tätigkeit für die Kanzlei des Angeklagten aber nur um schätzungsweise 2-4 Fälle gehandelt. In diesen wenigen Feldern sei die Rechnungsstellung auch auf seinen Namen erfolgt. Die insoweit in Rede stehenden Beträge seien im Verhältnis zu den ihm durch die Kanzlei gezahlten Honorarbeträgen ein nicht nennenswerter Minimalbetrag gewesen, der nicht zur Sicherung der Existenz gedient habe.
280
Er habe neben diesen Treuhandsachen keine weiteren „privaten“ Mandate (nur laufend auf seinen Namen) gehabt.
281
Die in einem Mandatsverhältnis gefertigten Schriftsätze seien grundsätzlich auch unter dem Briefkopf der Anwaltskanzlei Dr. S…, L… & Kollegen, nach Ausscheiden der Kollegin L… der Kanzlei Dr. S… & Kollegen gefertigt worden.
282
Gleiches gelte für die Rechnungen: Diese seien mit Kanzleibriefkopf gefertigt gewesen, hätten des Weiteren die Steuernummer der Kanzlei enthalten; die Zahlungen seien auf Kanzleikonten verbucht worden, zu denen er keinen Zugang gehabt habe.
283
Auf die Zahlungsweise der Mandanten habe er insoweit Einfluss nehmen können, als er beispielsweise Ratenzahlungen oder Stundungen selbst gewährt, auch selbst gemahnt habe, wobei jeweils wieder der Kanzleibriefkopf auf den jeweiligen Anschreiben gewesen sei. Wenn allerdings überhaupt kein Zahlungseingang zu verzeichnen gewesen sei, habe er mit Dr. Sta. Rücksprache gehalten, wie man es handhaben solle. An Fälle der Forderungseintreibung könne er sich eigentlich nicht erinnern, in den Fällen des gewerblichen Rechtsschutzes sei er meist ein Unternehmen beteiligt, da sei das Geld dann schon gekommen.
284
Seine Tätigkeit sei über eine pauschale Grundvergütung bezahlt worden, zu welcher zusätzlich noch Fahrtkosten und Abwesenheitsgelder (nach RVG) für die Zeiten bei Gericht, dazugekommen seien. Mit dem Zeugen Bauer und allen Verfahrensbeteiligten wird exemplarisch eine Rechnung des Zeugen an die Kanzlei aus dem Bd. 5 „B…“ – Bl. 05149 f. – vom 02.04.2013 in Augenschein genommen.
285
Auf Blatt 1 befinden sich 2 Positionen: „Vergütung“: 4.537,40 € und der „Mehrwertsteuerbetrag“ - 4.537,40 € = Summe aus vereinbartem Honorar = 4.500,- € + RVG-Geldern, ist so aus Blatt 1 der Rechnung nicht ersichtlich - Auf Blatt 2 befindet sich eine Aufstellung der Fahrtkosten und Abwesenheitsgelder nach RVG i.H.v. 37,40 €.
286
Dies ist der Betrag, der der monatlich vom vereinbarten Jahreshonorar abrufbaren Teilleistung per Rechnung, zum damaligen Zeitpunkt 4.500,- €, hinzugerechnet wurde.
287
Die in Rechnung gestellte „Vergütung“ sei in Abhängigkeit der Posten nach RVG somit von Monat zu Monat auf Blatt 1 der jeweiligen Rechnung unterschiedlich hoch ausgewiesen worden.
288
An Gewinnen und Verlusten der Kanzlei sei er in keiner Form beteiligt gewesen. Eine Kürzung des monatlich ausbezahlten Honorars habe nie zur Debatte gestanden.
289
Er habe auch grundsätzlich, wenn er krank gewesen sei oder Urlaub genommen habe, sein monatliches Pauschalhonorar erhalten. Soweit ihm aus der Zusatzvereinbarung zum „Freien Mitarbeitervertrag“ 21.03.2007, welcher im Selbstleseverfahren „1“ I. eingeführt wurde, Ziffer 4.) vorgehalten wurde (Die Honorarzahlung verändert sich bis zu einer maximalen Jahresabwesenheit ohne Krankheit bis 28 Werktage und einer Abwesenheit mit Krankheit bis zu 30 Werktagen nicht), erläuterte der Zeuge, dass er so gut wie nie krank gewesen sei, vielleicht mal einen Tag; eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung habe er jedenfalls nicht vorlegen müssen. Dann habe er in der Kanzlei angerufen und sei für diesen Tag aus dem Terminkalender ausgetragen worden. Den Urlaub habe er mit dem Vorzimmer abgestimmt, auch mit dem Kollegen Dr. S… der Urlaub sei aber nicht formal genehmigt, nur in den Terminkalender eingetragen worden. Er wisse auch nicht, ob die Anzahl der Abwesenheitstage überhaupt durch die Kanzlei gezählt/überprüft worden sei. Jedenfalls habe er bei weitem nicht so viele Abwesenheitstage gehabt, wie in der genannten Zusatzvereinbarung festgeschrieben.
290
Es habe für ihn keine Umsatzbeteiligung an der Kanzlei bestanden; diese sei auch nie konkret in Aussicht gestellt worden, lediglich in der „Endphase der Zusammenarbeit“ habe es mal ein Gespräch darüber mit dem Angeklagten gegeben, allerdings nichts Konkretes.
291
Er habe auch keinen Einblick in die Gesamtkalkulation der Kanzlei gehabt. Er könne sich nicht mehr erinnern, dass etwa in den Jahren 2010/2011 vor Ausscheiden der Kollegin L… in den Kanzleibesprechungen schlechte Umsatzzahlen Thema gewesen seien. Er habe nur seine eigenen Umsätze gekannt. Einmal im Jahr seien schon Listen betr. die Kanzleikosten vorgelegt worden, die Detailkosten seien daraus für ihn aber nicht erkennbar gewesen, weshalb sich ihm auch nicht eröffnet habe, ob und gegebenenfalls wo Einsparungen möglich seien.
292
Da es allerdings nicht konkret um eine Kanzleibeteiligung durch ihn gegangen sei, habe ihn das letztlich auch nicht mehr interessiert.
293
Er selbst habe keine eigenen Geschäftsbücher gehabt, keine eigene Werbung betrieben, keine eigene Visitenkarte gehabt; er habe nur eine solche gehabt, auf der vorne der Kanzleiname „Dr. S… usw.“ gewesen sei, er sei dann auf der Rückseite mit seinem Namen und seinem Fachgebiet erwähnt gewesen. Solch eine Visitenkarte sei dann schon auch mal – da er politisch und sportlich aktiv sei – über den Tisch gegangen; aus dieser habe sich aber nur ein Auftreten der Kanzlei ergeben. Er habe keine zweite Visitenkarte nur mit seinem eigenen Namen gehabt.
294
Auf Nachfrage der Verteidigung äußerte der Zeuge B…, dass er zwar politisch und sportlich (Tennisverein Wacker B., der damals in der 1. Bundesliga gewesen sei) „unterwegs gewesen sei“, dies sei allerdings ehrenamtlich gewesen, ausschließlich in seiner Freizeit und er habe dafür keine finanzielle Entschädigung, auch keine Aufwandsentschädigung erhalten.
295
Er habe dann im März 2015 durch den Angeklagten die Kündigung erhalten.
296
Der Zeuge B… legte ein Kündigungsschreiben, datierend vom 13.03.2015 vor, welches verlesen und anschließend als Anlage 13 zum Protokoll genommen wurde. Das Schreiben lautet wie folgt:
„Sehr geehrter Herr Kollege B… lieber R., hiermit kündige ich den freien Mitarbeitervertrag ordentlich zum 30.06.2015. Eine eventuelle Fortsetzung des Vertragsverhältnisses über den 01.07.2015 hinaus würde Verhandlungen und eine Einigung bis 20.05.2015 über modifizierte Vertragsbedingungen etwa auf der Grundlage einer umsatzbezogenen Entgeltregelung voraussetzen. Die Initiative obliegt dem freien Mitarbeiter.
Er sei an einer Fortsetzung des Vertragsverhältnisses aber nicht interessiert gewesen. Grund dafür sei u.a. gewesen, dass ab 2010 einige andere Anwaltskollegen abgewandert seien (2010 etwa die Kollegen G…, M… und G…), womit natürlich auch ein Teil der Substanz der Kanzlei weggefallen sei. Er habe nicht so recht gewusst, wie das weitergehen solle und habe sich daher andere Optionen ins Auge gefasst.“
297
Er habe sich dann im September 2015 mit dem Kollegen U. V… zusammen getan, betreibe mit diesem bis heute gemeinsam in B. eine Partnerschaftsgesellschaft („B…, V… Rechtsanwälte PartGmbB“). Die Ehefrau des Kollegen mache die Buchhaltung, auch hätten sie noch eine Sekretärin; allerdings seien keine weiteren Rechtsanwälte beschäftigt.
298
Bei Ausscheiden aus der Kanzlei des Angeklagten habe er die meisten aktiven Mandate mitgenommen, jedenfalls die mit Bezug zum gewerblichen Rechtsschutz, da diese Mandate in der Kanzlei auch kein anderer hätte bearbeiten können. Es habe sich um mehr als 50 Fälle gehandelt, genau könne er das nicht mehr sagen. Wenn bereits Gebühren für diese Mandate angefallen seien, so habe er dies noch für die Kanzlei abgerechnet (stichtagbezogene Abrechnung).
299
Mit Ausnahme der Berufshaftpflichtversicherung, die in einer Sammelversicherung von der Kanzlei bezahlt worden sei, habe er sämtliche Versicherungsaufwendungen (Kranken-, Renten- oder Unfallversicherung) selbst bezahlt.
300
Die Kanzlei habe auch Fortbildungen bezahlt, insbesondere den Fachanwalt, letzterem zumindest teilweise, da er ja schon vor seiner Tätigkeit für die Kanzlei des Angeklagten in einer anderen Kanzlei mit diesem Fachanwalt begonnen habe. Dabei habe es sich um die Kanzlei F. gehandelt.
301
Dort sei er selbstständig tätig gewesen und als Partner auf dem Briefkopf geführt worden (der Briefkopf habe gelautet: „F., B… B… und Partner“). Er habe bei dieser selbstständigen Tätigkeit in der Kanzlei F. seine Mandate selbst abgerechnet, sei auch an Unkosten dieser Kanzlei prozentual beteiligt gewesen.
302
Er könne sich heute nicht mehr erinnern, welche Erklärung (en) er im Zusammenhang mit der Erlangung seines Fachanwalts habe abgeben müssen und abgegeben habe.
303
Ganz am Anfang seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt, schon ehe er in der Kanzlei des Angeklagten tätig gewesen sei, habe er einen Befreiungsantrag gestellt. Mit dem Zeugen und den Verfahrensbeteiligten wird Bl. 460 d.A. in Augenschein genommen und anschließend verlesen: Danach war Eingangsdatum des Befreiungsantrages der 18.07.2005, der Beginn des Beschäftigungsverhältnisses bzw. der Versicherungspflicht als Selbstständiger, Sozialleistungsbezahler der 31.05.2005 und der Beginn der Pflichtmitgliedschaft in der Versorgungseinrichtung und der Berufskammer (Bay. Rechtsanwalts- und Steuerberaterversorgung) der 06.06.2005.
304
Über das Thema „Scheinselbstständigkeit“ habe er mit dem Angeklagten nie gesprochen, auch sei nie ein Statusfeststellungsverfahren betreffend seine Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten gemacht worden.
305
Das Wort „Scheinselbstständigkeit“ sei unter den Kollegen schon mal gefallen; er wisse heute aber nicht mehr, von wem und was konkret besprochen worden sei.
306
Er selbst habe sich über seinen eigenen Status und eine eigene mögliche Scheinselbstständigkeit nie Gedanken gemacht.
307
Der Zeuge B… hat in seiner Aussage damit in der Zusammenschau ebenfalls den Abschluss einer als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichneten Vereinbarung, das Abführen von Umsatzsteuer, das Fehlen der Verpflichtung, im Falle der Erkrankung eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen und Urlaub förmlich beantragen, sowie genehmigen lassen zu müssen, erwähnt, Umstände, die gegen eine abhängige Beschäftigung sprechen.
308
Andererseits hat sich auch bei dem Zeugen B… gezeigt, dass zum einen bereits durch die auf einem zweiten Blatt abgefasste Zusatzvereinbarung zum Mantelvertrag letzterer inhaltlich teilweise relativiert wurde und zum anderen hinsichtlich der tatsächlich gelebten Verhältnisse B… nach eigener Aussage in den Kanzleibetrieb fest eingegliedert war, Rahmenbedingungen und Organisationsabläufe waren etabliert, B… fügte sich in dieses bereits bestehende System ein. Er nutzte ein eigenes, ihm zugewiesenes, voll ausgestattetes Büro, nahm die Arbeitsleistung des in der Kanzlei angestellten, geschulten Personals in Anspruch, nutzte auch die übrige Kanzleiinfrastruktur, ohne dafür etwas zu zahlen, ohne Kenntnis hinsichtlich der Kostenzusammensetzung im Einzelnen zu haben, auch nicht welcher Kostenanteil auf ihn entfiel und ohne irgendeinen Einfluss oder ein Mitspracherecht auf die Kostenkalkulation u.ä. zu haben. Ebenso hatte er keinen Einfluss und kein Mitspracherecht hinsichtlich Betriebsmittelbeschaffung und Personalentscheidungen, weder betreffend die Sekretärinnen noch Anwaltskollegen. Auch er erbrachte keine projektbezogenen Tätigkeiten und erhielt das vereinbarte Pauschalhonorar unabhängig von Gewinn und Verlust, erwirtschafteten Umsätzen oder Abwesenheitszeiten durch Krankheit und Urlaub.
309
Stundenaufzeichnungen oder Stechuhren gab es nicht, gewünscht war allerdings Anwesenheit während der üblichen Kanzleiöffnungszeiten, ein Wunsch, welcher während der monatlich stattfindenden Kanzleibesprechungen vom Angeklagten immer wieder geäußert und angemahnt wurde und der dazu führte, dass der Zeuge seine Arbeit überwiegend (95 %) in den Kanzleiräumlichkeiten verrichtete. Für den Zeugen war das Wichtigste der Ausbildungsaspekt in der Kanzlei des Angeklagten. Die ersten zwei Jahre war seine Arbeit inhaltlich stark durch den Angeklagten geprägt, der auch in rechtlicher Hinsicht die Fälle mit ihm durchsprach, der Zeuge legte dem Angeklagten alle Schriftsätze zur Durchsicht und gegebenenfalls Korrektur vor. Nach dieser Ausbildungszeit wurde die Arbeit inhaltlich freier, es erfolgten aber immer wieder auch inhaltliche Abstimmungen.
310
Eigene aktive Mandate hatte der Zeuge grundsätzlich nicht, Kontakte wurden ihm grundsätzlich über den Empfang nach Fachgebiet vermittelt; die Mandatsverhältnisse kamen ausschließlich mit der Kanzlei zustande, Rechnungen und Zahlungen erfolgten auf Kanzleikonten, hinsichtlich derer der Zeuge keinen Zugriff hatte. Ratenzahlungen und Stundungen konnte er Mandanten einräumen, bei Zahlungsausfällen hätte er allerdings Rücksprache mit dem Angeklagten nehmen müssen. Der Zeuge hatte keine nennenswerten anderen Auftraggeber; soweit betreffend Treuhandangelegenheiten – in seiner 9-jährigen Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten schätzungsweise 2-4 Fälle – zum Schutze der eigentlichen Markeninhaber die Vollmacht auf den Namen des Zeugen B… ausgestellt wurde, erfolgte dies in Absprache mit dem Angeklagten aus taktischen und rechtlichen Erwägungen. In diesen wenigen Fällen erfolgte die Rechnungsstellung auch auf den eigenen Namen des Zeugen, umfasste aber im Verhältnis zu den, dem Zeugen durch die Kanzlei gezahlten Honorarbeträgen nur einen nicht nennenswerten Minimalbetrag, der nicht als Existenzgrundlage diente.
311
Ein eigenes unternehmerisches Risiko hat für den Zeugen B… nicht bestanden. Einblicke in die Gesamtkalkulation der Kanzlei hatte er nicht. Er hatte keine eigene Visitenkarte nur mit seinem Namen, kein eigenständiges Auftreten am Markt und beschäftigte kein eigenes Personal.
312
Vor seiner Beschäftigung in der Kanzlei des Angeklagten war der Zeuge selbstständig in einer anderen Anwaltskanzlei: Er rechnete dort die Mandate selbst ab, war auch prozentual an den Unkosten der Kanzlei beteiligt und stand als Partner auf dem Briefkopf.
313
Die Aussage der Zeugin Ul. A… – obwohl bzgl. ihrer Person von § 154 (a) Abs. 2 StPO, s.o., Gebrauch gemacht wurde – war aus Sicht der Kammer im Hinblick auf die vorzunehmende Gesamtbewertung (s. nachfolgend) und insbesondere ihren Vortrag zu den Betriebsabläufen in der Kanzlei, die Betriebsorganisation, von Bedeutung.
314
Sie legte zunächst dar, dass sie im November 2007 begonnen habe, in der Kanzlei des Angeklagten in B. zu arbeiten und glaublich im Mai 2018 – es könne auch April gewesen sei – ausgeschieden sei.
315
Sie führte zu ihrem Werdegang aus, dass sie nach der Ausbildung direkt in einer großen Wirtschaftskanzlei (PWC) angefangen, sich immer mit steuer- und gesellschaftsrechtlichen Fragen beschäftigt habe. Im Rahmen dieser Tätigkeit habe sie Großunternehmen umstrukturiert, etwa auch nach der Wiedervereinigung Kombinate in Ostdeutschland mit auseinandergesetzt unter Anwendung des Treuhandspaltungsgesetzes; sie habe für PWC ein Jahr in Dresden gearbeitet.
316
Dann sei sie bis 1998 in die Industrie eingestiegen, sei u.a. für die H. AG in Frankfurt am Main tätig gewesen, wobei sie im Wesentlichen mit Vertragsgestaltungen betraut gewesen sei, nur wenige Gerichtstermine wahrgenommen habe.
317
Nachdem dann ihre Kinder im Jahr 1998/1999 geboren worden seien und ihr Mann sich beruflich nach Süddeutschland orientiert habe, sei sie aus diesem Bereich ausgestiegen, sei aber nach wie vor stark an einer gestaltenden juristischen Tätigkeit interessiert gewesen.
318
Sie habe neben „Familie, Haus und Hof“ an einem Kommentar „Sonderbilanzen“ mitgeschrieben, tue dies auch heute noch.
319
Im hiesigen Bezirk habe sie sich dann dem Juristenstammtisch in Emmerting angeschlossen. Im Sommer 2007 habe sie darüber Frau L… kennengelernt.
320
Im Oktober/November 2007 sei Frau L… auf sie zukommen und habe sie darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie für ein bestimmtes Projekt jemanden bräuchten. Es habe sich um einen größeren Fall, ein großes Mandat gehandelt, bei dem auch Umstrukturierungsthemen relevant und bei dem Erfahrung, sowie Unterstützung erforderlich gewesen seien. So sei sie zu der Kanzlei des Angeklagten hinzugestoßen, habe bei diesem Projekt mitgearbeitet.
321
Sie habe mit der Kanzlei bzw. dem Angeklagten oder Frau L… keinen schriftlichen Vertrag geschlossen, vielmehr dann ab November 2007 für die Kanzlei immer wieder projektbezogene Arbeiten verrichtet, nicht Vollzeit, wegen der Familie und auch anderen Interessen/Ehrenämtern vielmehr Teilzeit. Sie habe den Anteil, mit dem sie für die Kanzlei gearbeitet habe, etwa mit 4 Stunden pro Tag angesetzt.
322
Es habe keine fest vereinbarte Stundenanzahl gegeben, auch keine festen Anwesenheitszeiten. Zu Beginn ihrer Tätigkeit sei es aber so gewesen, dass sie meist – da die Kinder dann in Kindergarten und Schule gewesen seien – etwa von 08:00 Uhr bis in die Mittagszeit hinsichtlich der ihr vom Angeklagten zugewiesenen Projekte gearbeitet habe (es habe ihr aber keiner gesagt, dass sie da da sein müsse), wenn erforderlich habe sie aber auch abends weitergearbeitet.
323
Sie habe diesen Zeitrahmen auch den monatlichen Rechnungen, die sie für ihre Tätigkeit an die Anwaltskanzlei geschrieben habe, zugrunde gelegt.
324
Mit der Zeugin und den Verfahrensbeteiligten wird aus dem Bd. 3 „A…“ – Bl. 03001 in Augenschein genommen, eine Rechnung der Zeugin an die Kanzlei über 2.100,- €. Die Zeugin erklärt hierzu: Sie habe 21 (halbe) Arbeitstage pro Monat zu je 100,- € dieser Rechnung zugrunde gelegt.
325
So sei das während der gesamten Zeit ihrer Tätigkeit für die Kanzlei vom Grundsatz her gemacht worden. Die Höhe der Vergütung habe sich allerdings geändert, habe zuletzt ab Januar 2017 3.300,- € pro Monat betragen. Vor den jeweiligen Vergütungserhöhungen habe sie mit Dr. S… diesbzgl. Gespräche geführt, Details und Inhalte dieser Gespräche wisse sie heute nicht mehr, ebenso wenig, ob sie entsprechende Gespräche auch mit Frau L… geführt habe. Entsprechende schriftliche Fixierungen habe es nie gegeben.
326
Diese Vergütung sei auf ihr eigenes Geschäftskonto einbezahlt worden. Darauf seien daneben noch Gelder eingegangen für ihre Tätigkeit bei VG-Wort, ihre Mitautorenschaft an dem Kommentar „Sonderbilanzen“ durch den BeckVerlag, sowie für vereinzelte Tätigkeiten für Bekannte (Steuererklärungen o.ä.). Dies sei aber in weniger als 10 Fällen während des Gesamttätigkeitszeitraumes für die Kanzlei des Angeklagten gewesen.
327
Eine Umsatzbeteiligung an der Kanzlei habe sie nicht gehabt.
328
Die Zahlungen durch VG-Wort und den BeckVerlag seien nicht sehr hoch gewesen. Mit der Zeugin und allen Verfahrensbeteiligten werden insoweit aus dem Bd. 3 „A…“ – Bl. 03193, 03198, 03203, 03207 und 03212 in Augenschein genommen (Anlagen zu Steuererklärungen/Gewinnermittlungen 2013-2017), aus denen sich ergibt, dass für die Jahre 2013-2015 die zusätzlichen Einnahmen zwischen 157,51 € und 237,13 € lagen, im Jahr 2016 bei 2.169,89 € – in diesem Jahr war eine neue Auflage des Kommentars erschienen –, sowie 2017 in Höhe von 812,81 €.
329
Zu Beginn ihrer Tätigkeit für den Angeklagten habe sie in der Kanzlei kein eigenes Büro gehabt und entweder in der Bibliothek der Kanzlei gearbeitet oder zu Hause. Sie habe zu Hause ein voll eingerichtetes, eigenes Büro gehabt, auch eigene Literatur für die Bearbeitung von Steuerfällen und Steuerprogramme, die sie selbst bezahlt habe. Diese Steuerprogramme, die zur Bearbeitung von Steuermandaten erforderlich gewesen seien, habe es bis zuletzt in der Kanzlei nicht gegeben, weshalb sie auch während der gesamten Zeit ihrer Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten immer wieder mal gesagt habe, sie gehe jetzt nach Hause und arbeite dort, da ihr eben nur dort die Steuerprogramme zur Verfügung gestanden seien. Sie könne sich nicht erinnern, den Angeklagten einmal gebeten zu haben, diese Programme und die dafür entstehenden Kosten zu tragen. Die Programme habe sie auch schon vor ihrer Tätigkeit für die Kanzlei gehabt, allerdings eine kleinere Lizenz, später, als sie in der Kanzlei des Angeklagten tätig gewesen sei, sei dann eine gewerbliche Lizenz notwendig gewesen.
330
Ihr eigenes Büro zu Hause habe sie nicht steuerlich veranlagt, weil sie dort auch „private Dinge drin gehabt habe“, wie ein Bücherregal und ein Sofa; die Arbeitsmittel habe sie allerdings abgesetzt.
331
Nachdem die Kanzlei sich räumlich vergrößert habe, habe sie ab 2008 oder 2009 (das wisse sie heute nicht mehr genau) auch ein Büro in der Kanzlei erhalten; dieses sei voll ausgestattet gewesen. Außenkontakte zu den Mandanten habe sie überwiegend in der Kanzlei gehabt, nicht bei sich zu Hause. Sie habe aber auch, nachdem sie in der Kanzlei ein eigenes Büro gehabt habe, etwa von zu Hause aus Telefonate mit Mandanten geführt. Einen Kostenanteil für den Büroraum oder die andere von ihr genutzte, kanzleiinterne Infrastruktur (PC, Drucker, Arbeitsmaterial wie Papier etc., Sekretärinnen) habe sie nicht bezahlt.
332
Sie habe kein Mitspracherecht bei der Anschaffung von Betriebsmitteln gehabt, auch nicht betreffend die Einstellung oder Kündigung von Sekretärinnen/Rechtsanwaltsfachgehilfinnen oder bezüglich anderer Rechtsanwälte/innen.
333
Sie habe während ihrer Tätigkeit bei dem Angeklagten keine eigene Werbung betrieben, keine eigenen Angestellten gehabt.
334
Sie habe in dieser Zeit aber eine eigene Visitenkarte gehabt, auf der sie alleine genannt gewesen sei. Auch habe sie eigene Geschäftsbücher geführt, habe auch für sich ihre Zeiten, die sie für Arbeiten für die Kanzlei aufgebracht habe, aufgeschrieben. Das sei für sie selber gewesen, nicht von der Kanzlei aus nötig gewesen. Sie habe das deshalb gemacht, da ja auch immer wieder die Frage der Höhe der Umsätze Thema gewesen sei und sie ja viel in Mandaten des Angeklagten und von Frau L… mitgearbeitet habe, was dann aber nicht auf ihrem Umsatzkonto zum Ausdruck gekommen sei. Sie habe für sich selbst geschaut, was sie in ihrer Arbeitszeit an Umsatz schaffe, um für sich selbst abklären zu können, ob sie kostendeckend arbeite. Dies sei aus ihrer Sicht der Fall gewesen.
335
Fortbildungskosten habe sie selbst gezahlt, als Betriebsausgaben geltend gemacht, ebenso Telefonkosten.
336
Nach den kanzleiinternen Besprechungen befragt, schilderte die Zeugin A…, dass diese von Dr. S… und Frau L… bis 2012 und ihrem Ausscheiden gemeinsam geführt worden seien. Dr. S… habe aber quasi die Leitung innegehabt, aber auch Themen wie etwa den Internetauftritt der Kanzlei mal an die Kollegen H… und B… delegiert.
337
Themen dieser Kanzleibesprechungen sei immer wieder der Umsatz gewesen, aber auch die Frage von „Anwesenheiten“ der Rechtsanwälte/innen. Dies sei schon recht häufig gewesen und für sie eigentlich irrelevant, da sie ihre Zeit völlig frei habe einteilen können; sie habe, da sie immer nur einzelne Projekte gehabt habe, eine Art „Sonderstellung“ gehabt. Die Themen Umsatz und Kanzleianwesenheiten hätten auch nach dem Ausscheiden von Frau L… anlässlich der Kanzleibesprechungen auf der Tagesordnung gestanden, da habe es Dr. S… alleine weiter gepredigt.
338
Es habe immer wieder Kritik – vom Angeklagten – gegeben, dass die Umsätze in der Kanzlei zu gering seien und man mehr „rausholen“ könne, wenn die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen mehr anwesend wären. Dabei seien auch bestimmte Personen direkt angesprochen worden; sie könne sich an die Namen B… und V… erinnern, heute aber nicht mehr an andere; das Thema habe sie – wie gesagt – nicht betroffen. Jedenfalls sei die Umsatzsituation der Kanzlei immer wieder in Zusammenhang gebracht worden (gleichgesetzt worden) mit dem Einsatz der einzelnen Rechtsanwälte/innen und dem Wunsch des Angeklagten und/oder der Frau L… auch in zeitlicher Hinsicht mehr Einsatz für die Kanzlei zu zeigen. Es seien Aussagen gefallen wie: „Ihr müsst von da bis da anwesend sein“ oder „Ihr könnt nicht so lange Mittag machen“ oder „Ihr könnt nicht erst mal in der Kanzlei frühstücken“. Dr. S… sei aber auch immer das Thema durchgegangen, wer welche Gerichtstermine wahrnehme. In den Terminkalender seien alle Gerichtstermine eingetragen worden. Es sei vorgekommen, dass sich zwei Termine für einen Anwalt überschnitten hätten und dann eben ein anderer Kollege den Termin habe wahrnehmen müssen, was Dr. S… bestimmt habe. Außerdem sei in den Kanzleibesprechungen über Fälle berichtet worden. Der Angeklagte habe aber nicht nur inhaltlich über interessante Fälle berichtet, sondern über den Sachstand von Fällen.
339
Schließlich seien auch Urlaubsfragen erörtert worden (wer wann in Urlaub gehe), es habe verhindert werden sollen, dass alle Rechtsanwälte/innen gleichzeitig im Sommer Urlaub nehmen.
340
Betreffend ihre Arbeit bzw. deren Ausführung an sich gab die Zeugin A… an, dass sie betreffend die jeweiligen Projekte Gutachten bzw. Vertragsentwürfe gefertigt habe, die dann gemeinsam mit Frau L… oder dem Angeklagten besprochen worden seien. Bei den Projekten habe es sich um Fälle/Mandate von Frau L… oder Dr. S… gehandelt (nicht von anderen in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälten/innen). Sie habe sich mit Spezialfragen dieser bei Frau L… rer oder Dr. S… anhängigen Mandate befasst. Sie habe sozusagen L…/Dr. S… zugearbeitet, auch die Vollmacht habe auf diese beiden gelautet, nicht auf sie; sie sei auch gar nicht unter den nachstehend aufgelisteten Rechtsanwälten/innen genannt gewesen. Das habe sie nicht gewollt, sie habe nicht als Kanzleimitglied geführt werden, frei sein wollen. Ein Außenauftritt sei von ihr nicht gewünscht gewesen, weshalb sie sich auch einmal sehr geärgert habe, als sie in einem Telefonbuch namentlich betreffend die Kanzlei genannt worden sei; das habe sie nicht gewusst und damit sei sie auch nicht einverstanden gewesen.
341
Wenn sie zu Gericht habe gehen müssen, habe sie eine Untervollmacht bekommen.
342
Auf Nachfrage gab sie an, dass sie denke, dass es schon möglich gewesen wäre, die Mitarbeit bei einem speziellen Projekt abzulehnen, es habe aber von ihrer Seite nie ein NEIN gegeben. Erst als die Kanzlei allein vom Angeklagten geführt worden sei, habe es zwei Fälle gegeben, deren Mitbearbeitung sie abgelehnt habe. Grund dafür sei gewesen, dass sie die Bearbeitung nicht so habe abbilden können, wie es für die Mandantschaft erforderlich gewesen wäre. Dies habe sie gegenüber dem Angeklagten kommuniziert, der das o.k. gefunden habe.
343
Später habe es – neben den Projekten/Fällen von Frau L…/Dr. S… in denen sie einzelne Spezialfragen bearbeitet oder recherchiert habe – aber auch Projekte/Mandate gegeben, wo Verträge, die andere große Kanzleien entworfen hätten, gemeinsam durchgeschaut und ggf. abgeändert worden seien.
344
Mit dem Ausscheiden von Frau L… aus der Kanzlei im Jahr 2012 habe sich in den Arbeitsabläufen schon ein bisschen was für sie geändert. Sie habe nicht mehr überwiegend bei Projekten, großen Fällen des Angeklagten durch Ausarbeitung von Spezialproblemen bzw. Spezialrecherchen mitgearbeitet, sondern vermehrt Kontakte über den Empfang vermittelt bekommen. Sie könne sich daran erinnern, dass ist insoweit einmal zwischen ihr und der Kollegin K…, zeitlich könne sie das nicht mehr genau einordnen, Unstimmigkeiten gegeben habe, da ihr Fälle zugewiesen worden seien, die K… noch für ihren Fachanwalt gebraucht habe. Wer die Zuweisung dieser Fälle veranlasst habe, wisse sie nicht.
345
Sie habe nach 2012 auch Mandate von Kollegen mitbetreut. Frei geblieben sei sie allerdings in der Zeiteinteilung, habe das auch, da die Kinder ja größer gewesen sein, noch flexibler gestaltet und auch mehr gearbeitet, vor allem ab 2013. Sie habe mehr Umsatz gemacht, was auch dazu geführt habe, dass ihre Vergütung erhöht worden sei.
346
Nach dem Ausscheiden von Frau L… 2012 sei sie auf dem Briefkopf namentlich mit aufgeführt worden, wann genau das gewesen sei, wisse sie aber nicht mehr.
347
Zum Aspekt „Urlaub und Krankheit“ könne sie angeben, dass sie im Krankheitsfall keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung habe vorlegen müssen, auch eine Vergütung bekommen habe. Das Thema Urlaub sei bei den Kanzleibesprechungen, wie bereits erwähnt, immer wieder angesprochen worden.
348
Sie persönlich habe kein Limit gesetzt bekommen, habe sich ihre Zeit und Freizeit ja frei einteilen können. In den Schulferien etwa habe sie aber auch gearbeitet, wenn die Kinder beispielsweise mit den Großeltern unterwegs gewesen seien. Sie habe wenig Urlaub genommen, sei der Ansicht, dass dies bestimmt keine 30 Tage im Jahr gewesen seien. Sie habe nie herausgefunden, was für Urlaubsregelungen bezüglich der anderen in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen getroffen worden seien.
349
Sie habe, wenn sie Fehlzeiten gehabt habe und noch Fälle hätte weiterbringen müssen (z.B. Fristsachen), eben nachgearbeitet und jedenfalls auch bei Abwesenheit monatlich immer die gleichen Tantiemen/das gleiche Honorar erhalten.
350
Die Rechnungen an Mandanten/Firmen seien auf Kanzleipapier mit Kanzleibriefkopf geschrieben worden. Sie habe schon vorgegeben, welche Gebühren nach der Gebührenordnung zu erheben gewesen seien; geschrieben worden sei die Rechnung dann von den Sekretärinnen.
351
Es habe aber auch „Sachen“ auf Honorarbasis gegeben, da sei nicht nach Gebührenordnung, sondern nach der Stundenvereinbarung abgerechnet worden, aber im Namen und zu Gunsten der Kanzlei. Solchenfalls habe sie den Entwurf einer Honorarvereinbarung vorbereitet und aufgesetzt, letztlich sei dies dann von Frau L…/Dr. S… meist so übernommen worden und in die später gegenüber den Mandanten/Firmen gestellten Rechnungen eingeflossen. Wenn einzelne Mandate auf Honorarbasis/stundensatzmäßig abgerechnet worden seien, habe sie aber in ihrer Rechnung an die Kanzlei nicht mehr als 100,- € pro 1/2 Tag (s.o.) angesetzt.
352
Sie könne sich nicht erinnern, dass ein Mandat einmal ausgefallen sei oder ein Mandant eine Stundung oder Ratenzahlung gewünscht habe. Daher könne sie auch nicht angeben, ob und wer gegebenenfalls darüber zu entscheiden gehabt hätte, Forderungen, die ausgefallen seien, eingetrieben hätte.
353
Die Zahlungen der Mandanten seien dann auf ein Kanzleikonto geflossen, sie habe keine Vollmacht gehabt.
354
Sie habe nie während ihrer Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten eine eigene Rechnung an Mandanten geschrieben, nie selber abgerechnet.
355
Sie selbst habe sich immer selbstständig gefühlt, sie habe Unabhängigkeit und Freiheit gewollt. Sie habe bei ihren beiden vorangegangenen Arbeitsverhältnissen (PWC und H. AG) in einem Angestelltenverhältnis gearbeitet und habe dies im Hinblick auf die Familie nicht mehr gewollt.
356
Soweit sie der Kanzlei des Angeklagten Rechnungen gestellt und damit eine gewisse wirtschaftliche Abhängigkeit dahingehend vorgelegen habe, dass er diese bezahle, sei dies für sie nebensächlich gewesen, sie sei darauf finanziell nicht angewiesen gewesen; für sie habe während der Zeit ihrer Tätigkeit immer die Freude am juristischen Arbeiten im Vordergrund gestanden.
357
Die Versicherungen habe sie selbst gezahlt (Kranken-/Pflegeversicherung; Rentenversicherung habe sie in das Versorgungswerk der Rechtsanwälte einbezahlt), auch die Berufshaftpflichtversicherung und den Kammerbeitrag.
358
Ab dem Ausscheiden von Frau L… habe dann die Kanzlei die Kosten für ihre Berufshaftpflichtversicherung gezahlt, ebenso den Kammerbeitrag, letzteren bis 2015. Ab da habe sie ihn wieder selbst gezahlt, aber in die Honorarrechnung aufgenommen; dann sei ihr das von der Kanzlei erstattet worden.
359
Seit ihrem Ausscheiden aus der Kanzlei des Angeklagten glaublich im Mai 2018 arbeite sie ausschließlich von zu Hause aus, dort sei jetzt auch ihr Kanzleisitz.
360
Sie habe noch einige Mandate aus der Zusammenarbeit mit dem Angeklagten, aber auch neue eigene, die über Mundpropaganda zu ihr gelangt seien. Sie mache vor allem steuerliche Sachen (jährliche Steuererklärungen, einzelne Beratungen zu steuerlichen Themen), stelle jetzt selbst die Rechnungen und zwar fallbezogen, diese würden auf ihr Konto beglichen. Sie bekomme nicht jeden Monat die gleichen Tantiemen. Das, was ihr bleibe, verschiebe sich manchmal erheblich, da etwa Zahlungseingänge ausstehend seien.
361
Im Januar 2018, genauer gesagt am 30.01.2018, habe sie einen schweren Skiunfall gehabt.
362
Am Nachmittag sei eine Kanzleibesprechung angesetzt gewesen, an der sie aufgrund des Unfalles nicht habe teilnehmen können. In dieser Kanzleibesprechung sei die Kanzleiauflösung besprochen worden. Sie sei dann lange im Krankenhaus gewesen, danach noch auf Reha bis nach Ostern. Vor der Reha habe der Angeklagte ihr mal Akten nach Hause gebracht.
363
Sie wisse heute nicht mehr, ob sie im Zeitraum Januar 2018 bis Mai 2018 an die Kanzlei noch Honorarrechnungen gestellt und Geld bekommen habe. Sie wisse nur noch, dass sie 2017 einen Superumsatz gemacht und der Angeklagte noch zu ihr gesagt habe, dass sie noch etwas, einen Bonus, bekomme. Es habe sich um einen Betrag von ca. 10.000,- € gehandelt. Als sie dann ausgeschieden sei, habe sie das Geld nicht vom Angeklagten erhalten, was sie schon ziemlich gewurmt habe; sie habe es aber auch nicht einklagen wollen.
364
In der Zeit, als sie krank gewesen sei, habe sie auch den Kündigungsbrief bekommen. Grund für die Kündigungen und die Kanzleiauflösung sei schon der zu geringe Umsatz gewesen. Dr. S… habe – so sei es ihr später zugetragen worden, ohne dass sie heute noch genau wisse von wem – in der Besprechung vom 30.01.2018 geäußert, dass sich die Kanzlei nicht mehr rechne. Das habe sie nicht gewusst, sie habe auch nicht damit gerechnet, d.h. ihr sei dies betriebswirtschaftlich nicht nachvollziehbar gewesen, da zwar in den Besprechungen immer wieder Zahlen genannt worden seien, ihr aber eine Kontrolle der Berechnungen und ihrer Grundlagen, insbesondere betr. die Ausgaben, nicht möglich gewesen sei.
365
Während ihres Krankenstandes habe sie schon wegen Mandaten und insbesondere Fristsachen mit Dr. S… in Kontakt gestanden, könne sich aber nicht erinnern, von ihm eine E-Mail oder SMS bekommen zu haben. Auch sie habe ihm nicht geschrieben, da sie Linkshänderin sei und u.a. ihr linker Arm aufgrund des Unfalles zertrümmert gewesen sei. Man habe miteinander telefoniert, sie könne sich aber nicht erinnern, dass da über die Durchsuchung in der Kanzlei (05.02.2018) und deren Hintergründe gesprochen worden sei.
366
Erst später habe sie erfahren, dass Anfang Februar 2018 in der Kanzlei eine Durchsuchung erfolgt sei. Sie habe auch erfahren, dass bei einigen Kollegen, etwa Dr. St. M… und N. L…, Durchsuchungen erfolgt seien. Wer jetzt konkret ihr gegenüber geäußert habe, was und warum dies passiert sei, wisse sie heute nicht mehr. Auch bei ihr hätte eine Durchsuchung stattfinden sollen, sie sei aber zu diesem Zeitpunkt im Krankenhaus gewesen und deshalb sei dann von der Durchsuchung Abstand genommen worden. In Absprache mit ihrem Zeugenbeistand habe sie dann später dem Zoll einen Ordner mit Unterlagen zur Verfügung gestellt, den Fragebogen, den auch andere in der Kanzlei des Angeklagten tätige Anwälte zugesendet bekommen hätten, hätte sie nicht ausgefüllt.
367
Die Zeugin erklärte weiter, dass sie nicht wisse, ob sie in der Zeit ihrer Erkrankung von Januar bis Mai 2018 noch ihr Honorar vom Angeklagten erhalten habe.
- Seitens der Verteidigung wurde in der Erklärung nach § 257 Abs. 2 StPO vom 07.12.2021 (wurde als Anlage 16 zu Protokoll genommen) vorgebracht, dass der Angeklagte zum einen an die Zeugin An... für 2017 einen Bonus in Höhe von 10.207,06 € überwiesen habe. Als Beleg dafür wurde ein von der Kammer verlesener Überweisungsträger datierend vom 23.08.2018 mitüberreicht. Des Weiteren wurde in der Erklärung nach § 257 Abs. 2 StPO vom 07.12.2021 vorgebracht, dass die Zeugin A… bis Mai 2018 ihre Grundvergütung erhalten habe. Der Angeklagte nickte darauf hin. Die entsprechenden Abrechnungen/jeweiligen Abbuchungen vom Konto des Angeklagten wurden als Anlage zum Schriftsatz vom 03.01.2022 überreicht (Kontoauszüge vom 24.08.2018, Anlage 36 zu Protokoll).
- Es sei – so A… weiter – unter den Kollegen schon mal Thema gewesen, ob die Rechtsanwälte/innen in der Kanzlei tatsächlich selbstständig seien. Dies sei nicht in großer Runde besprochen worden, nach ihrer Erinnerung auch nicht in den Kanzleibesprechungen. Es seien einzelne Kollegen gewesen, die sich darüber ausgetauscht hätten. Sie könne sich etwa an eine Kollegin erinnern, die nur sehr kurz da gewesen sei, die dies thematisiert habe. Sie sei heute nicht mehr sicher, ob dies An...H… oder St.F. gewesen sei.
368
Auf Vorhalt äußerte die Zeugin An…, dass sie von Dr. S… wisse, dass es eine sozialversicherungsrechtliche Prüfung gegeben und dieser danach geäußert habe, das alles passe, es keine Beanstandungen gegeben habe.
369
Sie wisse allerdings nicht mehr, wann dies gewesen sei, ebenso wenig wisse sie, ob die als Rechtsanwälte/innen tätigen Personen, insbesondere ihr Status, geprüft worden sei. Sie wisse auch nichts davon, dass von einer Frau G… vom Finanzamt ein Fragebogen und mit welchen inhaltlichen Fragen überreicht worden sei oder, dass in einer Kanzleibesprechung eine sozialversicherungsrechtliche Prüfung bei dem Steuerbüro H… thematisiert worden sei.
370
Aufgrund der Schilderungen der Zeugin Ul. A… hat sich für die Kammer ergeben, dass ihre Beschäftigung in der Kanzlei des Angeklagten als „Sonderstellung“ zu qualifizieren ist:
371
Zwar hatte auch die Zeugin A… keinen eigenen Außenauftritt (noch geringer als die übrigen Anwälte, die zumindest auf dem Briefkopf der Kanzlei erwähnt waren), die Rechnungen an Mandanten/Firmen wurden auf Kanzleipapier mit Kanzleibriefkopf geschrieben, die entsprechenden Zahlungen erfolgten auf eines der Kanzleikonten, zu dem sie keinen Zugang hatte. Ab 2008/2009 hatte sie dann auch ein Büro in den Kanzleiräumlichkeiten, konnte die Kanzleiinfrastruktur kostenfrei nutzen, ohne ein Mitspracherecht bei der Anschaffung von Betriebsmitteln, betreffend Einstellung oder Kündigung von Sekretärinnen oder Anwaltskollegen zu haben. Außerdem hat sie etwa während ihrer Erkrankung Januar bis Mai 2018 ihre Grundvergütung weiterhin erhalten.
372
Die Zeugin hat aber mit der Kanzlei bzw. dem Angeklagten und Frau L… keinen schriftlichen Vertrag geschlossen. Sie war in der Kanzlei Teilzeit – jedenfalls bis 2012 – überwiegend projektbezogen tätig, arbeitete dem Angeklagten und S. L… zu. Sie erstellte Gutachten, fertigte Vertragsentwürfe betreffend Mandate des Angeklagten und von Frau L…. Die Mandatsverhältnisse – auch nach 2012 und dem Ausscheiden von Frau L… – kamen mit der Kanzlei zustande. Betreffend ihre Person spielte der Wunsch des Angeklagten und von Frau L…, zu den Kanzleiöffnungszeiten anwesend zu sein, keine Rolle. Sie hat von ihr erbrachte halbe Arbeitstage zu je 100,- € in Rechnung gestellt, ein festes Jahreshonorar war nicht vereinbart. Sie hatte bei sich zu Hause (neben dem Kanzleibüro) ein voll eingerichtetes eigenes Büro, insbesondere auch Literatur und Steuerprogramme, die sie selbst bezahlte. Die entsprechende Steuerprogramme standen ihr in der Kanzlei nicht zur Verfügung. Fortbildungskosten zahlte Ul. A… selbst.
373
Sie stand bis zum Jahre 2012 nicht auf den Kanzleibriefkopf. Im Jahr 2012, mit Ausscheiden von Frau L…, haben sich die Arbeitsabläufe bei der Zeugin verändert. Wie die Kollegen bekam sie auch Kontakte vermehrt über den Empfang vermittelt. Weiterhin arbeitete sie aber viel zu Hause in ihrem dortigen Büro, auch, da sie weiterhin überwiegend Steuermandate bearbeitete und dafür die oben genannten Steuerprogramme, die ihr in der Kanzlei nicht zur Verfügung standen, benötigte.
374
Aufgrund des Umstandes, dass die Zeugin Ul. A… in der Kanzlei des Angeklagten eine „Sonderstellung“ innehatte und eine Durchsuchung bei ihr nicht erfolgte, erfolgversprechende weitere Aufklärungen hinsichtlich der von ihr tatsächlich gelebten Verhältnisse nicht mehr zeitnah zu erwarten sind, ist das Verfahren betr. ihre Person gemäß § 154 (a) Abs. 2 StPO auf Antrag der Staatsanwaltschaft eingestellt worden.
375
Der Zeuge Ro. … schilderte, dass er vom 01.01.2010 bis 31.03.2015 für Dr. S… tätig gewesen sei. Seit April 2015 habe er eine neue Tätigkeit, sei nicht selbstständig.
376
Es sei mit der damaligen Anwaltskanzlei Dr. S…, L… & Kollegen eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung geschlossen worden. Dabei habe er keine Wahlmöglichkeit gehabt, es sei ihm ein vorformulierter Vertrag zur Unterschrift vorgelegt worden, dieser und der Inhalt seien nicht diskutabel gewesen, es habe keine Verhandlung gegeben. Später hätten die Kollegen gesagt, dass dies in der Kanzlei Standard sei.
377
Zum damaligen Zeitpunkt im Jahr 2009/2010, als er den Job unbedingt habe haben wollen, sei ihm das Thema und die Problematik „Freie Mitarbeiterschaft – Arbeitnehmerschaft – Scheinselbstständigkeit“ nicht bewusst gewesen.
378
Er habe in den Kanzleiräumlichkeiten dann ein eigenes, voll ausgestattetes Büro zur Verfügung gestellt bekommen. Dafür seien ihm keine Kosten in Rechnung gestellt worden, weder ein Mietanteil, noch ein Kostenanteil für die Nutzung der restlichen Infrastruktur wie Einrichtung, Geräte, Drucker, Büromittel, Literatur, EDV, Zugang zu Datenbanken, Wartung, Sekretärinnen etc. Er habe, ebenso wie die anderen Rechtsanwälte, kein Mitspracherecht betreffend Investitionen (betr. das Ob/das Wie oder den Umfang) in die Infrastruktur der Kanzlei oder betreffend die Einstellung von Sekretärinnen/Rechtsanwaltsgehilfinnen gehabt. Betreffend die Einstellung neuer Anwaltskollegen sei dies zwar etwa in den Kanzleibesprechungen als „Absicht“ angesprochen worden, die Entscheidung habe allerdings der Angeklagte getroffen.
379
Die laufenden Akten habe er im Büro aufbewahrt, zum Teil auch im Vorzimmer, die erledigten seien in einem kanzleiinternen Aktenarchiv aufbewahrt worden.
380
Zuhause habe er kein eigenes Büro gehabt, natürlich ein Zimmer, indem er auch mal gearbeitet habe. Dieses Zimmer habe hauptsächlich seine Frau genutzt, seiner Erinnerung nach auch steuerlich abgesetzt.
381
Werbung sei von der Kanzlei Dr. S… betrieben worden; er habe keine eigene Werbung betrieben.
382
Er sei überwiegend, eigentlich sogar ganz, für Dr. S… tätig gewesen, anfangs allerdings nur Teilzeit (3 Tage pro Woche, später 4 Tage), weil er nebenbei noch an seiner Promotion gearbeitet habe, derzeit befinde er sich in der Verteidigung. Auch habe er ein Fernstudium BWL, als er bereits für den Angeklagten tätig gewesen sei, abgeschlossen.
383
Außerdem habe er in dieser Zeit auch seinen Fachanwalt für Versicherungs- und Gesellschaftsrecht gemacht, wobei er – auf Vorhalt der Verteidigung – angab, dass er die dafür in der FAO geregelten Voraussetzungen kenne, die für den Fachanwalt notwendigen Fälle frei bearbeitete habe.
384
Die Fallzuweisung sei größtenteils über den Empfang der Kanzlei Dr. S… erfolgt, entsprechend den Fachgebieten der jeweiligen Rechtsanwälte/innen. Sein Fachgebiet sei Versicherungs-, Handels- und Gesellschaftsrecht gewesen. Auch der Angeklagte und zum Teil der Kollege Ha. seien in diesen Rechtsgebieten tätig gewesen; nach welchem Schlüssel die Kontakte weitergegeben/zugeteilt worden seien, wisse er nicht.
385
Er selbst habe keine Annoncen geschaltet, eigentlich auch nicht viele Mandate selbst akquiriert, allerdings im Bekanntenkreis immer mal wieder Kontakte und als Folge Mandate bekommen.
386
Befragt danach, ob er über den Empfang entstandene Kontakte habe ablehnen können, äußerte der Zeuge B…, dass dies, wenn es sich um einen ganz unangenehmen Kontakt gehandelt hätte, wohl möglich gewesen sei; schwierig wäre dies aber bei potentiellen großen Mandaten gewesen, da hätte er aus seiner Sicht mit dem Angeklagten Rücksprache halten müssen. Im Konkreten habe er aber eigentlich keine Erinnerung daran, dass er Kontakte abgelehnt habe, da er über jeden froh gewesen sei.
387
Das Mandatsverhältnis sei dann durch Unterschreiben jeweils einer Vollmacht durch den über den Empfang vermittelten Kontakt zustande gekommen, wobei auf der Vollmacht „Anwaltskanzlei Dr. S…, L… & Kollegen“, nach Ausscheiden Kollegin L… „Kanzlei Dr. S… & Kollegen“ gestanden habe, danach aufgelistet die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen.
388
Die ersten drei Jahre sei er quasi an der Hand geführt worden, habe in der Kanzlei Dr. S…, die einen guten Ruf gehabt habe, eine gute Ausbildung genossen. Er sei von Dr. S… in die Mandate eingeführt worden, habe Vorgaben erhalten, die er als Ausbildung angesehen habe. Er habe betreffend die ihm zugeteilten Mandate Schriftsätze verfasst, diese dem Angeklagten vorgelegt, der – auch betreffend Inhalt und Rechtsausführungen – drüber geschaut und ihm auch Anweisungen inhaltlicher Art erteilt habe. Der Angeklagte habe nicht etwa nur sprachliche Dinge ausgebessert, er habe Anträge fein justiert und inhaltliche Korrekturen vorgenommen, etwa auch bemängelt, wenn Rechtsausführungen seiner Ansicht nach nicht schlüssig gewesen seien.
389
Es habe die Pflicht zur persönlichen Leistungserbringung bestanden. Kein anderer Anwalt (ohne Kanzleibezug) hätte von ihm zur Bearbeitung von Mandaten der Kanzlei, auch nicht vertretungsweise, eingesetzt werden dürfen.
390
Wie das betreffend die anderen Rechtsanwälte/innen gewesen sei, könne er nicht sicher sagen, er gehe aber davon aus, da dem Angeklagten der Auftritt der Kanzlei nach außen sehr wichtig gewesen sei, dass auch bei den Kollegen eine „Qualitätskontrolle“ durch den Angeklagten stattgefunden habe.
391
So könne er sich etwa konkret erinnern, dass er gemeinsam mit dem Kollegen B. W…, der erst nach ihm gekommen sei (Juni 2012), kurz vor seinem (B…) Ausscheiden (März 2015) eines Abends in der Kanzleiküche gestanden und der Angeklagte hinzugekommen sei. Dr. S… habe „W…“ einen Ritterschlag verpasst und geäußert, dass er jetzt ein echter Rechtsanwalt sei, nachdem er bei ihm eine 3-jährige Ausbildung durchlaufen habe.
392
Später – nach den ca. drei Jahren – sei er/B… in der Fallbearbeitung aber selbstständig und eigenverantwortlich gewesen.
393
Am Anfang habe er schon die schlechteren Kontakte/Mandate bekommen, d.h. normale zivilrechtliche Streitigkeiten, ohne größeren Streitwert. Kontakte/Mandate mit großem Streitwert hätten andere Kollegen bekommen. Dies habe für ihn aber keine so große Rolle gespielt, da er ja nicht umsatzbezogen bezahlt worden sei und er sich auch nicht habe rechtfertigen müssen, warum er weniger/einen geringeren Umsatz mache.
394
Warum und wieso genau diese Verteilung so gewesen wäre, wisse er nicht.
395
Es habe allgemeine Kanzleiöffnungszeiten gegeben, da sei auch gewünscht gewesen, dass man anwesend sei. Es hätten aber keine festen Arbeitszeiten bestanden, auch habe er nie mitbekommen, dass die Arbeitszeit in irgendeiner Form vom Angeklagten kontrolliert worden sei, er selbst habe die Arbeitszeit auch nicht dokumentiert.
396
Im Fall der Abwesenheit habe man weder Urlaub beantragen noch Krankmeldungen vorlegen müssen. Wenn man aber geplant abwesend gewesen sei (z.B. Urlaub), dann habe man dies in einen am Empfang ausliegenden Kalender eintragen müssen, was auch immer mal wieder Thema in den Kanzleibesprechungen gewesen sei. Bei Abwesenheit sei seine Vergütung nie reduziert worden, er sei allerdings auch nie länger abwesend gewesen, als die im Vertrag genannten Tage.
397
Mit dem Zeugen und den Verfahrensbeteiligten wurde die als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung des Zeugen B… vom 10.12.2009, sowie die unter gleichem Datum abgeschlossene Zusatzvereinbarung mit der Kanzlei Dr. S…, L… & Kollegen, eingeführt im Selbstleseverfahren „1“ I., durchgegangen, insbesondere betreffend die Regelung: Die Honorarzahlung verändert sich bis zu einer maximalen Jahresabwesenheit ohne Krankheit bis 28 Werktage und einer Abwesenheit mit Krankheit bis zu 30 Werktagen nicht (Ziffer 4. Zusatzvereinbarung).
398
Der Zeuge äußerte hierzu, dass er schon wisse, dass dies die zeitliche Regelung sei, die üblicherweise in Angestelltenverhältnissen festgeschrieben sei; er habe die Anzahl dieser Tage aber ohnehin nie ausgeschöpft.
399
Er habe sein vertraglich vereinbartes Honorar (Jahreshonorar von 36.000,- € : 12, abrufbar in monatlichen Teilleistungen per Rechnung) mit Rechnung abgerufen und auch erhalten, und zwar unabhängig davon, wie viel Umsatz er pro Monat erwirtschaftet habe, unabhängig von Gewinn und Verlust der Kanzlei insgesamt und unabhängig davon, ob die Mandanten ihrerseits bereits Rechnungen an die Kanzlei beglichen hätten. Auslagen und Kosten für Gerichtstermine seien gemäß RVG erstattet worden.
400
Die monatlichen Teilleistungen auf das mit der Kanzlei vereinbarte Jahreshonorar seien auch nicht gekürzt worden, wenn Mandate ausgefallen seien; auch seien insoweit keine Rückforderungen an ihn gestellt worden.
401
Mit dem Zeugen B… und den Verfahrensbeteiligten wurde exemplarisch die Rechnung vom 01.03.2013 für Februar 2013 – Bd. 14 „Bergmann“ – Bl. 14128 f. – in Augenschein genommen. Die Rechnung besteht aus zwei Blättern: Blatt 1 enthält die Posten „Pauschalhonorar“: 3.029,60 € und „USt“, - 3.029,60 € = Summe aus vereinbartem Honorar = 3.000,- € + RVG-Geldern, so nicht aus Blatt 1 der Rechnung ersichtlich - Blatt 2 die Posten nach RVG 29,60 €.
402
Das in Rechnung gestellte „Pauschalhonorar“ habe in Abhängigkeit der Posten nach RVG somit von Monat zu Monat auf Blatt 1 der jeweiligen Rechnung variiert.
403
Weiterhin wurde der Zeuge insbesondere zu 3. des „Freien Mitarbeitervertrages“ vom 10.12.2009 und die dortige Formulierung: Bis 30.06.2010 besteht ein Probearbeitsverhältnis mit einer Kündigungsfrist von 2 Wochen zum Monatsende, befragt: Er äußerte, dass er sich hinsichtlich des Begriffes „Probearbeitsverhältnis“ keinerlei Gedanken gemacht habe, nach dem 30.06. 2010 habe sich auch nichts geändert, es habe kein Gespräch mit dem Angeklagten etwa über den Verlauf der Probearbeitszeit gegeben.
404
Zu Beginn seiner Tätigkeit sei in den Kanzleibesprechungen schon mal Thema gewesen, dass die Kanzlei einen „Durchhänger“ habe, auch, da drei Zugpferde (G…, M… und G…) kurz vor seinem Eintritt ausgeschieden seien. Seiner Erinnerung nach sei dies von Linderer noch vor ihrem Ausscheiden angesprochen worden, auch das Thema einer evtl. notwendigen Honoraranpassung, dies sei aber nicht umgesetzt worden.
405
Nach Bearbeitung eines Mandates habe er die Kostennote diktiert, die sei dann in seinem Vorzimmer geschrieben worden; anschließend sei diese nochmals von ihm kontrolliert und in den Auslauf gelegt worden. Die Rechnungen an die Mandanten seien auf Kanzleinamen – Briefkopf der Kanzlei „Dr. S… & Kollegen (die Kollegen seien aufgelistet gewesen)“ – erstellt und von dem/der für das Mandat zuständigen Rechtsanwalt/in unterschrieben worden. Auf der jeweiligen Rechnungsstellung sei die Steuernummer der Kanzlei angegeben gewesen; die Zahlungen seien auf eines der Kanzleikonten erfolgt; auf die Kanzleikonten habe er keinen Zugriff gehabt, er habe keine Vollmacht gehabt.
406
Forderungseintreibungen seien durch die Kanzlei gemacht worden.
407
Er habe während seiner Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten keine eigenen Mandate gehabt, keine eigenen Geschäftsbücher, keine, nur auf seinen Namen lautenden Visitenkarten, keine eigenen Firmenbriefbögen o.ä. gehabt, sei ohne Kanzleibezug nicht in der Branche aufgetreten.
408
Alle 4-6 Wochen habe eine Kanzleibesprechung stattgefunden. Thema sei dabei meist das Auftreten der Kanzlei nach außen gewesen. Dem Angeklagten sei ein geschlossenes, loyales Auftreten wichtig gewesen. Thema der Besprechungen seien zudem große Mandate gewesen, man habe sich gegenseitig Tipps erteilt. Insgesamt würde er diese Kanzleigespräche als Strategiegespräche bezeichnen. Es sei halt besprochen worden, was gut und was schlecht gelaufen sei, wie die Umsatzentwicklung sei etc.
409
Das Thema „Scheinselbstständigkeit“ sei in den allgemeinen Kanzleigesprächen nie erörtert worden. Er könne sich allerdings erinnern, dass es unter den Kollegen Thema gewesen sei. Konkret habe im Jahr 2013 der Kollege M. H… bei einem gemeinsamen Mittagessen – da seien seiner Erinnerung nach auch noch der Kollege H… und die Kollegin H… (jetzt: B…) dabei gewesen – dies zum Thema gemacht und geäußert, dass man sich darüber Gedanken machen müsse. H… habe das Thema hochgekocht, sei verstimmt gewesen, habe sich vom Angeklagten abgezockt gefühlt und das Thema „Scheinselbstständigkeit“ daher auch in gewisser Weise als Drohgebärde gegenüber Dr. S… genutzt.
410
Ihm/B… sei dies allerdings egal gewesen, ihn habe das da noch nicht interessiert. Dies sei erst später, Ende 2014, der Fall gewesen, als er über einen Einstieg in die Kanzlei (ganz lose und ohne jegliches konkretes Gespräch etwa betreffend die Frage potentieller Anteile oder konkreter Geldbeträge) nachgedacht habe. Es sei um eine Kreditaufnahme gegangen, deshalb sei er bei der Bank gewesen, wo plötzlich Thema gewesen sei, ob er angestellt sei oder nicht. Da habe er geäußert, dass er das nicht genau wisse, der Vertrag aber auf „freier Mitarbeiter“ laute.
411
Betreffend die Rentenversicherung habe er Anfang 2010 (er wisse nicht mehr, ob im Januar oder Februar) einen Befreiungsantrag gestellt (einen neuerlichen Befreiungsantrag habe er, nachdem er aus der Kanzlei Dr. S… nahtlos in die Firma Sch… eingetreten sei – April 2015 – und damit ein neues Tätigkeitsfeld gehabt habe, gestellt).
412
Er habe in die Rechtsanwaltsversorgung einbezahlt, sei im Übrigen privat versichert gewesen.
413
Die Berufshaftpflichtversicherung sei im Rahmen einer Sammelversicherung von der Kanzlei des Angeklagten bezahlt worden. Nach Ausscheiden aus der Kanzlei habe er eine eigene Berufshaftpflichtversicherung abgeschlossen.
414
2015 sei er aus der Kanzlei ausgeschieden, dies sei nicht problemlos vonstatten gegangen.
415
Er habe gegenüber dem Angeklagten nicht angegeben, was er nach dem Ausscheiden konkret machen wolle, auch nicht, dass oder ob er nach Regensburg gehen werde. Ebenso wenig habe er nach dem Ausscheiden, als er eine Etage unter den Kanzleiräumlichkeiten Dr. S… ein Büro angemietet habe, dies zuvor dem Angeklagten mitgeteilt.
416
Die laufenden Mandate seien weitgehend abgerechnet gewesen.
417
Der wesentliche Mandantenstamm sei in der Kanzlei geblieben. Er habe aber die Mandanten, die er betreut habe, über sein Ausscheiden informiert. 2-3 der Mandanten seien dann mit ihm mitgegangen, diese hätten ihm noch ca. 5.000,- € gebracht. Warum er nicht alle seine Mandate mitgenommen habe, wisse er nicht.
418
Er sei nach dem Ausscheiden aus der Kanzlei des Angeklagten in ein festes Anstellungsverhältnis bei der Firma Sch… GmbH gewechselt. Dort sei kurz nachdem er begonnen habe ein Brief des Angeklagten an den neuen Arbeitgeber eingegangen, welcher Anlass für seinen neuen Arbeitgeber gewesen sei, ein Gespräch zu suchen. Der Brief sei aber völlig absurd gewesen; es seien dann in der Folgezeit weitere Briefe des Angeklagten eingegangen, die einen äußerst beleidigenden Inhalt gehabt hätten; bis auf eine Ausnahme habe er auf diese Briefe gar nicht geantwortet.
419
Der eine „Antwort“-Brief – 15.04.2015 – (Brief von B… an Dr. S…), welcher Gegenstand Bd. 14 „B…“ – Bl. 14046 ff. ist, sowie im Selbstleseverfahrens „1“ III. eingeführt wurde – wurde auszugsweise.
420
Alleine im März sind drei langjährige Mitarbeiter gegangen. Ich bin mir sicher, dass noch viele folgen werden, sobald sie eine andere Arbeitsstelle gefunden haben. Es sind ja nahezu alle auf der Suche, weil keiner mehr daran glaubt, dass es die Kanzlei noch lange gibt. Dies war auch der Grund, da ich mit dem geringen Gehalt von nur 3000 € als Scheinselbstständiger (= 2.500 € als Angestellter), dass du mir seit 5 Jahren gezahlt hast, keine Rücklagen bilden, geschweige denn eine Familie gründen konnte. …. Das offene Gehalt fordere ich mit separatem Schreiben an.
422
Zu diesem Zeitpunkt habe er sich mit Scheinselbstständigkeit beschäftigt gehabt, sei auch davon ausgegangen, dass er ein Scheinselbstständiger in der Zeit der Kanzleizugehörigkeit gewesen sei, habe das allerdings nicht vollständig rechtlich durchgeprüft.
423
Sofern er in der Anfangszeit seiner Tätigkeit auch gegenüber Behörden (vgl. Vorhalt des Erhebungsbogens vom 13.03.2010, Bl. 462 d.A.) sich als selbstständig bezeichnet habe, habe er dies nach eingeholter Erkundigung bei den Kollegen und Abstimmung mit diesen – „dies sei in der Kanzlei immer so gemacht worden“ – einfach so übernommen.
424
Des Weiteren wurde dem Zeugen folgende Passage aus dem Schreiben vom 15.04.2015 vorgehalten:
425
Die von dir gemachte Aufrechnung weise ich zurück. Es gibt nichts aufzurechnen. Es bringt auch nichts, ins Blaue hinein ohne jegliche Bezifferung dubiose Schadensersatzforderungen anzukündigen. Soweit du die Akte „Sch…“ genannt hast, möchte ich darauf hinweisen, dass ich dich in dieser Akte (ebenso wie in vielen anderen Akten zahlungsschwacher Mandanten) mehrfach darauf hingewiesen hatte, dass wir bei der Firma Sch… wohl auf unserem Honorar sitzen bleiben werden, da ich sehr schnell bemerkt hatte, dass Frau L… nicht zahlungsfähig ist. Trotzdem wolltest du die Akte bearbeitet haben.
426
Legte der Zeuge dar, dass er bei mehreren Mandaten während seiner Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten Sorge gehabt habe, dass die Kostennoten ausfallen würden und er daher „den Stecker habe ziehen wollen“. Dies habe er dann aber nach Weisung des Angeklagten nicht tun dürfen.
427
Gleiches gelte für einige Mandate bezüglich Freunden und Bekannten des Angeklagten, die er bearbeitet habe. Da seien keine Kostennoten gestellt worden. Dies sei auf Veranlassung des Angeklagten geschehen.
428
Es habe also immer wieder Mandate gegeben, wo er angehalten worden sei, etwas zu tun, was ihm nicht sinnvoll erschienen sei.
429
Ebenso wurde ein Schreiben des Angeklagten an den Zeugen B… datierend vom 13.04. 2015, welches Gegenstand von Bd. 14 „B.“ – Bl. 14041 f. ist – auszugsweise verlesen.
430
… Offenbar hast du eine Reihe von Schritten hinter meinem Rücken (Fettdruck wurde aus Originalschreiben übernommen) und ohne Absprache – gegenüber Dritten hast du das anders behauptet – eingeleitet, wie Kündigungen von Mandanten, Kanzleiadresse M.-straße 15 b in B., Werbemaßnahmen für deine Kanzlei in B. etc.. Ich halte dein Vorgehen für extrem illoyal und unseriös. Gegenüber den Mandanten hast du offenbar den Hinweis versäumt, dass im Falle der Mandatskündigung eine Aktenabrechnung mit sofort fälliger Rechnungsstellung erfolgt. … Insgesamt muss ich leider feststellen, dass du einer der schwächsten Anwälte warst, den wir je in der Kanzlei Dr. S…, L… & Kollegen bzw. Dr. S… & Kollegen beschäftigt hatten … Wir machen deshalb zunächst das Zurückbehaltungsrecht bezüglich der letzten Monatsrechnung geltend. Schadensersatzansprüche bleiben vorbehalten. …
431
Der Zeuge B… erklärt hierzu, dass es für ihn nicht mit freier Mitarbeiterschaft vereinbar sei, wenn der Angeklagte sich „hintergangen fühle“; er habe keinen Grund gesehen, mit dem Angeklagten seinen weiteren Berufsweg abzusprechen. Das „Nachtreten“ gegenüber Anwälten, die die Kanzlei verlassen hätten, sei – so habe er es gehört – auch bei anderen Kollegen der Fall gewesen.
432
Dass der Angeklagte sich aus seiner Sicht nicht kollegial verhalten habe, habe er auch in einer E-Mail im April 2015 zum Ausdruck gebracht. Diese datiert vom 16.04.2015, ist Gegenstand Bd. 14 „B…“ – Bl. 14052 –, und wurde auszugsweise verlesen:
433
… Mit dem Schreiben an meinen neuen Arbeitgeber, allein mit dem Ziel, mich durch falsche Behauptungen bloß zu stellen und meine Kündigung zu erzwingen, hast du allerdings nunmehr eine Linie überschritten, die ich dir weder zugetraut hätte, noch akzeptieren werde. Es geht dich auch überhaupt nichts an, ob und wo ich weiterhin als Rechtsanwalt nebenbei tätig bin. ….
434
Schließlich äußerte der Zeuge B…, dass er aktuell bei einem Steuerberater in M.(Montag-Mittwoch) als Rechtsanwalt in einem Angestelltenverhältnis tätig sei.
435
Daneben sei er noch freiberuflich (Donnerstag, Freitag) als Rechtsanwalt tätig, habe keine Angestellten, ein Bürozimmer zu Hause, mache viel über Videokonferenz. Das Zimmer habe zwar schon bestanden, als er noch in der Kanzlei des Angeklagten tätig gewesen sei, er habe dies aber EDV-technisch, auch betreffend einen größeren Drucker etc. „aufgemotzt“. Er habe einen eigenen Geschäftsbrief, mache die Organisation seiner Arbeit einschließlich Terminen, Fristen etc. selbst; Unterlagen, Akten und Archiv habe er bei sich zu Hause. Büromaterial, Porto für Briefe, den Zugang zu beckonline, Strom, Miete usw. zahle er selbst. Die Kostennoten erstelle er selber in Exceltabellen, er habe kein juristisches Berechnungsprogramm.
436
Damit hat der Zeuge B… zusammengefasst für das Gericht glaubhaft und glaubwürdig als Umstände, die gegen eine abhängige Beschäftigung sprechen, geschildert, dass er mit dem Angeklagten eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung schloss, Umsatzsteuer abführte und im Falle der Erkrankung keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen, Urlaub auch nicht förmlich beantragt und genehmigt werden musste, keiner Stechuhr „unterlag“.
437
Demgegenüber hat er betreffend das Zustandekommen der Vereinbarung eine inhaltliche Verhandlungsmöglichkeit negiert, vielmehr von einem – ihm gegenüber auch von den Rechtsanwaltskollegen bestätigten – „Standard“ gesprochen. Deshalb hat sich der Zeuge über Formulierungen in der Vereinbarung nebst auf einem zweiten Blatt abgefasster Zusatzvereinbarung etwa betreffend die Honorarfortzahlung auch bei Abwesenheiten oder die Vereinbarung eines Probearbeitsverhältnisses keine Gedanken gemacht, ebenso wenig darüber, dass der Mitarbeitervertrag durch die zusätzlich geschlossene Zusatzvereinbarung inhaltlich zum Teil wieder aufgehoben wurde.
438
Er hat seine anwaltschaftliche Tätigkeit in den Kanzleiräumlichkeiten, in denen ihm kostenfrei ein voll ausgestattetes Büro und Rechtsanwaltsgehilfinnen zur Verfügung standen, erbracht, war mit den kanzleiinternen Abläufen verzahnt. Eine eigene Betriebsstätte hatte er ebenso wenig wie eigenes Personal. Einfluss betreffend Kalkulation der kanzleiinternen Infrastruktur u.ä. hatte er nicht, auch kein Mitspracherecht etwa betreffend die Einstellung weiterer Anwaltskollegen. Er gab aber auch nicht nur den Wunsch (im Rahmen der regelmäßig stattfindenden Kanzleibesprechungen auch immer wieder thematisiert) des Angeklagten, zu den allgemeinen Kanzleiöffnungszeiten anwesend zu sein, an, sondern B… schilderte vielmehr daneben eine zu Beginn der Tätigkeit gelebte inhaltliche „Qualitätskontrolle“ seiner Arbeit durch den Angeklagten, der sich die Schriftsätze vorlegen ließ und diese kontrollierte, was auch, soweit der Zeuge es mitbekam, bei anderen neuen Anwaltskollegen Usus war. Ein eigenes unternehmerisches Risiko bestand für den Zeugen nicht. Er erhielt das vereinbarte Honorar unabhängig von seinem erwirtschafteten Erfolg oder Misserfolg, unabhängig von Abwesenheitszeiten durch Urlaub und Krankheit bis zu 30 Werktagen pro Jahr, unabhängig davon, ob Mandanten ihrerseits bereits Zahlungen/Rechnungen an die Kanzlei beglichen hatten, eine Umsatzbeteiligung gab es nicht. Der Zeuge hatte keine anderen Auftraggeber und akquirierte auch selbst kaum eigene Mandate. Die Zuweisung der Kontakte bzw. späteren Mandate erfolgte über die Kanzleidamen, die Kriterien für die Zuweisung kannte der Zeuge nicht, stellte lediglich fest, dass er zu Beginn eher normale Streitigkeiten ohne großen Streitwert zugewiesen bekam. Das Mandatsverhältnis kam ausschließlich mit der Kanzlei zustande, auf deren Namen auch die Kostennote gestellt wurde, die ausschließlich auf Kanzleikonten, zu denen der Zeuge keinen Zugang hatte, beglichen wurden. Zudem schildert der Zeuge, dass es verschiedentlich Anweisungen des Angeklagten gab, Akten zahlungsschwacher Mandanten weiter zu bearbeiten, was der Zeuge selbst aus Sorge, dass die Kostennote ausfallen würde, nicht machen wollte. Auf Anweisung des Angeklagten tat er das dann aber trotzdem. Er hatte eine persönliche Leistungserbringungspflicht, betrieb keine eigene Werbung, hatte kein eigenes Personal und keine eigenen Visitenkarten, Briefbögen, Geschäftsbücher etc., mithin kein eigenes Auftreten auf dem Markt ohne Kanzleibezug.
439
„Scheinselbstständigkeit“ war zu Beginn seiner Tätigkeit in der Kanzlei 2013 mal Thema unter den Kollegen, hat ihn aber bis 2014 nicht interessiert. Im Zusammenhang mit seinem Ausscheiden aus der Kanzlei und den dabei auftretenden Schwierigkeiten war dies aber auch zwischen dem Angeklagten und dem Zeugen Thema. Ab dem Schreiben des Angeklagten vom 15.04.2015 ging der Zeuge Bergmann davon aus, dass er in der Zeit seiner Kanzleizugehörigkeit ein Scheinselbstständiger war.
3.7. Zeugin K. B… (geb. H…):
440
Bezüglich der Zeugin K. B… wurde mit Zustimmung der Verfahrensbeteiligten die audiovisuelle Vernehmung (da sie Corona positiv getestet wurde und es nicht absehbar war, wie lange die Erkrankung/die Quarantäne dauern wird und wann eine Vernehmung erfolgen kann) angeordnet, sowie mit Zustimmung der Verfahrensbeteiligten, des Angeklagten, der Verteidiger und der Staatsanwaltschaft ihre polizeiliche Aussage vom 21.02.2018 verlesen.
441
Demnach ist inhaltlich insgesamt von folgender Zeugenaussage der K. B… auszugehen:
442
Die Zeugin schilderte, dass sie vom 15.05.2012 bis Ende März 2017 in der Kanzlei des Angeklagten als Anwaltin tätig gewesen sei.
443
Bereits während des Studiums habe sie ein Praktikum bei Dr. S… gemacht habe. Nach Abschluss des Studiums sei dann ein unförmliches Gespräch dahingehend geführt worden, ob sie für ihn arbeiten könne. Es sei zur Vereinbarung gekommen, dass sie ab 15.05.2012 in der Kanzlei als Rechtsanwältin arbeiten könne und solle. Dr. S… habe ihr einen Vertrag als freie Mitarbeiterin vorgelegt, der Anfang Mai 2012 dann auch unterschrieben worden sei. Das Model „Freie Mitarbeiterschaft“ sei in der Kanzlei üblich gewesen und von niemandem hinterfragt worden. Da es sich um eine namhafte und große Kanzlei gehandelt habe, habe sie keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit des vom Angeklagten vorgelegten Vertrages mit Zusatzvereinbarung gehegt.
444
Ihr sei ein komplett eingerichtetes Büro zur Verfügung gestellt worden (Mobiliar nebst erforderlicher IT Ausstattung). Sie habe dafür nichts extra bezahlt, wisse auch nicht, ob dafür etwas mit ihrem Honorar verrechnet worden sei, sie sei aber davon ausgegangen. Die Kanzleimitarbeiter habe sie „mitbenutzt“, dafür seien keine Kosten entstanden. Eine explizite Ausweisung des ihre Person betreffenden Kostenanteiles hinsichtlich Büro, Bürobedarf, Kanzleiinfrastruktur und Personal habe sie aber nicht gehabt und nicht gekannt.
445
Sie habe auch keine Extra-Werbung betrieben, sei aber im Rahmen der Kanzleiwerbung miterwähnt worden.
446
Ihre Bezahlung sei auf der Basis des genannten „Freien-Mitarbeitervertrages“ erfolgt, anfänglich sei ein Jahreshonorar von 30.000,- € zzgl. Mehrwertsteuer vereinbart gewesen; davon habe sie monatlich 1/12 in Rechnung stellen können. Zusätzlich habe sie Fahrtkosten und Abwesenheitsgelder nach den Grundsätzen des RVG in Rechnung gestellt. Es habe keine direkte Beteiligung an den Umsätzen gegeben, allerdings seien in unregelmäßigen Abständen die Auszahlungsbeträge durch den Angeklagten – je nachdem, welche Umsätze sie für die Kanzlei erwirtschaftet habe – angepasst worden. Die Rechnungen für ihre Tätigkeit seien von ihr immer selbst direkt an die Kanzlei gestellt worden.
447
Die Rechnungsstellung an Mandanten sei lediglich im Rahmen ihrer Tätigkeit und namens der Kanzlei erfolgt (im eigenen Namen habe sie in den 5 Jahren bei Dr. S… lediglich 2 Rechnungen gestellt für Tätigkeiten als gesetzlich bestellte Betreuerin).
448
Die Kanzlei des Angeklagten habe auch die Berufshaftpflichtversicherung im Rahmen einer Gruppenversicherung und Kammerbeiträge bezahlt; zusätzlich seien von der Kanzlei Fortbildungskosten (z.B. Seminare usw.) getragen worden.
449
Sie habe eine private Krankenversicherung inklusive Pflegeversicherung bei der Bayerischen Beamtenkasse gehabt; die monatlichen Beiträge dafür habe sie selbst in voller Höhe bezahlt. Eine Arbeitslosenversicherung habe sie nicht gehabt. Betr. die Rentenversicherung habe sie den entsprechenden Betrag in die Versorgungskammer für Rechtsanwälte und Steuerberater einbezahlt. Privat habe sie auch eine Berufsunfähigkeits- und Unfallversicherung abgeschlossen.
450
Die von ihr zu bearbeitenden Fälle seien ihr von der Kanzlei zugewiesen worden, wobei ihr nicht bekannt sei, nach welchem Verteilungsschlüssel ihr die Fälle zugewiesen worden sein; sie habe auf die Verteilung aber keinen Einfluss gehabt. Die Fälle habe sie dann eigenverantwortlich bearbeitet.
451
Zu Beginn ihrer Tätigkeit habe der Angeklagte die von ihr verfassten Schriftsätze im Bereich Erbrecht angeschaut und die Erbrechtsmandate zum Teil gemeinsam mit ihr bearbeitet. Er habe ihr betreffend Form und Formalitäten Hinweise gegeben, das habe dann aber aufgehört.
452
Die Arbeitszeiten seien nicht festgelegt gewesen, es sei aber erwartet worden, zu den Öffnungszeiten der Kanzlei anwesend oder erreichbar zu sein, d.h., zu den Kernzeiten sollte man da sein; sie sei auch da gewesen, natürlich auch mal länger und sogar am Wochenende.
453
Nach dem Freien Mitarbeitervertrag habe sie bis zu 28 Tage Urlaub nehmen können und bis zu 30 Tagen krank sein dürfen, ohne dass sich deshalb hinsichtlich des Honorars etwas geändert hätte. Betreffend den Urlaub habe sie die beabsichtigten Tage in der Kanzlei mitgeteilt, die Urlaubsabwesenheit aber grundsätzlich frei wählen können. Sowohl im Krankheits- als auch Urlaubsfall habe sie keine Vertretung stellen, im Krankheitsfall auch kein ärztliches Attest vorlegen müssen.
454
In der Zeit ihrer Tätigkeit für die Kanzlei des Angeklagten habe sie keine anderen Auftraggeber gehabt (mit Ausnahme der bereits genannten Betreuungen). Sie habe grundsätzlich schon andere Tätigkeiten ausüben können, aufgrund des Umfanges ihrer Arbeiten in der Kanzlei sei dies jedoch faktisch unmöglich gewesen.
455
Soweit in dem freien Mitarbeitervertrag eine Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei der Zustimmung bedurft hätte, äußerte die Zeugin B…, sie können nur sagen, dass das so im Vertrag stand, aber nicht faktisch relevant geworden sei.
456
Bezüglich der Frage, ob „Scheinselbstständigkeit“ zwischen ihr und dem Angeklagten thematisiert worden sei, hatte sich die Zeugin B… in ihrer polizeilichen Vernehmung vom 21.02.2018 auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht nach § 55 StPO berufen.
457
Im Rahmen ihrer audiovisuellen Vernehmung am 11.01.2022 äußerte sie, dass dies am Ende ihrer Tätigkeit schon Thema gewesen sei, aber nicht mit dem Angeklagten direkt. Es sei unter Kollegen darüber gesprochen worden, aber nicht vertieft, da es immer wieder von den Kollegen geheißen habe, dass es schon passt, es schon immer so gewesen sei und es deshalb nicht weiter hinterfragt werden müsse. Von Kollegen habe sie auch erfahren, dass es eine Betriebsprüfung gegeben habe, die unauffällig, ohne Beanstandung gewesen sei. Zeitpunkt, Gegenstand und Umfang der Prüfung sei ihr aber nicht bekannt.
458
Befragt danach, ob es bei ihrem Ausscheiden aus der Kanzlei Dr. S… & Kollegen Probleme gegeben habe, äußerte die Zeugin: Bei mir gab es keinen Stress.
459
Daraufhin wurden ihre Schreiben vom 25.04.2017 – Bd. 04 „B…“ – Bl. 04027 f. –, und vom 27.04.2017 an die Kanzlei Dr. S… & Kollegen – Bd. 04 „B…“ – Bl. 04023 –, sowie das Schreiben des Angeklagten an die Zeugin vom 26.04.2017, gesendet am 27.04.2017 – Bd. 04 „B…“ – Bl. 04027 f. –, auszugsweise verlesen und der Zeugin vorgehalten.
460
Im Schreiben vom 25.04.2017 an die Kanzlei Dr. S… & Kollegen – Bd. 04 „B… – Bl. 04027 f. –, heißt es u.a.:
…. Es erstaunt mich, dass du die Geldeingänge – betr. zuvor namentlich benannter Mandate – scheinbar nicht feststellen konntest, obwohl du von mir wolltest, dass ich sämtliche Geldeingangszettel in der Akte in der Kanzlei lassen. …
…. Noch nicht eingegangen sind … 400,- € brutto in der Angelegenheit …. und 200,- € brutto in der Angelegenheit ….
…. Lieber H., es ist fast ein Monat vergangen, dass du mein Gehalt für März nicht auszahlt. Ich habe mich sehr fair verhalten bei meinem Ausscheiden. Ich bitte dich um gleiche Fairness, sodass du mein Gehalt in Höhe von 5.000,- € netto …. sofort auszahlt.
461
Im Schreiben vom 26.04.2017 Dr. S… an B… – Bd. 04 „B… – Bl. 04024 –, heißt es u.a.:
…. Da sich die Erstattung von VKH-Vergütungsabrechnungen bekanntlich einige Monate in die Länge zieht und ich die ganze Angelegenheit zum Ende bringen möchte, habe ich die noch offenen Beträge 400,- € und 200,- € mit dem Gehalt für März 2017 verrechnet und einen Betrag in Höhe von 5.350,- € auf dein Konto überwiesen ….
462
Im Schreiben vom 27.04.2017 an die Kanzlei Dr. S… & Kollegen – Bd. 04 „B…“ – Bl. 04023 –, heißt es u.a.:
…. Ich hatte ausdrücklich mitgeteilt, dass ich mit einer Verrechnung mit meinem Gehalt für März 2017 nicht einverstanden bin. Ich habe dich jetzt bereits mehrmals um Rechnung für die beiden Mandate … 200,- € und … 400,- € an meine Kanzlei, also an mich, gebeten. Ich habe nie gesagt, dass du diese Beträge erst nach Abschluss der VKH-Mandate erhalten würdest. Um die Sache endgültig erledigen zu können, fordere ich dich auf, die beiden oben genannten Rechnungen an mich bis spätestens 05.05.2017 zu übersenden. ….
463
Die Zeugin erklärte, dass der Angeklagte dann schon noch alles bezahlt habe.
464
Zudem wurde das Kündigungsschreiben des Angeklagten vom 13.12.2016 – Bd. 04 „B…“ – Bl. 04007 f. –, verlesen und mit der Zeugin besprochen.
465
In dem Schreiben heißt es u.a., in der Anlage übersende ich dir die ordentliche Kündigung des freien Mitarbeitervertrages zum 31.03.2017. Die Konsequenz aus verschiedenen Überlegungen und Umständen ist die Verkleinerung der Kanzlei auch im freien Mitarbeiterbereich. Die vor dem 01.10.2016 ins Auge gefasste Änderung des freien Mitarbeitervertrages kam nicht zustande. ….
466
Insoweit gibt die Zeugin an, dass es verschiedene/zwei Entwürfe – beide wurden im Anschluss an die Zeugenvernehmung verlesen, – Bd. 04 „B… – Bl. 04013 f. und Bl. 04017 f. –, – zur Neugestaltung des Beschäftigungsverhältnisses unter Festlegung einer Umsatzbeteiligungsquote gegeben habe, Entwürfe und Überlegungen, die allerdings von ihr nicht unterschrieben worden seien.
467
Im Schreiben vom 13.12.2016 heißt es dann weiter, …. Dein Arbeitszimmer wird dir ab der letzten Januarwoche 2017 nicht mehr zur Verfügung stehen. …. Solltest du einen früheren Endzeitpunkt für deine Mitarbeit wünschen oder planen, stehe ich gerne für eine zeitliche Abstimmung zur Verfügung. Auch über die Mitnahme bzw. Bewertung der Akten kann vorbehaltlos verhandelt werden.
468
Befragt nach der Änderung des Kanzleibriefkopfes im November 2016 – hinter den in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälten/innen wurde der Zusatz * und „in freier Mitarbeit“ angebracht – äußerte die Zeugin B…, dass dies eine haftungsrechtliche Frage gewesen und im Hinblick darauf erfolgt sei.
469
Bezüglich der Zeugin B… wurde zudem auszugsweise ein Schreiben des Angeklagten an die Zeugin vom 24.04.2017 – Bd. 04 „B…“ – Bl. 04029 f. –, verlesen.
470
In diesem heißt es u.a.: ….
In Anlage bestätige ich deine freie Mitarbeit im angegebenen Zeitraum. Die Übermittlung eines Arbeitszeugnisses ist nicht möglich. Gerade die beiden Beispiele H… und W… halten mich davon ab. Im Übrigen ist für dies für die freie Mitarbeit auch nicht sinnvoll. ….
471
Bezüglich der Zeugin B… wurde sodann mit den Verfahrensbeteiligten beispielhaft eine Rechnung vom 04.02.2015 für den Abrechnungszeitraum Januar 2015 – Bd. 04 „B…“ – Bl. 04103 f. – in Augenschein genommen und verlesen. Die Rechnung besteht aus zwei Blättern: Auf Blatt 1 befinden sich 2 Positionen: „Pauschalhonorar netto“: 4.826,- € und „19 % USt“. - 4.826,- € = Summe aus vereinbartem Honorar = 4.750,- € + RVG-Geldern, steht so nicht auf Blatt 1 der Rechnung - Auf Blatt 2 befindet sich eine Aufstellung der Fahrtkosten und Abwesenheitsgelder nach RVG i.H.v. 76,- €.
472
In der Zusammenschau ist dementsprechend für das Gericht davon auszugehen, dass die Zeugin K. B… mit der Kanzlei des Angeklagten ebenfalls eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichneten Vereinbarung (nebst Zusatzvereinbarung auf Extrablatt) schloss, Umsatzsteuer abführte, keiner Verpflichtung unterlag, im Falle der Erkrankung eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen und Urlaub förmlich beantragen, sowie genehmigen lassen zu müssen; auch gab es keine schriftliche Festlegung der Arbeitszeiten (wenn man auch während der Kanzleikernzeiten da sein sollte), Aspekte, die gegen eine abhängige Beschäftigung sprechen.
473
Andererseits schildert die Zeugin B…, dass neben dem „Freien Mitarbeitervertrag“ eine Zusatzvereinbarung geschlossen wurde (die faktisch Regelungen des Hauptvertrages hinfällig machte). Sie wurde fest in die Rahmenbedingungen und Organisationsabläufe der Kanzlei, die zum Zeitpunkt ihres Arbeitsbeginnes bereits bestanden, eingegliedert, erhielt ein eigenes, voll ausgestattetes Büro (ohne dass sie daneben eine eigene Betriebsstätte gehabt hätte), nahm die Arbeitsleistung des in der Kanzlei angestellten, geschulten Personals in Anspruch (ohne dass sie daneben eigenes Personal beschäftigt hätte, was ohnehin nur mit Zustimmung der Kanzlei möglich gewesen wäre). Für die Nutzung des Büroraumes und der kanzleiinternen Infrastruktur wurden ihr keine Kosten, auch kein Kostenanteil, in Rechnung gestellt.
474
Sie stellte der Kanzlei ein vereinbartes Pauschalhonorar unabhängig von Gewinn und Verlust, erwirtschafteten Umsätzen oder Abwesenheitszeiten durch Krankheit und Urlaub monatlich in Rechnung, war am Umsatz nicht beteiligt.
475
Ihre Mandate bekam sie von der Kanzlei zugewiesen, ohne den Verteilungsschlüssel zu kennen oder Einfluss auf die Verteilung zu haben. Sie rechnete die Mandate über die Kanzlei ab, hatte mit Ausnahme von zwei Mandaten als gesetzlich bestellte Betreuerin in fünf Jahren keine eigenen anderen Mandate, keine anderen Auftraggeber. Sie betrieb keine Extra-Werbung ohne Kanzleibezug, wurde nur im Rahmen der Kanzleiwerbung mit erwähnt.
476
Zu Beginn ihrer Tätigkeit legte sie die von ihr verfassten Schriftsätze dem Angeklagten vor, der zum Teil Erbrechtsmandate auch mit ihr gemeinsam bearbeitete; mit zunehmender Zeit bearbeitete sie die Fälle eigenverantwortlich.
477
Die Mandatsverhältnisse kamen ausschließlich mit der Kanzlei zustande. Die Rechnungsstellung an die Mandanten erfolgte im Namen der Kanzlei.
478
Über „Scheinselbstständigkeit“ wurde im Kollegenkreis gesprochen, allerdings nicht vertieft, da es hieß, es passt schon, es war schon immer so.
479
Im Zuge des Ausscheidens der Zeugin B… kam es durchaus zu Schriftverkehr mit dem Angeklagten, der Unstimmigkeiten erkennen lässt, auch betr. den Punkt, dass über die Mitnahme bzw. Bewertung der Akten vorbehaltlos hätte verhandelt werden können (waren nicht „einfach mitzunehmen“).
480
Der Zeuge B. W… gab an, dass er ab 01.06.2012 (bis 15.04.2016) anwaltlich in der Kanzlei des Angeklagten tätig gewesen sei. Bereits während des Studiums und des Referendariats sei er in der Kanzlei tätig gewesen.
481
Da die Kanzlei einen guten Ruf gehabt habe, sie ihm auch schon bekannt gewesen sei, habe er sich dort gemeldet und nachgefragt, ob dort eine Stelle frei sei. Zunächst habe es geheißen NEIN. Einige Monate später habe ihn aber der Angeklagte angerufen und geäußert, dass etwas geht. Es habe eine Art Vorstellungsgespräch stattgefunden (obwohl man sich bereits gekannt habe), im Rahmen dessen die Eckdaten durchgegangen worden seien. Es sei seine erste Stelle, sein Eintritt in das Arbeitsleben gewesen.
482
Es sei ein „Freier Mitarbeitervertrag“ geschlossen worden. Der Status sei bei seiner Einstellung kein Thema gewesen. Dr. S… habe gesagt, dies sei der übliche Vertrag, den auch die anderen Rechtsanwälte/innen hätten. Der Vertrag sei nicht ausgehandelt worden, von seiner Seite sei nichts dazu beigetragen worden. Es habe sich um das Angebot des Angeklagten gehandelt, dass er angenommen habe. Er habe sich insoweit (auch als Jurist) keine Gedanken gemacht, sei betreffend die Abgrenzungsfragen freie Mitarbeiterschaft – abhängige Beschäftigung unbedarft gewesen.
483
Aus heutiger Sicht würde er dies anders beurteilen, die Abgrenzungsfragen betr. freie Mitarbeiterschaft – abhängige Beschäftigung würden aber einen Graubereich darstellen.
484
Mit dem Zeugen wird der im Selbstleseverfahren „1“ I. eingeführte „Freie Mitarbeitervertrag“ nebst Zusatzvereinbarung, beides unterschrieben am 23.05.2012, nochmals durchgegangen.
485
Der Zeuge erklärt, dass er sich keine Gedanken darüber gemacht habe, dass der Vertrag aus zwei Teilen bestehe. Er habe sich eigentlich über den Inhalt gar keine Gedanken gemacht, etwa auch nicht darüber, wie sich das festgesetzte Jahreshonorar in Höhe von 27.600,- € zusammensetze bzw. kalkuliert sei. Das Jahreshonorar sei ein Angebot von Dr. S… gewesen, da sei nicht weiter drüber gesprochen worden.
486
Später habe er mal erfahren, dass Dr. S… für die Festsetzung des Jahreshonorars eine “Formel“ gehabt haben soll, genau wisse er deren Inhalt nicht mehr; es sei aber ungefähr so gewesen, dass der Umsatz des jeweiligen Anwaltes Ausgangspunkt gewesen sei, 50 % davon -10 % dem Jahreshonorar entsprochen hätten.
487
Da sein Umsatz eigentlich gut gewesen sei, sei sein Jahreshonorar – und dementsprechend die davon abrufbaren monatlichen Teilleistungen – von anfänglich 2.300,- € (2012) auf zuletzt 4.000,- € (ab etwa Mitte 2015) monatlich gestiegen. Es sei so gewesen, dass wenn es eine Zeit lang gut gelaufen sei, Dr. S… auf ihn zugekommen sei und entschieden habe, dass das Honorar erhöht werde. Es habe aber für ihn und seinem Kenntnisstand nach auch für die anderen in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen keine unmittelbare Beteiligung an Gewinn und Verlust gegeben.
488
Zu Beginn seiner Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen sei ihm eigentlich nicht viel zum Leben übrig geblieben: Zunächst habe er 2.300,- € (brutto) monatlich von dem vereinbarten Jahreshonorar abrufen können. Davon sei noch ca. 1/3, der Hauptposten, für Sozialversicherungsbeiträge weggegangen, ebenso Einkommenssteuer. Er habe am Anfang aber noch in dem Haus seiner Eltern mietfrei gewohnt, deshalb sei er mit den paar 100,- €, die übrig geblieben seien, zu Recht gekommen, sonst wäre es schon sehr eng geworden.
489
Er habe in der Kanzlei ein eigenes Büro kostenlos zur Verfügung gestellt bekommen, ebenso Fachliteratur, IT-Ausstattung und Kanzleimitarbeiter (Schreibkräfte, Rechtsanwaltsfachgehilfinnen), bezüglich derer er keine Weisungsbefugnis gehabt habe und hinsichtlich derer er keine Kosten bzw. Kostenanteile habe aufbringen müssen. Für die gesamte Kanzleiinfrastruktur habe er also keinen Kostenanteil tragen müssen, wisse auch nicht, in welcher Höhe (anteilig) insoweit Kosten entstanden seien, er wisse auch nicht, in welcher Höhe der Kanzlei Betriebskosten etwa für Miete, Nebenkostenabrechnungen, Strom, Wasser etc. entstanden seien. Die laufenden Akten seien größtenteils im Vorzimmer aufbewahrt worden. Dort seien auch die aktuellen Wiedervorlagen und Fristen kontrolliert, die Akten von den Sekretärinnen zuverlässig herausgesucht und ihm ins Büro gelegt worden. Die erledigten Akten seien in einem Archiv in den Kanzleiräumlichkeiten aufbewahrt worden. Vorübergehend habe er – wenn er abends zur Vorbereitung eines Termines oder am Wochenende mal zu Hause gearbeitet habe –, auch Akten mit nach Hause genommen.
490
Er habe kein Mitspracherecht hinsichtlich Anschaffungen von Betriebsmitteln, der Einstellung oder Kündigung von Personal (Rechtsanwaltsgehilfinnen, Buchhalterin, andere Rechtsanwälte) gehabt.
491
Er habe auch kein eigenes Personal beschäftigt, vielmehr sei etwa die Aktenanlage, Terminsvorbereitung, Fristenüberwachung, Kalenderführung, Schreibarbeiten etc. von den kanzleieigenen Sekretärinnen/Rechtsanwaltsgehilfinnen erledigt worden.
492
Jetzt sei er in den Fachgebieten allgemeines Zivilrecht, Versicherungs-, Arbeits- und Verkehrsrecht tätig. Während der Zeit seiner Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten habe er die Kurse für den Fachanwalt für Verkehrsrecht gemacht, die auch vom Angeklagten bzw. der Kanzlei Dr. S… & Kollegen bezahlt worden seien.
493
An weiteren Fortbildungen habe er in der Zeit seiner Tätigkeit für die Kanzlei Dr. S… & Kollegen nicht teilgenommen.
494
Er wisse nicht mehr genau wann, aber während der Zeit seiner Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S… sei von der Kanzlei nur mal ein Schulungswochenende in Freilassing organisiert und durchgeführt worden. Dort seien alle Kanzleiangehörigen zugegen gewesen. Die Kanzlei habe das Besprechungswochenende einschließlich Übernachtungen etc. für alle bezahlt.
495
Die Fallzuweisung sei in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen nach Ressort/Fachgebiet erfolgt; die Damen am Empfang, die eine Liste betreffend die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen und ihre Fachgebiete gehabt hätten, hätten die Kontakte entsprechend verteilt. Ganz zu Beginn seiner Tätigkeit seien ihm ein paar Akten auf den Tisch gelegt worden, damit er schon etwas zu tun habe, bis er neue Mandate zugewiesen bekäme.
496
Er habe in der Zeit seiner Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S… keine anderen Auftraggeber gehabt, habe aber schon im privaten Bekannten- und Freundeskreis Mandanten akquiriert.
497
Bei allen Mandaten – auch den privat akquirierten – sei dann aber eine Vollmacht im Kanzleinamen geschlossen, alle Mandate – auch den privat akquirierten – seien im Kanzleinamen bearbeitet und mit der Kanzlei abgerechnet worden.
498
Auf Vorhalt der Angaben des Angeklagten in seiner Erklärung gemäß § 163 a StPO vom 22.08. 2019, eingeführt im Selbstleseverfahren „1“ VII., er/W… habe während der Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen auch eine Tätigkeit als Landwirt ausgeübt, erklärt der Zeuge, dass dies nicht richtig sei. Sein Vater, der bereits vor 20 Jahren verstorben sei, sei Landwirt gewesen. Er habe 2007 1/4 der landwirtschaftlichen Freiflächen als Eigentum überschrieben bekommen, der Rest gehöre seiner Mutter. Seine Mutter habe auch bezüglich seines Eigentumsanteils ein Nießbrauchsrecht. Erst zum 01.01.2022 sei der Betrieb an ihn übergeben worden; der Betrieb habe allerdings keine Tiere etc. Er betreue lediglich ein 13 ha großes Waldstück, schlage dort gelegentlich selbst in seiner Freizeit Brennholz. Während der Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S… sei er nur einmal, als infolge eines Orkans am Rande dieses Waldstückes Bäume auf die Fahrbahn gefallen seien, gegangen und habe die Bäume entfernt. Sonst habe er sich unter der Woche in keinster Form als Landwirt betätigt.
499
Die Bearbeitung der Mandate habe er dann eigentlich eigenständig betrieben. Zu Beginn seiner Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S… habe der Angeklagte ihm schon taktische Hinweise gegeben. Primär mit Dr. S…, aber auch mit Kollegen, habe er interne Absprachen getroffen. Am Anfang habe es auch eine Art Einarbeitung gegeben. Dr. S… habe betreffend seine Schriftsätze Korrekturen vorgenommen, z.T. auch inhaltlicher Natur. Das habe er aber nur als Rat bzw. Begleitung verstanden, nicht als Weisung. Nach 2-3 Monaten sei diese Einarbeitungsphase beendet gewesen.
500
Auf Vorhalt der Aussage B…, er sei nach einigen Jahren in der Kanzleiküche eines abends vom Angeklagten mit einem „Ritterschlag“ und der Bemerkung versehen worden, dass er/W… jetzt ein richtiger Anwalt sei, erläuterte der Zeuge W…, dass es so einen Vorfall gegeben habe, er das aber nicht ernst genommen habe.
501
Konkrete Arbeitszeiten habe es nicht gegeben, auch keine Dokumentationspflicht betreffend die Arbeitszeit. Es habe aber geheißen, dass man so zwischen 08:00 Uhr bis 08:30 Uhr da sein solle, dann auch während der Kanzleikernzeiten bis 17:30 Uhr/18:00 Uhr. Da habe man sich dran gehalten. Die Zeit habe ohnehin selten gereicht, meist sei er länger da gewesen, weshalb die Anwesenheit auch nie Thema zwischen ihm und Dr. S… gewesen sei. Er wisse aber, dass dies zwischen dem Angeklagten und Anwaltskollegen, die sich nicht daran gehalten hätten, ein Streitpunkt gewesen sei. Die Anwesenheitsmoral sei auch im Rahmen von Kanzleibesprechungen immer wieder Thema gewesen in dem Sinne, dass in bestimmte Richtungen – die Namen der konkret angesprochenen Kollegen habe er heute nicht mehr in Erinnerung, die Kollegen H… und B…, die das mit der Anwesenheit sehr locker gesehen hätten, seien aber auf jeden Fall angesprochen worden – gefordert worden sei, dass man sich an die Kanzleizeiten halten solle.
502
Seine anwaltschaftliche Tätigkeit habe er unter der Woche eigentlich ausschließlich in den Kanzleiräumlichkeiten erledigt. Zur Vorbereitung eines Gerichtstermines oder, wenn er seine Arbeit unter der Woche nicht geschafft habe, habe er schon auch mal zu Hause gearbeitet. Er habe zur damaligen Zeit im Elternhaus gelebt und dort ein kleines Zimmer gehabt, in welchem er dann noch gearbeitet habe. In diesem Zimmer habe aber kein Kopierer, keine EDV-Anlage etc. gestanden; er habe dieses Zimmer auch nicht steuerlich abgesetzt oder dort Parteiverkehr gehabt.
503
Während seiner Tätigkeit bei dem Angeklagten in der Kanzlei Dr. S… habe er sich auch einen Laptop angeschafft, von dem aus er dann nach Feierabend oder am Wochenende mal von zu Hause aus gearbeitet habe.
504
Auf Vorhalt von Bl. 09195 – Bd. 09 „W… (Anlagespiegel zur Einkommensüberschussrechnung 2015) ergänzt der Zeuge, dass es zutreffend sein könne, dass er den Laptop erst am 26.06.2015 für 539,08 € gekauft habe. Zuvor habe er einen Laptop aus der Studienzeit genutzt. Auch den neuen Laptop habe er privat genutzt, nicht nur, wenn er nach Feierabend oder an Wochenenden für die Kanzlei Dr. S… noch etwas gemacht habe.
505
Die Frage, ob eine persönliche Leistungserbringungspflicht durch ihn bestanden habe, könne er eigentlich nicht beantworten, da sich nie die Frage gestellt habe, dass jemand anders seine Arbeit erledige.
506
Auch die Frage, ob er die Übernahme eines Mandates/Falles einfach habe ablehnen können, könne er nicht so richtig beantworten. Es habe zwar in seiner Zeit 2-3mal die Situation gegeben, dass er nach der Besprechung mit einem Mandanten das Mandat nicht weiter geführt habe. Er könne sich beispielsweise daran erinnern, dass ein Mandant zu ihm gesagt habe, er wolle dem Gegner nur schaden, und er daraufhin gesagt habe, dann übernehme ich das Mandat nicht. Das habe er auch nicht mit dem Angeklagten besprochen, es habe insoweit keinen Ärger gegeben.
507
Nach Beendigung eines Mandates sei die Rechnungsstellung über die Kanzlei an den Mandanten erfolgt. Er habe die Rechnungsstellung entsprechend den jeweils einschlägigen Abrechnungsziffern an das Vorzimmer verfügt. Die Rechnung sei auf Kanzleipapier mit Kanzleibriefkopf an die Mandanten geschrieben worden, die Zahlung auf ein Kanzleikonto erfolgt, zu dem er keinen Zugang gehabt habe.
508
Er habe, sofern dies in einem Mandat einmal im Räume gestanden habe, schon Ratenzahlungsvereinbarungen mit dem Mandanten getroffen. Das sei einmal mit Dr. S… geklärt worden, dass er das dürfe, dann habe er das selbst gemacht. Danach befragt, ob er eine Forderung gegen einen Mandanten auch habe erlassen können, gab der Zeuge W… an, dass er sich da mit Dr. S… abgestimmt hätte, ihm ein solcher Fall aber nicht erinnerlich sei.
509
Wenn er Urlaubstage genommen habe, sei die Honorarvergütung weitergelaufen. Er habe den Urlaub nur mit Dr. S… abgestimmt, aber keine Genehmigung eingeholt. Der Ausfall sei durch nachträgliche Mehrarbeit kompensiert worden. Auf Vorhalt, dass der Zusatzvereinbarung zu entnehmen sei, dass sich bis zu einer maximalen Jahresabwesenheit ohne Krankheit bis 28 Werktage die Honorarzahlung nicht verändere, könne er nur sagen, dass er in der Zeit seiner Tätigkeit für die Kanzlei Dr. S… gewiss nie 28 Tage urlaubsbedingt abwesend gewesen sei.
510
Im Krankheitsfall habe er grundsätzlich keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen müssen. Er habe nur am Empfang bzw. im Vorzimmer angerufen, dass eingetragene Termine abgesagt werden müssten bzw. einen Kollegen eingeschaltet. Er sei aber nicht oft krank gewesen, vielleicht mal 1-2 Tage im Jahr.
511
Er habe für seine Tätigkeit keine Werbung betrieben, alles sei ausschließlich über die Kanzlei oder Mundpropaganda gelaufen.
512
Im Außenverhältnis/der Branche sei er nicht als eigenständiger Rechtsanwalt aufgetreten, nur als Teil der Kanzlei.
513
Er selbst habe der Kanzlei Rechnungen gestellt, sowie USt/MWSt ausgewiesen; die Überweisung sei auf sein Konto erfolgt.
514
In seiner Zeit der Tätigkeit für die Kanzlei Dr. S… & Kollegen habe er sein Einkommen steuerrechtlich immer als solches aus selbstständiger Tätigkeit deklariert.
515
Je mehr Umsatz er (und auch andere Anwälte in der Kanzlei) gemacht hätten, desto mehr Argumente habe man für die Beanspruchung eines höheren Einkommens gehabt. Das habe dann aber der Angeklagte entschieden.
516
Mit dem Zeugen W… und den Verfahrensbeteiligten wurde beispielhaft die Rechnung vom 02.02.2015 für den Abrechnungszeitraum Januar 2015 – Bd. 09 „W…“ – Bl. 09066 f. – in Augenschein genommen. Die Rechnung besteht aus zwei Blättern:
517
Auf Blatt 1 befinden sich 2 Positionen: „Nettobetrag“: 3.652,- € und der „Mehrwertsteuerbetrag“. - 3.652,- € = Summe aus vereinbartem Honorar = 3.500,- € + RVG-Geldern, so Blatt 1 der Rechnung nicht zu entnehmen - Auf Blatt 2 befindet sich eine Aufstellung der Fahrtkosten und Abwesenheitsgelder nach RVG i.H.v. 152,- €.
518
Dies ist der Betrag, der der vom vereinbarten Jahreshonorar monatlich abrufbaren Teilleistung per Rechnung, zum damaligen Zeitpunkt 3.500,- €, hinzugerechnet wurde.
519
Der in Rechnung gestellte „Nettobetrag“ sei folglich in Abhängigkeit der Posten nach RVG somit von Monat zu Monat auf Blatt 1 der jeweiligen Rechnung unterschiedlich hoch ausgewiesen worden.
520
Von der Kanzlei Dr. S… seien die Rechtsanwaltskammerbeiträge und die Berufshaftpflichtbeiträge (im Rahmen einer Gruppenversicherung) übernommen worden, die restlichen Kosten/Versicherungen wie Kranken-, Pflegeversicherung (freiwillige gesetzliche Versicherung bei der Techniker Krankenkasse) etc. habe er selbst getragen.
521
2016 habe er dann das Vertragsverhältnis mit der Kanzlei Dr. S… gekündigt. Dies habe persönliche Gründe gehabt (er habe mit seiner jetzigen Frau eine Fernbeziehung geführt und habe damals eigentlich zu ihr nach München ziehen wollen). Diese Pläne hätten sich dann aber zerschlagen, d.h. seine jetzige Frau sei dann doch in den hiesigen Bezirk verzogen.
522
Da er in der Kanzlei Dr. S… bereits gekündigt hatte, sei er zunächst bis 2018 in die Kanzlei gmg (der Kollegen G…, M… und G…) gegangen und zwar als freier Mitarbeiter. Da habe er keinen schriftlichen Vertrag gehabt, seine Beschäftigung sei nur mündlich besprochen worden, es sei ähnlich gelaufen, wie in der Kanzlei Dr. S….
523
Die Kollegen G…, M… und G… seien Dr. S… nicht mehr „grün“ gewesen, was genau Gegenstand der Unstimmigkeiten gewesen sei, wisse er aber nicht. Bekannt sei ihm vom Hören-Sagen lediglich, dass Dr. S… nach Ausscheiden des Kollegen B… an dessen neuen Arbeitgeber „etwas Problematisches“ geschrieben habe; Details wisse er aber nicht mehr. Auch habe er irgendwie gehört, dass es betreffend den Kollegen H… und dessen Ausscheiden mit den Abrechnungen nicht gepasst habe; Details wisse er auch insoweit nicht.
524
Seit 2018 habe er mit dem Kollegen Jansen in Al. eine Bürogemeinschaft. Weitere Anwälte seien in der Bürogemeinschaft nicht tätig. Es sei eine Sekretärin in Vollzeit und eine weitere als geringfügig Beschäftigte angestellt. Seine anwaltschaftliche Tätigkeit sei jetzt nahezu unverändert im Vergleich zu derjenigen in der Kanzlei Dr. S… Allerdings müsse er sich in Absprache mit dem Kollegen J… jetzt um die Kalkulation, die Erstellung von Einnahme- und Ausgabelisten, aber auch um die Infrastruktur, d.h. das Suchen von Büroräumlichkeiten, die Anschaffung und Instandhaltung von Inventar, PC Anlage/EDV-System, angestellte Sekretärinnen, Equipment, Literatur etc. kümmern. Bei Aufbau der Bürogemeinschaft 2018 sei auch Einiges an Investitionen nötig gewesen; auch habe er jetzt immer das eigene Risiko, wie es läuft.
525
Beim Ausscheiden aus der Kanzlei Dr. S… & Kollegen habe es keine Konflikte gegeben, bereits vor seinem Ausscheiden habe er einige Mandate an Kollegen übergeben, er habe jedenfalls keine Akten mitgenommen, da er ja eigentlich nach München habe gehen wollen.
526
Beim Ausscheiden aus der Kanzlei habe Dr. S… ihm auch ein Zeugnis, datierend vom 15.04.2016 erstellt. Dieses (Gegenstand Bd. 09 „W…“ – Bl. 09006 f.) wird auszugsweise verlesen:
527
…. Herr W… arbeitet stets sehr ausdauernd und ist jederzeit äußerst belastbar, so dass er auch unter extremen Termindruck allen Aufgaben bestens gewachsen ist. Er zeigt stets ein Höchstmaß an Eigeninitiative und höchste Leistungsbereitschaft. Herr W… hat einen sicheren Blick für das Wesentliche und arbeitet jederzeit überaus planvoll, methodisch und sehr gründlich. Aus diesem Grund entspricht die Qualität seiner Arbeit immer unseren höchsten Ansprüchen.
528
Herr W… erledigt die ihm übertragenen Aufgaben stets zu unserer vollsten Zufriedenheit. Sein Verhalten gegenüber Vorgesetzten und Kollegen ist immer vorbildlich. ….
529
Dieses Zeugnis habe er im Entwurf dem Angeklagten vorgelegt; jeder Arbeitgeber sei doch froh, wenn er einen Entwurf bekomme. Er/W… seinerseits habe den Entwurf von einem Zeugnis des Kollegen H… übernommen. Was jetzt mit „Vorgesetzten“ genau gemeint gewesen sei, könne er heute nicht mehr sagen.
530
Vor seinem Ausscheiden aus der Kanzlei Dr. S…, zum Ende hin, sei schon mal mit dem Angeklagten das Thema Kanzleibeteiligung/-übernahme besprochen worden. Es habe aber keine konkreten Gespräche mit ihm gegeben, er habe das letztendlich auch deshalb nicht gewollt, weil er ja eigentlich seinen Lebensmittelpunkt räumlich habe nach München verlegen wollen.
531
Auf Vorhalt, ob ihm nach Ausscheiden aus der Kanzlei Dr. S… und Kollegen die Abänderung des Kanzleibriefkopfes Ende 2016 – Zusatz * „in freier Mitarbeit“ bei den in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälten/innen – aufgefallen sei, äußerte der Zeuge W…. Ja, er habe sich gedacht, dass Dr. S… wohl die Außenhaftung der Kanzlei klarer habe regeln wollen.
532
Auf die Frage der Staatsanwaltschaft, ob „Scheinselbstständigkeit“ während seiner Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S… Thema gewesen sei, äußerte der Zeuge, dass dies schon mal locker in der Runde unter den Kollegen besprochen worden sei. Wann das gewesen sei, und von wem, wisse er nicht mehr. Es sei dann aber mal gefallen, dass eine Prüfung der Rentenversicherung erfolgt und alles o.k. sei. Hinsichtlich des Umfanges bzw. des Gegenstands der Prüfung habe er allerdings keine Kenntnis gehabt, auch nicht nachträglich gewonnen.
533
Betreffend den Kollegen B… sei die Führung eines arbeitsgerichtlichen Prozesses gegen die Kanzlei Dr. S… mal Thema gewesen; das habe er aber erst später mitbekommen und Details wisse er auch nicht. Er wisse nur, dass auch die frühere Buchhalterin, Frau Z…, die zwischenzeitlich bereits verstorben sei, gegen die Kanzlei einen arbeitsgerichtlichen Prozess geführt habe.
534
B. W… hat in seiner Aussage zur Überzeugung der Kammer den Abschluss einer als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichneten Vereinbarung (nebst zum Teil widersprechender Zusatzvereinbarung auf einem zweiten Papier), das Abführen von Umsatzsteuer, das Fehlen der Verpflichtung, im Falle der Erkrankung eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen und Urlaub förmlich beantragen, sowie genehmigen lassen zu müssen, als Aspekte dargelegt, die gegen eine abhängige Beschäftigung sprechen.
535
Demgegenüber referierte er bezüglich der tatsächlich gelebten Verhältnisse seine feste Eingliederung in den Kanzleibetrieb, wo er ein eigenes, voll ausgestattetes Büro hatte, keine wesentlichen eigenen Betriebsmittel einbrachte. Er nahm die Arbeitsleistung des in der Kanzlei angestellten, geschulten Personals in Anspruch, welches u.a. Akten anlegte, aktuelle Wiedervorlagen und Fristen kontrollierte, aber auch Besprechungstermine ausmachte, den Kanzleikalender führte und Schreibarbeiten erledigte; eigenes Personal beschäftigte der Zeuge W… nicht, auch hatte er keine eigene Betriebsstätte. Für die Zurverfügungstellung und Nutzung der Kanzleiinfrastruktur (Büroraum, Drucker, Kopierer, EDV-Anlage einschließlich Wartung, Porto und Papier, Strom, Wasser, Reparaturen, Neuanschaffungen etc.) einschließlich Personal wurde dem Zeugen kein Kostenanteil in Rechnung gestellt, er kannte nicht einmal die Kostenzusammensetzung. Ein Mitspracherecht oder irgendeinen Einfluss auf Beschaffung von Büromaterialien oder Personalentscheidungen hatte der Zeuge nicht.
536
Auch er erbrachte keine projektbezogenen Tätigkeiten und erhielt ein vereinbartes Pauschalhonorar unabhängig von Gewinn und Verlust, erwirtschafteten Umsätzen oder Abwesenheitszeiten durch Krankheit und Urlaub.
537
Stundenaufzeichnungen oder Stechuhren gab es nicht, es hieß aber, dass man zwischen 08:00 Uhr/08:30 Uhr da sein sollte und auch während der Kanzleikernzeiten bis 17:30 Uhr/18:00 Uhr. Da seine Anwesenheitsmoral gut war, führte dies nie zu einer weiteren Thematisierung zwischen ihm und dem Angeklagten. Er verrichtete seine Arbeit die Woche über ausschließlich in seinem Büro in der Kanzlei, nahm lediglich nach Feierabend oder am Wochenende liegengebliebene Arbeit oder etwa zur Vorbereitung auf einen Gerichtstermin erforderliche Akten mal mit, im Übrigen wurden die Akten ausschließlich in der Kanzlei aufbewahrt. Zu Beginn seiner Tätigkeit traf er mit dem Angeklagten, aber auch mit Kollegen, interne Absprachen zur Abfassung von Schriftsätzen, befand sich etwa 2-3 Monate in eine Einarbeitungsphase, in der der Angeklagte betreffend seine Schriftsätze Korrekturen, auch inhaltlicher Natur, vornahm; danach war er in der Mandatsbearbeitung frei.
538
Eigene aktive Mandate hatte er nicht, ebenso keine anderen Auftraggeber und Einnahmequellen. Zu Beginn seiner Tätigkeit blieb ihm in der Kanzlei des Angeklagten „nicht viel“; ohne den Umstand, dass er in seinem Elternhaus mietfrei wohnen konnte, wäre es sehr eng geworden.
539
Die Kontakte/Mandate bekam er über den Empfang nach Fachgebiet zugeteilt. Die Mandatsverhältnisse kamen ausschließlich mit der Kanzlei zustande. Die Rechnungsstellung an die Mandanten erfolgte über die Kanzlei/Rechnung mit Kanzleibriefkopf, die Zahlungen erfolgten auf Kanzleikonten, hinsichtlich derer der Zeuge keinen Zugriff hatte. Ratenzahlungen und Stundungen konnte er Mandanten einräumen, bei der Frage des Erlasses einer Forderung hätte er mit dem Angeklagten Rücksprache halten müssen.
540
Einblicke in die Gesamtkalkulation der Kanzlei hatte er nicht. Er hatte keine eigene Visitenkarte nur mit seinem Namen, betrieb keine eigene Werbung, hatte keine eigenen Angestellten oder Geschäftsbücher, trat im Außenverhältnis nicht als eigenständiger Rechtsanwalt, sondern nur als Teil der Kanzlei auf.
541
Nach dem Ausscheiden aus der Kanzlei des Angeklagten setzte er seine anwaltschaftliche Tätigkeit mit einem Kollegen in einer Bürogemeinschaft fort. Inhaltlich änderte sich seine Arbeit im Vergleich zu derjenigen in der Kanzlei des Angeklagten nahezu nicht, allerdings musste er sich jetzt um die Kalkulation, die Erstellung von Einnahme- und Ausgabelisten, aber auch um die Infrastruktur der Kanzlei, d.h. das Suchen von Büroräumlichkeiten, die Anschaffung und Instandhaltung von Inventar, PC Anlage/EDV-System, angestellten Sekretärinnen, Equipment, Literatur etc. kümmern und tätigte auch Einiges an Investitionen, unterliegt dem eigenen Risiko, wie es läuft.
a) 3.9. Zeugin Dr. St. M…
542
Die Zeugin Dr. St. M…, die vom 01.03.2013 bis 30.06.2018 in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen als Rechtsanwältin tätig war, schilderte zunächst, dass das Anbahnungsgespräch mit dem Angeklagten geführt worden sei. Dabei sei nicht Thema gewesen, ob sie auch als Arbeitnehmerin in der Kanzlei tätig sein könne. Es sei vielmehr so gewesen, dass dies für den Angeklagten gar nicht in Frage gekommen sei, da alle Rechtsanwälte/innen als freie Mitarbeiter tätig gewesen seien. Das Model der freien Mitarbeiterschaft habe der Angeklagte vorgegeben. Für sie sei das letztlich aber auch o.k. gewesen, da sie abwechselnd als freie Mitarbeiterin und Arbeitnehmerin in Kanzleien tätig gewesen sei. Soweit sie sich erinnern könne, sei ihr der „Freie Mitarbeitervertrag“ vom Angeklagten dann nach dem Gespräch zugeschickt und von ihr unterschrieben worden, ebenso eine Zusatzvereinbarung; in letzterer habe sie in Ziffer 4. hinsichtlich der Anzahl der Tage, bezüglich derer bei Abwesenheit die Honorarzahlung unverändert fortgesetzt wird, eine Änderung vorgenommen (wie mit allen Verfahrensbeteiligten in Augenschein genommen von „9“ auf „18“ Halbtage).
543
Mit der Zeugin und den Verfahrensbeteiligten wurde der Freie Mitarbeitervertrag, der im Selbstleseverfahrens „1“ I. eingeführt wurde, nebst Zusatzvereinbarung vom 08.02.2013 durchgegangen und einzelne Passagen besprochen, etwa Ziffer 1. der Zusatzvereinbarung (Die Beschäftigung eigenen Personals durch den freien Mitarbeiter und die Bearbeitung von Mandanten außerhalb der Kanzlei bedürfen der Zustimmung von Dr. S…). Sie äußerte hierzu, dass sie sich an diesen Inhalt nicht mehr erinnern könne, aber auch niemanden habe beschäftigen wollen. Sie habe sich ja des Kanzleipersonals bedienen können.
544
Es sei so gewesen, wenn etwa Zuteilungsfragen betreffend Büro, Vorzimmer, Sekretärinnen im Raum gestanden seien, dass die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen zwar Wünsche hätten äußern können, ebenso bei der Eingliederung neuer juristischer Kollegen, eine Mitsprache der Rechtsanwälte/innen habe aber nicht bestanden, die Entscheidung habe der Angeklagte getroffen.
545
Sie habe in der Kanzlei des Angeklagten dann ein eigenes Büro gehabt, ohne dass dafür Kosten abgerechnet worden seien; Arbeitsmittel, Bücher, Büromaterial, IT-Ausstattung etc., d.h. die gesamte Kanzleiinfrastruktur, seien ebenfalls kostenfrei gestellt worden; sie habe sich aber auch selbst einige Bücher angeschafft. Kostenfrei habe ihr auch das Kanzleipersonal zur Verfügung gestanden. Zu Hause habe sie kein eigenes Büro gehabt, natürlich – wie auch vor der Beschäftigung in der Kanzlei – einen PC; auch habe sie gelegentlich zu Hause Diktate bzw. Schriftsätze gefertigt.
546
Zum Jahresende seien die Gesamtkosten für Miete, Kanzleiinfrastruktur etc., welche von der Kanzlei bezahlt worden seien, zwar für die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen einsehbar gewesen (es sei jährlich ein Kostenausdruck erstellt worden). Es sei aber so gewesen, dass die auf den/die jeweilige/n Rechtsanwalt/in entfallenden Einzelkosten nicht ausgewiesen worden seien, keine entsprechende Kalkulation einsehbar gewesen, geschweigedenn besprochen worden sei. Für die Rechtsanwälte/innen sei es nicht möglich gewesen, Einfluss auf die Kostengestaltung zu nehmen. Wenn etwa etwas kaputt gewesen sei (z.B. ein Bürostuhl), sei dies eben gemeldet und von der Kanzlei neu beschafft worden. In den monatlichen Kanzleibesprechungen (bei denen grundsätzlich alle Rechtsanwälte/innen anwesend gewesen seien) sei ab und an besprochen worden, wie viel Umsatz von der Kanzlei erwirtschaftet werden müsse, damit die Kosten tragbar blieben; dabei seien auch Umsatzlisten der Anwälte vorgelegt worden.
547
Die Akten, welche sie bearbeitet habe, seien in der Kanzlei aufbewahrt worden, die abgeschlossenen im Archiv, die anderen, welche noch in Bearbeitung gewesen seien, grundsätzlich in den Vorzimmern (die Fachgebiete hatten jeweils eigene Vorzimmer).
548
Sie habe in der Kanzlei Teilzeit gearbeitet. Es sei, wie Ziffer 7. des „Freien Mitarbeitervertrages“ zu entnehmen, ein Monatshonorar von 1.700,- € zuzüglich Mehrwertsteuer vereinbart gewesen; es seien 15 Wochenstunden zugrunde gelegt worden, die nach Möglichkeit an 3 Halbtagen hätten geleistet werden sollen. Es habe aber bei der Arbeitszeiteinteilung – die sie auch im Hinblick auf die Bedürfnisse ihrer Kinder flexibel gestaltet habe – mit dem Angeklagten nie Schwierigkeiten gegeben, es habe die Möglichkeit bestanden, im Einzelfall zeitliche Verschiebungen vorzunehmen, es habe nie exakte Anfangs- oder Endzeiten gegeben, An- und Abwesenheiten seien allerdings mit der Kanzlei zu koordinieren gewesen.
549
Soweit es in der Zusatzvereinbarung Ziffer 4. heiße, die Honorarzahlung verändere sich nicht bis zu einer maximalen Jahresabwesenheit in Krankheit und sonstiger Abwesenheit bis zu 18 Halbtage, habe keine Dokumentationspflicht bestanden; im Falle der Krankheit habe sie am Empfang angerufen und ihre Krankheit mitgeteilt; glaublich sei sie aber nie länger als 1-2 Tage krank gewesen; eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung habe sie nicht vorlegen müssen. Urlaubstage seien mit Kollegen des gleichen Fachgebietes abgestimmt (sie habe Familienrecht gemacht und sich daher mit der Kollegin B… (geb. H…) und in einen Kanzleikalender eingetragen worden. Tatsächliche Abwesenheiten hätten keine Auswirkung auf die durch die Kanzlei geleistete Monatspauschale gehabt.
550
Mit dem Angeklagten sei nie besprochen worden, ob und ggf. in welchem Umfang Honorarzahlungen verändert worden wären, wenn man – hypothetisch betrachtet – über Tage nicht gekommen wäre.
551
Sie sei in keinster Weise am Gewinn oder Verlust der Kanzlei beteiligt gewesen, habe auch kein unternehmerisches Risiko getragen.
552
Eigentlich habe sie den Umsatz, den sie nach kanzleiinternen Überlegungen habe erreichen müssen, immer erreicht, sei aber nicht maßgeblich darüber gekommen, weshalb sie auch nie während ihrer Tätigkeit in die Kanzlei Dr. S… & Kollegen mehr Honorar beansprucht habe.
553
Zu ihren Mandaten sei sie wie folgt gekommen:
554
Eingehende Kontakte seien vom Empfang nach Rechtsgebieten den/r jeweiligen Rechtsanwalt/in zugewiesen worden, d.h. entweder sei es direkt zum Durchstellen des Telefonates an den jeweiligen Fachanwalt gekommen oder es sei ein Termin für den jeweiligen Fachanwalt vereinbart und eingetragen worden. Von den Damen am Empfang sei die Zuteilung erfolgt; Kriterium der Verteilung sei z.B. die Frage der An- und Abwesenheit des jeweiligen Fachanwaltes gewesen. Ihr seien aber die Vorgabekriterien für die Verteilung nicht näher bekannt, sie habe der Kanzlei ihre Arbeitskraft zur Verfügung gestellt. Wenn sie Mandanten bereits persönlich gekannt habe oder empfohlen worden sei, seien einige Fälle auch direkt zu ihr gelang.
555
Bereits bei Eintritt in die Kanzlei Dr. S… & Kollegen habe sie den Fachanwalt für Familienrecht gehabt, während ihrer Kanzleizeit noch den für Medizinrecht gemacht, wobei ihr die Vorgaben nach § 5 FAO, wie ihr von der Verteidigung vorgehalten, bekannt seien.
556
Die über den Empfang vermittelten Kontakte seien dann irgendwann zu ihr gekommen; es sei eine Vollmacht – Briefkopf der Kanzlei „Dr. S… & Kollegen“ (die Kollegen seien aufgelistet gewesen) – unterschrieben/rausgeschickt worden, womit das Mandatsverhältnis ihrer Ansicht nach mit der Kanzlei zustande gekommen sei.
557
Innerhalb ihrer anwaltschaftlichen Tätigkeit, der Beratung der Mandanten, der Verfassung von Schriftsätzen etc. habe sie dann weitgehend selbstständig gearbeitet, Dr. S… habe sich nur ab und an „eingemischt“, bis zuletzt.
558
Sie habe das so gesehen, dass sie ihre Arbeitskraft für die Kanzlei erbracht, für Dr. S… eingesetzt habe.
559
In den monatlichen Kanzleibesprechungen seien zudem besondere oder fragliche Fälle thematisiert worden.
560
Ihr sei auch nicht erinnerlich, dass vom Angeklagten bestimmte Verhaltensregeln ausgegeben worden seien, wie beispielsweise mit Querulanten oder zahlungsschwachen Mandanten umzugehen sei. Zur Frage, ob es ihr etwa möglich gewesen sei – ggf. mit Nennung eines besonderen Grundes oder einfach so – ein Mandat abzulehnen, könne sie nur sagen, dass sie nie ein Mandat abgelehnt habe.
561
Die Rechnungen an die Mandanten seien ebenfalls mit einem Briefkopf der Kanzlei „Dr. S… & Kollegen (die Kollegen seien aufgelistet gewesen)“ erstellt und von dem/r für das Mandat zuständigen Rechtsanwalt/in unterschrieben worden. Auf der jeweiligen Rechnung sei die Steuernummer der Kanzlei angegeben gewesen; die Zahlungen seien auf eines der Kanzleikonten erfolgt, zu dem sie keinen Zugang gehabt habe.
562
Die Rechnungsbegleichung sei dann durch das Vorzimmer bzw. die Buchhaltung überwacht worden; sofern Mandanten Ratenzahlung wünschten und diese vereinbart worden sei, habe sie dies in ihren Fällen entschieden.
563
In Fällen, in denen Mandanten die Rechnungen mal nicht bezahlt hätten – sie habe heute an konkrete Fälle keine Erinnerung mehr, dies sei aber schon vorgekommen –, sei der Ausfall nicht auf sie zurückgefallen, sie habe immer monatlich die vereinbarte Vergütung bekommen.
564
Sie selbst habe an den Angeklagten monatliche Rechnungen gestellt, wobei die Höhe der monatlichen Rechnung auf der Vereinbarung basiert habe. Die Rechnungen habe sie selbst geschrieben. Das monatliche Honorar sei – wie bereits erwähnt – ein pauschales gewesen. Dazu seien noch Fahrtkosten und Abwesenheitspauschalen bei der Wahrnehmung geschäftlicher Termine gemäß RVG gekommen, ebenso Umsatzsteuer.
565
Mit der Zeugin Dr. M… und den Verfahrensbeteiligten wurde exemplarisch die Rechnung vom 06.02.2015 für Januar 2015 – Bd. 02 „Dr. M… – Bl. 02048 ff. – in Augenschein genommen. Die Rechnung besteht aus zwei Blättern:
Blatt 1 enthält die Posten „Honorar gemäß Vereinbarung“: 2.643,60 € und „MWSt“, - 2.643,60 € = Summe aus vereinbartem Honorar = 2.500,- € + RVG-Geldern, so Blatt 1 der Rechnung nicht zu entnehmen - Blatt 2 die Posten nach RVG 143,60 €.
566
Das in Rechnung gestellte „Honorar gemäß Vereinbarung“ sei in Abhängigkeit der Posten nach RVG somit von Monat zu Monat auf Blatt 1 der jeweiligen Rechnung unterschiedlich hoch ausgewiesen worden.
567
Die Vermögensschadenshaftpflichtversicherung (Berufshaftpflicht) sei von Dr. S… bezahlt worden, es habe sich um eine Gruppenversicherung gehandelt.
568
Die Beiträge zur Rechtsanwaltskammer habe sie selbst bezahlt, zumindest zuletzt, ebenso den Beitrag zur Versorgungskammer (Rentenversicherung). Krankenversichert sei sie freiwillig bei der KHK, einschließlich Pflegeversicherung, gewesen.
569
Sie habe weder eine Arbeitslosen- noch eine Unfallversicherung gehabt.
570
Das Thema „Scheinselbstständigkeit“ – so die Zeugin Dr. M… weiter – sei nie im Detail besprochen worden. Sie könne sich heute auch nicht mehr erinnern – auch nicht nach Vorhalt ihrer Aussage beim Zoll, der Angeklagte habe irgendwann einmal gemeint, dass er vom Finanzamt geprüft worden sei und dies beanstandungsfrei gelaufen wäre –, ob sie mit dem Angeklagten selbst mal über Scheinselbstständigkeit gesprochen habe, oder sie „eine solche Info“ von dritter Seite gehabt hätte.
571
Über ein Statusfeststellungsverfahren jedenfalls habe sie weder mit dem Angeklagten noch mit anderen Mitarbeitern dezidiert gesprochen.
572
Sie selbst habe sich während der Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen zwar als freie Mitarbeiterin gefühlt, das Thema „Scheinselbstständigkeit“ sei allerdings aus ihrer Sicht ein kritisches Thema gewesen, unter den Kollegen immer mal wieder als „Nebengeräusch“ aufgetaucht. Deshalb wäre es ihr recht gewesen, wenn eine Statusprüfung durch die Deutsche Rentenversicherung durchgeführt worden wäre.
573
Aus der Kanzlei Dr. S… & Kollegen sei sie zum Ende Juni 2018 ausgeschieden, da der Angeklagte im Hinblick auf sein Alter „sich habe verkleinern wollen“. Sie habe die laufenden Mandate mitgenommen; die nach RVG bereits angefallenen Kosten habe sie der Kanzlei erstattet, im Nachgang dann den Mandanten in Rechnung gestellt. Sie habe auch 1-2 „Dauerbrenner“, bezüglich derer aktuell nichts gelaufen sei, mitgenommen.
574
Nach ihrem Ausscheiden habe es in einer „Kanzleisache“ noch einen Haftungsfall gegeben. Die Gegenseite habe sie als Einzelanwalt angesehen; das sei aber nicht richtig gewesen, da das Mandatsverhältnis mit der Kanzlei Dr. S… & Kollegen zustande gekommen und auch diese daher betr. den Haftungsfall Ansprechpartner gewesen sei.
575
Weiter berichtete die Zeugin Dr. St. M… auf Nachfrage, dass sie vor ihrer Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten in Schrobenhausen in der Anwaltskanzlei Dr. Eikam tätig gewesen sei. Dort sei sie Arbeitnehmerin gewesen.
576
Der Unterschied zu ihrer Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen habe nur darin bestanden, dass sie in der Kanzlei Dr. E… für gewünschten Urlaub einen Urlaubsantrag habe stellen müssen und am PC auf Vertrauensbasis eine Zeiterfassung erfolgt sei.
577
Im Übrigen sei betreffend ihre Tätigkeit, also den Inhalt ihrer Tätigkeit in Form der Beratung von Mandanten und Bearbeitung von Mandaten kein Unterschied zu ihrer Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen für sie selbst feststellbar gewesen.
578
Damit hat die Zeugin Dr. St. M… für die Kammer in der Gesamtschau zwar dargelegt, dass eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung (nebst Zusatzvereinbarung als zweitem Bestandteil auf einem zweiten Blatt mit zum Teil wieder einschränkendem Inhalt) mit der Kanzlei des Angeklagten geschlossen wurde. Für freie Mitarbeiter spricht der dargelegte Umstand, dass sie Umsatzsteuer abgeführt hat. Auch die inhaltliche Gestaltung ihrer Arbeit beschreibt sie weitgehend als frei. Sie unterlag keiner Zeiterfassung, musste bei Krankheit keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen und Urlaubstage nur mit Kollegen des gleichen Fachgebietes abstimmen.
579
Demgegenüber schildert sie jedoch zunächst, dass bzgl. der rechtlichen Ausgestaltung ihrer Beschäftigung in der Kanzlei keine Wahlmöglichkeit bestand, vielmehr der Angeklagte das „Modell der freien Mitarbeit“ vorgab, ebenso die schriftliche Vereinbarung bereits vorformuliert vorlegte, und betreffend die tatsächlich gelebten Verhältnisse v. a. hinsichtlich der Aspekte Zeit und Ort Vorgaben des Angeklagten bestanden, An- und Abwesenheit mit der Kanzlei zu koordinieren waren (im Einzelfall konnte sie aber zeitliche Verschiebungen vornehmen), eine Integration in den Kanzleibetrieb bestand, indem ihr auch ein voll ausgestattetes eigenes Büro, sowie geschultes Personal zur Verfügung stand, ohne dass sie dafür anteilig Kosten hätte erbringen müssen. Sie trug kein unternehmerisches Risiko, wurde auch nicht eigenständig unternehmerisch tätig. Einflussmöglichkeiten auf Kanzleiabläufe fehlten, ebenso Gestaltungsmöglichkeiten betreffend die kanzleiinterne Infrastruktur oder die grundlegende Art und Weise der Mandantenakquisitation. Sie war der Ansicht, ihre Arbeitskraft für Dr. S… eingesetzt zu haben. Sie erhielt das vereinbarte Honorar unabhängig von Verlust und Gewinn, erwirtschaftetem Umsatz, An- und Abwesenheiten.
580
In sprachlicher Hinsicht hat die Zeugin – Volljuristin – Begrifflichkeiten wie Arbeitskraft, die sie für den Angeklagten, für dessen Kanzlei erbracht hat, verwendet, Begrifflichkeiten, die mit freier Mitarbeiterschaft schwer vereinbar sind.
581
Auch hat sie geschildert, zwar nicht mit dem Angeklagten selbst das Thema „Scheinselbstständigkeit“ besprochen zu haben, dass aber dieses Thema als „Nebengeräusch“ unter den Kollegen sehr wohl virulent war und es ihr recht gewesen wäre, wenn eine Statusprüfung durch die DRV erfolgt wäre. Betreffend diesen Punkt hat die Zeugin sich sichtlich schwer getan, überhaupt eine Äußerung abzugeben; die Kammer hatte den Eindruck, dass sie sich hier sehr schnell und nicht immer überzeugend auf Erinnerungslücken berief.
582
An. D… hat ihre anwaltschaftliche Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten am 16.09.2013 begonnen. Ausgeschieden ist sie Ende November 2016.
583
Sie schilderte, dass sie nach dem Examen auf Jobsuche gewesen sei und über Dr. St. M… erfahren habe, dass in der Kanzlei eine Stelle frei werde. Glaublich an dem Donnerstag vor ihrem Tätigkeitsbeginn habe sie ein Telefonat mit Dr. S… geführt, sich am Freitag mit ihm getroffen und dann bereits ab Montag in der Kanzlei gearbeitet.
584
Sie habe am 16.09.2013 mit dem Angeklagten eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung geschlossen, am gleichen Tag auch eine Zusatzvereinbarung zu diesem Vertrag. Vertrag und Zusatzvereinbarung, welche Gegenstand des Selbstleseverfahrens „1“ I. und des Bd. 10 „D…“ – Bl. 10165-10167 sind, werden verlesen.
585
Die Zeugin äußert, dass der Vertragsinhalt ebenso wie der Inhalt der Zusatzvereinbarung von Dr. S… vorgegeben gewesen sei. Dieser habe geäußert, dass der Vertrag so wie bei Rechtsanwältin H… (jetzige B…) sei. Das Honorar sei nicht ausgehandelt worden. Sie sei Anfängerin gewesen, habe es akzeptiert. Die Zusammensetzung bzw. Berechnung der Höhe des Jahreshonorar von 30.000,- € sei ihr nicht erklärt worden.
586
Als sie angefangen habe, habe sie ein eigenes Büro unentgeltlich zur Verfügung gestellt bekommen. Sie habe keine eigenen Betriebsmittel eingebracht, habe Arbeitsmittel, EDV, Bücher usw. von der Kanzlei gestellt bekommen. Jeder Anwalt – auch sie – sei einem Vorzimmer mit Sekretärinnen zugeordnet gewesen. Das Personal sei ebenso von der Anwaltskanzlei bezahlt worden wie die Kosten für Miete, Nebenkosten, die kanzleiinterne Infrastruktur, Wartungsarbeiten etc.. Die Sekretärinnen/Rechtsanwaltsgehilfinnen der Kanzlei hätten sich neben den Schreibarbeiten um die gesamte Logistik, Aktenanlage usw., Termine, Fristenüberwachung etc. gekümmert. Die Akten seien entweder im kanzleieigenen Archiv (beendete Mandate) oder in den verschiedenen Vorzimmern (laufende Mandate) aufbewahrt worden.
587
Zu Hause habe sie kein eigenes Büro gehabt, nirgends anders gearbeitet, als für den Angeklagten und in den Kanzleiräumlichkeiten.
588
Als sie bei Dr. S… angefangen habe, sei dieser im Vorstand des Haus- und Grundbesitzervereines gewesen. Darüber sei sie auch in den Verein gekommen, weil für Dr. S… klar gewesen sei, dass sie da mitmache. Es habe ein Beratervertrag bestanden. Dr. S… habe geäußert, dass sie das mitmachen solle, da sie ja ohnehin Mietrecht mache. Das habe sie dann auch getan, die Abrechnung (Jahrespauschale in Höhe von ca. 1.000,- €) sei direkt an die Kanzlei gegangen.
589
Im Übrigen habe sie in der Kanzlei das Fachgebiet „Mietrecht” belegt, zu Beginn auch allgemeine Zivilsachen („Kleinscheiß“ wie TelekomMandate) gemacht.
590
Anfangs habe sie alle Schriftsätze dem Angeklagten vorgelegt und mit ihm durchgesprochen. Er habe ihr in einer Art Einarbeitungsphase zudem beigebracht, wie Mandatengespräche, Gerichtstermine und Ähnliches ablaufen sollten, auch wie Schriftsätze zu verfassen seien. Da habe er dann auch Korrekturen durchgeführt. Die Einarbeitungsphase habe einige Monate gedauert, dann habe sie Schriftsätze vorlegen dürfen, aber nicht mehr müssen. Er habe sich noch eingemischt, wenn sie etwas nicht gewusst habe, im Übrigen sei ihre Arbeit inhaltlich freier geworden.
591
An die Mandate sei sie über den Empfang, die Vorzimmer gekommen.
592
Da hätten Menschen angerufen, ihre Probleme geschildert. Empfang oder Sekretariat habe dann die Kontakte nach Fachgebieten verteilt. Für Mietsachen sei sie in der Kanzlei allein zuständig gewesen. Wie die Verteilung betreffend allgemeine Zivilsachen oder nach welchem Schlüssel erfolgt sei, wisse sie nicht. Die kleineren, allgemeinen Zivilsachen habe am Anfang immer „die/der Neue“ machen müssen.
593
Die Frage, ob eine Verpflichtung bestanden habe, angebotene Aufträge/Mandate anzunehmen oder die Möglichkeit, sie abzulehnen, könne sie eigentlich nicht beantworten. Sie sei ja in der Lehrzeit gewesen und froh um jeden Fall. Die Möglichkeit, ihre Arbeit an andere Anwälte zu delegieren, habe nicht bestanden, sie gehe vielmehr davon aus, eine persönliche Leistungserbringungspflicht gehabt zu haben.
594
Das Mandatsverhältnis sei mit der Kanzlei zustande gekommen, die Mandate seien ausschließlich über die Kanzlei gelaufen, sie habe nie persönlich Rechnungen gestellt. Auf der jeweiligen Vollmacht sei der Kanzleikopf gewesen, unterschrieben habe sie. Die Rechnungen an die Mandanten seien ausschließlich mit Briefkopf der Kanzlei auf Kanzleikonten, zu denen sie keinen Zugang gehabt habe, gegangen. Sie könne sich nicht erinnern, Ratenzahlungen oder Stundungen gegenüber einzelnen Mandanten gewährt zu haben, bei Ausfall einer Rechnung sei die Forderungseintreibung über die Kanzlei erfolgt.
595
Nach außen sei sie persönlich nur über die Kanzlei aufgetreten, nicht eigenständig. Sie habe auch keine eigene Visitenkarte gehabt, nur eine solche mit Kanzleikopf und ihrem Namen, keine eigene Werbung geschaltet, keine eigenen Firmenbriefbögen oder Geschäftsbücher gehabt, ebenso wenig eigene Angestellte.
596
Der Briefkopf der Kanzlei sei erst kurz vor ihrem Ausscheiden 2016 dahingehend geändert worden, dass die in der Kanzlei Dr. S… tätigen Kollegen jeweils mit einem * versehen worden seien und der Zusatz „in freier Mitarbeit“ hinzugekommen sei, an den tatsächlich gelebten Verhältnissen in der Kanzlei, den Kanzleiabläufen, habe sich aber nichts geändert.
597
Andere Auftraggeber als den Angeklagten habe sie nicht gehabt. Sie habe keine eigene Mandantenakquisitation betrieben.
598
In zeitlicher Hinsicht habe es keinen Befehl des Angeklagten gegeben, zu einer bestimmten Zeit anwesend zu sein, auch keine Stechuhr. Ebenso sei es aber auch völlig klar gewesen, dass man während des Kanzleibetriebes vor Ort hätte sein müssen.
599
Dies sei auch in den etwa monatlich stattfindenden Kanzleibesprechungen immer wieder Thema gewesen. Es habe schon Stress gegeben, dass einige Anwälte/innen zu wenig da seien. Dr. Sta. habe die Kollegen (v.a. B…, V… und H…, jetzige B…) dann auch angesprochen, dass sie früher kommen sollten, dass sie nicht irgendwann kommen könnten, wann sie wollten. Da sie persönlich aber eigentlich immer von 08:00 Uhr/08:30 Uhr bis 18:00 Uhr/19:00 Uhr da gewesen sei, habe sie sich davon gar nicht angesprochen gefühlt.
600
Im Falle ihrer Erkrankung – sie sei in der fraglichen Zeit aber ihrer Erinnerung nach nicht oft krank gewesen, einmal 1 Woche und dann noch insgesamt 2-3 Tage – habe sie sich am Empfang krank gemeldet. Sie habe keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt. Es habe ihrer Erinnerung nach keine Vertretungsregelung gegeben, da sie trotz ihrer Erkrankung Gerichtstermine wahrgenommen habe; die Mandantengespräche und -termine seien halt verlegt worden.
601
Urlaub habe sie schon mit Dr. S… abgesprochen. Sie habe etwa geäußert, dass sie von da bis da weg sei, gefragt, ob das passt. Das sei dann in den Terminkalender eingetragen worden. Es sei richtig, dass sie eine bestimmte Anzahl von Abwesenheitstagen laut Zusatzvereinbarung gehabt habe, die habe sie auch ausgeschöpft.
602
Zum jeweiligen Monatsende habe sie – so die Zeugin D… weiter – immer eine Rechnung an die Kanzlei gestellt. Aus dem Jahresfixum, welches im Vertrag vereinbart gewesen sei, : 12 habe sich ihr fester monatlicher Anspruch ergeben.
603
Am Anfang sei das weniger gewesen. Dann habe sie, wenn sie jeweils über eine längere Zeit einen guten Umsatz gehabt habe, durch den Angeklagten eine Erhöhung erlangt; das sei in 500,- € – Schritten erfolgt. Zuletzt habe sie im Jahr 2016 bis zu ihrem Ausscheiden 4.000,- € monatlich per Rechnung abgerufen.
604
Die Vergütung sei nie reduziert worden, weder bei Krankheit und Urlaub, noch aus sonstigen Gründen wie etwa mal einem geringeren monatlichen Umsatz, sie sei weder an Verlust noch an Gewinn unmittelbar beteiligt gewesen.
605
Zu Beginn ihrer Tätigkeit habe sie von Kollegen insoweit ein Muster bekommen. Das habe sie übernommen und dann halt ihre Daten entsprechend monatlich eingefügt. Mit der Zeugin und allen Verfahrensbeteiligten wird aus Bd. 10 „D…“ – Bl. 10065 f. exemplarisch die von der Zeugin an die Kanzlei gestellte Rechnung vom 01.04.2016 in Augenschein genommen:
606
Die Rechnung besteht aus 2 Blättern:
Auf Blatt 1 befinden sich 2 Positionen: „Honorar für freie Mitarbeit“: 4.125,60 € und der „Mehrwertsteuerbetrag“ - 4.125,60 € = Summe aus vereinbartem Honorar = 4.000,- € + RVG-Geldern, steht so nicht auf Blatt 1 der Rechnung - Auf Blatt 2 befindet sich eine Aufstellung der Fahrtkosten und Abwesenheitsgelder, 125,60 €.
607
Dies ist der Betrag, der der monatlich vom vereinbarten Jahreshonorar abrufbaren Teilleistung per Rechnung, zum damaligen Zeitpunkt 4.000,- €, hinzugerechnet wurde.
608
Das auf Blatt 1 ausgewiesene „Honorar für freie Mitarbeit“ sei dementsprechend – wegen der unterschiedlich hohen Fahrt- und Abwesenheitsgelder – auch monatlich unterschiedlich hoch gewesen.
609
Die Rechtsanwaltshaftpflichtversicherung sei für ihre Person durch die Kanzlei Dr. S… bezahlt worden, auch die Beiträge zur Rechtsanwaltskammer. Kranken- und Pflegeversicherung habe sie selbst gezahlt.
610
Von der Kanzlei seien auch Fortbildungskosten etwa für den Fachanwalt „Mietrecht“, hinsichtlich dessen sie 2014 verschiedene Kurse besucht habe, gezahlt worden.
611
Der Begriff der „Scheinselbstständigkeit“ sei schon immer mal gefallen, zwischen den Türen unter den Kollegen (konkret B…, B…, W…, H…, jetzige B…, und ihr), in der Kaffeeküche oder beim Mittagessen und bei den Kanzleibesprechungen. Sinngemäß sei dann immer Thema gewesen, „sind wir (Rechtsanwälte/innen) eigentlich tatsächliche freie Mitarbeiter oder nicht?“. Das Thema sei aber immer auch wieder schnell abgebügelt worden, zum einen unter dem Gesichtspunkt, dass das Dr. S… schon immer so gemacht habe, zum anderen unter dem Gesichtspunkt, dass er (Dr. S…) selbst in einer Kanzleibesprechung – sie glaube, das sei so Ende 2013 gewesen – mal davon gesprochen habe, dass ja eine Betriebsprüfung stattgefunden habe. Sie wisse allerdings nicht, auf was sich die Betriebsprüfung tatsächlich bezogen habe, d.h. ob auch die freien Mitarbeiter geprüft worden seien.
612
Sie könne sich auch erinnern, dass mal eine Kollegin, die nur 1 oder 2 Monate da gewesen sei – den Namen wisse sie heute nicht mehr – glaublich 2016 aufgeworfen habe, dass das mit der „angeblichen freien Mitarbeiterschaft“ aus ihrer Sicht schwierig sei. Sie wisse heute auch nicht mehr, ob dies der Grund für deren schnelles Wieder-Aufhören gewesen sei.
613
Sie und die Kollegen hätten sich jedenfalls nicht getraut, zum Chef (Dr. S…) zu gehen und zu sagen, dass das mit der freien Mitarbeiterschaft schwierig sei.
614
Mit Schreiben vom 29.09.2016 habe sie dann vom Angeklagten eine Kündigung zum 31.12.2016 erhalten. Dieses Schreiben, welches Gegenstand des Bd. 10 „D…“ – Bl. 10127 f. ist, wird verlesen und mit der Zeugin durchgegangen. Dort heißt es:
615
Ich biete die Fortsetzung des Mitarbeitervertrages zu neuen Bedingungen an. Wesentliche Bedingung für ein verändertes Vertragsverhältnis ist eine Entgeltberechnung nach erzielten persönlichen Referatsumsätzen mit folgender Maßgabe:
1. Beginn des modifizierten freien Mitarbeitervertrages: 01.01.2017.
2. Entgelt für die freie Mitarbeit in Höhe von 45 % vom erzielten Nettoreferatsumsatz, zzgl. Fahrkosten und Abwesenheitsgeld, zzgl. Mehrwertsteuer (wie bisher) auf Monatsbasis mit kalenderjährlicher Überprüfung und Gesamtabrechnung.
3. Die anteilige Haftpflichtversicherung, eigene Fortbildungskosten, Kosten im Zusammenhang mit Fachanwaltschaften (Seminare u.a.) und Kammerbeiträge, trägt der freie Mitarbeiter selbst.
Das Änderungsangebot kann bis 15.11.2016 im einzelnen besprochen und vereinbart werden. Sollte bis dahin keine Einigung erfolgen endet das Beschäftigungsverhältnis zum 31.12.2016.
616
Die Zeugin erklärte hierzu, dass bereits seit Mitte des Jahres 2016 eine Vertragsänderung mit Umsatzbeteiligung geplant gewesen sei. Es habe insoweit mehrere Gespräche und Vertragsentwürfe gegeben, wie dies auch den beiden Entwürfen (vom 10.10.2016 und vom 27.10.2016), welche im Selbstleseverfahren „1“ I. eingeführt wurden, zu entnehmen sei.
617
Zu einem Unterschreiben sei es allerdings nie gekommen, da es zwischen dem Angeklagten und ihr zu keiner Einigung gekommen sei. Die Änderungskündigung, die für sie überraschend gekommen sei, sei ihrer Meinung nach durch den Angeklagten erfolgt, um Druck aufzubauen. Für sie habe es sich allerdings bei einem Entgelt für die freie Mitarbeit in Höhe von 45 % des erzielten Nettoreferatsumsatzes in keinster Form gerechnet und gelohnt. Hinzugekommen sei zudem, dass nach dem Umzug der Kanzlei von der Marktlerstraße 15 b in die Wackerstraße, den sie im Übrigen nicht gewollt habe, auch wegen schlechter Außendarstellung der Umsatz rückläufig gewesen sei.
618
Nach Erhalt der Änderungskündigung habe sie sich als „Gesprächsstütze/-vorbereitung“ Stichpunkte für ihre Argumentation gemacht. Insoweit wird mit der Zeugin D… aus Bd. 10 „D… – Bl. 10123-10126 in Augenschein genommen und verlesen.
- nicht verständlich, weshalb er mir als einzige die Änderungskündigung gab
- alle Anwälte liegen mit dem Umsatz zurück
- eine Umsatzumstellung mag zwar grundsätzlich als Chance zu sehen sein, aber seit dem Umzug ging der Umsatz zurück und eine Umsatzsteigerung ist bis dato nicht absehbar; die Außenwirkung ist schlecht; es kommen kaum neue Mandanten
- er wälzt das Risiko auf mich alleine ab -> er hat 2 Anfänger hereingeholt, die momentan noch keinen Umsatz machen, aber deutlich besser verdienen als ich am Anfang, d.h. er zahlt auf die beiden drauf und ich soll es ausbügeln
- meine Wertigkeit ist anhand der Kündigung zu sehen -> auf mich kann am ehesten wohl verzichten
620
Zu der Vereinbarung: ….
- wenn ich alles selber bezahlen soll und das gesamte Risiko hier trage: -> wo ist mein Vorteil, hier zu bleiben als freier Mitarbeiter im Vergleich dazu, mich selbstständig zu machen?
- Haftungsproblematik: auf dem Briefkopf muss stehen, dass ich freie Mitarbeiterin bin. Ich bin hier nur freier Mitarbeiter und will nicht für Fehler der Kollegen geradestehen müssen; gerade bei großen Fällen, die großes Fehlerrisiko mit sich bringen wie zum Beispiel Datenschutz mit Rt-Reisen, muss die Haftung geklärt sein
621
Daneben finden sich Rechenbeispiele der Zeugin zu ihrem „Gehalt“ (“Anfangsgehalt, Gehaltserhöhung etc.“), dem Rechtfertigungsziel (Gehalt mal zwei + 10 %), sowie dem tatsächlich von ihr erreichten Umsatz.
622
Die Zeugin hat danach errechnet, dass sich bei einem Entgelt für die freie Mitarbeit in Höhe von 45 % des erzielten Nettoreferatsumsatzes – wie vom Angeklagten im Schreiben vom 29.09.2016 vorgeschlagen – für sie ein monatliches Gehalt im Schnitt von 2.483,19 € errechne (im Verhältnis zu dem von ihr zuletzt erhaltenen Gehalt von 4.000,- €), was sich also in keinster Form lohne; sie müsse ja dann Fixkosten wie Wohnung/Miete, Auto, Krankenkasse, Rente, Steuer, Kirchensteuer, Fortbildung, Kammerbeiträge zahlen, was sie mit ca. 2.000,- € im Monat berechnet habe, es verblieben ihr also 480,- € zum Leben. Sie habe dann auch angesprochen, dass die vom Angeklagten im Schreiben vom 29.09.2016 angedachte Vertragsänderung für sie ein Leben am Existenzminimum bedeuten würde; an der Reaktion des Angeklagten darauf können sie sich heute nicht mehr erinnern.
623
Daher sei sie dann letztendlich auch aus der Kanzlei ausgeschieden.
624
Laufende Mandate habe sie in der Kanzlei gelassen, nichts mitgenommen. Sie habe einen klaren Cut gewollt, habe auch nicht gewusst, wie das mit einer Abrechnung gehe.
625
Sie habe dann zunächst in einer Münchner Kanzlei als Angestellte angefangen. Dort habe sie ebenfalls keine Arbeitszeiterfassung gehabt, der Chef habe aber schon geschaut, dass sie nicht zu früh gehe. Inhaltlich sei im Unterschied zur Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten in M.schon was „vordiktiert“ worden, etwa, dass sie zu Gerichtsterminen auch von Kollegen habe gehen müssen; sonst habe es aber keinen inhaltlichen Unterschied zum Arbeiten in der Kanzlei des Angeklagten gegeben. Sie habe am Anfang 3.500,- € brutto bekommen, also knapp 2.000,- € netto.
626
Derzeit sei sie angestellte Rechtsanwältin beim AD.... Dort habe sie verschiedene Schichten mit Gleitzeit. Es sei aber eine ganz andere Arbeit, nicht mit der in der Kanzlei Dr. S… vergleichbar, eher beratend; sie habe keine Mandanten und keine direkten Gerichtstermine.
627
Ihr sei bekannt, das andere Rechtsanwälte – konkret W…, B… B…, V… –, die ausgeschieden seien, im Zusammenhang mit dem Ausscheiden mit Dr. S… in Streit geraten seien. Betr. W… und B… wisse sie, dass es um die Abrechnung und Aufteilung der Mandate gegangen sei.
628
Bei der Zeugin und der bei ihr durchgeführten Durchsuchung wurden diverse Unterlagen gefunden; von diesen wurden ihr aus Bd. 10 „D…“ – Bl. 10137-10139 vorgehalten, ein Ausschnitt aus dem Buch Trimborn von Landenberg zum Thema „Was ist ein freier Mitarbeiter?“. Dazu befragt, warum sie sich darüber informiert habe, gab sie an, dies nicht mehr genau zu wissen, aber zu glauben, dass dies im Zusammenhang mit der Änderung des Kanzleibriefkopfes gestanden habe.
629
Weiter wurden ihr aus Bd. 10 „D…“ – Bl. 10140-10141 vorgehalten und mit ihr in Augenschein genommen: Sie erläuterte hierzu, dass es sich um eine Umsatzstatistik, aufgegliedert nach den in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälten für den Monat September 2016 handele; diese Umsatzstatistik (solche seien auch in den Kanzleibesprechungen immer wieder vorgelegt worden) habe sie mit für die Beurteilung herangezogen, ob sich eine Umsatzbeteiligung für sie überhaupt rechnen würde.
630
Sie habe auch Umsatzlisten für ihre eigene Person – wie Bd. 10 „D…“ – Bl. 10159-10161 ersichtlich, verlesen und mit allen Verfahrensbeteiligten in Augenschein genommen – erhalten und gesammelt, ebenso etwa Rechnungen für von ihr absolvierte juristische Fachseminare – wie Bd. 10 „D… – Bl. 10168 ersichtlich und ebenfalls mit allen Verfahrensbeteiligten in Augenschein genommen –, woraus sich ergebe, dass sie einen Fachanwaltslehrgang im Miet- und Wohnungseigentumsrecht absolviert habe, Kostenpunkt 1.999,20 €, ein Betrag, den die Kanzlei getragen habe.
631
Schließlich erläuterte die Zeugin, dass sie eine Einnahmenüberschussrechnung nach § 4 Abs. 3 EStG abgegeben habe, d.h. ihre Honorare als Einkünfte aus selbstständiger Arbeit steuerlich veranlagt habe; die Steuererklärung habe ihr Vater gemacht. Insoweit wurde mit der Zeugin und allen Verfahrensbeteiligungsbeteiligten die Einnahmenüberschussrechnung für 2014 aus Bd. 10 „Da.“ – Bl. 10180 ff. – in Augenschein genommen und anschließend verlesen.
632
Zusammenfassend ist für das Gericht aufgrund der Aussage der Zeugin D… damit festzustellen, dass die Kanzlei Dr. S… & Kollegen mit ihr eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung schloss, was (unter Außerachtlassung der gleichzeitig auf einem zweiten Blatt geschlossenen Zusatzvereinbarung) für freie Mitarbeiterschaft spricht, ebenso wie der Umstand, dass sie Umsatzsteuer abgeführt hat. Auch die inhaltliche Gestaltung ihrer Arbeit beschreibt sie nach einer einige Monate dauernden Einarbeitungszeit (sie war beim Angeklagten zunächst in der Lehrzeit) zunehmend als freier. Sie musste im Krankheitsfall keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen, Urlaub absprechen, aber nicht förmlich beantragen oder genehmigen lassen.
633
Demgegenüber äußert sie jedoch zunächst, dass bzgl. der rechtlichen und inhaltlichen Ausgestaltung ihrer Beschäftigung der Angeklagte das „Modell der freien Mitarbeit“ vorgab, ebenso die schriftliche Vereinbarung bereits vorformuliert vorlegte, gleichfalls die dieser teilweise widersprechende Zusatzvereinbarung; das Jahreshonorar wurde vom Angeklagten vorgegeben, ohne dass die Zeugin Einblick in Zusammensetzung bzw. Berechnung hatte. In zeitlicher Hinsicht gab es keinen Befehl von Seiten des Angeklagten, auch keine Stechuhr, ebenso war es aber auch völlig klar, dass man während des Kanzleibetriebes vor Ort sein muss, woraus die Vorgabe eines zeitlichen Fensters durchaus erkennbar wird. An. D… war auch in den Kanzleibetrieb und dessen Abläufe, die zum Zeitpunkt ihres Eintrittes in die Kanzlei bereits etabliert waren, fest eingegliedert: Sie bekam ein voll ausgestattetes eigenes Büro zugewiesen (hatte keine eigene Betriebsstätte), eine komplette Kanzleiinfrastruktur, sowie geschultes Personal zur Verfügung, ohne dass sie dafür (anteilig) Kosten hätte aufbringen müssen bzw. ihr das in Rechnung gestellt worden wäre. Sie trug kein unternehmerisches Risiko, bekam unabhängig von Verlust und Gewinn, erwirtschaftetem Umsatz, An- und Abwesenheiten das vereinbarte feste Honorar. Sie hatte keine Umsatzbeteiligung, kein Mitspracherecht; Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung von Kanzleiabläufen fehlten, ebenso Gestaltungsmöglichkeiten betreffend die kanzleiinterne Infrastruktur oder die grundlegende Art und Weise der Mandantenakquisitation. Die Kanzlei zahlte auch Fortbildungskosten etwa für den Fachanwalt. Die Zeugin hat keine anderen Auftraggeber oder eigene Mandate, hatte eine persönliche Leistungserbringungspflicht, erwirtschaftete ihre Existenzgrundlage nur durch Tätigkeitwerden für die Kanzlei des Angeklagten. Die Mandatsverhältnisse kamen ausschließlich mit der Kanzlei zustande, wurden über die Kanzlei abgerechnet; Zahlungen erfolgten auf Kanzleikonten, zu denen sie keinen Zugriff hat. Bei Forderungsausfall erfolgte keine Honorarkürzung, Forderungseintreibungen liefen über die Kanzlei.
634
An. D… erhielt die von ihr zu bearbeitenden Mandate über dem Empfang/die Sekretärin nach Fachgebiet, ohne dass ihr, wenn mehrere Rechtsanwälte das gleiche Fachgebiet bedienten, klar war, nach welchem Verteilungsschlüssel. Auch wies der Angeklagte sie etwa an, dass sie die Beratertätigkeit für den Haus- und Grundbesitzerverein mitmachen soll. Projektbezogene Tätigkeiten verrichtete sie nicht.
635
Sie trat nach außen nur über die Kanzlei auf, nicht eigenständig, hatte keine eigenen Briefbögen oder Geschäftsbücher, keine eigenen Visitenkarten, betrieb keine eigene Werbung und hatte keine eigenen Angestellten.
636
Über „Scheinselbstständigkeit“ wurde unter den Kollegen immer wieder gesprochen, konkret hinterfragt, „Sind wir (Rechtsanwälte/innen) eigentlich tatsächlich freie Mitarbeiter oder nicht?“. In diesem Zusammenhang war immer wieder Thema, dass der Angeklagte das schon immer so gemacht hat und auch glaublich Ende 2013 in einer Kanzleibesprechung angab, dass eine beanstandungsfreie Betriebsprüfung stattgefunden hat, ohne dass die Zeugin konkretisieren konnte, was Gegenstand und Umfang dieser Prüfung war.
637
Nach dem Ausscheiden aus der Kanzlei des Angeklagten war sie in einer Münchner Kanzlei als Angestellte tätig, unterlag dort auch keiner Arbeitszeiterfassung, der Chef schaute lediglich, dass sie nicht zu früh geht. Inhaltlich wurde ihr etwas vordiktiert: als Beispiel nannte die Zeugin, dass sie zu Gerichtsterminen auch für Kollegen gehen musste (wie dies auch in der Kanzlei des Angeklagten vorkam, vgl. Zeugin A…, 3.5.).
638
Die Zeugin St.F. hat im Zeitraum von 01.08.2015 bis Februar 2016 in der Kanzlei des Angeklagten anwaltschaftliche Tätigkeiten erbracht.
639
Sie hat sich auf eine Annonce in einer regionalen Zeitung (Kanzlei Dr. S… suchte nach Mitarbeitern) dort beworben. Sie sei dann zum Vorstellungsgespräch eingeladen worden, welches Dr. S… führte. Gegenstand sei allgemein die Kanzlei gewesen, die Frage, bzgl. welchen Fachgebietes sie Interesse habe. Sie habe zuvor in einer großen Kanzlei in Nürnberg gearbeitet, habe weiter wirtschaftsrechtliche Themen bearbeiten wollen. Gegenstand des Vorstellungsgespräches sei auch ihre persönliche Situation gewesen: Im Januar 2015 sei ihr Sohn geboren worden, den sie noch gestillt habe. Aufgrund dieser Situation sei sie vom Zeitlichen her eingeschränkt gewesen. Es sei von vornherein klar gewesen, dass sie nur Teilzeit arbeiten könne, weshalb 2 halbe Tage pro Woche (die sie habe festlegen können) vor Ort in der Kanzlei abgesprochen worden seien. Klar sei gewesen, dass sie an diesen Tagen in der Früh habe da sein sollen, wie alle anderen, d.h. also zu Beginn der Kanzleiöffnungszeiten. Eine Dokumentationspflicht betreffend ihre Arbeit habe aber nicht bestanden, sie habe nur für sich selbst, intern, ihre Arbeitszeiten aufgeschrieben.
640
Letztlich habe sie sich mit Dr. S… dann auf den Beginn ihrer Tätigkeit ab 01.08.2015 geeinigt. Ihr sei eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung vorgelegt worden. Diese Vereinbarung, welche im Selbstleseverfahren „1“ I. eingeführt wurde, wurde ebenso wie die Zusatzvereinbarung (diese befindet sich in Bd. 21 „F.“ – Bl. 21003 und wurde verlesen, da versehentlich nicht im Selbstleseverfahren „1“ I. enthalten) mit der Zeugin durchgesprochen.
641
Sie äußerte dazu, dass Vertrag und Zusatzvereinbarung nicht ausgehandelt, vielmehr vom Angeklagten vorgelegt worden seien. Wie sich die Honorarpauschale zusammengesetzt habe, wisse sie nicht. Sie habe dann später mal mitbekommen, dass in der Kanzlei für Vollzeit Tätige grundsätzlich eine jährliche Honorarpauschale von 72.000,- € „Ausgang“ gewesen sei. Dieser Betrag sei wohl auf ihre Person, da sie nur 2 halbe Tage gearbeitet habe, angepasst worden. Ihr sei nicht bekannt, dass in der Honorarpauschale Kosten für die Büroräumlichkeiten/Miete des Büros, die Kanzleiinfrastruktur, das Kanzleipersonal u.ä. Berücksichtigung gefunden hätten.
642
Sie habe mit Beschäftigungsbeginn also in der Kanzlei ein eigenes Büro kostenlos zur Verfügung gestellt bekommen, ebenso Fachliteratur, IT-Ausstattung und Kanzleimitarbeiter (Schreibkräfte, Rechtsanwaltsfachgehilfinnen, die sich um die Aktenanlage und -verwaltung, insbesondere aktuelle Wiedervorlagen, Fristenkontrolle etc. zuverlässig gekümmert hätten), bezüglich derer sie keine Weisungsbefugnis gehabt habe. Sie habe auch kein Mitspracherecht hinsichtlich Anschaffungen, Einstellung oder Kündigung von Personal (Rechtsanwaltsgehilfinnen, Buchhalterin, andere Rechtsanwälte) gehabt.
643
Für die gesamte Kanzleiinfrastruktur habe sie also keinen Kostenanteil tragen müssen, wisse auch nicht, in welcher Höhe (anteilig) insoweit Kosten entstanden seien, wisse auch nicht, in welcher Höhe der Kanzlei Betriebskosten etwa für Miete, Nebenkostenabrechnungen, Strom, Wasser etc. entstanden seien.
644
Sie habe auch nicht gewusst, wie die Kanzlei insgesamt wirtschaftlich dastehe.
645
Ihr sei bekannt, dass für erledigte Mandate ein Archiv im Keller der Kanzlei gewesen sei, die laufenden Verfahren seien in den jeweiligen Büros gewesen. Manchmal habe sie eine Akte, wenn sie noch nicht ganz fertig gewesen sei, mit nach Hause genommen.
646
Sie habe keine eigenen Angestellten gehabt, zu Hause auch kein eigenes Büro.
647
Sie sei ja aus Nürnberg gekommen, habe also hier noch niemanden gekannt. Der Beginn ihrer inhaltlichen Tätigkeit habe dann so ausgesehen, dass Dr. S… ihr Akten aus der Kanzlei zum Bearbeiten vorgelegt habe. Sie habe vor allem Handels-, Gesellschaft- und Insolvenzrecht gemacht. Sie habe nicht über den Empfang, sondern über Dr. S… Akten vorgelegt bekommen, d.h. er sei mit den Akten auf sie zu bekommen, habe ihr die Akten zur Bearbeitung zugeteilt und sie habe sich dieser Akten angenommen. Während ihrer gesamten Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten habe es sich insgesamt um ca. 10 Verfahren – v.a. größere Mandate – gehandelt. Daneben habe sie noch ein paar kleinere Mandate bearbeitet, aber nicht viele.
648
Vertragspartner der Mandanten sei die Kanzlei gewesen, die Schriftsätze seien auch immer auf Briefpapier der Kanzlei mit Kanzleibriefkopf gefertigt worden. Heute habe sie keine Erinnerung mehr, wie die Vollmacht ausgesehen habe.
649
Eine eigene Mandantenakquisition habe sie eigentlich nicht betrieben. Sie habe, da sie aus Nürnberg gekommen sei, keine beruflichen Kontakte gehabt, natürlich versucht, sich im privaten Umfeld „bekannt“ zu machen. Während der Zeit ihrer Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten habe sie aber keine eigenen Mandate abgerechnet, sie habe auch nur ein eigenes Mandat für ihre Schwägerin, mit eigenem Briefkopf geführt. Da sei aber keine Rechnung gestellt worden. Sie habe keine eigene Werbung betrieben, keinen eigenen Internetauftritt gehabt und keine eigenen Visitenkarten.
650
Die Rechnungen an die Mandanten seien von der Kanzlei gestellt worden, die entsprechenden Zahlungen auf ein Kanzleikonto erfolgt, auf das sie keinen Zugriff gehabt habe.
651
Während ihrer Zeit habe sich nie die Frage gestellt, eine Entscheidung über die Zahlungsweise (Ratenzahlung, Stundung, Erlass) betreffend eines Mandanten zu treffen. Sie sei aber der Meinung, wenn eine Forderung ausgefallen wäre, dass nicht sie, sondern die Kanzlei die Forderungseintreibung gemacht hätte.
652
Die Bearbeitung selbst habe sie dann inhaltlich eigentlich frei gestaltet, sich selten mit dem Angeklagten darüber ausgetauscht, ihn lediglich über den Fortgang informiert. Der Angeklagte habe auch ihre Schriftsätze nicht wirklich angeschaut bzw. korrigiert. Ab und an habe es mit ihm Strategiegespräche gegeben, sie könne sich etwa an einen Fall erinnern, indem er zu ihr gesagt habe, sie hätte nicht so schnell einem Vergleich zustimmen sollen; das habe sie aber als Rat empfunden. Sie habe ihre Zeit beim Angeklagten als Ausbildung, als Erprobung angesehen.
653
Den Angeklagten habe sie eigentlich nicht so oft gesehen, sie sei aber ja auch nur 2 halbe Tage die Woche (sie sei dann ja auch immer wieder nach Hause zu ihrem Sohn) in der Kanzlei gewesen, Januar und Februar 2016 aufgrund ihrer persönlichen Situation (Fehlgeburt) ohnehin nicht mehr sehr oft.
654
Es sei zwar nie Thema gewesen, ihrer Meinung nach sei sie aber persönlich zur Leistungserbringung verpflichtet gewesen.
655
In der kurzen Zeit ihrer Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten habe sie keinen Urlaub genommen. Im Januar 2016 habe sie eine Fehlgeburt gehabt, sei dann länger (ca. 2 Wochen) überhaupt nicht in die Kanzlei gegangen, habe aber auch keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt. Auch danach sei sie bis zu ihrem Ausscheiden im Februar 2016 nicht mehr durchgängig (d.h. 2 halbe Tage pro Woche) in der Kanzlei gewesen, da sie dies aufgrund ihrer persönlichen Situation nicht geschafft habe.
656
Die Vertragsauflösung sei von ihr ausgegangen, zum einen, weil ihr das privat alles zu viel geworden sei. Zum anderen sei es aber auch so gewesen, dass sie nicht gesehen habe, wie es in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen für sie hätte weiter gehen sollen und sie sich dort nicht wohl gefühlt habe: Sie habe beispielsweise im Hinblick auf die Briefkopfgestaltung Angst vor Außenhaftung gehabt. Dies habe sie Ende 2015 auch in einem persönlichen Gespräch mit dem Angeklagten angesprochen, der darüber irritiert gewesen sei – er habe gemeint, sie/F. „wolle mehr reißen“ –, nicht verstanden habe, warum sie da ein Risiko sehe, sie dann aber ab Januar 2016 vom Briefkopf genommen habe. Bevor Sie den Angeklagten darauf angesprochen habe, habe sie sich von einem Berufsrechtler in M.beraten lassen. Der habe die Briefkopfgestaltung der Kanzlei Dr. S… & Kollegen ebenfalls problematisch gesehen.
657
Im Rahmen dieses Gespräches sei auch die Thematik „Scheinselbstständigkeit“ der Anwälte gestreift worden. Das Thema sei immer mal wieder „allgemeiner Bürotalk“ gewesen, weshalb sie das auch im Zuge des Gespräches über die Briefkopfgestaltung erwähnt habe. Der Angeklagte habe ihr gegenüber in diesem persönlichen Gespräch dann erwähnt, dass das alles kein Thema sei, da alles geprüft worden und alles in Ordnung sei. Für sie sei das deshalb dann kein Thema mehr gewesen.
658
Von dem Inhalt dieses Gespräches mit Dr. S… habe sie auch den Kollegen erzählt, betreffend die Problematik „Briefkopf“, habe aber auch die Aussage des Angeklagten referiert, dass er bzgl. der Frage evtl. „Scheinselbstständigkeit“ ihr gegenüber geäußert habe, alles sei geprüft und alles sei o.k..
659
Auf Nachfrage, was die Zeugin mit „allgemeiner Bürotalk“ meine, äußerte sie, dass bei Kaffeerunden in der Kanzleiküche oder beim Mittagessen beispielsweise der Kollege W… sinngemäß geäußert habe: „Vielleicht sind wir am Ende alle Scheinselbstständige, da muss man mal was machen“. In diesem Sinne hätten sich auch andere Kollegen geäußert.
660
Die Zeugin St.F. hat für den Zeitraum von 01.08.2015 bis Februar 2016, indem sie in der Kanzlei des Angeklagten als Anwältin tätig war, insgesamt folgende 3 Rechnungen geschrieben:
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22.12.2015 für Zeitraum Oktober 2015 – Dezember 2015 -> 3.600,- € – monatlich abrufbar: 1.200,- € zzgl. USt, Bd. 21 „F.“ – Bl. 21019
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10.10.2015 für Zeitraum August 2015 – September 2015 -> 2.400,- € – monatlich abrufbar: 1.200,- € zzgl. USt, Bd. 21 „F.“ – Bl. 21020
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25.02.2016 für Zeitraum Januar 2016 – Februar 2016 -> 2.400,- € – monatlich abrufbar: 1.200,- € zzgl. USt, Bd. 21 „K…“ – Bl. 21021,
welche mit ihr und allen Verfahrensbeteiligten in Augenschein genommen und anschließend verlesen wurden.
661
St.F. äußerte, dass sie keine Auswärtstermine wahrgenommen habe, mithin keinerlei Tage-/Abwesenheitsgelder nach RVG angefallen seien, die sie geltend gemacht habe.
662
Sie habe die Rechnungen aber mit Umsatzsteuer ausgewiesen.
663
Am Umsatz der Kanzlei sei sie nicht beteiligt gewesen.
664
Betreffend ihre letzte Rechnungsstellung habe es dann „Unstimmigkeiten“ gegeben“. Der Angeklagte habe Seminargebühren in Abzug gebracht, was sich auch aus dem verlesenen Schreiben (Bd. 21 „F. – Bl. 21015) vom 06.04.2016 ergibt, wo es heißt: Der Rechnungsbetrag liegt bei 2.856,- €. Wir haben uns erlaubt, von den Seminargebühren (343,91 € + 284,41 € + 578,96 €), gesamt 1.207,28 € 50 % vom Rechnungsbetrag abzuziehen. Insoweit wird der Zeugin auch nochmals Ziffer 3. der Zusatzvereinbarung (Von den Weiterbildungsmaßnahmen werden die reinen Kurskosten von der Kanzlei angemessen gefördert und ggf. ohne Fahrt- und Anwesenheitsgelder bezahlt. – Bd. 21 „F.“ – Bl. 21003) vorgelesen: Sie äußert dazu, dass sie davon ausgegangen wäre, dass der Angeklagte die Fortbildungskosten trage.
665
Im Jahr 2012 habe sie ihre Rechtsanwaltszulassung erhalten, habe, bevor sie in der Kanzlei des Angeklagten begonnen habe, in einer großen Kanzlei in Nürnberg als fest angestellte Anwältin gearbeitet. Sie habe einen Arbeitsvertrag gehabt, 40 Wochenstunden seien vereinbart gewesen (meist habe sie aber 60 Stunden oder mehr gearbeitet). Inhaltlich sei sie in der Tätigkeit in dieser Kanzlei aber auch frei gewesen, d.h. inhaltlich habe zum Arbeiten in der Kanzlei Dr. S… keine Diskrepanz bestanden. Auch habe keine Diskrepanz in der Art und Weise der Nutzung der Organisation des Kanzleibetriebes bzw. der Kanzleiinfrastruktur bestanden. Sie habe dort ca. 4.500,- € brutto/2.800,- € netto verdient.
666
Diese Nürnberger Kanzlei sei eine große Kanzlei gewesen; bei großen Mandaten sei sie – sie sei ja frisch vom Examen gewesen – mehr im backoffice tätig gewesen, die erfahreneren Kollegen hätten mit den Mandanten Termine und Kommunikation geführt. Sie habe in diesen Großmandaten eher einzelne Rechtsfragen geprüft bzw. Vertragsentwürfe gefertigt.
667
Aktuell arbeite sie als Syndikusanwältin, mache im Hinblick auf Corona viel Home-Office, aber auch, weil sie zwischenzeitlich drei Kinder habe. Der Unterschied zur Tätigkeit bei Dr. S… liege darin, dass sie sozusagen minutengenau bezahlt werde, auch im Rahmen von Home-Office eine Zeiterfassung installiert sei.
668
Auf Vorhalt der Verteidigung, ob sie nicht das Dezernat von Rechtsanwalt An. H… übernommen habe und dies bereits im Rahmen des Vorstellungsgespräches so abgemacht, also Grundlage des Vertragsabschlusses gewesen sei, erklärte die Zeugin F. dass das nicht Gegenstand des Vorstellungsgespräches gewesen sei.
669
Wie bereits geschildert, habe der Angeklagte Dr. S… die von ihr zu bearbeitenden Akten ihr dann, als sie im August 2015 angefangen habe, vorgelegt, habe ihr Akten zugeteilt und sie habe sich der Akten dann angenommen. Sie wisse nicht, ob dies das Dezernat von An. H… gewesen sei oder Akten aus dem Dezernat.
670
Die Verteidigung legte am 14.01.2022 Akten eines größeren Verfahrens mit insolvenzrechtlichem Bezug (insgesamt 68 Geschädigte/für jeden wurde ein gesonderter Vorgang angelegt/„Schneeballsystem“) zur Einsichtnahme und auszugsweisen Verlesung vor (Az. 1731/14, Az. 77/15, Az.: 1738/14, und Az. 1494/13).
671
Aus diesen 4 exemplarisch in Augenschein genommenen und auszugsweise verlesenen Akten ergab sich Folgendes:
1. Akte:
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Bearbeitung/Schriftsatz 01.04.2015 – An. H…
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Bearbeitung/Schriftsatz 07.10.2015 – St.F.
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2. Akte:
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Bearbeitung/Schriftsatz 28.05.2015 – An. H…
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Bearbeitung/Schriftsatz 07.10.2015 – St.F.
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3. Akte:
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Bearbeitung/Schriftsatz 19.01.2015 – An. H…
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Bearbeitung/Schriftsatz 07.10.2015 – St.F.
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4. Akte:
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Bearbeitung/Schriftsatz 13.05.2015 – An. H…
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Bearbeitung/Schriftsatz 17.08.2015 – St.F.
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672
Auf Nachfrage der Verteidigung, ob die Kanzleiübernahme in der Diskussion, etwa in den Kanzleibesprechungen, gestanden habe, äußerte die Zeugin:
673
Ja, das war Thema unter den Kollegen. Der Grundtenor sei aber gewesen, dass keiner einen Einblick in die wirtschaftliche Situation der Kanzlei gehabt, nicht konkret gewusst habe, wie es sich mit Einnahmen und Ausgaben verhielte. Es habe zwar irgendwie Umsatzlisten gegeben; das sage ihr heute aber nicht mehr viel, diese seien jedenfalls nicht sehr detailliert gewesen. Sie könne sich aber daran erinnern, dass der Angeklagte ihr gegenüber einmal geäußert habe, dass ihr Umsatz schon ganz gut sei.
674
Die Zeugin St.F. bekam bei Zusammenfassung ihrer Aussage aus Sicht der Kammer vom Angeklagten eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung nebst haptisch gesonderter Zusatzvereinbarung vorgelegt, handelte nichts aus. Sie erhielt mit Beschäftigungsbeginn ein voll ausgestattetes eigenes Büro nebst Infrastruktur und Kanzleimitarbeitern, zahlte dafür nichts, kannte auch nicht die Höhe der insoweit (anteilig für ihre Person) entstehenden Kosten. Weisungsrecht gegenüber den Kanzleimitarbeitern hatte sie ebenso wenig wie ein Mitspracherecht bezüglich Anschaffung von Betriebsmitteln bzw. Einstellung/Kündigung von Personal. Vereinbart waren 2 halbe Tage, die sie pro Woche 2 eigenständig festlegen konnte, betreffend die aber ebenfalls klar war, dass sie an diesen Tagen zu Beginn der Kanzleiöffnungszeiten anwesend sein sollte. St. F. hatte keinen eigenständigen Außenauftritt, keine eigene Betriebsstätte, kein eigenes Personal, betrieb keine eigene Werbung, hatte keinen eigenen Internetauftritt und keine eigenen Visitenkarten, ebenso wenig andere Auftraggeber (Ausnahme ein Mandat für die Schwägerin, dass sie nicht abrechnete).
675
Sie wies Umsatzsteuer aus, musste im Fall krankheitsbedingter Abwesenheit keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen, war in der inhaltlichen Gestaltung ihrer Tätigkeit frei. Die Akten legte ihr der Angeklagte persönlich vor (eine vorherige Absprache als Vertragsgrundlage gerade diese Akten zu bearbeiten, hat sich nicht erwiesen).
676
Sie sprach mit dem Angeklagten persönlich über die Thematik „Scheinselbstständigkeit“, der das Thema mit dem Argument, alles sei geprüft und in Ordnung, abwiegelte. Die Thematik „Scheinselbstständigkeit“ war im Übrigen „allgemeiner Bürotalk“.
a) 3.12. Zeugin Dr. An...H…:
677
Dr. An...H… hat in der Zeit vom 14.03.2016 bis 15.04.2016 auf der Grundlage einer als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichneten Vereinbarung in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen anwaltschaftliche Tätigkeiten erbracht.
678
Mit der Zeugin und allen Verfahrensbeteiligten wird diese Vereinbarung, unterzeichnet am 22.02.2016/23.02.2016, eingeführt im Selbstleseverfahren „1“ I., nochmals in Augenschein genommen und verlesen.
679
Nach dem Examen sei sie über die Stellenbörse der Rechtsanwaltskammer auf die Kanzlei aufmerksam geworden. Zuvor sei sie kurze Zeit in Freising als angestellte Rechtsanwältin in einer Kanzlei bestehend aus zwei Partnern, denen sie zugearbeitet habe, tätig gewesen.
680
Sie habe sich dann jedenfalls in der Kanzlei des Angeklagten, die sie vorher nicht gekannt habe, beworben. Das „Modell der freien Mitarbeit“ sei eine Idee des Angeklagten gewesen. Das Honorar – es sei ein Jahreshonorar vereinbart gewesen, 42.000,- €, von dem sie monatliche Beträge per Rechnung habe abrufen können – habe sie für eine Vollzeitstelle, 5 Tage pro Woche, bekommen. Sie könne nicht sagen, wie dieses Honorar berechnet bzw. kalkuliert worden sei.
681
In der Zeit, in der sie in der Kanzlei des Angeklagten gewesen sei, habe sie eine Rechnung an die Kanzlei geschrieben. Ihrer Meinung nach sei sie nicht an Gewinn und Verlust beteiligt gewesen.
682
Soweit der Zeugin etwa Nr. 11 der als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichneten Vereinbarung – Frau H… erhält für ihre Tätigkeit ein 12-Monats-Jahreshonorar von 42.000,- € zzgl. Mehrwertsteuer bei voller Arbeitsleistung – vorgehalten wird, gab die Zeugin an, sich an diese Formulierung nicht erinnern zu können, gleiches gelte für Nr. 7, wonach die Honorarzahlung sich bis zu einer Abwesenheit von 30 Werktagen p.a. nicht verändere.
683
Sie wisse heute eigentlich nicht mehr viel von diesem einen Monat, könne etwa nicht angeben, ob feste Arbeits-/Anwesenheitszeiten vereinbart gewesen seien.
684
Sie habe mit Arbeitsbeginn ein eigenes Büro erhalten, dieses sei voll ausgestattet gewesen. Dafür habe sie nichts bezahlen müssen, ebenso wenig für die Kanzleiinfrastruktur einschließlich Personal. Soweit sie das in der kurzen Zeit mitbekommen habe, habe sie kein Mitspracherecht o.ä. bezüglich Einstellungen/Kündigungen oder etwa betreffend die Anschaffung von Betriebsmitteln gehabt.
685
Sie habe in dem Monat eigentlich alles dem Angeklagten vorgelegt, d.h. alle Schriftsätze. Der Angeklagte habe das angeschaut und korrigiert, sie sei aber ja auch noch so neu gewesen und es liege an ihrem Typ, dass sie eher unselbstständig arbeite.
686
Die Fallzuweisung sei nach Rechtsgebieten erfolgt.
687
Da sie ja nur einen Monat in der Kanzlei des Angeklagten tätig gewesen sei, könne sie zu ihren unternehmerischen Chancen nichts sagen, sie habe in dieser Zeit aber auch keine anderen Auftraggeber gehabt.
688
Es sei vereinbart gewesen, dass sie ihre Sozialabgaben, Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung, sowie Steuern selbst abführe. Sie sei Mitglied der Bayerischen Rechtsanwalts- und Steuerberaterversorgung gewesen, Mitglied der TKK und Mitglied der Rechtsanwaltskammer München. Sie habe auch eine eigene Vermögensschadens-Haftpflichtversicherung gehabt.
689
Die Kanzlei habe aber Beiträge einer weiteren Berufshaftpflichtversicherung im Rahmen einer Gruppenversicherung mit höherer Versicherungssumme bezahlt.
690
Hinsichtlich der gleichzeitig mit ihr in der Kanzlei des Angeklagten beschäftigten Rechtsanwaltskollegen konnte die Zeugin keine konkreten Angaben machen. Sie begründete dies wiederholt mit dem Umstand, dass sie eben in zeitlicher Hinsicht nur sehr kurz (1 Monat) dort gewesen sei.
691
Zwischen ihr und dem Angeklagten sei nie über „Scheinselbstständigkeit“ gesprochen worden. Dass dies ein „problematisches Gebiet“ sei, sei ihr durchaus bewusst. Zwischen den Kollegen und ihr sei auch schon darüber gesprochen worden, von wem und was genau wisse sie heute aber nicht mehr.
692
Sie wisse auch nichts von sozialversicherungsrechtlichen Prüfungen der DRV, deren Umfang, sowie deren Ergebnis.
693
Im Wege des Vorhaltes wurde der Zeugin ein Schreiben des Angeklagten vom 22.02.2016 (Bd. 20 „Heinz“ – Bl. 20010 f.) auszugsweise verlesen: Dort heißt es u.a.: … Arbeitsbeginn ist Montag, der 14.03.2016. … Die Zeugin konnte sich an derartigen Inhalt auch auf Vorhalt nicht erinnern.
694
Aufgrund des Umstandes, dass die Zeugin Dr. An...H… nur einen Monat in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen beschäftigt war, ist nach Überzeugung der Kammer eine wertende Betrachtung der tatsächlich gelebten Verhältnisse schwierig, weshalb das Verfahren gemäß § 154 (a) Abs. 2 StPO auch auf Antrag der Staatsanwaltschaft eingestellt wurde.
695
Hinsichtlich der Verhältnisse und Gestaltung des Beginns der Tätigkeit sind jedoch keine Unterschiede zu den übrigen, im (verbliebenen) Tatzeitraum in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte erkennbar. Vielmehr entsprechen die Modalitäten dem „gleichen System“.
696
Ab 01.05.2013 bis April 2018 war der Zeuge N. … in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen als Rechtsanwalt tätig, und – nach kurzer Tätigkeit in der Kanzlei R… in Mühldorf am Inn – nochmals von Juli 2018 bis Ende Oktober 2018 (dies sei mündlich vereinbart worden). Er äußerte, dass er sich im Jahre 2013 glaublich auf eine Annonce in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen um eine Tätigkeit als Rechtsanwalt bemüht habe.
697
Die vertragliche Formulierung sei von Dr. S… so im Anbahnungs-/Einstellungsgespräch vorgegeben worden, er habe insoweit keine Widerworte gegeben, er habe seiner Einschätzung nach auch keine Wahlmöglichkeit gehabt. Was im Einzelnen genaue Thema im Anbahnungsgespräch gewesen sei, wisse er nicht mehr. Er sei halt Kollegen von Dr. S… kurz vorgestellt, sein Aufgabenbereich besprochen worden; das Gespräch habe insgesamt nicht sehr lange gedauert.
698
Es sei ein „Freier Mitarbeitervertrag“ geschlossen worden.
699
Mit dem Zeugen und den Verfahrensbeteiligten wurde die als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung des Zeugen L… und der Kanzlei Dr. S… & Kollegen vom 24.03.2016/06.04.2016 im Selbstleseverfahrens „1“ I. eingeführt und durchgegangen (zum Abschluss einer Zusatzvereinbarung sei es nicht gekommen).
700
Der Zeuge erläuterte hierzu, dass dieser Vertrag nicht mit Dr. S… verhandelt worden sei, der Angeklagte ihm diesen vielmehr zugesendet und er ihn unterschrieben habe.
701
Auf Nachfrage etwa betreffend Ziffer 3. des Vertrages – …. Bis 01.08.2016 besteht eine Probezeit mit beiderseitiger Kündigungsmöglichkeit von 2 Wochen zum Monatsende – äußerte der Zeuge L…, dass der Begriff der „Probezeit“ für ihn juristisch nicht zur freien Mitarbeiterschaft passe. Außerdem sprach er davon, dass das Gehalt in der Probezeit geringer gewesen sei.
702
Dem Zeugen wird das Schreiben des Angeklagten vom 24.03.2016 (Bd. 07 „L… – Bl. 07008 f.) auszugsweise verlesen: Dort heißt es u.a.: … Arbeitsbeginn wäre dann der 02.05.2016, ca. 08:00 Uhr. …. Der Zeuge äußerte dazu, dass das so gewesen sein könne.
703
Am Anfang sei jedenfalls ein Fixlohn von 3.000,- € und Mehrwertsteuer, nach der Probezeit ein Fixgehalt in Höhe von 3.200,- € nebst Mehrwertsteuer vereinbart gewesen. Er sei Vollzeit tätig gewesen 40-45 Stunden pro Woche. Weitere Auftraggeber oder Arbeitgeber habe er nicht gehabt.
704
Die vereinbarte monatliche Zahlung habe er immer erhalten, etwa auch im Jahr 2016, als er einen grauenhaften Umsatz gehabt habe. Er habe monatlich entsprechende Rechnungen (mit Umsatzsteuerausweis) an die Kanzlei geschrieben.
705
Mit dem Zeugen L… und den Verfahrensbeteiligten wurde exemplarisch die Rechnung vom 01.08.2016 für Mai 2016 – Bd. 07 „L…“ – Bl. 07010 f. – in Augenschein genommen. Die Rechnung besteht aus zwei Blättern:
706
Blatt 1 enthält die Posten „Pauschalhonorar netto“: 3.047,80 € und „USt“, - 3.047,80 € = Summe aus vereinbartem Honorar = 3.000,- € + RVG-Geldern, ist so Blatt 1 der Rechnung nicht zu entnehmen - Blatt 2 die Posten nach RVG i.H.v. 47,80 €.
707
Das in Rechnung gestellte (angebliche) „Pauschalhonorar netto“ sei in Abhängigkeit der Posten nach RVG also somit von Monat zu Monat auf Blatt 1 der jeweiligen Rechnung unterschiedlich hoch ausgewiesen worden.
708
Eine Beteiligung an Gewinn und Verlust habe es nicht gegeben. Am Anfang habe er deutlich unter dem durchschnittlichen Umsatz gelegen, später sei es angeglichen gewesen. Er habe einfach seine Rechnungen an die Kanzlei gestellt und sein Geld bekommen, auch unabhängig davon, ob die Mandanten ihrerseits bereits Rechnungen an die Kanzlei beglichen hätten.
709
Soweit es im „Freien Mitarbeitervertrag“ Ziffer 7. heiße, die Honorarzahlung verändert sich bis zu einer Abwesenheit von 30 Werktagen p.a. nicht, könne er heute nicht mehr sagen, ob darüber gesprochen worden sei. Er sei aber nie 30 Tage abwesend gewesen, weder urlaubs- noch krankheitsbedingt. Bei Krankheit habe er nur am Empfang Bescheid gesagt, dass er nicht kommen könne; er sei nie lange krank gewesen, habe auch nie eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen müssen. Urlaub sei in einen Kalender eingetragen worden.
710
Eine Dokumentationspflicht betreffend die Arbeitszeit habe nicht bestanden.
711
Bei Beginn seiner Tätigkeit für die Kanzlei Dr. S… & Kollegen habe die Kanzlei gerade neue Räumlichkeiten bezogen; ihm sei ein Büro zugewiesen worden, welches voll ausgestattet gewesen sei, mit Schreibtisch, Stuhl, Computer, Telefon etc. Auch habe er ein Vorzimmer gehabt mit Sekretärinnen. Die Akten seien in den Kanzleiräumlichkeiten aufbewahrt gewesen. Zuhause habe er kein eigenes Büro gehabt, aber natürlich ein Zimmer mit Laptop etc., welches er aber bereits vor seinem Tätigkeitsbeginn für die Kanzlei Dr. S… & Kollegen im Mai 2016, seit Studienbeginn, genutzt habe.
712
Für die kanzleiinterne Infrastruktur habe er nichts bezahlen müssen.
713
Während seiner Zeit in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen sei in den monatlichen Kanzleibesprechungen nicht über „Sparmaßnahmen“ gesprochen worden. Nur einmal jährlich seien die Gesamtkosten/Ausgaben der Kanzlei „vorgestellt“ worden. Das sei aber nicht nur ihm, sondern auch den anderen Rechtsanwälten/innen egal gewesen, da sie ohnehin keinen Einfluss auf die Kostenkalkulation gehabt hätten. Ebenso wenig hätten sie (Rechtsanwälte/innen) eine Einflussmöglichkeit auf die Einstellung von Kollegen gehabt; nach ihm sei etwa noch Rechtsanwältin Koppenwallner eingestellt worden; da habe es dann nur geheißen im Rahmen einer Vorstellung, dass dies die Neue sei.
714
In den monatlichen Kanzleibesprechungen seien die Umsätze der Rechtsanwälte/innen Thema gewesen; in die Erstellung der Umsatzlisten sei weder er noch seine Kollegen eingebunden gewesen; entsprechende Auflistungen seien vom Angeklagten ebenfalls vorgelegt worden.
715
Es seien keine festen Arbeitszeiten festgelegt worden, allerdings sei eine Erreichbarkeit für Mandanten während der normalen Bürozeiten gewünscht gewesen. Dementsprechend sei auch im „Freien Mitarbeitervertrag“ vorgesehen gewesen, An- und Abwesenheiten mit dem Kanzleibetrieb zu koordinieren.
716
Potentielle Mandanten, die in der Kanzlei angerufen hätten, seien über den Empfang entsprechend dem jeweiligen Fachgebiet an die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen weitergeleitet worden, entweder direkt oder durch Vereinbarung eines Termines. Da habe man potenziell auch noch „Nein“ sagen können. Der jeweilige Rechtsanwalt habe dann die Vollmacht unterschreiben lassen, wobei auf dem Vollmachtsformular „Kanzlei Dr. S… & Kollegen“ und nachfolgend die Namen aller in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen gestanden seien. Nur die Strafprozessvollmachten hätten seiner Erinnerung nach etwas anders ausgesehen, da habe es „Kanzlei Dr. S… & Kollegen“ auf der Vollmacht geheißen, darunter seien aber nur zwei weitere Rechtsanwälte aufgelistet gewesen.
717
Er selbst habe keine eigenen Mandanten akquiriert, keine eigene Werbung geschaltet. Werbung sei von Seiten der Kanzlei betrieben worden.
718
Seiner Ansicht nach sei das jeweilige Mandatsverhältnis mit der Kanzlei zustande gekommen, er sei Teil der Kanzlei gewesen, die von Dr. S… geführt und organisiert worden sei.
719
Die Fälle habe er eigentlich selbstständig bearbeitet, allerdings am Anfang die Schriftsätze Dr. S… vorgelegt, der schon auch inhaltliche/juristische Fragen betreffend Anmerkungen gemacht habe, nicht nur in sprachlicher Hinsicht. Später habe sich Dr. S… aber nicht mehr „eingemischt“.
720
In den monatlich stattfindenden Kanzleibesprechungen, bezüglich derer die Teilnahme auch der Rechtsanwälte/innen erwartet worden sei, sei es nicht um Inhalte der Mandatsbearbeitung im Konkreten im Sinne einer Anweisung durch Dr. S… gegangen, dort seien (neben den Umsatzlisten) v.a. organisatorische Fragen – wer wann in Urlaub gehe o.ä. – besprochen worden.
721
Die Rechnungen an die Mandanten seien auf Kanzleinamen – Briefkopf der Kanzlei „Dr. S… & Kollegen (die Kollegen seien aufgelistet gewesen)“ – erstellt und von dem/der für das Mandat zuständigen Rechtsanwalt/in unterschrieben worden. Auf der jeweiligen Rechnung sei die Steuernummer der Kanzlei angegeben gewesen; die Zahlungen seien auf eines der Kanzleikonten erfolgt, zu dem er keinen Zugang gehabt habe.
722
Die Rechnungsbegleichung sei durch das Vorzimmer bzw. die Buchhaltung überwacht worden; bezüglich Fragen der Stundung oder Ratenzahlung eines Mandanten habe er glaublich selbstständig ohne Rücksprache entschieden; Mahnungen habe er auch selber mit dem Kanzleibriefkopf und seiner Unterschrift erstellt.
723
In Fällen, in denen Mandanten die Rechnungen nicht bezahlt hätten, sei der Ausfall nicht auf ihn zurückgefallen, seine monatliche Vergütung nicht gekürzt worden.
724
Ob er unternehmerische Chancen gehabt habe, könne er nicht genau beantworten, da er kein Interesse gehabt habe, etwa eine eigene Kanzlei zu gründen. Andere Auftraggeber habe er auch nicht gehabt.
725
Dr. S… sei nicht nur von den Sekretärinnen als „Chef“ bezeichnet worden, so sei er auch unter den Rechtsanwälten/innen bezeichnet worden.
726
Das Thema „Scheinselbstständigkeit“ sei intern nach der Durchsuchung in den Kanzleiräumlichkeiten im Februar 2018 mit den Kollegen schon besprochen worden. Näheres wisse er nicht mehr.
727
Auch mit dem Angeklagten habe er nach der Durchsuchung darüber gesprochen. Dr. S… habe ihm gegenüber geäußert, dass es diverse Betriebsprüfungen gegeben habe und er sich daher sicher fühle. Von einem Statusfeststellungsverfahren sei seiner Meinung nach aber nicht die Rede gewesen.
728
Entsprechend Nr. 2 des zwischen dem Zeugen Linke und der Kanzlei Dr. S… & Kollegen geschlossenen „Freien Mitarbeitervertrages“ führt der Zeuge seine Sozialabgaben, Beiträge zur Krankenkasse und Pflegeversicherung sowie seine Steuern selbst ab. Die Kanzlei zahlt die Berufshaftpflichtversicherung im Rahmen einer Gruppenversicherung und den Kammerbeitrag des freien Mitarbeiters.
729
Insoweit äußerte Zeuge Linke allerdings, dass er die Berufshaftpflicht seiner Erinnerung nach in Höhe von etwa 200,- € bis 300,- € selbst gezahlt habe, er habe den Vertrag nicht gelesen.
730
Daneben habe er selbst die Kranken- und Pflegeversicherung gezahlt, bezüglich der Rentenversicherung habe er einen Befreiungsantrag gestellt, allerdings verspätet, erst Mitte Juli 2016.
731
Nach seinem Ausscheiden aus der Kanzlei Dr. S… & Kollegen im April 2018 (der Angeklagte habe ihm mitgeteilt, dass er sich verkleinern wolle) habe er für etwa 2 Monate in der Kanzlei R… gearbeitet, als Angestellter. Er habe auch Mandate – wie viele wisse er nicht mehr – mitgenommen; unter welchen Bedingungen könne er auch nicht sagen.
732
Anschließend habe er nochmals von Juli 2018 bis Ende Oktober 2018 beim Angeklagten gearbeitet, da dort so viele laufende Akten offen gewesen seien. Dies sei mündlich mit dem Angeklagten ausgemacht gewesen.
733
In dieser zweiten „Episode“ habe er einen eigenen Briefkopf gehabt, lautend nur auf seinen Namen. Wie es dazu gekommen sei, wisse er heute nicht mehr genau, er habe den Briefkopf „ausgetauscht“, das sei mit Dr. S… abgesprochen gewesen. Ob diese Idee aber von ihm (L…) oder dem Angeklagten gekommen sei, wisse er heute nicht mehr.
734
Während dieser Zeit von Juli bis Oktober 2018 habe er tageweise abgerechnet (100,- € für den halben Tag und 200,- € für den ganzen), habe nur Geld bekommen, wenn er auch da gewesen sei, nicht aber, wenn er beispielsweise Urlaub genommen habe; das sei einmal für eine Woche auch der Fall gewesen. Inhaltlich sei aber nichts anders gewesen.
735
Danach habe er dann in der Kanzlei L… als angestellter Rechtsanwalt gearbeitet. Dort habe er netto monatlich etwa 2.435,- € verdient. Bei Dr. S… habe er brutto zwischen 3.000,- € und zum Ende hin 3.500,- € monatlich erhalten, d.h. auf die Hand seien ihm monatlich ca. 2.000,- € verblieben.
736
Sofern er in der Kanzlei R… und dann ab 2019 in der Kanzlei L… als angestellter Rechtsanwalt tätig gewesen sei, habe aus seiner Sicht eigentlich zur Tätigkeit und den Abläufen in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen kein Unterschied bestanden, weder betreffend die inhaltliche, zeitliche und räumliche Ausgestaltung seiner Arbeit (es habe etwa auch keine Zeiterfassung gegeben) noch in der Verteilung/Zuteilung von Mandaten; auch betreffend Urlaub und Krankheit sei es dort so gelaufen, wie in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen.
737
Damit hat der Zeuge L… zusammengefasst im Kern als tatsächlich gelebte Umstände, die gegen eine abhängige Beschäftigung sprechen, vor der Kammer vorgebracht, dass er mit dem Angeklagten eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung schloss und Umsatzsteuer abführte. Weiterhin musste er Urlaub nicht förmlich beantragen und genehmigen lassen, im Krankheitsfall keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen.
738
Allerdings durchlief auch er anfänglich eine Einarbeitungszeit, in der er dem Angeklagten Schriftsätze vorlegte und dieser auch inhaltliche/juristische Anmerkungen vornahm; danach mischte sich Dr. S… nicht mehr ein.
739
Betreffend das Zustandekommen der Vereinbarung hat L… ein inhaltliches Aushandeln ebenso negiert wie eine Wahlmöglichkeit dahingehend, die anwaltschaftliche Tätigkeit in der Kanzlei in einer anderen Rechtsform auszuüben. Auch sprach der Zeuge selbst – ebenfalls Volljurist – von Gehalt, Fixlohn bzw. Fixgehalt und konnte etwa die Verwendung des Begriffs „Probezeit“ in seiner vertraglichen Vereinbarung nicht erklären, sprach vielmehr davon, dass das für ihn nicht zur freien Mitarbeiterschaft passt. Zudem ist der Schilderung des Zeugen L… betreffend die tatsächlich gelebten Gegebenheiten zu entnehmen, dass betreffend Zeit und Ort der Arbeit eine Bestimmung durch den Angeklagten vorgenommen wurde, verbunden damit (aber auch sonst) eine Eingliederung in den Kanzleibetrieb gegeben war, wo er (ohne dafür einen Kostenanteil aufbringen zu müssen, diesen nicht einmal kannte) ein voll eingerichtetes Büro, sowie geschultes Fachpersonal nebst kompletter kanzleiinterner Infrastruktur zur Verfügung hatte. Der Zeuge trug kein eigenes unternehmerisches Risiko, hatte keine Außendarstellung in Form von Werbung oder eigener relevanter Mandantenakquisitation, hatte keine anderen Auftraggeber, war persönlich zur Leistungserbringung verpflichtet und auf die Zahlungen durch den Angeklagten als Existenzgrundlage angewiesen, die unabhängig waren von durch ihn erwirtschaftete Umsätze (auch bei grauenhaftem Umsatz, wenn er deutlich unter dem durchschnittlichen Umsatz lag), der Verlust- und Gewinnsituation der Kanzlei an sich, sowie An- und Abwesenheiten. Ihm fehlten Einflussmöglichkeiten betreffend Kanzleiabläufe; ein Mitspracherecht hatte er weder bzgl. Kalkulation etc. der Betriebsmittel noch betreffend das Personal. Der Zeuge L… sah sich als Teil der Kanzlei, die vom „Chef“ Dr. S… geführt und organisiert wurde.
740
„Scheinselbstständigkeit“ war zumindestens nach der Durchsuchung am 05.02.2018 in Kanzleiräumlichkeiten Thema, auch im Gespräch mit dem Angeklagten, der allerdings auf diverse Betriebsprüfungen, die beanstandungsfrei gewesen seien, verwies, sich daher sicher fühlte, woraus zu schlussfolgern ist, dass der Angeklagte sich selbst bereits auch im maßgeblichen Tatzeitraum mit dem Thema auseinandergesetzt hatte.
741
Die Zeugin An. K… schloss am 17.06.2016/21.06.2016 mit der Anwaltskanzlei Dr. S… & Kollegen einen „Freien Mitarbeitervertrag“ und war dann vom 18.07.2016 bis 31.09. 2017 in der Kanzlei tätig.
742
Das Anbahnungs-/Einstellungsgespräch habe sie persönlich und alleine mit Dr. S… geführt. Der „Freie Mitarbeitervertrag“ (eingeführt im Selbstleseverfahren „1“ I.) sei ihr vorgefertigt zugeschickt worden, sie habe lediglich eine handschriftliche Korrektur in der Adresse und betreffend den Beginn ihrer Tätigkeit vorgenommen, sich im Übrigen aber über den Inhalt des Vertrages keine näheren Gedanken gemacht. Sie sei jung gewesen, es sei ihre erste Tätigkeit als Rechtsanwältin gewesen, sie habe unbedingt im Raum B. arbeiten wollen und sei froh gewesen, in der Kanzlei des Angeklagten, die einen sehr guten Ruf gehabt habe, beschäftigt zu werden.
743
Die freie Mitarbeiterschaft sei vom Angeklagten vorgegeben gewesen. Er habe im Rahmen des Anbahnungsgespräches auch sinngemäß erwähnt, dass dies für einen Rechtsanwalt üblich sei, da dieser seinen Beruf frei ausübe; damit sei ein Angestelltenverhältnis nicht vereinbar. Darüber hinaus habe er erwähnt, dass es bereits Prüfungen seitens der Sozialversicherung und des Finanzamtes ohne jegliche Beanstandung gegeben habe. Sie habe nicht gewusst, ob diese sich auf die in der Kanzlei tätige Rechtsanwälte/innen bezogen hätten, das sei aber auch für sie nicht von Bedeutung gewesen, sie habe sich als junger Anwältin auf den Angeklagten verlassen. Ihr sei damals klar gewesen, dass sie als freie Mitarbeiterin selbstständig sei, zu mindestens in laienhafter Wertung.
744
Neben dem freien Mitarbeitervertrag habe es keine Zusatzvereinbarung gegeben.
745
Der „Freie Mitarbeitervertrag“ wird mit der Zeugin und den Verfahrensbeteiligten durchgesprochen, etwa das Thema Honorarvergütung. Die Zeugin erläutert, dass das monatliche Honorar zunächst (2-3 Monate) 3.000,- € betragen habe, dann auf 3.500,- € erhöht worden sei.
746
Sie habe betreffend das monatliche Pauschalhonorar jeden Monat eine Rechnung an die Kanzlei geschrieben, die Rechnungen hätten darüber hinaus Kosten, die anlässlich von Auswärtsterminen entstanden seien, Fahrtkosten und Abwesenheitsgelder, die gemäß RVG abgerechnet würden, enthalten.
747
Mit der Zeugin K… und den Verfahrensbeteiligten wurde exemplarisch die Rechnung vom 01.05.2017 für April 2017 – Bd. 08 „K…“ – Bl. 08029 f. – in Augenschein genommen. Die Rechnung besteht aus zwei Blättern:
748
Blatt 1 enthält die Posten „Pauschalhonorar netto“: 3.646,60 € und „USt“, - 3.646,60 € = Summe aus vereinbartem Honorar = 3.500,- € + RVG-Geldern, stand so nicht auf der Rechnung Blatt 1 - Blatt 2 die Posten nach RVG 146,60 €.
749
Das in Rechnung gestellte (angebliche) „Pauschalhonorar netto“ sei folglich in Abhängigkeit der Posten nach RVG von Monat zu Monat auf Blatt 1 der jeweiligen Rechnung unterschiedlich hoch ausgewiesen worden.
750
Eine Umsatzbeteiligung habe es nicht gegeben, sie habe immer das vereinbarte Pauschalhonorar erhalten.
751
Sie habe in der Kanzlei ein eigenes Büro gehabt, vollständig eingerichtet einschließlich Computer, Internetzugang etc. Auch habe sie von der Kanzlei Sekretärinnen/Rechtsanwaltsfachgehilfinnen gestellt bekommen bzw. auf diese zurückgreifen können, die nicht nur ihre Diktate geschrieben, sondern etwa auch Fristen, Termine etc., ihrer Mandate überwacht hätten. Sie habe weder einen Mietanteil oder etwas für die Sekretärinnen noch sonst etwas für die in der Kanzlei ihr zur Verfügung gestellte Infrastruktur zahlen müssen. Auch sei ihr diesbezüglich keine Kalkulation o.ä. vorgelegt worden.
752
Auf das Wann und Wie der Beschaffung von Betriebsmitteln habe sie keinen Einfluss gehabt, ebenso wenig darauf, welche Personen (Sekretärinnen bzw. auch Rechtsanwälte/innen) in der Kanzlei mitarbeiten bzw. in welcher Höhe diese Personen bezahlt würden. Auch bezüglich der Kündigungen habe sie kein Mitspracherecht gehabt.
753
In den Kanzleiräumlichkeiten habe es ein Aktenarchiv gegeben, wo Akten bereits beendeter Mandate aufbewahrt worden seien; die laufenden Akten seien in den Vorzimmern gewesen. Sie habe jedenfalls zu Hause keine Akten aufbewahrt.
754
Die Fallzuweisung sei grundsätzlich nach Rechtsgebieten (sie habe Handels-/Gesellschaftsrecht und auch das, was als normales Zivilrecht rein gekommen sei, bearbeitet) durch den Empfang der Kanzlei erfolgt. Es habe also jemand angerufen, der Empfang oder eine Sekretärin habe nach dem betroffenen Rechtsgebiet den Anrufer entweder direkt an einen Rechtsanwalt durchgestellt oder für diesen einen Besprechungstermin eingetragen. Soweit sie wisse, sei bei Fachgebietsüberschneidungen eine Zuweisung über den Aspekt der Auslastung erfolgt. Sie könne sich daran erinnern, dass zum Ende ihrer Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen hin, es einmal eine Situation gegeben habe, dass der Kollegin Ul. A…, die ebenfalls Handels- und Gesellschaftsrecht gemacht habe, Fälle zugewiesen worden seien, die sie noch für den Fachanwalt gebraucht habe; sie habe sich darüber aufgeregt; ob die Zuweisung dieser Fälle durch eine Sekretärin oder durch Dr. S… erfolgt sei, wisse sie aber nicht.
755
Es habe neben der Fallzuweisung nach Rechtsgebieten durch den Empfang aber auch Mandate gegeben, die ihr/K… von Dr. S… zugewiesen worden seien, etwa, da der bisherige Bearbeiter nicht mehr da gewesen sei.
756
Zu Beginn ihrer Tätigkeit sei betreffend ihre Kontakte eine Absprache mit Dr. S… erfolgt. Überhaupt habe Dr. S… sie am Anfang sozusagen an die Hand genommen, sie überall mit hingenommen, in Besprechungstermine, zu Gerichtsterminen, habe die Mandate gemeinsam mit ihr bearbeitet; er habe ihr geholfen, da sie so gut wie nichts von der Rechtsanwaltstätigkeit gewusst habe. Er habe sich anfangs jeden Schriftsatz vorlegen lassen und mit ihr durchgesprochen bzw. z.T. auch Notizzettel mit dem Hinweis, dass etwas so und so gemacht werden müsse, auf die ihm vorgelegten Schriftsätze geklebt, konkret nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich juristisch Anmerkungen gemacht und Ausbesserungen vorgenommen. Sie hätte sich nicht getraut zu sagen, das nehme ich nicht auf. Nach einiger Zeit habe sie einige Dinge – Besprechungen, Gerichtstermine aber auch das Abfassen von Schriftsätzen – auch alleine gemacht. Dr. Sta. habe aber auch immer wieder Einfluss auf die Bearbeitung der Mandate in inhaltlicher Hinsicht ausgeübt, bis zum Ende hin vor allem bei größeren Mandaten, bezüglich derer mehr Honorar im Raum gestanden habe.
757
Das Ablehnen von Mandaten sei grundsätzlich schon möglich gewesen, etwa wenn die Sache „ein wirtschaftlicher Blödsinn gewesen sei“, das habe sie später nicht mit Dr. S… besprechen müssen. An... wäre dies bei einem wirtschaftlich lukrativen Mandat gewesen, da hätte sie das nicht allein und eigenständig entscheiden können.
758
Nach Kontaktaufnahme zu den Personen, die sich zuvor telefonisch über den Empfang oder die Sekretärinnen gemeldet und eine Beratung o.ä. gewünscht hätten, sei dann bei Mandatsübernahme mit diesen eine Vollmacht gefertigt worden, darauf sei der Briefkopf „Dr. S… & Kollegen“, nachfolgend alle tätigen Rechtsanwälte/innen aufgelistet, gewesen.
759
Während ihrer Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten habe sie auch 1-2 Mandanten über ihren Vater, der ein Steuerbüro betreibe, bekommen. Sie habe die Fälle bearbeitet, die Sekretärinnen hätten eine entsprechende Akte angelegt. Abgerechnet worden sei dann – wie bei anderen Mandanten auch – mit Kanzleibriefkopf und im Namen der Kanzlei Dr. S… & Kollegen.
760
Ob sie eine Entscheidungsfreiheit über die Zahlungsweise von Mandanten gehabt habe, könne sie heute nicht mehr sagen. Sie habe die Rechnungen mit Kanzleibriefkopf und der Steuernummer der Kanzlei geschrieben, sowie dann als bearbeitende Rechtsanwältin unterschrieben. Forderungseintreibungen seien durch die Rechtsanwaltsfachangestellten der Kanzlei erfolgt.
761
Grundsätzlich habe es auch keine festgelegten Arbeitszeiten gegeben. Andererseits habe es in der Natur der Sache gelegen, dass man zu den üblichen Kanzleizeiten anwesend gewesen sei, darauf habe Dr. S… auch gelegentlich hingewiesen. Sie sei grundsätzlich Frühaufsteherin und immer schon gegen 07:00 Uhr/07:30 Uhr in der Kanzlei gewesen, bis etwa 17:00 Uhr geblieben. Wenn etwas zum Arbeiten da gewesen sei, sei sie auch länger, so lang wie erforderlich geblieben. Gelegentlich sei sie aber auch mal früher gegangen. Sie habe gegenüber dem Angeklagten immer einen guten Eindruck machen wollen. Konkret könne sie sich aber etwa an eine Gelegenheit erinnern – es sei um ein großes Mandat im Zusammenhang mit der EU-Datengrundverordnung gegangen –, als Dr. S… nachmittags einen Termin im Hinblick auf dieses Mandat gehabt habe. Sie sei dann irgendwann am Nachmittag gegangen. Er habe wohl nach dem Termin mit ihr noch sprechen wollen und ihr gegenüber dann am nächsten Tag geäußert: „Das geht nicht, dass Sie da nicht da sind!“.
762
Da sie aber ohnehin bereits aus der Kanzlei habe ausscheiden wollen, habe sie diese Weisung nicht als Anlass dafür genommen, mehr in der Kanzlei zu sein.
763
In der Kanzlei seien schon Kanzleibesprechungen abgehalten worden, ihrer Meinung nach alle paar Monate mal; an konkrete Themen könne sie sich nicht mehr erinnern. Es sei aber beispielsweise auch die Art und Weise einzelner Mandatsbearbeitungen besprochen worden; auf Vorhalt könne sie heute nicht mehr angeben, ob Thema auch die Sicherstellung von Terminswahrnehmungen gewesen sei; ihrer Meinung nach habe jede/r Rechtsanwalt/in gewusst, zu welchen Terminen er/sie habe gehen müssen.
764
Sie könne sich nicht erinnern, dass in diesen Kanzleibesprechungen „Scheinselbstständigkeit“ mal Thema gewesen wäre.
765
Nach ihrem Ausscheiden aus der Kanzlei Dr. S… & Kollegen und ihrem Eintritt in die Kanzlei von Frau L… habe sie dann mit dieser schon mal darüber gesprochen bzw. von dieser berichtet bekommen, dass sozialversicherungsrechtliche Prüfungen beim Angeklagten unbeanstandet durchgeführt worden seien. Sie wisse allerdings nicht, was genau geprüft worden sei.
766
In der Kanzlei L… arbeite sie als angestellte Rechtsanwältin. Die Arbeitsweise sei im Verhältnis zu ihrer Tätigkeit bei Dr. S… eigentlich nicht groß unterschiedlich, weder in zeitlicher noch in inhaltlicher Hinsicht. Vertraglich sei eine Arbeitszeit von 40 Stunden/Woche festgeschrieben. Frau L… sei aber auch was die Arbeitszeit angehe, sehr großzügig, d.h., wenn sie mit der Arbeit fertig sei, könne sie gehen.
767
Bei einer Abwesenheit bis zu 30 Tagen, egal ob durch Urlaub oder Krankheit, habe sich die Honorarzahlung in der Kanzlei des Angeklagten laut Vertrag nicht verändert; sie habe aber in dem gut einen Jahr, während dem sie dort gearbeitet habe, die Anzahl dieser Abwesenheitstage ohnehin nicht ausgeschöpft.
768
Ihren Urlaub habe sie aber in den Terminkalender eingetragen und auch mit Dr. S… abgestimmt. Sie sei aber maximal mal eine Woche weg gewesen, auch maximal mal eine Woche krank; da habe sie nur angerufen und geäußert, dass sie sich wieder melde, wenn es ihr besser gehe. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung habe sie aber nicht vorgelegt.
769
Sie habe in der Zeit ihrer Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen keine eigene Werbung betrieben, keine eigenen Geschäftsbücher gehabt, keine Firmenbriefbögen o.ä. für Rechnungen etc., keine Visitenkarten, auf denen nur ihr Name gestanden wäre; auch habe sie keine eigenen Angestellten zur Ausübung/Unterstützung ihrer Tätigkeit gehabt.
770
Während dieser Zeit habe sie – da sie die Steuerberaterprüfung habe machen wollen und daher steuerrechtlich relevante Fälle und Erfahrungen gebraucht habe – als freie Mitarbeiterin auch im Steuerbüro ihres Vaters gearbeitet, Schriftsätze zu steuerlichen Themen, die man auch als Rechtsanwältin habe bearbeiten können, gefertigt oder Recherchen zu Steuerproblemen gemacht. Sie könne heute nicht mehr sagen, ob sie ihre Tätigkeit in der Steuerkanzlei ihres Vaters stundenmäßig abgerechnet habe. Sie habe dort aber nicht unter der Woche, sondern nur an Wochenenden gearbeitet oder, wenn sie in der Kanzlei des Angeklagten Urlaub gehabt habe.
771
Wie sich aus den mit der Zeugin und den Verfahrensbeteiligten in Augenschein genommenen Honorarabschlagszahlungen – Bd. 8 „K… – Bl. 08069 f. – ergibt, hat die Zeugin etwa im Jahr 2016 in den Monaten Oktober – Dezember 2016 je ca. 1.600,- € brutto Abschlagszahlung aus der Tätigkeit bei ihrem Vater erhalten; dazu befragt äußerte sie nochmals, dass sie aber bei ihrem Vater nur an den Wochenenden und zu Zeiten, wo sie in der Kanzlei des Angeklagten Urlaub gehabt habe, gearbeitet habe.
772
Sie sei dann Ende September 2017 aus der Kanzlei Dr. S… & Kollegen ausgeschieden, da sie in eine Kanzlei gewollt habe, wo sie mehr Steuerthemen habe bearbeiten können. Auch habe es zwischen den Sekretärinnen und den Rechtsanwälten/innen immer wieder „Klinsch“ gegeben. Konkretes könne sie aber nicht sagen.
773
Sie habe dann ein Kündigungsschreiben verfasst, mit dem Angeklagten aber ausgehandelt, dass sie abweichend von der im „Freien Mitarbeitervertrag“ festgeschriebenen Kündigungsfrist von 3 Monaten früher gehen könne. Am Tag der Kündigung habe Dr. S… zu ihr gesagt, dass er mit ihr über eine eventuelle Beteiligung habe reden wollen.
774
Bei ihrem Ausscheiden habe sie eigentlich keine Mandate mitgenommen. Die noch laufenden Mandate – sie können nicht sagen, wie viele dies gewesen seien – seien weder spannend noch honorarträchtig gewesen; sie habe über die Mitnahme der Mandate mit Dr. S… nach ihrer Erinnerung nicht geredet. Ein Mandat sei aber quasi zu ihr „rübergeschwappt“, d.h. es sei vor ihrem Ausscheiden in 1. Instanz bereits abgeschlossen worden, dann sei aber unerwartet Berufung eingelegt worden.
775
Dr. S… habe die Beitragszahlungen an die Versorgungskammer geleistet. Sie habe, als sie bei Dr. S… angefangen habe, in die Rechtsanwaltsversorgung eingezahlt.
776
Sie sei privat kranken- und pflegeversichert gewesen.
777
Gefragt danach, ob und wann sie einen Freistellungsantrag gestellt habe, äußerte die Zeugin, dass sie dies nicht mehr genau wisse, jedenfalls aber, als sie nach Ausscheiden aus der Kanzlei Dr. … & Kollegen 2017 in die Kanzlei von S. L… gewechselt sei, habe sie einen Befreiungsantrag gestellt.
778
Der Zeugin wird der Erhebungsbogen der Bay. Rechtsanwalts- und Steuerberaterversorgung (Bl. 518 ff. d.A.) vorgehalten, sowie deren Schreiben vom 29.09.2016, wonach die Zeugin seit 31.08.2016 Pflichtmitglied ist. Der Befreiungsantrag ging am 12.02.2016 ein (Zeugin gab darin an, dass die derzeitige Berufsausübung seit 18.07.2016 ausschließlich selbstständig ist), Beginn des Beschäftigungsverhältnisses bzw. der Versicherungspflicht als Selbstständiger, Sozialleistungsbezahler war der 01.10.2017 und der Beginn der Pflichtmitgliedschaft in der Versorgungseinrichtung und der Berufskammer (Bay. Rechtsanwalts- und Steuerberaterversorgung) der 31.08.2016.
779
Hinsichtlich der Zeugin K… hat die Zeugeneinvernahme für die Kammer in den Kernpunkten zu den vorgenannten Zeugen weitgehend deckungsgleiche Aspekte ergeben, d.h. konkret Folgendes:
780
Sie schloss mit dem Angeklagten eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung, führte Umsatzsteuer ab, musste im Fall der Erkrankung keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen, den Urlaub auch nicht förmlich beantragen und genehmigen lassen (hat ihn allerdings mit Dr. S… abgestimmt), Aspekte, die für freie Mitarbeiterschaft sprechen.
781
Demgegenüber hatte auch sie keinerlei Einflussmöglichkeit auf die inhaltliche Gestaltung der im Juni 2016 geschlossenen Vereinbarung mit der Kanzlei des Angeklagten, erhielt ein festes monatliches Pauschalhonorar unabhängig vom Umfang und der Qualität ihrer Arbeit oder des Umsatzes der Kanzlei, sowie unabhängig von Abwesenheiten in Form von Krankheit und Urlaub. Sie war in die betriebliche Struktur und deren Abläufe fest eingebunden, hatte keinerlei Mitspracherecht betreffend die Organisation der Kanzlei und die Gestaltung der Abläufe, verfügte in selbiger über ein voll ausgestattetes, eigenes Büro (hatte keine eigene Betriebsstätte), sowie das Kanzleipersonal (beschäftigte kein eigenes Personal), ohne dass sie einen Mietanteil, Kostenanteile für die zur Verfügung gestellte Kanzleiinfrastruktur einschließlich Personal etc. zahlen musste, kannte die entsprechenden Kalkulationen nicht, hatte aber auch keinen Einfluss auf etwaige diesbezügliche Entscheidungen.
782
Der Angeklagte nahm die Zeugin – die Fälle nach Rechtsgebiet zugewiesen bekam – zu Beginn ihrer Tätigkeit in der Kanzlei „an die Hand“, bearbeitet Mandate mit ihr gemeinsam, half ihr; die Zeugin legte ihm jeden Schriftsatz vor, der Angeklagte sprach die Schriftsätze mit ihr durch, klebte zum Teil Notizzettel mit Hinweisen, wie etwas zu machen ist, ein, sodass eine inhaltliche Einflussnahme auf den Kernbereich der anwaltschaftlichen Arbeit gegeben war. Die Zeugin hätte sich auch nicht getraut, Ausbesserungen nach Weisung des Angeklagten nicht vorzunehmen. Gleichfalls nahm der Angeklagte Weisungen in zeitlicher und damit auch örtlicher Hinsicht vor, wünschte, die Anwesenheit zu den Kanzleiöffnungszeiten und brachte dies, sofern sich die Zeugin nicht daran hielt, durch Äußerungen wie: „Das geht nicht, dass Sie da nicht da sind!“ auch deutlich zum Ausdruck, merkte dies aber auch generell immer wieder etwa in den Kanzleibesprechungen an.
783
Nach außen trat die Zeugin nicht unternehmerisch/eigenständig auf, die Mandate kamen mit der Kanzlei zustande (auch die wenigen, die sie über das Steuerbüro ihres Vaters akquirierte), wurden im Kanzleinamen bearbeitet und über die Kanzlei abgerechnet; auf die Kanzleikonten, auf die die Zahlungseingänge erfolgten, hatte sie keinen Zugriff. Sie hatte keine eigenen Geschäftsbücher, keine Firmenbriefbögen oder Visitenkarten nur mit ihrem Namen, betrieb keine eigene Werbung, hatte kein eigens Personal. Wirtschaftlich lukrative Mandaten hätte sie selbstständig nicht ablehnen können.
784
Sie arbeitete zwar auch im Steuerbüro ihres Vaters W. K… zeitweise mit, allerdings ausschließlich am Wochenende oder, wenn sie in der Kanzlei des Angeklagten Urlaub hatte.
785
Nach dem Ausscheiden aus der Kanzlei Dr. S… & Kollegen arbeitete sie als Angestellte Anwältin, diese Arbeitsweise unterschied sich von derjenigen in der Kanzlei des Angeklagten nicht groß, weder in zeitlicher noch in inhaltlicher Hinsicht.
786
Die als Zeugen einvernommenen Rechtsanwälte, die im noch verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum in der Kanzlei des Angeklagten tätig waren (D. II. 2.) a) 3.), haben zwar zunächst alle (mehr oder weniger) „verhalten“ ausgesagt, dann aber bei mehrfachem Nach- und Rückfragen durch das Gericht und die übrigen Verfahrensbeteiligten durchaus glaubhaft und glaubwürdig hinsichtlich der relevanten Umstände ausgesagt.
787
Es war bei Beginn der jeweiligen Vernehmung zu erkennen – und wurde auch verschiedentlich erwähnt –, dass sie sich in einem gewissen „Zwiespalt“ sahen, da sie zum einen als Berufsanfänger, die sie jeweils beim Eintritt in die Kanzlei des Angeklagten waren, froh waren, in einer so renommierten Kanzlei mit gutem Ruf untergekommen zu sein und den Angeklagten während der Zeit ihrer Kanzleizugehörigkeit als guten Chef sahen, der ihnen eine fundierte Ausbildung zukommen ließ. Zum anderen war dieses „Aufblicken zum erfahrenen Dr. S… aber auch gerade der Grund dafür, dass sie während der Zeit ihrer Kanzleizugehörigkeit aufkommende Bedenken hinsichtlich ihres Status grundsätzlich recht schnell wieder hinten anstellten, da das in der Kanzlei des Angeklagten schon immer so gemacht worden sei, der Angeklagte schon wisse was er tue oder geäußert habe, alles sei geprüft, alles passe. Auch dies zeigt eine bestehende, tatsächlich gelebte Über-/Unterordnung, die persönliche Abhängigkeit der Anwälte vom Angeklagten, der „Chef“, der „Entscheider“ in der Kanzlei war.
788
Insgesamt haben sich für die Kammer aber keine Hinweise dafür ergeben, dass einer der Anwälte den Angeklagten zu Unrecht belastet haben könnte (eher im Gegenteil, da sich die Zeugen teilweise auf Erinnerungslücken beriefen, etwa hinsichtlich der Frage, von wem und mit wem die Problematik „Scheinselbstständigkeit“ erörtert worden sei, eine Aussage, die das Gericht nicht allen Zeugen glaubte, nachdem bereits die Zeugen G… und H… für die Zeit ihrer Tätigkeit in der Kanzlei nachvollziehbar erklärten, dass „Scheinselbstständigkeit in der Kanzlei ein offenes Geheimnis war“ und darüber gesprochen wurde). Auch soweit es bei Anwälten im Zusammenhang mit dem Ausscheiden aus der Kanzlei des Angeklagten zu „Unstimmigkeiten“ gekommen war (fiel ihnen z.T. erst wieder auf Vorhalt und Verlesen entsprechenden Schriftverkehrs ein), hatte die Kammer nicht den Eindruck, dass diese Zeugen mit besonderem Belastungseifer ausgesagt hätten oder gar Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie den Angeklagten zu Unrecht belastet hätten.
789
Hinsichtlich aller Rechtsanwälte/innen, die im noch verfahrensgegenständlichen, nicht verjährten Tatzeitraun in der Kanzlei des Angeklagten tätig waren und deren Tätigkeit den Feststellungen zum Sachverhalt entsprechend Ziffer C. dieses Urteiles zugrunde gelegt wurden, hat sich damit folgerdes Gesamtbild ergeben:
790
Alle Rechtsanwälte/innen haben mit der Kanzlei des Angeklagten eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung getroffen. Zudem wurde jeweils eine auf einem gesonderten Blatt abgefasste Zusatzvereinbarung unterfertigt (Ausnahme: L… und K…, Tätigkeit ab 2016), welche zum „Mantelvertrag“ zum Teil in Widerspruch stand (bzgl. Werbung und der Frage der Beschäftigung einigenden Personals, sowie der Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei), aber auch Formulierungen enthielt, die typischerweise in Arbeitsverhältnissen anzutreffen sind (etwa unveränderte Honorarfortzahlung bei Abwesenheit ohne Krankheit bis 28 Tage, mit Krankheit bis 30 Tage Werktagen). Außerdem befanden sich bereits in den vorliegenden schriftlichen Vereinbarungen in sprachlicher Hinsicht Vorgaben bezüglich Zeit (Koordinierung der An- und Abwesenheiten mit dem Kanzleibetrieb bzw. Benennung fester Tage oder Zeiten – Stunden/pro Woche –, wo der betroffene Anwalt seine Tätigkeit für die Kanzlei erbringen sollte), aber auch (eher auf eine abhängige Beschäftigung hindeutende) Begrifflichkeiten wie Probezeit oder Probearbeitverhältnis.
791
Keiner der Rechtsanwälte/innen hatte ein Mitgestaltungsrecht betreffend die vertragliche Ausgestaltung. Der Angeklagte vertrat nach außen die Ansicht, dass Rechtsanwälte einen freien Beruf ausüben und damit ein Angestelltenverhältnis nicht vereinbar sei. Mantelvertrag und Zusatzvereinbarung, auf zwei getrennten Blättern abgefasst, wurden den Anwälten vom Angeklagten vorgefertigt zur Unterschrift ausgehändigt. Die Anwälte hatten keinen Einblick etwa in die Frage der Kalkulation der Höhe ihres Jahreshonorars. Von der Kanzlei wurden Weiterbildungskosten, Haftpflichtversicherung und Kammerbeitrag, sowie Literatur bezahlt.
792
Auch betreffend die Anwälte L… und K… – bzgl. derer es nicht zum Abschluss einer Zusatzvereinbarung kam – findet sich die vertragliche Regelung der Koordinierung der An- und Abwesenheit mit dem Kanzleibetrieb, gleichfalls sind Werbemaßnahmen mit der Kanzlei abzustimmen, Abwesenheit von 30 Werktagen p.a. verändert die Honorarzahlungen nicht, Kosten für Weiterbildung werden von der Kanzlei getragen, ebenso Haftpflichtversicherung und Kammerbeitrag. Der Begriff der Probezeit findet sich im Vertrag des Zeugen L… ebenso bestimmt der Angeklagte im Schreiben vom 24.03.2016 an den Zeugen L… den Arbeitsbeginn mit 02.05.2016, ca. 08:00 Uhr.
793
Betreffend die tatsächlich gelebten Verhältnisse ergab sich betreffend alle Anwälte übereinstimmend, dass die An- und Abwesenheiten nicht nur mit dem Kanzleibetrieb zu koordinieren waren, vielmehr es der Angeklagte war, der Anwesenheit während der Kanzleiöffnungszeiten zum einen in Kanzleibesprechungen immer wieder zum Thema machte und einforderte („Ihr müsst von da bis da anwesend sein“/„Ihr könnt nicht solange Mittag machen“/„Ihr könnt nicht erstmal in der Kanzlei frühstücken“, vgl. D. II. 2.) a) 3.5., auch im Kontext mit der Frage, Kanzleiumsätze zu steigern), zum anderen, sofern sich Anwälte nicht daran hielten, diese persönlich darauf ansprach, auch Kritik äußerte („Das geht nicht, dass Sie da nicht da sind!“; vgl. D. II. 2.) a) 3.14). Allen Anwälten war klar, dass man während der Kernzeiten in der Kanzlei vor Ort sein musste, woran die meisten sich auch hielten.
794
Der Urlaub musste zwar weder förmlich beantragt noch genehmigt werden, ein Abstimmen mit dem Kanzleibetrieb (auch mit dem Angeklagten) erfolgte aber. Ebenso wünschte der Angeklagte nicht, dass alle Anwälte während der Sommerferien gleichzeitig in Urlaub gehen (D. II. 2.) a) 3.5.) bzw. die Kanzlei an Brückentagen unbesetzt ist (D. II. 2.) a) b) 5.). Außerdem hat (Ausnahme An. D…) keiner der im Tatzeitraum in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte die vertraglich festgeschriebenen Urlaubstage auch nur annähernd ausgeschöpft. Betreffend Krankheit berichteten die Anwälte übereinstimmend, über Jahre hinweg insgesamt nur wenige Tage krank gewesen zu sein, mal 1-2 Tage; eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mussten sie insoweit nicht vorlegen.
795
In inhaltlicher Hinsicht unterlagen alle „Neuen“ zunächst einer Einarbeitungs-/Ausbildungs- bzw. Probearbeitszeit (… am Anfang war die Arbeit sehr stark auch inhaltlich vom Angeklagten geprägt …, vgl. D. II. 2.) a) 3.4.), die zwischen mehreren Monaten bis einige Jahre dauerte. Während dieser wurden sie vom Angeklagten an die Hand genommen: Der Angeklagte ließ sich ihrer Schriftsätze (z.B. mittels Mappenvorlage) vorlegen, korrigierte diese – nahm das Feinjustieren von Schriftsätzen vor, brachte Ergänzungen hinsichtlich Schlüssigkeitsdarlegungen vor etc. –, Korrekturen, die die Anwälte übernahmen (… hätte mich nicht getraut, das nichts zu tun … vgl. D. II. 2.) a) 3.14.). Der Angeklagte achtete auch auf die Durchsetzung eines einheitlichen äußeren Erscheinungsbildes der Kanzlei betr. stilistische Aspekte der Abfassung von Schriftsätzen, wünschte keinen individuellen Stil. Nach der jeweiligen Einarbeitungszeit wurden die Anwälte in ihrer Tätigkeit inhaltlich freier. Einzelfallbezogen mischte sich der Angeklagte aber auch weiterhin ein, erteilte beispielsweise die Weisung, notleidende Mandate weiter zu bearbeiten, obwohl der jeweilige Anwalt das nicht wollte bzw. Bekannten und Freunden keine Kostennote zu stellen, was der Anwalt dann nur auf Veranlassung des Angeklagten unterließ. Es bestand eine persönliche Leistungserbringungspflicht.
796
Einzig St.F. schilderte, dass Dr. S… ihr keine inhaltlichen Vorgaben machte, auch nicht zu Beginn ihrer Tätigkeit.
797
Insbesondere äußerten alle Anwälte/innen, die in Ziffer C. (festgestellter Sachverhalt) aufgeführt sind, von Anbeginn ihrer Tätigkeit in die Organisationsstruktur des Kanzleibetriebes eingegliedert worden und gewesen zu sein: Sie erhielten ein eigenes Büro, kanzleieigene Betriebsmittel und Infrastruktur einschließlich Personal, fügten sich in die bereits bestehenden, vorgegebenen Organisationsabläufe und Rahmenbedingungen ein, ohne diesbezüglich einen (mit-)gestaltenden Einfluss oder gar ein Mitspracherecht zu haben. Sie bedienten sich des kanzleiinternen Personals (Aktenanlage und -verwaltung, Kontaktzuweisung und Terminsabsprachen, Führen des Fristenkalenders und Fristenüberwachung, Erbringung von Arbeitsleistungen in Form von Schreibarbeiten, Rechnungsstellung gegenüber Mandanten, Forderungseintreibung etc.). Betreffend die Mandatszuweisung waren die Anwälte (sofern sie nicht direkt Akten durch den Angeklagten zur Bearbeitung vorgelegt bekamen) auf das bereits bestehende System der Verteilung nach Fachgebieten angewiesen, ohne den Verteilungsschlüssel (sofern mehrere Anwälte das gleiche Fachgebiet bearbeiteten) zu kennen, geschweigedenn Einfluss auf diesen zu haben.
798
Der Angeklagte wurde nicht nur von Sekretärinnen/Rechtsanwaltsgehilfinnen als „Chef“ angesehen, sondern auch von den Anwälten und dies bereits zu Zeiten, als Er.F. bzw. S. L… noch in der Sozietät waren (vgl. etwa D. II. 2.) a) 3.10. oder 3.13., aber auch M…, D. II. 2.) b) 2.). Es war der Angeklagte, der hinsichtlich Organisation und Personal federführend war und bei Meinungsverschiedenheiten die letzte Entscheidungsbefugnis innehatte (vgl. auch nachfolgend b) für die Zeit vor dem verbliebenen verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum). Die Anwälte selbst sahen sich als Assistent des Angeklagten (vgl. D. II. 2.) a) 3.1.), als Teil der Kanzlei (vgl. D. II. 2.) a) 3.3.; 3.8.; 3.10. oder 3.13.), vertraten die Ansicht, ihre Arbeitsleistung für den Angeklagten zu erbringen (vgl. D. II. 2.) a) 3.9.).
799
Sie bearbeiteten die Mandate, die sie über den Empfang/die Sekretärinnen nach Fachgebiet zugewiesen bekamen – ein ebenfalls etabliertes System, welches der Angeklagte bereits Jahre vor dem verfahrensgegenständlichen Zeitraum installiert hat (vgl. V…: … im Hintergrund sei aber der Angeklagte für die Verteilung nach Rechtsgebieten verantwortlich gewesen …; L… der Ablauf der Kontakt-/Mandatszuweisung sei durch den Angeklagten vorgegeben worden; er hat dies so mit den Sekretärinnen besprochen …; vgl. nachfolgend D. II. 2.) b) 5.). Dass die Verteilungsgrundsätze der Mandatszuweisungen nicht im freien Belieben der Sekretärinnen lag, sondern eine entsprechende Vorgabe des Angeklagten, des „Chefs“ und „Entscheiders in der Kanzlei“ bestand, ist zudem lebensnah.
800
Die Anwälte bearbeiteten die Mandate im Namen der Kanzlei, fertigten Schriftsätze auf Kanzleipapier/mit Kanzleibriefkopf, rechneten die Mandate über die Kanzlei ab; die Zahlungen erfolgten auf Kanzleikonten, zu denen die Anwälte keinen Zugriff hatten.
801
Die Anwälte waren nicht eigenständig unternehmerisch tätig (hätten auch aufgrund der Einbindung in den Kanzleibetrieb des Angeklagten gar keine Zeit dazu gehabt), hatten überwiegend gar keine anderen oder keine wesentlich zur Erwirtschaftung der Lebensgrundlage beitragenden anderen Auftraggeber; weitere Auftraggeber hatten nur H… (2 Jahre Lehrer an der FOS: 1. Jahr 10 Stunden/pro Woche, 2. Jahr nur noch 3-4 Stunden pro Woche an einem Vormittag, da es zu viel wurde neben der Kanzlei, mit Zustimmung des Angeklagten und auch als eine Art Werbung für die Kanzlei; die Zeit arbeitete er wieder rein) und K… (die allerdings nur an Wochenenden oder während des Urlaubs in der Kanzlei des Angeklagten bei ihrem Vater arbeitete; beide erzielten damit aber nicht ihre Haupteinnahmen).
802
Neben dem Büro in den Kanzleiräumlichkeiten hatte keiner der Rechtsanwälte/innen eine eigene Betriebsstätte und keiner schilderte ein eigenständiges Auftreten am Markt: Die Anwälte beschäftigten kein eigenes Personal, betrieben keine eigene Werbung, hatten keinen eigenen Internetauftritt oder eigene Visitenkarten ohne Kanzleibezug, keine eigenen Briefbögen/Geschäftspapiere, keine eigenen Geschäftsbücher, d.h. keiner der Anwälte hatte einen eigenständigen Außenauftritt in der Branche ohne Bezug zur Kanzlei des Angeklagten.
803
Ihrerseits stellten die Rechtsanwälte/innen monatlich Rechnungen an die Kanzlei betreffend das vereinbarte Pauschalhonorar, welches ihnen unabhängig von Gewinn und Verlust, dem erbrachten eigenen Umsatz, An- und Abwesenheiten, vom Umstand, ob Mandanten bereits gezahlt hatten etc., entrichtet wurde.
804
Sie erstellten alle uni sono (lediglich K… machte es 2 × anders, passte sich dann aber dem „System“ an, vgl. nachfolgend D. II. 2.) e) 4.) die jeweilige Rechnung an die Kanzlei auf 2 Blättern („2-Blatt-Rechnungs-System“): Auf Blatt 1 wurde das „Nettohonorar“/“Vergütung laut Vereinbarung“ nebst USt/MWSt aufgeführt, allerdings waren dem „Nettohonorar“/der „Vergütung laut Vereinbarung“ bereits Posten nach dem RVG – ohne gesonderte Ausweisung und Erkennbarkeit – hinzuaddiert, die mithin monatlich (abweichend von der tatsächlich getroffenen Vereinbarung laut Mantelvertrag und tatsächlich monatlich gleich hoher Pauschalvergütung) variierte; auf Blatt 2 waren die Posten nach RVG ersichtlich.
805
Es kam zwar im Laufe der Zeit bei den Anwälten zu Erhöhungen der Vergütung, jedoch ausschließlich aufgrund einer Entscheidung des Angeklagten und nach seinem Ermessen. Reduzierungen gab es nie, auch nicht in Zeiten schlechter Umsätze (der Anwälte bzw. der Kanzlei insgesamt).
806
Neben der fehlenden Außendarstellung bzw. dem fehlenden eigenständigen Auftritt am Markt/in der Branche trugen die in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte kein Haftungsrisiko.
807
Alle Anwälte bezeichneten (da dies unter den Kollegen so üblich und von den „Neuen“ so übernommen worden war; vgl. etwa vgl. D. II. 2.) a) 3.1. oder 3.6. und auch nachfolgend e) 3.2., Selbstleseverfahren „7“) gegenüber Behörden oder im Rahmen ihrer Steuererklärungen ihre Einnahmen als solche aus selbstständiger Tätigkeit, gaben aber gleichzeitig an, dass die Thematik „Scheinselbstständigkeit“ als Nebengeräusche in der Kanzlei unter Kollegen virulent war – vereinzelt auch direkt gegenüber dem Angeklagten angesprochen wurde (vgl. etwa D. II. 2.) a) 3.11.) –, aber im Hinblick darauf, dass der Angeklagte das über Jahrzehnte schon immer so gemacht hat bzw. (so einige Zeugen) einfließen ließ, dass eine Betriebsprüfung erfolgt und nichts beanstandet worden sei, nie vertieft wurde, wenn auch keinem der Zeugen Umfang und Gegenstand der Betriebsprüfung (objektiv) bekannt war (vgl. D. II. 2.) a) 3.11.).
808
Einige der einvernommenen Anwälte sahen nicht nur die Problematik „Scheinselbstständigkeit“, sondern gaben an, sich bereits im Laufe der Zeit ihrer Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten als Scheinselbstständig gesehen (s. D. II. 2.) a) 3.1.) bzw. im Zusammenhang mit dem Ausscheiden, insbesondere der „dabei entstandenen schriftlichen Korrespondenz“ diesbzgl. ein Problem gesehen zu haben (wenn auch grundsätzlich nicht zu Beginn, da sie sich über den Status bei Beschäftigungsbeginn als junge Juristen/Berufsanfänger keine Gedanken gemacht hätten, vielmehr dem Angeklagten, Sozius einer etablierten und renommierten Kanzlei mit gutem Ruf, vertraut hätten; s. D. II. 2.) a) 3.1.; 3.3.; 3.6.; 3.8.; 3.9. und 3.10).
809
Diese Zusammenfassung der Kernaussagen der im verbliebenen Tatzeitraum in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte/innen dokumentiert sowohl in der Einzelbetrachtung aber auch in einer wertenden Gesamtbetrachtung ein „Modell der Scheinselbstständigkeit“ – vgl. insbesondere dazu auch nachfolgend die rechtliche Subsumtion in Ziffer E., da sich im konkreten Fall beweisrechtliche und rechtliche Wertung z.T. „überlappen“ –, welches der Angeklagte seit Beginn der Gründung seiner Kanzlei Anfang der 80ziger Jahre installiert hatte und stets damit begründete, dass aus seiner Sicht der freie Beruf des Anwaltes mit einer Tätigkeit als angestellter Rechtsanwalt unvereinbar sei (vgl. auch nachfolgend Ziffer D. II. 2.) b), sowie Erklärung des Angeklagten vom 22.08.2019, eingeführt im Selbstleseverfahren „1“ VII., auf die nachfolgend noch eingegangen werden wird; D. II. 2.) e) 3.1.).
810
Der Umstand, dass es sich insoweit um ein vom Angeklagten installiertes und seit Anfang der 80ziger Jahre im Kern fest etabliertes Modell gehandelt hat („Wurzel“ des Systems bereits weit vor dem verbliebenen Tatzeitraum), wird zusätzlich belegt durch die Angaben der Rechtsanwaltszeugen, die zwar im Tatzeitraum nicht mehr in der Anwaltskanzlei des Angeklagten tätig waren, aber davor bzw. diejenigen, die nicht Gegenstand der Anklage waren:
811
b) Rechtsanwaltszeugen, die im Tatzaitraum nicht mehr in der Anwaltskanzlei des Angeklagten gearbeitet haben bzw. nicht Gegenstand der Anklage waren:
812
Der Zeuge Er.F. war von Januar 1983 bis 1995 ehemaliger Sozietätspartner des Angeklagten.
813
Es habe – so F. – sich dann die Frage nach Mitarbeitern gestellt. Es sei eine Entscheidung für freie Mitarbeiter getroffen worden, wobei der Angeklagte und er sich bewusst gewesen seien, dass dann Weisungsunabhängigkeit und eine freie Arbeitszeiteinteilung habe vorliegen müssen. Er wisse heute aber nicht mehr, was der Angeklagte und er damals darunter verstanden hätten. Er sei Fachanwalt für Strafrecht und kenne sich in vertraglichen Angelegenheiten nicht so aus, habe das deshalb dem Angeklagten überlassen. Der Angeklagte habe Anwälte nicht als Arbeitnehmer einstellen wollen.
814
Hinsichtlich der Frage nach der Ausgestaltung des Briefkopfes könne er angeben, dass darauf gestanden habe „Anwaltssozietät Dr. S…, F. & Kollegen“, später, mit Eintreten der Frau L… „Anwaltssozietät Dr. S…, F., L… & Kollegen“. Darunter seien dann die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen aufgelistet gewesen.
815
Bei den Einstellungsgesprächen der Rechtsanwälte/innen sei er zum Teil dabei gewesen. Die jeweilige Einstellung habe dann letztlich aber der Angeklagte vorgenommen, der dabei auch die Form der getroffenen Vereinbarung (Freier Mitarbeiter) vorgegeben habe, ein Modell, das über Jahre so gehandhabt worden sei.
816
Dem Zeugen F. wird aus Bd. 19 „M… – Bl. 19001 f. – der Mitarbeitervertrag (Beginn der Tätigkeit: 01.04.1991), den er/F. neben Dr. S… und M… mitunterschrieben hat, vorgehalten: Der Zeuge erklärt hierzu, sich daran nicht erinnern zu können, insbesondere nicht an Ziffer 6. (Im Krankheitsfall ruht die Zahlung der Vergütung nach 6 Wochen) oder Ziffer 7. (Der Rechtsanwalt ist berechtigt, jährlich 28 Tage Urlaub, für 1991 noch 21 Tage, zu nehmen).
817
Die Arbeitszeit der in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen sei von morgens 08:00 Uhr bis abends gegangen; auch in „seiner Zeit“ von 1983-1995 seien die Anwälte während dieser Zeit in der Kanzlei gewesen, das sei klar gewesen. Sie hätten eigene Büros gehabt, seien in den Kanzleibetrieb eingegliedert gewesen, hätten in der Anfangszeit, soweit er sich erinnern könne, ihre Schriftsätze dem Angeklagten vorlegen müssen.
818
Details zur eigentlichen Organisation wisse er heute nach so langer Zeit aber nicht mehr.
819
Die Mandatsverteilung sei entsprechend der Fachgebiete an die freien Mitarbeiter erfolgt.
820
Nachdem sich Frau L… Anfang der 90ziger – das genaue Datum wisse er nicht mehr – in die Kanzlei eingekauft habe, sei er eigentlich nicht mehr viel gefragt worden. Die organisatorischen Entscheidungen habe der Angeklagte nach seinem Kenntnisstand allein getroffen.
821
Irgendwelche Änderungen bei der Beschäftigung von Rechtsanwälten/innen habe er nicht in Erinnerung, ebenso keine grundlegenden Änderungen im Betriebsablauf, etwa betreffend die Mandatsverteilung.
822
Der Zeuge … ist zwar bereits weit vor dem verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum aus der Kanzlei des Angeklagten ausgeschieden und berief sich betr. einige Fragen darauf, sich aufgrund Zeitablaufes nicht mehr erinnern zu können.
823
Er schilderte aber zum einen, dass die Frage der rechtlichen Ausgestaltung der Mitarbeit von Anwälten/innen vom Angeklagten entschieden wurde.
824
Zum anderen legte er dar, dass es der Angeklagte war, der letztlich Einstellungen von Anwälten/innen vornahm und dabei auch die Form der getroffenen Vereinbarung vorgab, ein Modell, das über Jahrzehnte so gehandhabt wurde. Zudem war es der Angeklagte, der auch die organisatorischen Entscheidungen traf. Er.F. hatte mit Personal (auch anderen Anwälten) und Personalentscheidungen nichts zu tun. Die Arbeitszeit der in der Kanzlei tätigen Rechtsanwältinnen gibt er mit 08:00 Uhr morgens bis abends an. In der Anfangszeit eines jeden Anwalts waren die Schriftsätze dem Angeklagten vorzulegen, die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen hatten ein eigenes Büro.
825
Der Zeuge K.-H. M… äußerte, dass er ab 01.04.1991 freier Mitarbeiter in der Sozietät Dr. S…, F. & Kollegen gewesen sei; er sei am 31.12.2009 aus der Sozietät Dr. S…, L… & Kollegen ausgeschieden.
826
Er sei frisch mit dem Studium fertig gewesen und habe sich auf eine Annonce hin gemeldet. Kollegen aus der Justiz, die er gekannt habe, hätten ihm gegenüber geäußert, dass dann, wenn er eine Chance habe, in diese renommierte Kanzlei zu kommen, dort den Job annehmen solle.
827
Gesprächspartner bei seiner Vorstellung sei ausschließlich Dr. S… gewesen, dieser sei auch immer sein Ansprechpartner gewesen (nie Rechtsanwalt F.). Es sei dann ein „Mitarbeitervertrag“ geschlossen worden; er habe zuvor von zwei anderen als freie Mitarbeiter in der Kanzlei tätigen Anwälten einen entsprechenden Vertrag vorgelegt bekommen und habe diesen auf seine Person „umgeändert“ (betreffend Name, Beginn der Tätigkeit etc.), der Vertrag sei dann so von Dr. S… und ihm unterschrieben worden.
828
Dem Zeugen M… wird der Vertrag aus Bd. 19 „M… – Bl. 19001 f. – vorgelegt. Der Vertrag wird verlesen. Der Zeuge erläutert: Ja, so sei der Vertrag gewesen.
829
Über die Thematik „freie Mitarbeiterschaft“ an sich sei nicht gesprochen worden. Er habe sich auch keine weiteren Gedanken gemacht; er habe als Berufsanfänger natürlich keine Zweifel gehabt, dass das alles passt, wenn Dr. S… das so mache.
830
Als er sich in späteren Jahren, beispielsweise nach Ausscheiden aus der Kanzlei des Angeklagten, seinen „Mitarbeitervertrag“ noch mal angeschaut und natürlich auch aufgrund der Berufserfahrung andere Erkenntnisse gehabt habe, als 1991 bei Vertragsabschluss, habe er sich schon gedacht, dass die Merkmale, die für eine angestellte Tätigkeit sprechen würden, überwiegend seien, auch bei der praktischen Umsetzung.
831
Er habe dann ein eigenes Büro bekommen, voll ausgestattet, ohne dass ihm dafür Kosten in Rechnung gestellt worden seien. Er wisse auch nicht, was da für Kosten entstanden seien, weder für die Büromiete noch für die Büroinfrastruktur der Kanzlei oder das Kanzleipersonal in Form von Sekretärinnen etc. Die Kanzlei habe alles gestellt.
832
Er habe neben dem Büroraum in der Kanzlei auch keine anderen Geschäftsräume unterhalten.
833
Er habe kein Mitspracherecht geschweigedenn eine (Mit-)Entscheidungsbefugnis betreffend Anschaffungen, Einstellung/Kündigung von Sekretärinnen oder Anwaltskollegen etc. gehabt, sei auch nicht gefragt worden. Das habe eigentlich alles immer Dr. S… allein (auch nicht mit F. oder L…) entschieden.
834
Die Fälle seien ihm über den Empfang zugewiesen worden. Die Zuweisung sei nach Fachgebieten erfolgt. Er habe vorrangig Straf- und Verkehrsrecht, dann auch in der Kanzlei seien Fachanwalt für Straf- und Verkehrsrecht gemacht. Anfang der 90ziger habe er aber auch kleinere, allgemeine Zivilrechtsfälle gemacht und Baurecht.
835
Am Anfang (ca. 2-3 Jahre) habe er die von ihm gefertigten Schriftsätze diktiert, in einer Korrekturmappe an Dr. S… weitergeleitet, der diese auch ausgebessert habe. Er habe eine hervorragende Ausbildung bei dem Angeklagten genossen. Er habe sich bemüht, die Vorgaben von Dr. S… bestmöglichst umzusetzen und zu erfüllen. Bei Gericht habe es dann immer lobend geheißen, wenn die neuen Anwälte Schriftsätze verfasst hätten: „Ein Sta.schriftsatz!“. Natürlich sei er dann im Laufe der Zeit freier geworden, habe aber trotzdem seine Fälle oft mit Dr. Sta. auch inhaltlich besprochen.
836
Während er die ersten Jahre nur Mandate bearbeite habe, in denen das Mandatsverhältnis mit der Kanzlei zustande gekommen sei, die dann auch über die Kanzlei abgerechnet worden seien, habe er in den letzten Jahren vor seinem Ausscheiden aus der Kanzlei des Angeklagten auch eigene Mandate außerhalb der Kanzlei bearbeitet, die er auch selbst mit eigenem Briefkopf abgerechnet habe. Das sei schon ein Unterschied zu den anderen Anwaltskollegen gewesen, die zu diesem Zeitpunkt gemeinsam mit ihm auch noch in der Kanzlei des Angeklagten tätig gewesen seien. Er habe später von Kollegen erfahren, dass diese nur Mandate über die Kanzlei machen durften, das wisse er vom Hören-Sagen.
837
Er habe insbesondere 2008/2009 ein eigenes, großes Mandat bearbeitet (Testamentsvollstreckung eines Verwandten des Papstes Ratzinger); er habe einen 6-stelligen Betrag dafür erhalten.
838
Es habe keine Zeiterfassung/Stechuhr gegeben. In Kanzleibesprechungen sei aber schon mehrfach darauf hingewiesen worden, dass die freien Mitarbeiter in den Kernzeiten da sein sollten, sofern sie nicht etwa bei Gericht o.ä. seien.
839
Er habe eigentlich immer nur sehr kurze Urlaube gemacht, in den ersten Jahren sich den Urlaub noch von Dr. S… genehmigen lassen, später dann aber nicht mehr abgestimmt, sondern nur noch in den Terminkalender eingetragen. Ob die Urlaubstage dann kontrolliert worden seien, wisse er nicht. Es sei jedenfalls so, dass er die vereinbarte Anzahl der Urlaubstage nie genommen habe.
840
Krank sei er eigentlich nie gewesen, daher wisse er auch nicht, ob er solchenfalls eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hätte vorlegen müssen.
841
Im Urlaub habe er seine Grundvergütung immer weiter bekommen.
842
Im „Mitarbeitervertrag“ sei eine monatliche Grundvergütung vereinbart gewesen, genau wisse er nicht mehr wie hoch, so um die 4.000,- DM. Er habe nicht jährlich oder von sich aus Gehaltserhöhungen beansprucht, ab und an habe es aber dann schon bei besonders gutem Umsatz mehr gegeben, auch mal eine Sonderzahlung. Das sei aber nie sein Vorschlag gewesen, sondern das habe immer der Angeklagte veranlasst. Am Umsatz sei er nicht beteiligt gewesen.
843
Er habe den Angeklagten mit der Zeit als väterlichen Ausbilder und Freund gesehen. Dies habe auch bis 1-2 Jahre vor seinem Ausscheiden angehalten. Der Angeklagte habe dies damals wohl auch so gesehen, habe ihn als seinen treuen Gefährten bezeichnet. Deshalb habe er auch, nachdem es mit der Kanzlei nach seinem Ausscheiden – fast zeitgleich seien ja auch noch Gassner und Geisperger ausgeschieden – bergab gegangen sei, irgendwie immer ein schlechtes Gewissen gehabt.
844
Er habe jedenfalls seine monatliche Grundvergütung der Kanzlei in Rechnung gestellt.
845
Mit dem Zeugen M… und den Verfahrensbeteiligten wurde eine solche vom 01.02.2009 für den Abrechnungszeitraum Januar 2009 – Bd. 19 „M… – Bl. 19080 f. – in Augenschein genommen. Die Rechnung besteht aus zwei Blättern:
846
Auf Blatt 1 befinden sich 2 Positionen: „Vergütung laut Vereinbarung“: 5.406,- € und der „Mehrwertsteuerbetrag“. - 5.406,- € = Summe aus vereinbartem Honorar = 5.000,- € + RVG-Geldern, steht so nicht auf Blatt 1 der Rechnung - Auf Blatt 2 befindet sich eine Aufstellung der Fahrtkosten und Abwesenheitsgelder nach RVG i.H.v. 406,- €.
847
Dies sei der Betrag, der der monatlich vom vereinbarten Jahreshonorar abrufbaren Teilleistung per Rechnung, zum damaligen Zeitpunkt 5.000,- €, hinzugerechnet worden sei.
848
Die in Rechnung gestellte „Vergütung laut Vereinbarung“ sei in Abhängigkeit der Posten nach RVG somit von Monat zu Monat auf Blatt 1 der jeweiligen Rechnung unterschiedlich hoch ausgewiesen worden.
849
Er habe dann später mal vom Steuerberater erfahren, dass eine derartige Rechnungsstellung falsch sei. Korrekt sei vielmehr die Bezeichnung des Honorars, die (erkennbar gesonderte) Ausweisung des RVG-Betrages und die MWSt bzw. USt; es sei nicht korrekt, Honorar und RVG zu einem (angeblichen) „Nettohonorar“ zusammenzufassen.
850
Auf Vorhalt äußert der Zeuge M…, es sei richtig, dass die frühere Sekretärin in der Kanzlei, die zwischenzeitlich bereits verstorbene Frau Z…, irgendwann einmal gesagt habe, dass man die 2 Blätter der Rechnung nicht „tackern“, nicht zusammenklammern dürfe.
851
Am Anfang habe er die monatlichen Abrechnungen Dr. S… persönlich vorlegen müssen; das habe er nicht als komisch empfunden. Dr. S… sei halt sein „Chef“ gewesen (Frau L… habe er nie als Chefin gesehen). Nachdem dann zwischen Dr. S… und ihm das Vertrauen gewachsen sei, habe er seine monatlichen Abrechnungen nicht mehr dem Angeklagten vorlegen müssen, habe diese vielmehr direkt in die Buchhaltung gegeben.
852
Das Honorar sei jetzt nicht sonderlich hoch gewesen, er sei aber nicht sehr anspruchsvoll und habe damit ganz gut leben können. Wenn man etwa von einer monatlichen Honorarvergütung in Höhe von 5.000,- € – wie er sie zuletzt erhalten habe – ausgehe, müsse man an Abzügen monatlich etwa 1.200,- € bis 1.400,- € für die Rentenversicherung rechnen, ca. 600,- € für die Kranken-/Pflegeversicherung und etwa noch mal 1.000,- € Steuern, sodass einem so etwa um die 2.000,- € netto zum Leben blieben. Für Gassner, der damals Frau und zwei kleine Kinder gehabt habe, sei dies schon schwierig gewesen.
853
Er sei bei der Rechtsanwaltsversorgung rentenversichert gewesen, habe selbst Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung gezahlt. Die Kosten für die Mitgliedschaft der Anwaltskammer seien letztlich von Dr. S… gezahlt worden, auch die Berufshaftpflichtversicherung, da sei er über die Kanzlei mitversichert gewesen.
854
Er sei dann 2009 aus der Sozietät Dr. S…, L… & Kollegen ausgeschieden, habe sich gemeinsam mit den Rechtsanwälten G… und G… selbstständig gemacht (gmg).
855
Sie hätten nur einmal einen freien Mitarbeiter gehabt, im Übrigen angestellte Anwälte, die unangenehme Fälle bearbeiten würden. Das Angestellten-Modell sei aus seiner Sicht gerechter.
856
Grund für sein Ausscheiden sei gewesen, dass Gespräche über eine Beteiligung seinerseits an der Kanzlei Dr. S…, L… & Kollegen erfolglos gewesen seien, insbesondere auch, weil er erhebliche Beträge hätte zahlen müssen (pro Beteiligungs-%-Punkt 10.000,- €), ohne dass er einen genauen Einblick in die Gesamt-Kanzleikosten gehabt habe; für ihn seien die Beteiligungsvorschläge unwirtschaftlich gewesen; auch habe Frau L… Mehrheitsgesellschafterin werden (w)sollen, das habe er ebenfalls nicht befürwortet. Der Kollege G… habe bei den Fragen einer Beteiligung ähnliche Probleme gesehen. Man sei übereingekommen, eine eigene Kanzlei zu machen, das sei dann auch umgesetzt worden. Zum anderen sei das Verhältnis zum Angeklagten auch „erkaltet“, insbesondere nachdem er habe erfahren habe, dass neu eingestiegene, jüngere Kollegen eine deutlich höhere Grundvergütung erhalten hätten als er; das habe ihn verletzt.
857
Beim Ausscheiden habe es keinen großen Stress gegeben. Er habe zunächst mit Dr. S… besprochen, die Mandate – es seien überwiegend Strafmandate gewesen –, die er bearbeitet habe, gemeinsam anzuschauen und zu klären, ob diese Akten in der Kanzlei Dr. S…, L… & Kollegen verblieben oder, welche er mitnehmen würde, da die Mandanten von ihm weiterhin hätten vertreten werden wollen. Das sei dann aber nicht so einfach gewesen. Dr. S… habe jede einzelne Akte bewertet. Diejenigen, die er/M… habe mitnehmen können, habe er auslösen müssen. Für welchen Betrag genau, wisse er heute nicht mehr, er glaube, er habe insgesamt so um die 10.000,- € an den Angeklagten gezahlt. Auch der Kollege G… habe für die von ihm mitgenommenen Akten an den Angeklagten eine Ablöse bezahlt; wie hoch diese gewesen sei, wisse er nicht.
858
Ihm sei auch nicht genau klar, wie der Angeklagte die gegen ihn geltend gemachte Ablöse in Höhe von ca. 10.000,- € (eine Aufschlüsselung nach einzelnen Akten/Mandaten – etwa 20-30 – sei ohnehin nicht erkennbar gewesen) errechnet habe (die Berechnungsgrundlage kenne er nicht). Er habe das aber auch nicht überprüft bzw. überprüfen wollen, ihn habe das dann nicht mehr interessiert.
859
Zur Frage, ob über „Scheinselbstständigkeit“ geredet worden sei, könne er im Detail nichts sagen. Es könne sein, dass dies bei Kanzleibesprechungen mal Thema gewesen sei oder mal unter den Kollegen; vor seinem Ausscheiden, habe er das aber nicht sehr oft mitbekommen. G… habe ihm dann einmal seine/G… Vereinbarung bestehend aus einem Mantelvertrag und der Zusatzvereinbarung gezeigt; das habe er schon kritisch gesehen. Als dann das Verfahren gegen Dr. S… 2018 „losgegangen sei“, habe er auch mal mit jüngeren Kollegen über das Thema gesprochen.
860
Auch vor Vorhalt der Aussage des Zeugen G… zu einem Haftungsprozess äußerte der Zeuge M…. Ja, das war schon sehr kurios.
861
Es sei richtig, dass er im Namen der Kanzlei ein Unfallopfer vertreten habe, letztendlich für dieses Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche durchgesetzt habe. Es sei ein Abfindungsvergleich mit der Haftpflichtversicherung des Schädigers geschlossen worden. Der Bruder des Unfallopfers habe später aber den Vergleich für schlecht befunden und insbesondere betreffend den Haushaltsführungsschaden die Ansicht vertreten, dass dieser für die Vergangenheit nicht zutreffend berechnet worden sei. Deshalb habe er einen Haftungsprozess angestrebt. Die Kanzlei des Angeklagten habe den Bruder vertreten. Vor dem Oberlandesgericht München habe der dortige Vorsitzende den Angeklagten dann mehrfach darauf hingewiesen und entsprechend belehrt, dass er sich ja selber verklagt habe – da das Mandatsverhältnis mit dem Unfallopfer ja mit der Kanzlei geschlossen worden sei. Er/M… sei nicht als Einzelrechtsanwalt angesehen worden. Letztendlich habe es dann vor dem Oberlandesgericht München aber einen Vergleich gegeben (4 % ER – 96 % KANZLEI), dem allerdings nicht zu entnehmen gewesen sei, dass er/M… Vertragspartner gewesen sei (Vertragspartner sei die Kanzlei des Angeklagten gewesen); er habe das mit dem Vergleich aber gemacht, da er endlich Ruhe habe haben wollen.
862
Es sei eigentlich so gewesen, dass, solange man in der Kanzlei des Angeklagten gearbeitet habe, Dr. S… nichts auf „seine Anwälte“ habe kommen lassen, für alle da gewesen sei. Wenn allerdings Anwälte gegangen seien, dann habe Dr. S… sie fallen lassen, bei vielen habe es im Zuge des Ausscheidens Streitigkeiten und unguten Schriftverkehr gegeben.
863
Der Zeuge K.-H. M… gibt damit als Aspekte, die gegen abhängige Beschäftigung sprechen, bereits für die Zeit seines Tätigwerdens in der Kanzlei des Angeklagten für die Kammer zusammengefasst an, dass es keine Zeiterfassung gab, wenn der Angeklagte in Kanzleibesprechungen auch immer wieder darauf hinwies, dass die freien Mitarbeiter in den Kernzeiten – außer sie waren bei Gericht o. ä. – in der Kanzlei sein sollten. Auch führte er Umsatzsteuer ab und hätte für den Fall der Erkrankung keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen müssen. Er schloss einen „Mitarbeitervertrag“, so wie ihn bereits andere in der Kanzlei tätige Anwälte hatten. Mit Beschäftigungsbeginn bekam er – das Vorstellungsgespräch war ausschließlich vom Angeklagten geführt worden, obwohl dieser damals die Kanzlei noch gemeinsam mit Rechtsanwalt F. führte – ein eigenes, voll ausgestattetes Büro, ebenso standen ihm die Büroinfrastruktur einschließlich Personal kostenfrei zur Verfügung. Eine Einflussmöglichkeit oder gar ein Mitspracherecht hinsichtlich organisatorischer Fragen der Kanzlei hatte der Zeuge nicht. Auch er durchlebte zu Beginn seiner Tätigkeit eine Ausbildung (genoss eine hervorragende Ausbildung) einschließlich System der Korrekturmappe, wobei er Vorgaben des Angeklagten bestmöglich umsetzte. Im Laufe der Zeit wurde der Zeuge in der inhaltlichen Arbeit freier.
864
Zu Beginn seiner Tätigkeit bearbeitete er ausschließlich Mandate, zugewiesen über den Empfang, für die Kanzlei, die Mandatsverhältnisse kamen ausschließlich mit der Kanzlei zustande, über die sie auch abgerechnet wurden. In den Jahren 2008/2009 hatte der Zeuge auch eigene Mandate (ohne Kanzleibezug und ohne Abrechnung über die Kanzlei), betonte aber, dass dies ein Unterschied zu den anderen, in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte war, die – so wusste er es vom Hören-Sagen zu berichten – nur Mandate über die Kanzlei machen durften.
865
Für seine Tätigkeit stellte er der Kanzlei monatliche Rechnungen über das vereinbarte Pauschalhonorar, bereits ebenfalls nach dem „2 Blatt-Rechnungs-System“, wobei er sein Honorar unabhängig von Gewinn und Verlust, Umsatzsituation der Kanzlei, An- und Abwesenheit erhielt.
866
Als er sich in späteren Jahren seinen „Mitarbeitervertrag“ noch mal anschaute, dachte er, dass die Merkmale, die für eine angestellte Tätigkeit sprechen würden, überwiegend seien, auch bei der praktischen Umsetzung.
867
Die Zeugin S. L…, welche bereits im Februar 1985 noch als Studentin in der damaligen Anwaltssozietät Dr. S…, F. & Kollegen als Referendarin mitgearbeitet hatte und nach ihrer Zulassung als Rechtsanwältin im Juni 1988 als freie Mitarbeiterin in der Kanzlei tätig gewesen war, trat am 01.07.1991 in die Kanzlei ein; ihre Beteiligung habe damals 23 % betragen. Sie schilderte, dass die freie Mitarbeit manifestiert, Änderungen ausgeschlossen gewesen seien. Mit Ausscheiden von Rechtsanwalt F. sei sie ab 01.05.1995 in die Sozietät eingetreten, es sei die Änderung der Gewinnverteilung auf 60 % (Dr. S…)/40 % (Linderer) ausgemacht worden.
868
Als sie in die Kanzlei des Angeklagten gekommen sei, sei die „freie Mitarbeiterschaft“ für Rechtsanwälte/innen bereits in Stein gemeißelt gewesen. Der Angeklagte habe jedem/r Rechtsanwalt/in erklärt, dass Rechtsanwälte Organe der Rechtspflege seien, unabhängig und damit etwas anderes als die freie Mitarbeiterschaft nicht vereinbar sei.
869
Am 11.11.2011 habe sie gekündigt, zum 30.04.2012 sei sie ausgeschieden.
870
Die Zeugin schilderte, dass während ihrer Zusammenarbeit mit dem Angeklagten in der Kanzlei seine Stimme stets maßgeblich gewesen sei. Er sei auch hinsichtlich der Fragen der Büroorganisation (Bestellungen/Neuanschaffungen etc.) Ansprechpartner gewesen, habe aber etwa auch entschieden, wenn Sekretärinnen/Rechtsanwaltsfachgehilfinnen einzustellen oder auszutauschen gewesen seien. Ebenso sei bei der Einstellung weiterer Rechtsanwälte letztendlich die Stimme des Angeklagten maßgeblich gewesen. Sie selbst habe eigentlich als Partnerin keine nennenswerten Aufgaben in der Anwaltskanzlei Dr. S… & L… gehabt, sie habe sich eigentlich nur um ihren Fachbereich (Familienrecht und später zum Teil auch Steuerrecht) gekümmert. Der Angeklagte habe den Spitznamen „Bossi“ gehabt. Wenn einer der freien Mitarbeiter ein höheres Honorar gewollt habe, sei er zum Angeklagten gegangen, der darüber entschieden habe. Sie/L… sei in den Entscheidungsprozess nicht eingebunden gewesen, habe davon später gelegentlich vom Angeklagten oder über die Buchhaltung erfahren.
871
Bei Einstellungsgesprächen betreffend Rechtsanwälte/freie Mitarbeiter – einige der noch verfahrensgegenständlichen Rechtsanwälte/innen seien noch vor ihrem Ausscheiden am 30.04.2012 für die Kanzlei Dr. S… L… & Kollegen tätig geworden, sie könne heute aber aus der Erinnerung diese nicht mehr alle namentlich auflisten – sei es grundsätzlich so gewesen, dass sie gemeinsam mit dem Angeklagten zugegen gewesen sei. Ihre Rolle sei aber eher passiv gewesen. Die Entscheidung über die Einstellung eines neuen Mitarbeiters sei zwar grundsätzlich auf kollegialer Basis getroffen worden. Wenn es darauf angekommen sei, habe aber der Angeklagte Dr. S… entschieden. Dies sei etwa beim Kollegen B… so gewesen, dessen Einstellung sie nicht befürwortet habe, dieser vielmehr massiv widersprochen habe, da sie keine weiteren „freien Mitarbeiter“ gewollt habe. Sie habe sich insoweit aber nicht durchsetzen können. Ihr sei dann irgendwann der „Freie Mitarbeitervertrag“ betreffend Rechtsanwalt B… bereits von diesem und dem Angeklagten unterschrieben, durch eine Sekretärin zur Unterschrift vorgelegt worden.
872
Während sie in der Anwaltssozietät Dr. S…, L… & Kollegen gewesen sei, seien ihr die „Freien Mitarbeiterverträge“ eigentlich immer nur zur Unterschrift vorgelegt worden, ebenso die entsprechenden Zusatzvereinbarungen. Sie wissen nicht, wer diese verfasst habe, sie jedenfalls nicht.
873
Sie habe diese „Freien Mitarbeiterverträge“ eigentlich auch inhaltlich nie richtig gelesen, könne deren Inhalt nicht wiedergeben. Soweit ihr etwa betreffend Rechtsanwalt Ro. B… der Vertrag vorgelegt werde – „Freier Mitarbeitervertrag“ vom 10.12.2009 wurde ihr vorgelegt und sie erhielt Gelegenheit, diesen in Ruhe durchzulesen –, könne sie sich an die einzelnen inhaltliche Regelungen nicht erinnern. Sie könne auch nichts dazu sagen, warum sich etwa in Ziffer 3.) dieses Vertrages zwischen der Anwaltssozietät Dr. S…, L… & Kollegen und Rechtsanwalt Ro. B… der Passus finde, dass ein Probearbeitsverhältnis bis 30.10.2010 mit einer Kündigungsfrist von 2 Wochen zum Monatsende bestünde.
874
Auf Nachfrage, ob dieser Passus dann nochmals in irgendeiner Form (etwa wie das Probearbeitsverhältnis dann tatsächlich gelaufen sei) besprochen worden sei, äußerte die Zeugin: Nein.
875
Hinsichtlich der Regelung in der Zusatzvereinbarung, dass Honorarzahlungen sich bis zu einer maximalen Jahresabwesenheit ohne Krankheit bis 28 Tage und eine Abwesenheit mit Krankheit bis zu 30 Werktagen nicht verändern, könne sie angeben, dass Abwesenheiten (ohne Nennung des Grundes) in einen Terminskalender eingetragen worden seien, damit die Sekretärinnen/Rechtsanwaltsgehilfinnen mit Mandanten Termine hätten absprechen können. Von ihr seien die in den Terminkalender eingetragen Urlaubs- und Krankheitstage nicht „gezählt“ worden; sie wisse auch nichts davon, dass der Angeklagte dies gemacht habe.
876
Im Rahmen ihrer Kündigung und ihres Ausscheidens aus der Anwaltskanzlei Dr. S…, L… & Kollegen sei es schon zwischen ihnen zu Streitgesprächen gekommen. Gegenstand dieser Streitgespräche sei aber nicht das Thema „Scheinselbstständigkeit“ der in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen gewesen. Es sei inhaltlich vielmehr um die wirtschaftliche Situation der Kanzlei gegangen und die insoweit zwischen dem Angeklagten und ihr unterschiedliche Bewertung. Nachdem im Jahr 2009 die Rechtsanwälte M…, G… und G…, Rechtsanwälte, die viel Umsatz gemacht hätten, ausgeschieden seien, habe sich die wirtschaftliche Gesamtsituation der Kanzlei negativ entwickelt. Dies habe auch für sie gesehen wirtschaftlich negative Konsequenzen gehabt, da sie etwa im Jahre 2011 ca. 420.000,- € erwirtschaftet habe, aber nur noch Entnahmen in Höhe von ca. 61.000,- € habe tätigen können, die noch hätten versteuert werden müssen. Gleichzeitig hätten die freien Mitarbeiter „äußerst konfortabel“ weiter monatlich die vereinbarten Pauschalhonorare bekommen, ohne Anrechnung der Kosten; über eine Reduzierung der Honorare der Anwälte, die nach ihrer Ansicht hätte vorgenommen werden müssen, habe Dr. S… keine Diskussion zugelassen.
877
Sie habe deshalb dem Angeklagten für die Jahre 2010/2011 eine Kostenaufstellung betreffend Erträge und Aufwendungen gefertigt, aus welcher sich jeweils insgesamt ein „Minus Saldo“ ergeben habe. Nach ihren Berechnungen sei die Kanzlei im Jahr 2011 ertragsmäßig noch im „Plus“ gewesen, liquiditätsmäßig aber bereits im „Minus“.
878
Sie habe mit dem Angeklagten eigentlich eine Klärung herbeiführen wollen, die für sie persönlich weiteren wirtschaftlichen Schaden ausgeschlossen hätte, etwa die Beschäftigung von weniger freien Mitarbeitern, eine Kostenreduzierung o.ä.. Mit dem Angeklagten sei aber eine Klärung nicht möglich gewesen, er habe ihre Kostenaufstellung vielmehr als „Milchmädchenrechnung“ bezeichnet.
879
Insoweit wurden mit der Zeugin und allen Verfahrensbeteiligten die von der Zeugin persönlich gefertigten Aufstellungen betreffend Erträge und Aufwendungen für die Jahre 2010 und 2011, welche von ihr am 16.11.2021 – neben anderen Dokumenten – übergeben wurden, in Augenschein genommen, verlesen, von der Zeugin erläutert und dann als Anlage 8 zu Protokoll genommen.
880
Auf Nachfrage gab die Zeugin L… an, dass das Thema „Scheinselbstständigkeit“ auch im Rahmen der monatlich stattfindenden Kanzleibesprechungen kein Thema gewesen sei. Bei diesen monatlichen Kanzleibesprechungen sei grundsätzlich der Kalender durchgegangen und festgelegt worden, wer welche Gerichtstermine wahrnehme, gelegentlich über spektakuläre Verfahren gesprochen worden oder darüber, wie welche Werbemaßnahmen geschaltet werden könnten. Sie habe auch im Rahmen solcher Kanzleibesprechungen etwa die Ergebnisse der steuerrechtlichen Betriebsprüfungen vorgebracht.
881
Vor ihrem Ausscheiden aus der Anwaltskanzlei Dr. S…, L… & Kollegen habe es nach ihrem Kenntnisstand durch Frau G… vom Finanzamt M.am I. mehrere, glaublich 3 steuerrechtliche Prüfungen der Kanzlei gegeben. Soweit sie wisse, habe es sich jeweils ausschließlich um eine betriebliche Steuerprüfung gehandelt; das jeweilige Ergebnis sei gewesen, dass steuerrechtlich alles „korrekt“ gewesen sei. Bei diesen steuerrechtlichen Betriebsprüfungen sei es im Rahmen der Überprüfung der Fremdkosten auch um die Honorare der Rechtsanwälte/innen gegangen (dies habe sich für sie aus den am 15.09.2011 im Rahmen der damals laufenden Betriebsprüfung zu beantwortenden Fragen ergeben), nicht allerdings um deren Status.
882
Die Zeugin überreichte insoweit einen (nicht vollständigen) Fragenkatalog, der ebenfalls von ihr am 16.11.2021 übergeben, mit ihr und allen Verfahrensbeteiligten in Augenschein genommen, verlesen, erläutert und dann als Anlage 8 zu Protokoll genommen wurde.
883
Frage 9 dieses Kataloges: Teilen Sie bitte mit, wie die Vergütung für die freien Mitarbeiter ermittelt wurde. Gibt es dazu Verträge, Stundenaufzeichnungen o. ä.? Wenn ja bitte noch vorlegen. Insoweit erklärte die Zeugin L… dass sie glaublich keinen freien Mitarbeitervertrag vorgelegt habe, genau wisse sie das aber nicht mehr. Es sei so gewesen, dass die freien Mitarbeiter eben ihre Pauschalzahlungen nebst Termingeldern, Abwesenheitsgeldern etc. nach RVG erhalten hätten.
884
Frage 10 dieses Kataloges: Wieso übernimmt die Anwaltskanzlei die Kosten für die Rechtsanwaltskammerbeiträge und die Fortbildungskosten für die freien Mitarbeiter? Insoweit äußerte die Zeugin L… sie habe ihrer Erinnerung nach erklärt, dass dies der Vereinbarung in den freien Mitarbeiterverträgen entsprochen habe.
885
Soweit im Rahmen der steuerrechtlichen Betriebsprüfungen (nicht Statusprüfungen) auch freie Mitarbeiter geprüft worden seien, habe Frau G… vom Finanzamt M.am I. geäußert, dass im Hinblick auf die Abrechnung etc. alles o.k. sei, was sie/Linderer dann auch anlässlich einer Kanzleibesprechung so wiedergegeben habe.
886
Sie könne sich – so die Zeugin L… weiter – nicht daran erinnern, dass im Rahmen der steuerrechtlichen Prüfungen das Thema „Scheinselbstständigkeit“ aufgekommen sei.
887
Neben den genannten steuerrechtlichen Betriebsprüfungen sei sie an sozialversicherungsrechtlichen Prüfungen der Anwaltskanzlei Dr. S…, L… & Kollegen nicht beteiligt gewesen, nicht an entsprechenden Gesprächen, nicht an Fragen zu den bestehenden Beschäftigungsverhältnissen von Rechtsanwälten/innen in der Kanzlei.
888
Zwischen ihr und Dr. S… sei es nie Thema gewesen, ein Statusfeststellungsverfahren zu beantragen oder durchzuführen.
889
Bei ihrem Ausscheiden aus der Anwaltskanzlei Dr. S…, L… & Kollegen sei ein Ausscheidungsvertrag geschlossen worden.
890
Dieser wurde im Selbstleseverfahren „1“ IV. eingeführt.
891
Der Zeugin L… wurde § 4 „Übernahme von Personal“ – u.a. Rechtsanwalt Sebastian H… – dieses Vertrages und § 8.3 – „… Berücksichtigung der übernommenen Mitarbeiter ….“ vorgehalten. Die Zeugin erklärte hierzu, dass sie den Vertrag eigentlich gar nicht gelesen habe, diese Formulierungen nicht überdacht gewesen seien.
892
Die Zeugin L… gab an, dass es verschiedene Kanzleikonten bei der Volksbank, Sparkasse, Raiffeisen-, Post- und D. Bank gegeben habe. Die Bankgeschäfte seien über die Buchhaltung abgewickelt worden. Sie habe zwar Zugriff auf die Kontenkanzleikonten gehabt, wegen einer besonderen Vertrauensstellung im Verhältnis zum Angeklagten auch, als sie noch freie Mitarbeiterin in der Kanzlei gewesen sei. Soweit sie wisse, habe aber keiner der freien Mitarbeiter bis zu ihrem Ausscheiden am 30.04.2012 Kontovollmacht und damit Zugriff auf die Kanzleikonten gehabt. Wenn Rechnungen gekommen seien, seien diese dem Angeklagten vorgelegt worden; er habe entsprechende Zahlungsanweisungen getroffen und dann sei die Bezahlung erfolgt.
893
Die Zeugin L… schied zwar bereits vor Beginn des (noch) verfahrensgegenständlichen Tatzeitraumes aus der Anwaltssozietät aus. Ihre Schilderung der tatsächlich gelebten Verhältnisse dokumentiert jedoch ein „tief verwurzeltes Modell“, welches der Angeklagte über Jahre bzw. Jahrzehnte in gleicher Art und Weise praktizierte. Die „freie Mitarbeiterschaft“ war in Stein gemeißelt, Änderungen ausgeschlossen. Die jeweilige schriftliche Vereinbarung wurde nicht ausgehandelt, lag vielmehr vor. Es erfolgte auch keine Überprüfung dahingehend, ob die schriftlich getroffenen Vereinbarungen eingehalten wurden (etwa den Verlauf eines Probearbeitsverhältnisses etc. betreffend). Auch in der Zeit, in der sie Partnerin in der Anwaltssozietät des Angeklagten war, war sie in Entscheidungsprozesse nicht nennenswert eingebunden, etwa auch nicht betreffend die Frage der Einstellung weiterer Rechtsanwälte/innen. Ihr wurden die Vereinbarungen, vom jeweiligen Anwalt und dem Angeklagten bereits unterschrieben, nur noch zur Unterschriftsableistung vorgelegt. Entscheider war der Angeklagte, der damit auch als (alleiniger) Auftraggeber im Hinblick auf die tatsächlich gelebten Gegebenheiten zu klassifizieren ist. Seine Stimme war stets maßgeblich.
894
Darüber hinaus ist der Aussage der Zeugin L… zu entnehmen, dass die in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen fest in die bestehende Organisationsstruktur der Kanzlei eingegliedert waren und kein unternehmerisches Risiko trugen: Auch in Zeiten „wirtschaftlicher Schieflage“ der Kanzlei – „ertragsmäßig noch im „Plus“, liquiditätsmäßig aber bereits im „Minus“ – wurden den in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen „äußerst konfortabl“ weiter monatlich die vereinbarten Honorare ausbezahlt; über eine Reduzierung ihrer Honorare ließ Dr. S… aber keine Diskussion zu. Dass während ihrer Zugehörigkeit zur Kanzlei des Angeklagten der Status der Rechtsanwälte/innen geprüft worden wäre, gab die Zeugin nicht an, sie berichtete vielmehr nur von steuerrechtlichen Betriebsprüfungen.
895
Der Zeuge Al. G… hatte bereits im Jahr 1998 während der Referendarzeit seine Anwaltsstation in der Kanzlei des Angeklagten absolviert, war dann in der Kanzlei Dr. S…, L… & Kollegen vom 01.01.2000 bis zum 31.12.2009 tätig.
896
Sein Fachgebiet war zunächst allgemeines Zivilrecht, später unter der „Rigide“ von S. L… Familienrecht und, nachdem der Kollege K… zu W. Ch. gegangen war, damit ein Arbeitsrechtsreferat neu zu besetzen war, auch Arbeitsrecht.
897
Glaublich im Jahr 2002 habe er seinen Fachanwalt für Arbeitsrecht gemacht, glaublich 2007 den für Insolvenzrecht; die Kosten für beide Fachanwälte habe die Kanzlei übernommen.
898
Er habe im Dezember 1999 mit der Kanzlei eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung getroffen. Diese Vereinbarung habe eigentlich aus zwei Teilen bestanden, der erste Teil habe aus seiner Sicht alle Aspekte aufgewiesen, die für freie Mitarbeiterschaft sprächen.
899
Mit dem Zeugen und allen Verfahrensbeteiligten wurde die als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung vom 01.12.1999 durchgegangen und verlesen, sowie anschließend als Anlage 22 zu Protokoll (Selbstleseverfahren „5“) genommen; die Vereinbarung lautet wie folgt:
„1.) Hr. Al. G… ist ab 01.01.2000 als freier Mitarbeiter in der Rechtsanwaltskanzlei Dr. S…, L… & Kollegen tätig.
2.) Hr. G… führt seine Sozialabgaben einschließlich Krankenkasse und Pflegeversicherung sowie seine Steuern selbst ab.
Die Sozietät zahlt die Berufshaftpflichtversicherung im Rahmen einer Gruppenversicherung und Kammerbeiträge eines freien Mitarbeiters. Beide Beträge sind zu erstatten. Die Erstattung ist im Jahreshonorar (Ziff. 7) bereits berücksichtigt.
3.) Die Zusammenarbeit ist nicht befristet. Sie kann von jeder Vertragsseite mit einer Frist von 3 Monaten zum jeweiligen Quartalsende gekündigt werden.
4.) Die Rechtsanwaltskanzlei Dr. S…, L… & Kollegen stellt dem freien Mitarbeiter für dessen Arbeiten Personal und Sachausstattung bei. Soweit der freie Mitarbeiter in der Rechtsanwaltskanzlei Dr. S…, L… & Kollegen tätig ist, wird ihm ein angemessenes Büro zur Verfügung gestellt.
5.) Der freie Mitarbeiter kann eigenes Personal beschäftigen. Die Vertragsparteien gehen davon aus, dass der freie Mitarbeiter direkt, gegebenenfalls in einer gemeinsamen Darstellung mit der Sozietät für den jeweiligen Mandanten tätig ist. Der freie Mitarbeiter gestaltet seine Tätigkeit frei. Anwesenheiten und Abwesenheiten koordinierte freie Mitarbeiter mit dem allgemeinen Kanzleibetrieb.
6.) Die Rechtsanwaltskanzlei Dr. S…, L… & Kollegen beschäftigt keine Angestellten, die eine der Tätigkeit des freien Mitarbeiters vergleichbare Arbeit verrichten. Er kann selbst werben bzw. seine Werbung mit den Werbemaßnahmen der Kanzlei Dr. S… L… & Kollegen koordinieren.
7.) Hr. Al. G… erhält für seine Tätigkeit ein Jahreshonorar von DM 65.000,- zuzüglich Mehrwertsteuer. Von diesem Jahreshonorar können monatliche Teilleistungen Berechnung abgerufen werden.
8.) Auslagen für Termine (Fahrtkosten und Abwesenheitsgelder) werden dem freien Mitarbeiter von der Sozietät nach den Grundsätzen der BRAGO erstattet.
Dieser erste Teil sei aber durch den zweiten Teil, die am 05.01.2000 mit der Kanzlei geschlossene Zusatzvereinbarung, aus seiner Sicht komplett ausgehebelt, gekappt worden; im Kontext mit der Zusatzvereinbarung sei erkennbar, dass eine abhängige Beschäftigung vorgelegen habe.“
900
Es sei beispielsweise so gewesen, dass im „Freien Mitarbeitervertrag“ die Rede davon gewesen sei, dass der freie Mitarbeiter eigenes Personal beschäftigen kann, in der Zusatzvereinbarung habe es dann aber geheißen, dass die Beschäftigung eigenen Personals durch den freien Mitarbeiter und die Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei der Zustimmung der Sozietät bedürfen. Oder es habe sich die Regelung gefunden, dass er laut „Freiem Mitarbeitervertrag“ selbst Werbung hätte machen bzw. seine Werbung mit der Sozietät hätte koordinieren können, laut Zusatzvereinbarung aber eine Abstimmung und Genehmigung der Sozietät erforderlich gewesen sei.
901
Mit dem Zeugen und allen Verfahrensbeteiligten wurde die „Zusatzvereinbarung“, unterschrieben am 05.01.2000 (ebenfalls Selbstleseverfahren „5“, Anlage 22 zu Protokoll) durchgegangen und nochmals verlesen; die Zusatzvereinbarung lautet wie folgt:
„1.) Die Beschäftigung eigenen Personals durch den freien Mitarbeiter und die Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei bedürfen der Zustimmung der Sozietät.
2.) Werbemaßnahmen des freien Mitarbeiters sind mit der Sozietät abzustimmen und von dieser zu genehmigen.
3.) Weiterbildungsmaßnahmen werden von der Kanzlei bei angemessener Gestaltung ohne Abrechnung i.S. Ziff. 6 bei Honorarfortzahlung gefördert und bezahlt.
4.) Die Honorarzahlung verändert sich bis zu einer maximalen Jahresabwesenheit ohne Krankheit bis 28 Werktage und einer Abwesenheit mit Krankheit bis zu 30 Werktagen nicht.
5.) Über die Anhebung des Mitarbeiterhonorars wird einvernehmlich und partnerschaftlich in Zeitabständen verhandelt. Ab 01.01.2001 erhöht sich das Honorar auf 71.500,- DM.
6.) Die Sozietät stellt grundsätzlich die Möglichkeit einer Beteiligung bzw. Partnerschaft in Aussicht.
Zu Beginn seiner Tätigkeit in der Kanzlei habe ihn das nicht so interessiert. Seine Aufmerksamkeit hinsichtlich des Themas, der Frage der Abgrenzung zwischen freien Mitarbeitern und unabhängig Beschäftigten sei eigentlich im Zusammenhang mit seinem Fachanwaltsgang „Arbeitsrecht“ im Jahr 2002 geschärft worden. Das Modell der „Freien Mitarbeiterschaft“ sei in der Kanzlei des Angeklagten aber alternativlos gewesen. Er wisse heute nicht mehr, warum die Zusatzvereinbarung erst einen Monat nach der als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichneten Vereinbarung unterschrieben worden sei.“
902
Es sei dann schon so gewesen, dass unter den Kollegen – etwa anlässlich von Kanzleibesprechungen – immer mal wieder die Rede davon gewesen sei, dass ihnen z.B. Umsatzvorgaben gemacht würden und die Frage aufgekommen sei, wie das mit der freien Mitarbeiterschaft vereinbar sei. Er könne sich heute aber an kein konkretes Gespräch mit dem Angeklagten persönlich, erinnern, in dem das Thema „Scheinselbstständigkeit/oder Statusfeststellungsverfahren“ explizit angesprochen worden sei.
903
Es sei eindeutig so gewesen – er/G… würde dies als offenes Geheimnis bezeichnen –, dass die tatsächlichen Verhältnisse in der Kanzlei nicht mit dem vereinbarten Status der Rechtsanwälte/innen als freie Mitarbeiter übereingestimmt hätten. Weil er stets die Erwartungshaltung gehabt habe, eines Tages Teilhaber/Partner in der Kanzlei zu werden, sei bei ihm eine gewisse Leidensbereitschaft erzeugt worden. Natürlich wäre es für ihn besser gewesen, wenn damals Sozialversicherungsbeiträge für ihn abgeführt worden wären. Im Hinblick auf seine Erwartungshaltung, mal Partner zu werden, habe er mit dem Angeklagten aber das offene Geheimnis der Scheinselbstständigkeit während seiner Tätigkeit nicht ausdiskutiert (erst im Zuge des Ausscheidens). Im Übrigen sei die Ausgestaltung der Tätigkeit seiner Ansicht nach – wie bereits angesprochen – alternativlos gewesen: Man habe mit Dr. S… bezüglich der rechtlichen Ausgestaltung der anwaltschaftlichen Tätigkeit in der Kanzlei nicht reden können, man hätte diesbezüglich Streit haben, aber sicher kein Umdenken beim Angeklagten bewirken können.
904
Im Rahmen seines Ausscheidens Ende 2009 habe es Spannungen gegeben; es sei v.a. um Geld gegangen. Seiner Erinnerung nach sei es ab 2006 im Rahmen der Mitarbeitermotivation (Kanzleibesprechungen) immer wieder um das Thema „Umsatzsteigerung“ gegangen. Der Angeklagte habe Prämien ausgelobt, ab einem jährlichen Umsatz von 175.000,- € im Bereich von 10-20 %. In der Folgezeit habe er auch ca. 2 mal eine solche Premiere bekommen, habe dies auch für das Jahr 2009 bei seinem Ausscheiden gefordert. Der Angeklagte habe ihm aber keine Prämie mehr zukommen lassen, vielmehr von ihm noch 17.500,- €, die er dann auch gezahlt habe, dafür verlangt, dass er laufende, von ihm bearbeitete Mandate/Akten habe mitnehmen könne.
905
Auf Nachfrage der Verteidigung erläuterte der Zeuge insoweit: Es seien mit dem Angeklagten die noch laufenden Mandate, Akte für Akte, durchgegangen worden. Es sei ausgehandelt worden, was für die einzelnen Akten zu bezahlen sei. Dies habe sich danach gerichtet, welches Honorar zu erwarten gewesen sei. Seiner Ansicht nach sei es aber so, wenn er freier Mitarbeiter gewesen wäre und die Mandate auch seine Mandate gewesen wären, dann hätte er sie auch mitnehmen können, ohne dafür etwas zu zahlen.
906
Nach dem Ausscheiden habe er auch an Dr. S… ein Schreiben verfasst, in dem er nicht nur eine letzte Fahrtkostenabrechnung angefordert habe, sondern auch habe wissen wollen, welchen Umsatz er im letzten Jahr gemacht habe. Dr. S… habe ihm daraufhin zurückgeschrieben, dass es das nicht gibt, und ihn/G… das nichts angehe, welchen Umsatz er gehabt habe, was seiner Auffassung nach ebenfalls mit freier Mitarbeiterschaft schon schwer vereinbar bzw. völlig untypisch sei.
907
Insoweit wurden die vom Zeugen G… übersandten Schreiben im Selbstleseverfahren „6“ eingeführt (Anlage 24 zu Protokoll) und auszugsweise verlesen; beide Schreiben sind vom Zeugen an die Anwaltskanzlei Dr. S…, L… & Kollegen zu Händen Dr. S… und Frau L… gerichtet:
Schreiben vom 03.09.2010:
… hiermit ersuche ich nunmehr unter Fristsetzung bis zum 20.09.2010 um Mitteilung meines Jahresumsatzes 2009, damit die Bezifferung des vereinbarten und über den Zeitraum von über 3 Jahren vorbehaltlos gewährten Erfolgshonorares erfolgen kann ….
Schreiben vom 12.10.2010:
…. Ich stelle anheim, die Entscheidung über die Auskunftserteilung nochmals zu überdenken. Es ist bereits erstaunlich genug, dass der Vergütung eines „freien Mitarbeiters“ bereits jede erfolgsbezogene Komponente fehlen soll. Nicht nachvollziehbar ist aber, dass ein freier Mitarbeiter noch nicht einmal erfahren soll, welchen Umsatz er erwirtschaftete. Nach alledem setze ich abschließend Frist zur Auskunftserteilung bis zum 26.10.2010. Nach Fristablauf werde ich der Empfehlung des Herrn Dr. S… folgend die gerichtliche Geltendmachung einleiten. ….
908
Mit einem weiteren Schreiben vom 21.11.2012 (zum 30.04.2012 war L… bereits ausgeschieden) – vor Verjährungseintritt – habe er arbeitsgerichtliche Schritte angekündigt. Auch dieses Schreiben wird auszugsweise verlesen:
Mit Schreiben vom 03.09.2010 habe ich Sie und Herrn Dr. S… aufgefordert, meinen Umsatz des Jahres 2009 bekanntzugeben, damit sodann meine Prämienansprüche beziffert werden können (25 % des 175.000,- € übersteigenden Nettoumsatzes). Hierauf erfolgte eine Antwort dergestalt, dass für eine Bekanntgabe für ein „vorbehaltlos gewährtes Erfolgshonorar keine vertragliche Grundlage bestehe“ ….
909
Bevor ich Ansprüche nunmehr im Arbeitsgerichtswege geltend machen muss, bevor Verjährung eintritt, gebe ich eine letzte Gelegenheit, die Ansprüche dem Grunde nach unter Frist bis längstens 02.12.2012 schriftlich anzuerkennen und einen Verjährungsverzicht zu erklären ….
910
Er – so G… weiter – sei sich sicher gewesen, dass er diesen Rechtsstreit vor dem Arbeitsgericht gewonnen hätte. Er hätte ihn dann letztendlich aber nicht geführt, da er einen Schlussstrich unter die Sache habe ziehen wollen, auch deshalb, weil der Angeklagte und er in B. bestimmt um die 50 gemeinsame Bekannte hätten und dies nicht immer ganz einfach sei. Da er auf die Geltendmachung der ihm nach seiner Ansicht noch zustehenden Forderungen verzichtet habe, habe Dr. S… im Unterschied zu anderen Rechtsanwälten/innen, die ausgeschieden seien, bei ihm nicht nachgetreten, das habe er sich wohl mit dem Forderungsverzicht erkauft, so der Zeuge G… Trotzdem sei das Verhältnis zum Angeklagten bis heute „angespannt“; zur Zeit beispielsweise sei es so, dass sie beide an einer Rechtsstreitigkeit beteiligt seien; er sei mit dem Mandanten zur Kanzlei des Angeklagten gefahren, um auszuloten, ob eine Verständigung möglich sei; der Angeklagte habe ihn und den Mandanten nach kurzer Zeit aus den Kanzleiräumlichkeiten geschmissen.
911
Für ihn sei in der Zeit seiner Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S…, L… & Kollegen immer wieder ein Problem gewesen, dass er mit überobligatorischem Arbeitsaufwand für die Kanzlei tätig gewesen sei, seiner Ansicht nach aber nicht dementsprechend vergütet worden sei. Das habe er in Gesprächen hinsichtlich Gehaltserhöhungen auch immer wieder einfließen lassen. Er sei 2004 und 2005 Vater geworden und habe sich – bei der vorgenommenen Vertragsgestaltung sei 50 % seines Honorars ja noch abgegangen für Steuern, Kranken-, Rentenversicherung etc. – gefragt, wie er davon leben solle, habe Angst gehabt, wie er seine Familie ernähren könne und was er mache, wenn Kühlschrank und Wäschetrockner mal gleichzeitig kaputt gegangen wären.
912
Seine Beschäftigung ab 01.01.2000 in der Kanzlei des Angeklagten sei nach der Anwaltszulassung im Dezember 1999 sein erster Arbeitsplatz gewesen. Er habe seine Zukunft in der Aussicht einer möglichen Partnerschaft gesehen. Glaublich 2008 – es könne aber auch schon Ende 2007 oder erst Anfang 2009 gewesen sein – habe Dr. S… anlässlich einer Kanzleibesprechung seinen Entschluss bekannt gegeben, dass er aufhören wolle. Gleichzeitig habe er geäußert, dass derjenige, der sich in der nächsten Zeit am meisten anstrenge, ihm das Geld für seine Anteile geben dürfe. Dr. S… habe damals 60 % gehalten; pro Prozentpunkt sei die Zahlung eines Betrages von 10.000,- € im Raum gestanden. Gleichzeitig sei aber klar gewesen, dass die Kollegin L… bei Ausscheiden des Angeklagten über 50 % der Anteile gewollt habe. Rechnerisch habe sich „ein Einstieg in die Kanzlei“ für ihn dann aber unter Berücksichtigung der Anknüpfungstatsachen (Was macht die Kanzlei an Umsatz?, Welche Kosten, Investitionen etc. fallen an?), die er gehabt habe und die zur Beurteilung, was die Kanzlei wert sei, ihm vorgelegen hätten, bereits nach 5 Minuten als nicht darstellbar gezeigt; dass sei nicht das gewesen, wofür er jahrelang gearbeitet habe. Es sei im Jahr 2008 beispielsweise so gewesen, dass die Kosten für Rechtsanwälte/innen um 27 % gestiegen seien, der Umsatz aber nur um 1 %. Über Feinheiten betreffend eine Beteiligung oder Partnerschaft sei nicht gesprochen worden, auch nicht über konkrete Beträge.
913
Er habe in der Kanzlei des Angeklagten ein voll ausgestattetes Büro gestellt bekommen, keinen Kostenanteil für das Büro in Form eines prozentualen Mietanteils, eines Anteils für die Einrichtungsgegenstände, Nebenkosten, Wartung von EDV etc. aufbringen müssen. Auch habe er die Rechtsanwaltsfachgehilfinnen „nutzen“ können. Diese hätten zum einen am Empfang die Organisation übernommen (Entgegennahme von Kontakten, Durchstellen selbiger an die Anwälte, Fertigung von Rückruflisten und Führen des Kanzleikalenders, in den Besprechungstermine für jeden Anwalt eingetragen wurden etc.), zum anderen hätten die Vorzimmerdamen (zwei Rechtsanwälte hätten grundsätzlich eine Sekretärin gehabt) die Fristen überwacht, Schriftsätze gefertigt, aber auch die eigentliche anwaltliche Tätigkeit vorbereitet. Er habe kein Mitspracherecht bei Einstellungen oder Kündigungen gehabt, auch nicht, wenn neue Rechtsanwaltskollegen hätten eingestellt werden sollen (während seiner Zeit etwa H…). Wenn er Arbeitsmittel in Form von Literatur/Kommentaren benötigt habe, habe er dies geäußert und bekommen. Bezahlt habe dies die Kanzlei, wobei er das Wort „Kanzlei“ synonym für Dr. S…/L… verwende.
914
Die Akten seien in den Kanzleiräumlichkeiten archiviert gewesen, nicht bei ihm zu Hause. Dort habe er zwar ein Zimmer mit Schreibtisch gehabt, die Arbeit habe er allerdings nicht zu Hause erbracht, sondern ausschließlich in den Büroräumlichkeiten der Kanzlei.
915
Es sei zwar so gewesen, dass eine ausdrückliche Anordnung im Sinne einer Anwesenheitspflicht nicht existiert habe. Er selbst habe auch keine Stundenaufzeichnungen geführt. Es sei aber nicht gerne gesehen worden, wenn die Rechtsanwälte/innen während der Kanzleiöffnungszeiten (so etwa zwischen 08:00 Uhr bis 18:00 Uhr) nicht anwesend gewesen seien. Wenn jemand etwa um 09:00 Uhr noch nicht da gewesen sei, dann sei durchaus Kritik daran geäußert worden (… jetzt haben schon drei Leute für Rechtsanwalt … angerufen und der ist nicht da …). Ihn habe das nie betroffen, da er an 97 von 100 Tagen von 08:00 Uhr bis 18:00 Uhr anwesend gewesen sei.
916
Im Rahmen der Kanzleibesprechung habe es – in Form von PowerPoint-Präsentationen – immer wieder auch vom Angeklagten vorgerechnete Beispiele gegeben in der Form, dass an 220 Arbeitstagen ein Anwalt 6 1/2 Stunden (gegenüber dem Mandanten abrechenbare Stunden) × 150,- € (Stundensatz) anwesend sein müsse, damit er einen jährlichen Umsatz von 214.500,- € erwirtschafte, verbunden mit der Äußerung sowohl des Angeklagten als auch von Frau L…, dass man entsprechend da sein müsse, um dieses Ziel zu erreichen, nur dann rechne sich die Kanzlei.
917
Zu Beginn seiner Tätigkeit in der Kanzlei habe er zunächst bei Dr. S… eine Einarbeitungsphase durchlaufen. Dr. S… habe ihn etwa zu Mandantenbesprechungen dazu gerufen, dann habe er das Mandat bearbeitet. Es sei so gewesen, dass Dr. S… inhaltliche Vorgaben gemacht habe, worüber er auch durchaus froh gewesen sei, da er ja frisch vom Studium gekommen sei und zunächst nicht gewusst habe, wie er seine Tätigkeit zu gestalten habe, etwa Schriftsätze verfassen müsse. Dr. S… habe zu ihm geäußert: „Bis du ein richtiger Anwalt bist, das dauert 5 Jahre!“. Es sei dann auch tatsächlich so gewesen, dass der Angeklagte bzw. in einer zweiten Einarbeitsphase Frau L… (als er sich auch im Familienrecht eingearbeitet habe) für die Dauer von 2-3 Jahren seine Schriftsätze korrigiert hätten. Es habe eine Mappe existiert, die von ihm zum Angeklagten gewandert sei; der Angeklagte habe Korrekturen vorgenommen, er habe dann die Ausbesserungen gemacht und den Schriftsatz in der Mappe wieder dem Angeklagten zugeleitet. Zum Teil sei ein Schriftstück so schon 4-5-mal hin und her gewandert. Der Angeklagte sei bei den inhaltlichen Korrekturen diplomatisch vorgegangen, es habe in der Arbeit eine gute Atmosphäre geherrscht.
918
Bis auf das leidige Thema „Geld“ sei überhaupt die Stimmung in der Kanzlei eigentlich kollegial und gut gewesen, nach den Kanzleibesprechungen habe der Angeklagte etwa die Belegschaft regelmäßig zum Essen eingeladen, auch seien größere Kanzleibetriebsausflüge mit dem gesamten Personal nach Wien oder Rom gemacht worden, wobei die Kanzlei für alle Flug, Unterkunft und Essen komplett bezahlt habe.
919
Später habe er potentielle Mandanten, die in der Kanzlei angerufen hätten, über den Empfang entsprechend dem Fachgebiet zugewiesen bekommen, d.h. die Kontakte seien in den Kanzleikalender für eine Besprechung bei ihm eingetragen bzw. auch direkt telefonisch durchgestellt worden. Es habe aber auch immer wieder Mandate gegeben, die der Angeklagte ihm gegeben habe, da man sich da habe einlesen müssen. Er habe auch Mandate vom Angeklagten, wenn dieser das gewollt habe, übernommen.
920
Seiner Ansicht nach sei das jeweilige Mandatsverhältnis – auch bei den anderen Anwälten – dann mit der Kanzlei zustande gekommen. Ihm sei da ein kurioser Fall erinnerlich: Der Angeklagte habe – nachdem er, M… und G… ausgeschieden gewesen seien – gegen Rechtsanwalt M… einen bizarren Haftungsprozess geführt. M… habe eine Mandantin im Namen der Kanzlei vertreten, Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche für sie durchgesetzt. Anschließend habe Dr. S… einen Haftungsfall in dieser Sache anhängig gemacht und M… verklagt. Vor dem Oberlandesgericht sei dann zu Dr. S… gesagt worden: „Sie haben sich ja selbst verklagt!“. Der Zeuge teilte später, wie im Selbstleseverfahren „6“ eingeführt und nochmals vorgelesen, die Aktenzeichen des erwähnten Haftungsprozesses mit (6 O 1335/12, Landgericht Traunstein bzw. 15 U 2822/13, Oberlandesgericht München).
921
Er habe jedenfalls keine eigenen Mandanten gehabt, sein Geld nur in der Kanzlei verdient, die von Dr. S… geführt und organisiert worden sei. Lediglich in den letzten 2-3 Jahren vor seinem Ausscheiden habe er eine Aufsichtsratstätigkeit innegehabt, diese habe er mit Genehmigung des Angeklagten ausüben dürfen (das sei aber nicht während der Kanzleikernzeiten gewesen, auch nicht regelmäßig und besonders oft, halt nur einige Male im Jahr). Insoweit habe er ein jährliches Sitzungsgeld in Höhe von 500,- € erhalten.
922
Die jeweilige Vollmacht sei eine Kanzleivollmacht gewesen, auf deren Gestaltung habe er keinen Einfluss gehabt.
923
Die Frage, ob er Mandate/Aufträge habe ablehnen können, könne er nicht beantworten, da sich diese Frage nie gestellt habe. Seiner Einschätzung nach hätte er die Leistungserbringung auch nicht auf eine andere, kanzleifremde Person delegieren können, sei vielmehr persönlich zu Leistungserbringung verpflichtet gewesen.
924
Auch die Rechnungen an die Mandanten seien mit Kanzleibriefkopf erfolgt, unter Angabe der Kanzleisteuer-Nummer und auf ein Kanzleikonto, auf welches er keinen Zugriff gehabt habe.
925
Die Rechnungsbegleichung sei durch das Vorzimmer bzw. die Buchhaltung überwacht worden; bei Forderungsaußenständen habe jedenfalls nicht er die Forderungen eingetrieben.
926
In Fällen, in denen Mandanten die Rechnungen nicht bezahlt hätten, sei der Ausfall nicht auf ihn zurückgefallen, seine monatliche Vergütung nicht gekürzt worden.
927
Es habe durchaus schwierige Klientel gegeben. Wenn es sich dabei um Bekannte des Angeklagten gehandelt habe, sei das Mandat zum Teil übernommen worden, auch wenn mit Forderungsausfällen zu rechnen gewesen sei. Dies sei der Mentalität von Dr. S… geschuldet gewesen nach dem Motto: „Augen zu und durch“. Ihm/G… sei das aber scheißegal gewesen, da er ja sein monatliches Honorar bekommen habe.
928
Er selbst habe keine eigenen Mandanten akquiriert; natürlich habe es ab und an Bekannte gegeben, die dann auch durch die Kanzlei vertreten worden seien. Auch in diesen Fällen sei das Mandatsverhältnis mit der Kanzlei zustande gekommen und die Rechnung auf Kanzleinamen erfolgt.
929
Er habe keine eigene Werbung geschaltet, keine eigenen Visitenkarten und Briefbögen gehabt, keinen eigenen Außenauftritt, keine eigenen Angestellten. Fortbildungskosten seien von der Kanzlei übernommen worden, ebenso die Zahlung der Kammerbeiträge und der Haftpflichtversicherung. Kranken- und Pflegeversicherung habe er selbst gezahlt. Auch habe er einen Befreiungsantrag bzgl. der Rentenversicherung gestellt, wann wisse er nicht mehr.
930
Die vereinbarte monatliche Zahlung habe er immer erhalten (festes Jahreshonorar : 12, als monatliche Teilleistung abrufbar).
931
Das vereinbarte Honorar habe er unabhängig von Urlaub/Krankheit erhalten. Den Urlaub habe er in den Terminkalender eintragen, bei Krankheit habe er keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen müssen, habe nur angerufen. Er sei aber nach seiner Erinnerung auch selten krank gewesen und habe sicher nie mehr als 30 Abwesenheitstage pro Jahr gehabt.
932
Eine Reduzierung unter der Prämisse, dass er weniger Umsatz gehabt hätte – dies sei nach der Geburt seines 2. Kindes 2005 einmal kurzfristig so gewesen –, habe auch nie im Raum gestanden. Eine „Methode“ der Honorarberechnung habe es seiner Ansicht nach nicht gegeben, er sei aber bestimmt „Vollzeit“, d.h. 40 Stunden/Woche tätig gewesen.
933
Eigene unternehmerische Chancen habe er nicht gehabt, sei in der Kanzlei des Angeklagten voll ausgelastet gewesen.
934
Sein Honorar habe sich in den Jahren verändert, zuletzt habe er glaublich 5.500,- € pro Monat abrufen können. Das Thema „Honorarerhöhung“ sei immer schwierig gewesen. Wenn er etwa aufgrund guten Umsatzes der Ansicht gewesen sei, dass eine Honorarerhöhung erfolgen müsse, und er deshalb dahingehend das Gespräch mit dem Angeklagten gesucht habe, habe dieser ihn eigentlich immer vertröstet, geäußert, er müsse erst mit L… sprechen. Wenn er/G… dann seinerseits Frau L… angesprochen habe, ob der Angeklagte bereits mit ihr/L… über die Honorarerhöhung gesprochen habe, habe diese immer gesagt, dass Dr. S… noch gar kein Wort gesagt habe.
935
Er habe jedenfalls monatlich entsprechende Rechnungen (mit Umsatzsteuerausweis) an die Kanzlei geschrieben (mit ihm und den Verfahrensbeteiligten wurde eine solche vom 03.03.2009 – Bd. 18 „G…“ – 18030 f. – in Augenschein genommen und verlesen), in denen neben der vereinbarten monatlichen Vergütung auch Posten nach RVG (mit dem jeweiligen Az. des Mandates) aufgelistet worden seien.
936
Es sei aber so gewesen – wie auf der in Augenschein genommenen Rechnung zu erkennen –, dass eine solche Rechnung aus zwei Blättern bestanden habe: Auf dem ersten Blatt sei der Posten „Vergütung“, sowie der Posten „MWSt“ aufgelistet gewesen. Auf dem zweiten Blatt seien die Leistungen nach RVG (Tage-, Abwesenheitsgelder etc.) aufgelistet gewesen; die dort errechnete Summe sei zu der vereinbarten monatlichen Honorarvergütung hinzugerechnet gewesen, d.h. der Posten „Vergütung“ auf dem ersten Blatt habe – ohne dass dies erkennbar gewesen wäre – die Position Honorar und die Posten RVG-Gelder in einer Summe enthalten, dementsprechend trotz der fixen monatlichen Honorarvergütung monatlich variiert. Es habe die Anweisung bestanden, dass beide Zettel nicht getackert werden durften; wenn er dies gemacht habe, habe er die Rechnung neu schreiben müssen.
937
Die beiden Blätter seien dann auch in unterschiedlichen Ordnern abgelegt worden.
938
Obwohl es vor allem in der Phase des Ausscheidens Spannungen gegeben habe, würde er den Angeklagten im Umgang mit den Rechtsanwälten/innen als guten Chef bezeichnen. Es laufe nicht immer alles glatt, und wenn etwas schief gelaufen sei, habe der Angeklagte versucht, es wieder glatt zu ziehen. Er habe einen Raum gefüllt, sei präsent gewesen, im Umgang kulant (Essen, Betriebsausflüge), habe immer geschaut, dass die Stimmung in der Kanzlei gut gewesen sei.
939
Zwischen dem Angeklagten und der Kollegin L… habe es öfters Streit hinsichtlich der Frage des Umgangs mit Personal gegeben. Thema der Dispute sei auch immer wieder gewesen, dass der Arbeitsanteil von Frau L… sehr, sehr hoch gewesen sei, ihre Entnahmen im Verhältnis dazu aber gering.
940
Nach der Umsatz- und Gewinnsituation der Kanzlei befragt, gab der Zeuge an, dass in guten Jahren Gewinne zwischen 400.000,- € und 700.000,- € zur Entnahme zur Verfügung gestanden hätten und von den beiden Sozien (Dr. S…/L…) auch entnommen worden seien.
941
Grund seines Ausscheidens seien die jahrelangen Konflikte hinsichtlich des Geldes/der Frage von Honorarerhöhungen mit dem Angeklagten gewesen, insbesondere unter Berücksichtigung seiner Umsätze, die gut gewesen seien, aber auch der Aspekt, dass er selbstbestimmt habe arbeiten wollen, bei Dr. S… sei er nicht sein eigener Herr gewesen. Vielmehr sei er in einen Apparat eingegliedert gewesen, habe auf Rechnung der Kanzlei seine anwaltschaftliche Tätigkeit verrichtet.
942
Nach seinem Ausscheiden aus der Kanzlei Dr. S…, L… & Kollegen habe er sich 2010 mit den Kollegen M…, G… und W… selbstständig gemacht (Kanzlei gmg). Entgegen der Prognosen – Prognosen des Angeklagten, betr. derer er aber nur vom Hören-Sagen Kenntnis habe – seien sie auch nicht grandios gescheitert.
943
Seine Kalkulation als Selbstständiger sei so, dass etwa 40-50 % des erwirtschafteten Umsatzes für Kanzleiauslagen zu veranschlagen seien. Als Selbstständiger zahle er jetzt Personal, Büro/Miete, EDV, also Soft-/Hardware, Drucker, Papier etc., Strom, Telefon, Porto, Kammerbeiträge und Haftpflichtversicherung usw. Einen Pkw habe er auch schon zu Zeiten in der Kanzlei des Angeklagten gehabt, aber abgerechnet.
944
Nach der Stellung von Rechtsanwältin Ul. A… befragt, äußerte der Zeuge G…, dass er mit dieser quasi keine Berührungspunkte gehabt habe. In der Zeit seiner Tätigkeit in der Kanzlei habe Ul. A… ausschließlich Dr. S… zugearbeitet, er habe sie selten gesehen, normalerweise nur bei den Kanzleibesprechungen.
945
Des Weiteren wurden mit dem Zeugen verschiedene Passagen aus der Erklärung des Angeklagten gemäß § 163 a StPO vom 22.08.2019 (vgl. eingeführt im Selbstleseverfahren „1“ VII.) vorgelesen und vorgehalten:
* „Herr Rechtsanwalt Al. G… war Vorstandsmitglied im Gewerbeverband (Zusammenschluss selbstständiger Berufsausübender). Übrigens war er als Fachanwalt für Insolvenzrecht überwiegend persönlicher Mandatsträger in einer Vielzahl der Mandate.“ (Bl. 1686).
946
Der Zeuge äußerte, dass dies falsch sei; er blieb dabei, keine anderen Auftraggeber gehabt zu haben; seine Tätigkeit im Gewerbeverband sei ein Ehrenamt ohne jegliche Bezahlung gewesen; er sei auch nicht als Fachanwalt für Insolvenzrecht überwiegend persönlicher Mandatsträger in eine Vielzahl von Mandaten gewesen, Insolvenzverwalter würden bekanntermaßen durch das Gericht bestimmt.
* „Mindestens 5 Rechtsanwältinnen hatten in den Jahren nach 2000 kleine Kinder. Die Familiengestaltung stand bei diesen Kolleginnen im Vordergrund. Die wollten die Tätigkeit als Rechtsanwältinnen wieder aufnehmen und ihre Fachanwaltschaften aktivieren innerhalb der gewünschten Freiheit für Familie, insbesondere für die Kinder.“ (Bl. 1685).
947
Hierzu äußerte der Zeuge, dass eine ausgeprägte Familienfreundlichkeit in der Kanzlei nicht praktiziert worden sei. Wenn ein Anwalt nicht Vollzeitjurist gewesen sei, dann habe er nach Ansicht des Angeklagten eigentlich nicht ins Team gepasst.
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Auch er habe nach der Geburt seiner zwei Kinder 2004/2005 – das sei familiär eine belastete Zeit gewesen – einen Umsatzrückgang/Hänger gehabt, das sei schon vom Angeklagten auch angesprochen worden.
* „Die Liste der weiteren Tätigkeiten der freien Mitarbeiter lässt sich beliebig indiziell dafür fortsetzen, dass alle freien Mitarbeiter Freiräume für sonstige Tätigkeiten ohne wettbewerbsrechtliche oder vertragliche Beschränkungen hatten und diese Freiheit auch mit eigenen Entscheidungen und Tätigkeiten umsetzten.“ (Bl. 1687).
949
Er/G… negierte dies. Er habe – wie die anderen Kollegen auch – einen Vollzeitjob gehabt, da habe er keine Freiräume für sonstige Tätigkeiten gehabt, keinerlei Spielraum überhaupt einer anderen Tätigkeit nachzugehen, ganz abgesehen davon, dass dies genehmigungspflichtig gewesen wäre, wie auch seine Aufsichtsratstätigkeit in den letzten 2-3 Jahren vor seinem Ausscheiden, für die er jährlich ein Sitzungsgeld in Höhe von 500,- € erhalten habe (s.o.).
* „Für alle Rechtsanwälte, die in der Kanzlei tätig waren, galt, dass sie entweder in die Kanzlei als Partner eintreten konnten oder, sofern sie eigene Überlegungen für eine Mitarbeit in einer anderen Kanzlei hatten, oder eine eigene Kanzleigründung, oder einen Wechsel in einen anderen Berufsbereich anstreben, alle Mandate mitnehmen und frei agieren konnten.“ (Bl. 1687).
950
Er/G… negierte dies. Dies sei nicht nur bei ihm anders gewesen, sondern er wisse dies auch von den Kollegen M… und G…. Er habe, wie oben geschildert, eine Ablöse von 17.500,- € für seine Mandate bezahlt.
* „Es gab keine Beschränkungen, keine Reglementierungen, keine Anordnungen, schon gar nicht bezüglich der Arbeitszeiten der freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wie diese falsch in der anonymen Anzeige dargestellt ist.“ (Bl. 1688).
951
Auch dies negiert der Zeuge G…, äußert, dass dies nicht richtig sei.
952
Auf Frage der Verteidigung, wie seine steuerliche Behandlung gewesen sei, gab der Zeuge G… an, dass er Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit versteuert habe.
953
Auch der Zeuge G… hat somit – bei vergleichender Betrachtung der Tätigkeit und tatsächlich gelebten Verhältnisse vor und im (verbliebenen) Tatzeitraum – bei Zusammenfassung seiner Aussage für das Gericht im Kern ein Bild gleicher Beschäftigungsstrukturen gezeichnet: Er schloss schriftlich mit dem Angeklagten eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung und führte Umsatzsteuer ab. Auch musste er im Fall der Erkrankung keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegen, Urlaub nicht förmlich beantragen und genehmigen lassen. Daneben, auf einem gesonderten, zweiten Blatt, wurde mit dem Angeklagten aber auch eine Zusatzvereinbarung abgeschlossen, die den Mantelvertrag aushebelte, kappte. Auch er schilderte, dass Vertrag und Zusatzvereinbarung ihm vorgefertig vorgelegt wurden, es kein Aushandeln gab und er nur noch unterschrieb.
954
Er war in den Kanzleibetrieb eingegliedert, bekam dort kostenfrei ein eigenes, voll ausgestattetes Büro (keine eigene Betriebsstätte) und Infrastruktur/Arbeitsmittel, sowie geschultes Personal zur Verfügung gestellt. Die Kanzlei zahlte auch Fortbildungskosten, sowie Kammerbeiträge und Haftpflichtversicherung. Er bekam bei einer maximalen Jahresabwesenheit ohne Krankheit bis 28 und mit Krankheit bis 30 Werktage sein Honorar fortgezahlt, bekam dieses auch fortgezahlt unabhängig vom eigenen erwirtschafteten Umsatz und unabhängig von dem durch die Kanzlei insgesamt erwirtschafteten Umsatz. Mandate bekam er am Anfang von Dr. S… zugewiesen, später über den Empfang. Die Mandatsverhältnisse, die ausschließlich mit der Kanzlei zustande kamen, wurden über die Kanzlei auf dem Kanzleikonto abge- und verrechnet, auf welches er keinen Zugang hatte. Er hatte keine anderen Auftraggeber, was ihm aufgrund der zeitlichen Einbindung in die Kanzlei auch überhaupt nicht möglich war, hätte im Übrigen dafür aber auch eine Genehmigung vom Angeklagten einholen müssen. Er betrieb keine eigene Werbung, hatte keine Visitenkarten auf seinen eigenen Namen, kein eigenes Personal. Projektbezogene Tätigkeiten verrichtete er in der Kanzlei des Angeklagten nicht.
955
Gleichfalls schilderte der Zeuge G… dass es bereits zu seiner Zeit der Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten – welche vor dem noch nicht verjährten, verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum lag – Usus war, als neuer Rechtsanwalt beim Angeklagten eine Ausbildung zu durchlaufen, was beinhaltete, dass die gefertigten Schriftsätze in einer Mappe dem Angeklagten vorgelegt, von ihm ausgebessert und die Ausbesserungen vom Zeugen als neuem Anwalt übernommen wurden. Auch kam es immer wieder vor, dass der Zeuge Mandate auf Anweisung des Angeklagten bearbeitete, wo Forderungsausfälle im Raum standen und die er ohne Anweisung nicht bearbeitet hätte. Es bestand eine persönliche Leistungserbringungspflicht.
956
Zwar gab es keine Stundenaufzeichnungen, allerdings mahnte der Angeklagte in Kanzleibesprechungen immer wieder an, dass die Rechtsanwälte/innen während der Kanzleiöffnungszeiten anwesend sind, was der Zeuge und die Kollegen grundsätzlich auch taten. Hielt sich ein Kollege nicht daran, wurde dies kritisiert.
957
Unternehmensrisiken hatte G… nicht, ebensowenig einen eigenständigen Außenauftritt am Markt ohne Kanzleibezug, ein eigenständiges unternehmerisches Tätigwerden legte er nicht an den Tag. Er erhielt das vereinbarte Honorar unabhängig von Urlaub, Krankheit, unabhängig von Gewinn und Verlust.
958
Zudem beschreibt der Zeuge betreffend die Rechnungsstellung an die Kanzlei eine durchaus „auffällige“ Handhabung: Die Rechnung wurde auf zwei Blättern erstellt: 1. Blatt: Vergütung (enthielt das vereinbarte Honorar inkl. RVG-Gelder, mithin einen monatlich variierenden Betrag) nebst MWSt; 2. Blatt: Gesonderte Auflistung der Leistungen nach RVG i.E.. Beide Blätter durften nicht zusammen getackert werde, andernfalls bestand die Anordnung, sie neu zu schreiben. Sie wurden in verschiedenen Ordnern aufbewahrt.
959
Das Thema „Scheinselbstständigkeit“ war in der Kanzlei des Angeklagten ein offenes Geheimnis, welches der Zeuge während seiner Beschäftigung in der Kanzlei gegenüber Dr. S… nur deshalb nicht thematisierte, da er sich die Möglichkeit einer Partnerschaft nicht verbauen wollte.
960
Beim Ausscheiden musste er für Mandate, die er mitnahm, eine Ablöse zahlen, war der Ansicht, dass dann, wenn er freier Mitarbeiter gewesen wäre, die Mandate auch „seine“ Mandate gewesen wären, er sie dann hätte mitnehmen können, ohne etwas dafür bezahlen zu müssen.
961
Die Zeugin St. L… betrieb bereits als Selbstständige in D. eine eigene Kanzlei, als sie für 3 Tage wöchentlich ab 01.10.2009 (bis 30.06.2013) ihre anwaltschaftliche Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen begann.
962
Ihr Vater sei im Jahr 2000 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Er habe, ebenso wie zuvor ihr Großvater, in D. eine Anwaltskanzlei (bestand seit 1948) gehabt. Nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 2000 habe sie das Haus, in dessen Erdgeschoss die Kanzlei gewesen sei, geerbt. Damals sei sie aber noch nicht mit dem Studium fertig gewesen. Als sie im Jahr 2005 dann fertig gewesen sei, habe sie ihre Zulassung am Standort Deggendorf bekommen und den Kanzleibetrieb fortgesetzt, zunächst habe sie allein dort gearbeitet, auch keine Sekretärin gehabt. Die Kanzleiräumlichkeiten seien vollständig eingerichtet gewesen. Da die Kanzlei seit 1948 in D. etabliert gewesen sei, hätten dann auch ziemlich schnell wieder Leute angerufen und sie habe Mandate erhalten, auch über Versicherungen; es habe sich v.a. um zivilrechtliche Mandate gehandelt.
963
Dann habe sie ihren späteren Mann, M. H…, kennengelernt, der in der Kanzlei des Angeklagten beschäftigt gewesen sei. Es habe Überlegungen gegeben, ob sie und M. sich mehr Richtung D. oder mehr in Richtung B., wo M. H… ja bereits in der Kanzlei des Angeklagten etabliert gewesen sei, orientieren wollten. Dies sei auch ein Grund dafür gewesen, warum sie 2009 in der Kanzlei Dr. S…, L… & Kollegen (Teilzeit) angefangen habe. Es seien mit M. H… immer wieder verschiedene Möglichkeiten der Gründung eines neuen Lebensmittelpunktes diskutiert worden. Ende 2009 seien dann drei Rechtsanwälte (G…, M…, G…) aus der Kanzlei ausgeschieden, dadurch habe sich für sie die Möglichkeit ergeben, dort zu arbeiten.
964
Sie habe aber auch bereits vor 2009 immer wieder „mit der Kanzlei zu tun gehabt“, habe bereits dort während des Studiums die Referendarstation gemacht.
965
2005, als M. H… das Pfeiffersche Drüsenfieber gehabt und für 3 Wochen ausgefallen sei, habe sie stundenweise dort gearbeitet (daraus habe sich auch die Stundenabrechnung für Dezember 2005 entsprechend Rechnung Bd. 12 „L…“ – Bl. 12001 f. ergeben).
966
Auch sei sie etwa anlässlich von Weihnachtsfeiern als Lebensgefährtin von M. H… schon vor 2009 in der Kanzlei des Angeklagten gewesen.
967
Zwischen ihr und der Kanzlei/dem Angeklagten sei keine schriftliche Vereinbarung geschlossen worden. Mündlich habe man sich geeinigt, dass sie 3 Tage pro Woche als freie Mitarbeiterin bei einer monatlichen Pauschalvergütung in Höhe von 2.500,- € in der Kanzlei beschäftigt werde. Die Zeugin gab an, nicht zu wissen, wie sich diese Pauschalvergütung zusammen gesetzt habe. Sie habe sich auch über den Inhalt der mündlichen Vereinbarung letztendlich keine weiteren Gedanken gemacht, da ihr damaliger Lebensgefährte M. H…, bereits in der Kanzlei tätig gewesen und sie dann „so da reingerutscht“ sei.
968
Ihre Fachgebiete seien vorrangig Insolvenz- und Familienrecht (insoweit habe sie Frau L… zugearbeitet) und auch Medizinrecht gewesen. Während ihrer Zeit in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen habe sie Fachanwaltskurse betreffend Medizin- und Familienrecht gemacht (wer die bezahlt habe, könne sie heute aus der Erinnerung heraus nicht mehr sagen), den Fachanwalt für Familienrecht selbst habe sie dann aber erst – genau wisse sie das nicht mehr – 2014/2015 gemacht; insoweit habe sie keine Fälle/Mandate aus der Zeit in der Kanzlei Dr. S… eingereicht.
969
Zu Beginn ihrer Tätigkeit habe sie ein voll ausgestattetes Büro (Raum, Möblierung, Geräte in Form von Drucker, Kopierer, Telefon etc.) zur Verfügung gestellt bekommen, ebenso Kanzleipersonal; dafür habe sie nichts bezahlt, auch keinen Kostenanteil.
970
Wie erwähnt, habe sie 3 Tage die Woche in der Kanzlei des Angeklagten gearbeitet.
971
Während der üblichen Kanzleiöffnungszeiten ab 08:00 Uhr/08:30 Uhr bis abends sei sie anwesend gewesen. Hinsichtlich der zeitlichen Komponente ihrer Arbeit habe es betreffend ihre Person – ebenso wie betreffend die anderen, in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen tätigen Rechtsanwälte/innen – immer wieder Diskussionsbedarf mit dem Angeklagten gegeben, auch in den etwa einmal monatlich stattfindenden Mitarbeiter-/Kanzleibesprechungen.
972
Dr. S… habe immer wieder gesagt, dass es ihm nicht passt, wenn die „Leute“ (gemeint seien die Anwälte gewesen) zu spät kämen oder zu früh gingen. Dabei habe er auch immer wieder bestimmte Personen, u.a. M. H…, direkt angesprochen. Sie habe dies – ebenso wie nach ihrem Kenntnisstand die anderen in der Kanzlei tätigen Anwälte – als konkludente Anordnung im Hinblick auf die gebotene Anwesenheit während der Kanzleiöffnungszeiten verstanden.
973
Der Angeklagte habe auch bei Sekretärinnen/oder dem Empfang nachgefragt, wann welcher Anwalt morgens anfangen würde. Das sei den Anwälten dann von den Sekretärinnen zugetragen worden in dem Sinne, „der Chef habe schon nachgefragt, wo der und der denn bleibe“. Sie könne heute nicht mehr sagen, welche Sekretärin das gewesen sei. Sie könne sich aber auch erinnern, dass der Angeklagte dann, wenn er etwa den Kollegen B… – der habe es mit der Anwesenheit etwas lockerer gesehen – nicht angetroffen und kontrolliert habe, dass kein Gerichtstermin im Terminkalender eingetragen gewesen sei, B… also einfach weg gewesen sei, darüber sehr verärgert gewesen sei und dies dann bei B… auch moniert habe.
974
Auch bei den Monatsbesprechungen sei die Anwesenheit der Anwälte immer wieder Thema gewesen, etwa habe Dr. S… nicht gewünscht und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es ihm nicht gefalle, wenn Anwälte an Brückentagen nicht in der Kanzlei seien.
975
Zu Beginn ihrer Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S… habe dieser die von ihr gefertigten Schriftsätze durchgelesen und auch korrigiert. Das habe sie übernommen. Der Angeklagte habe dies – obwohl sie schon seit 2005 als Anwältin tätig gewesen sei – gewollt, um ein einheitliches Auftreten der Kanzlei nach außen sicherzustellen, er habe nicht gewollt, dass das jeder Anwalt so mache, wie er sich das vorstelle. Er habe auch inhaltliche Korrekturen vorgenommen. Sie habe das dann so gemacht, wie Dr. S… es gewollt habe.
976
In den Insolvenz-Mandaten sei dies weniger gewesen, da Dr. S… da keine Ahnung gehabt und sie ihre Wahlstation bereits in einer Insolvenzkanzlei in Passau gemacht, dementsprechende Kenntnisse mitgebracht habe. Zudem sei es so, dass im Rahmen des Insolvenzrechtes gesetzlich eigentlich der Ablauf der außergerichtlichen Schuldenbereinigung vorgegeben sei. Bei der Bearbeitung von Mandaten im Kontext mit Medizinrecht habe sich Dr. S… öfter eingemischt, gesagt, was er gut finde und was nicht, Formulierungen, aber auch Aufbau und Inhalt korrigiert.
977
An die Mandate sei sie letztendlich über den Empfang/die Sekretärinnen gekommen, d.h. wenn Leute angerufen hätten und ihr in der Kanzlei vorrangig bearbeitetes Fachgebiet (Insolvenzrecht, sie habe aber auch Medizinrecht und allgemeine Zivilsachen bearbeitet, sowie Frau L… in familienrechtlichen Mandaten zum Teil zugearbeitet) betroffen gewesen sei, sei der Kontakt entweder direkt zu ihr durchgestellt oder ein Besprechungstermin für sie im Terminkalender eingetragen worden. Ihrem Kenntnisstand nach sei das von Dr. S… somit den Sekretärinnen besprochen worden; dieser Ablauf der Kontakt-/Mandatszuteilung sei im Kanzleiablauf durch den Angeklagten vorgegeben gewesen.
978
Das Mandatsverhältnis sei dann immer mit der Kanzlei zustande gekommen und auch über die Kanzlei abgerechnet worden.
979
Sie habe die Mandate, die sie für die Kanzlei des Angeklagten bearbeitet habe, nicht mit ihrem Büro in D., wo sie selbstständig gewesen sei, „vermischt“.
980
Auf Vorhalt, ob M. H… auch in ihrer Kanzlei in D. mitgearbeitet habe, erklärte die Zeugin L… Nein, dies wäre ihm zeitlich auch gar nicht möglich gewesen.
981
Natürlich habe sie mit M. H…, ihrem Lebensgefährten und späteren Ehemann ab und an mal im privaten Bereich über Fälle diskutiert. Er/H… habe aber bis zu seinem Ausscheiden aus der Kanzlei Dr. S… & Kollegen nicht bei ihr in D. gearbeitet, es habe kein Beschäftigungsverhältnis mit ihm bestanden, er habe keine Akten/Mandate aus ihrer Deggendorfer Kanzlei bearbeitet.
982
Soweit es betr. einen Mandanten (Landwirt) ihrer D. Kanzlei einen Haftungsfall gegeben habe, in den auch M. H… involviert gewesen sei, habe es sich um einen langjährigen Mandanten gehandelt mit zahlreichen einzelnen Fällen. Nachdem M. H… aus der Kanzlei des Angeklagten ausgeschieden sei, habe er betreffend diesen Mandanten auch ein Mandat geführt; daraus habe sich dann der Haftungsfall entwickelt.
983
Bei den Monatsbesprechungen habe der Angeklagte für alle anwesenden Anwälte u.a. auch vorgegeben, wie schnell die jeweiligen Fälle zu bearbeiten seien. Es seien auch Beschwerden besprochen worden und wie mit diesen umzugehen sei. Insbesondere habe Dr. S… dann auch konkrete Vorgaben gemacht, binnen welcher Zeit bestimmte Fälle bearbeitet werden müssten bzw., dass Rückrufe an Mandanten sofort zu erfolgen hätten. Dabei sei ihr durchaus bewusst, dass § 11 BORA als anwaltliche Berufspflicht vorschreibe, dass Mandate in angemessener Zeit zu bearbeiten seien. Sie sei sich dieser Pflicht bewusst, gleichfalls aber der Ansicht, dass das ein freier Mitarbeiter im Konkreten selbst entscheiden müsse. Sie habe diese Ansage des Angeklagten zur Mandatsbearbeitung als Druck des Chefs, als Vorgabe dahingehend verstanden, dass er wollte, dass etwas „in der und der Zeit“ zu bearbeiten ist. Der Angeklagte habe für sie die Taktung der Mandatsbearbeitung vorgegeben, das sei für sie eine Art Zertifizierung gewesen. Wenn sich ein Anwalt nicht daran gehalten habe, sei er sauer gewesen und habe geäußert: „Das geht so nicht!“; er habe seinen persönlichen Unmut deutlich zum Ausdruck gebracht. Mit der Zeit habe sie dann natürlich immer weniger Schriftsätze vorgelegt und die Mandate insgesamt eigenständig bearbeitet.
984
Rechnungen während ihrer Tätigkeit von 2009-2013 habe sie immer in gleicher Form an die Kanzlei gestellt:
985
Mit der Zeugin L… und den Verfahrensbeteiligten wurde eine Rechnung vom 02.04.2013 (Abrechnung freie Mitarbeit März 2013) – Bd. 12 „L…“ – Bl. 12084 f. – in Augenschein genommen.
986
Die Rechnung besteht aus zwei Blättern:
987
Auf Blatt 1 befinden sich die Positionen: „Vereinbartes Honorar gem. § 4 RVG“: 2.529,60 € und der „USt“. - 2.529,60 € enthält RVG-Geldern i.H.v. 29,60 €, steht so nicht auf Blatt 1 der Rechnung - Auf Blatt 2 befindet sich eine Aufstellung der Fahrtkosten und Abwesenheitsgelder nach RVG i.H.v. 29,60,-€.
988
Diese Art der Rechnungsstellung habe sie „bei den Kollegen abgeschaut“; sie habe das gemacht, wie die anderen in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte. Sie habe das nicht hinterfragt, sich diesbezüglich keine Gedanken gemacht.
989
Auf Nachfrage, ob es die Anweisung gegeben habe, die beiden Blätter nicht zu tackern, erklärte die Zeugin, dass sie davon nichts wissen.
990
Sie selbst habe keine feste Anzahl von Urlaubstagen mit dem Angeklagten/der Kanzlei vereinbart. Wenn sie aber urlaubsbedingt abwesend gewesen sei, habe sie ihr Fixum weiter der Kanzlei in Rechnung gestellt – das hätte sie auch bei krankheitsbedingter Abwesenheit machen können, sie glaube aber, sie sei nie krank gewesen -.
991
Andere Anwälte, die in der Kanzlei des Angeklagten beschäftigt gewesen seien, hätten eine feste Anzahl an Urlaubstagen im Jahr gehabt, ihrer Meinung nach hätte diese aber keiner der Anwälte ausgeschöpft. Es sei so gewesen, dass dann, wenn ein Anwalt in Urlaub habe gehen wollen, dies bei Dr. S… nicht auf Gegenliebe gestoßen sei und zwei Wochen in Folge schon eher eine Ausnahme gewesen seien.
992
In dem kanzleiinternen Terminkalender (für bis zu 8 Rechtsanwälte/innen) habe jeder Rechtsanwalt ein Kästchen gehabt, wo Gerichts-/Besprechungstermine eingetragen worden seien und auch Abwesenheiten durch Urlaub, damit an diesen Tagen keine Besprechungstermine an Mandanten vergeben werden. Sie könne sich nicht erinnern, dass krankheitsbedingte Fehltage eingetragen worden wären, auch nicht daran, ob im Krankheitsfall eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung notwendig gewesen sei.
993
„Scheinselbstständigkeit“ sei zwar nicht mit dem Angeklagten persönlich, aber immer wieder unter den Kollegen Thema gewesen, etwa im Jahr 2009, als G…, M… und G… sich selbstständig gemacht hätten.
994
Tenor dieser Thematisierung sei etwa gewesen, dass ein Fixgehalt an die in der Kanzlei tätigen Anwälte gezahlt würde, die Anwälte aber nicht prozentual an den Mandaten beteiligt seien, man durch Mehrarbeit auch nicht mehr erzielen könne, lediglich ein Umsatzziel als Grundlage für eine Erhöhung des Pauschalhonorars versprochen worden sei. Auch der Aspekt, der Urlaubsregelung (Honorarfortzahlung bei Urlaub) sei angesprochen worden, ebenso, dass eine Einbindung in den Kanzleibetrieb gegeben gewesen sei und auch in zeitlicher Hinsicht man nicht habe machen können, was man wolle. Sie glaube nicht, dass der Angeklagte es gestattet hätte, dass Rechtsanwälte/innen woanders arbeiten.
995
Betreffend Rechtsanwalt G… sei ihrer Meinung nach das Thema „Scheinselbstständigkeit“ schon in gewisser Weise als Druckmittel – dies wisse sie vom Hören-Sagen – gegen den Angeklagten eingesetzt worden, da es bei dessen Ausscheiden hinsichtlich der Frage der Mandatsmitnahme/Zahlungsabwicklung der Mandate Streit gegeben habe; das sei nach Ansicht von Rechtsanwalt G… unfair abgelaufen, woraufhin er geäußert habe, man könne durchaus in Frage stellen, ob die Anwälte in der Kanzlei des Angeklagten wirklich selbstständig oder nicht vielmehr scheinselbstständig seien. Sie wisse nicht, dass Rechtsanwalt G… letztendlich für die Mandate, die er mitgenommen habe, 17.500,- € an den Angeklagten gezahlt habe. Zudem sei es so, dass sich die beiden Sozien, also Frau L … und Dr. S…, nicht einig gewesen seien, ob die freie Mitarbeiterschaft der in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen nicht kritisch sei. Davon wisse sie vom Hören-Sagen, sicher nicht vom Angeklagten. Ihre „Quelle“ sei entweder M. H… oder Frau L… gewesen, genau wisse sie das nicht mehr. Es sei aber so gewesen, dass Frau L… gewünscht habe, dass das Thema freie Mitarbeiterschaft, da sie ein ungutes Gefühl gehabt habe, geklärt, „auf saubere Füße gestellt werde“. Auch habe sie erfahren, dass Frau L… mit ihren Bedenken bei Dr. S… nicht habe durchdringen können. Dies sei zu der Zeit gewesen, als Frau L… noch nicht ausgeschieden gewesen sei.
996
Jetzt betreibe sie mit M. H… in D. eine Sozietät/GbR. Ihr Ehemann und sie seien beide Inhaber und würden das wirtschaftliche Risiko gemeinsam tragen, gemeinsam Einnahmen und Ausgaben bewerten, kalkulieren und Anschaffungen realisieren. Kosten für Miete entstünden zwar nicht, da sie die Kanzlei ja in dem von ihr geerbten Haus in D. betreibe; es entstünden aber Nebenkosten, Kosten für Telefon, Internet, Kopierer, Drucker, Faxgeräte, Literatur, PC (sei regelmäßig alle 3 Jahre zu erneuern), Rechtsanwaltsprogramme (würden jedes Jahr erneuert), Büro- und Personalbedarf in Form von Rechtsanwaltsgehilfinnen (Buchhaltung mache sie selber) und Fremddienstleistungen, beispielsweise würden sie Diktate über einen Diktatservice schreiben lassen.
997
Bei der Kündigung habe es schon Streitigkeiten mit dem Angeklagten gegeben. Es habe eigentlich primär ein Zerwürfnis zwischen dem Angeklagten und M. H… gegeben, um die Abrechnung der laufenden Mandate bzw. die Mandatsmitnahme, als M. H… gekündigt worden sei. Sie könne sich heute eigentlich gar nicht mehr konkret an ein Kündigungsschreiben ihr gegenüber durch Dr. S… erinnern, nur noch daran, dass der Angeklagte sie zitiert und ihr erläutert habe, er habe M. H… gekündigt und daher müsse sie/L… auch gehen. Nach 2-3 Tagen seien sie dann „raus gewesen“. Ein Arbeiten in der Kanzlei sei auch für M. H… und sie gar nicht mehr möglich gewesen, da der Angeklagte den Zugang zu den Rechnern gesperrt habe, M. H… und sie sich nicht einmal mehr hätten einloggen können. M. H… habe dann Mandanten angeschrieben, ob sie in der Kanzlei Dr. S… bleiben oder mit ihm mitgehen wollten. Etliche Mandanten hätten gewünscht, von M. H… weiter betreut zu werden. Sie hätten das Mandat mit der Kanzlei gekündigt und H… neu mandatiert. Das habe H… dem Angeklagten mitgeteilt und nach Terminsabstimmung die entsprechenden Akten in der Kanzlei abholen wollen. Anlässlich dieses Termines habe es dann „Ärger gegeben“, der Angeklagte habe die Akten nicht rausgeben wollen und auch sie/L… regelrecht aus der Kanzlei geschmissen, habe sie sogar rumgeschubst.
998
Auf Vorhalt verschiedener, nachfolgend benannter Passagen aus der Stellungnahme des Angeklagten vom 22.08.2019, welche im Selbstleseverfahren „1“ VII. eingeführt wurde, erklärt die Zeugin Folgendes:
- Vorhalt Selbstleseverfahren „1“ VII. S. 22: „Alle Rechtsanwälte konnten bzw. nahmen die „eigenen“ Mandate und Akten beim Ausscheiden aus der Kanzlei mit.“
999
Zeugin L… dazu: Das kann ich bezüglich der Anwälte, deren Ausscheiden ich mitbekommen habe (G…, M…, G… und H…), nicht bestätigen. Es war vielmehr so, dass sie sich die Mandatsmitnahme regelrecht erkämpfen mussten.
- Vorhalt Selbstleseverfahren „1“ VII. S. 22: „Jede Rechtsanwältin und jeder Rechtsanwalt konnte sein eigenes Klientel aufbauen.“
1000
Zeugin L… dazu: Nein, das würde ich so nicht sagen. Der Fachbereich, in welchem sie – und auch andere Rechtsanwälte/innen – Mandate hätten bearbeiten können, sei ja letztendlich vorgegeben gewesen. Sie beispielsweise hätte nicht einfach sagen können, sie wolle jetzt ein arbeitsrechtliches Mandat bearbeiten.
- Vorhalt Selbstleseverfahren „1“ VII. S. 22: „Alle Rechtsanwälte hatte (n) ein eigenes Werberecht mit eigenen Bildern und mit der Vorstellung ihrer Qualifikationen.“
1001
Zeugin L… dazu: Bei ihr sei das zwar nie Thema gewesen, eigene Werbung zu betreiben. Es sei aber betreffend alle Rechtsanwälte/innen in der Kanzlei des Angeklagten so gewesen, dass für die Kanzlei Dr. S… Anzeigen geschaltet wurden, bei denen auch die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen und ihre Fachgebiete Erwähnung gefunden hätten; letztendlich seien alle Werbemaßnahmen aber stets eine Präsentation der Kanzlei gewesen.
- Vorhalt Selbstleseverfahren „1“ VII. S. 20: „Mandate bzw. Mandanten wurden von den freien Mitarbeitern selbstbestimmt ausgewählt und gegebenenfalls auch abgewiesen.“ Zeugin L… dazu: Das würde sie so nicht unterschreiben, da ja vorgegeben gewesen sei, welcher Rechtsanwalt welches Fachgebiet bearbeiten sollte; dementsprechend seien die Mandanten vom Empfang/den Sekretärinnen zugewiesen und entsprechende Terminsabsprachen bereits für den jeweiligen Anwalt in den Terminkalender eingetragen worden. Sie sei sich sicher, dass es ziemlich viel Ärger gegeben hätte, wenn die Anwälte dem vorgegebenen Zuteilungssystem widersprochen hätten.
- Vorhalt Selbstleseverfahren „1“ VII. S. 21: „Es gab für die Rechtsanwälte keine „üblichen Bürozeiten“, sondern nur die selbstbestimmten Zeiten für Besprechungen und die Bearbeitung der Mandate nach eigenen Vorgaben.“
1002
Zeugin L… dazu: Nein, das sehe sie überhaupt nicht so. Zwischen 08:00 Uhr bis 18:00 Uhr sei Anwesenheit Thema gewesen, selbstbestimmt andere Zeiten festzulegen sei nicht gewünscht gewesen. Der Angeklagte habe insoweit auch immer wieder Unmut geäußert, wenn Rechtsanwälte/innen sich nicht an die Kanzleiöffnungszeiten gehalten hätte.
1003
Bezüglich der Zeugin L… wurde zudem auszugsweise ein Schreiben des Angeklagten an die Zeugin, datierend vom 04.07.2013 – Bd. 12 „L…“ – Bl. 12006 f. –, verlesen. In diesem heißt es u.a.: …. Entweder hört ihr nicht richtig zu oder ihr wollt die Tatsachen nicht erkennen. Ich habe nicht gesagt, dass du Kenntnis von den unrichtigen Spesenabrechnungen von M. (M. H…) gehabt hättest. Vielmehr habe ich folgendes gesagt: „M. hat mir gesagt, dass du seine Abrechnung gemacht hast. Ich unterstelle aber dennoch nicht, dass du gewusst hast, dass es unrichtige Abrechnungen sind. Deshalb habe ich dir auch ordentlich gekündigt.“ Die fristlose Kündigung ist demgegenüber darauf zurückzuführen, dass du mit deinem Briefkopf zusammen mit M. Mandanten der Kanzlei Dr. S… & Kollegen anschreibst und abwirbst. ….
1004
Auf diesen Vorhalt erläutert die Zeugin, dass es richtig sei, dass sie eine ordentliche und eine fristlose Kündigung vom Angeklagten bekommen habe.
1005
Die Zeugin L… schloss keine schriftliche Vereinbarung mit der Kanzlei des Angeklagten betreffend ihre Beschäftigung.
1006
Bei vergleichender Betrachtung der Tätigkeit und tatsächlich gelebten Verhältnisse vor und im (verbliebenen) Tatzeitraum war aber auch sie von Beginn ihrer Beschäftigung an am Kanzleisitz des Angeklagten eingegliedert (Büro). Kanzleiinfrastruktur und kanzleieigenes Personal nutzte sie, ohne Kosten dafür tragen zu müssen. Sie war während der üblichen Kanzleiöffnungszeiten (ab 08:00 Uhr/08:30 Uhr) bis abends am Ort der Kanzlei anwaltschaftliche für die Kanzlei tätig. Anwaltskollegen, die diese Kanzleiöffnungszeiten nicht einhielten, erhielten vom Angeklagten die (konkludente) Anordnung, da anwesend zu sein. Der Angeklagte kontrollierte die Anwesenheit auch durch Nachfrage bei Sekretärinnen/Empfang (… wann fängt welcher Anwalt morgens an …).
1007
Obwohl sie bereits seit 2005 als Anwältin tätig war, las der Angeklagte die von ihr gefertigten Schriftsätze zu Beginn ihrer Tätigkeit durch, korrigierte diese (auch inhaltlich), wollte ein einheitliches Auftreten der Kanzlei nach außen sicherstellen. In Monatsbesprechungen gab der Angeklagte auch vor, wie schnell Fälle zu bearbeiten sind, eine Ansage (Druck des Chefs), die die Zeugin auch unter Berücksichtigung von § 11 BORA als Einmischung empfand; sie vertrat die Ansicht, dass das ein freier Mitarbeiter im Konkreten selbst entscheiden muss. Der Angeklagte gab „die Taktung der Mandatsbearbeitung vor“, eine Weisung auch in zeitlicher Hinsicht. Mit der Zeit wurde die Mandatsbearbeitung freier.
1008
Die Zeugin führte, was gegen abhängige Beschäftigung spricht, Umsatzsteuer ab. Mit dem Angeklagten war auch keine feste Anzahl an Urlaubstagen vereinbart, im Krankheitsfall war keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung notwendig.
1009
Die Zeugin bearbeitete in der Kanzlei des Angeklagten nur Mandate/Mandatsverhältnisse, die mit der Kanzlei zustande gekommen waren. An die Mandate kam sie über den Empfang/die Sekretärinnen nach Fachgebiet. Dr. S… hatte das so mit den Sekretärinnen besprochen, der Ablauf der Kontakt-/Mandatszuteilung im Kanzleiablauf wurde durch den Angeklagten vorgegeben. Die Mandate wurden im Kanzleinamen bearbeitet und abgerechnet.
1010
Sie ihrerseits erstellte der Kanzlei für ihre Tätigkeit monatlich eine Rechnung. Die Rechnung erfolgte im „2-Blatt-Rechnungs-System“, welches die Zeugin von Kollegen abgeschaut hatte und welches (wie bei den Kollegen) nicht erkennen ließ, dass monatlich ein gleichbleibend festes, pauschales Honorar von der Kanzlei gezahlt wurde. Das Pauschalhonorar wurde unabhängig von Abwesenheiten gezahlt, unabhängig vom Umsatz, Gewinn und Verlust.
1011
Die Zeugin hatte in der Zeit ihrer Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten kein wirtschaftliches Risiko, anders als später, wo sie mit ihrem Mann gemeinsam in D. eine Sozietät/GbR betreibt.
1012
„Scheinselbstständigkeit“ war unter den Kollegen Thema (… die Anwälte in der Kanzlei erhalten ein Fixgehalt, werden aber nicht prozentual an den Mandaten beteiligt …). Sie selbst hat dieses Thema aber mit dem Angeklagten persönlich nicht besprochen. Vom Hören-Sagen wusste die Zeugin, dass zwischen Dr. S… und Frau L… Uneinigkeit dahingehend bestand, ob die freie Mitarbeiterschaft der in der Kanzlei tätigen Anwälte nicht kritisch sei. Frau L… wollte das „auf saubere Füße gestellt wissen“.
1013
Der Zeuge J.B… war – genauere Erinnerung hat der Zeuge nicht mehr – Ende 2015 bis etwa September 2016, etwa 1/2 – bis maximal 1 Jahr, in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen anwaltlich tätig.
1014
Auf Nachfrage gab er an, dass er keinen schriftlichen Vertrag in seinen Unterlagen gefunden habe. Eigentlich scanne er immer alles, seine berufliche Tätigkeit betreffend, ein und verwalte die Unterlagen in einem Notebook; da habe er aber nichts gefunden. Konkrete Erinnerung an den Abschluss eines schriftlichen Vertrages habe er nicht mehr.
1015
Er sei in die Kanzlei des Angeklagten über die Rechtsanwaltskammer München gekommen, da er dort erfahren habe, dass Dr. S… einen Rechtsanwalt suche. Er habe den Fachanwalt im Arbeits-, Wirtschafts-, Erb- und Steuerrecht. Eigentlich habe er die Kanzlei des Angeklagten übernehmen wollen. Deshalb sei zunächst eine gemeinsame Arbeit ins Auge gefasst worden, damit er – und auch der Angeklagte – schauen könne, ob das mit der Übernahme passe. Deshalb habe er auch als freier Mitarbeiter in der Kanzlei arbeiten wollen (nicht als Angestellter); das sei sein Wunsch gewesen, um ungebunden zu sein, da er nicht gewusst habe, ob es passe.
1016
Zur damaligen Zeit habe er noch eine eigene Kanzlei – da sei er als Anwalt allein gewesen – in Freilassing gehabt. Während der Arbeit in der Kanzlei des Angeklagten habe er dort zu ca. 50 % gearbeitet, ebenso zu 50 % in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen.
1017
Während der Zeit seiner Tätigkeit in der Kanzlei habe er dort einen eigenen Raum zum Arbeiten gehabt. Für den insoweit entstehenden Mietanteil habe er nichts bezahlt, ebenso wenig für die Einrichtung, Büromaterialien, Personal, die sonstige Kanzleiinfrastruktur etc. Bezüglich Betriebsmitteln, Personal (Anschaffung/Einstellung/Kündigung und zu welchen Konditionen) habe er keine (Mit-)Entscheidungsbefugnis gehabt.
1018
Hinsichtlich Ort und Zeit der Tätigkeit habe er das gemacht, wie er gewollt habe, er habe seine Arbeitstätigkeit und die Arbeitszeit nicht dokumentiert. Anwesenheit während der Kanzleiöffnungszeiten der Kanzlei Dr. S… & Kollegen sei für ihn nie ein Thema gewesen. Dr. S… habe sich darüber aber schon geärgert. Es habe darüber auch Streit gegeben. Dies sei aber nicht der einzige Streitpunkt gewesen: Sie seien betreffend Rechtsansichten oft verschiedener Meinung gewesen. Auseinandergegangen sei es zwischen ihnen dann aber im Hinblick auf ein großes Mandat (Firmenfortführung/DatenschutzG). Er habe die Meinung vertreten, dass sie (Rechtsanwälte) in der Kanzlei davon alle keine Ahnung gehabt hätten, nur Leitlinien an den Mandanten hätten vorgeben können. Er/B… habe ein großes Haftungsrisiko gesehen, weshalb er das Mandat nicht habe führen wollen. Dr. S… habe das anders gesehen, dann über seinen Kopf hinweg anders entschieden, da ihm nicht gefallen habe, dass er/B…, das Mandat nicht geführt habe. Das sei dann auch der letzte Grund dafür gewesen, dass ihre „geschäftliche Beziehung“ im Hinblick auf die verschiedenen Sichtweisen betreffend rechtliche Angelegenheiten schlussendlich beendet worden sei.
1019
Inhaltlich habe er sich aus seiner Sicht auch frei gefühlt. Er habe sich nur betreffend Rechtsfragen gelegentlich mit dem Angeklagten beratend ausgetauscht.
1020
Er wisse heute nicht mehr, wie er an die Mandate/Fälle, die er dann bearbeitet habe, gekommen sei, jedenfalls irgendwie über die Kanzlei Dr. S… & Kollegen.
1021
Ebenso habe er keine Erinnerung mehr daran, wie die Vollmacht ausgestaltet gewesen sei. Das Mandatsverhältnis sei aber jeweils mit der Kanzlei Dr. S… & Kollegen zustande gekommen. Die Rechnung an die Mandanten sei auch von der Kanzlei gestellt worden, die entsprechenden Zahlungen auf ein Kanzleikonto erfolgt, zu dem er keinen Zugriff gehabt habe. Befragt danach, ob er einmal über Ratenzahlung, Stundung oder Erlass entschieden habe bzw. dies überhaupt ohne Rücksprache habe entscheiden können, äußerte der Zeuge, dass dies während seiner Tätigkeit in der Kanzlei nie relevant gewesen sei.
1022
Er könne sich heute nicht mehr genau erinnern, ob er für seine Tätigkeit eine Umsatzbeteiligung zwischen 60-70 % erhalten oder gegenüber der Kanzlei Dr. S… & Kollegen nach Stunden abgerechnet habe.
1023
Es sei jedenfalls so gewesen, dass er an die Kanzlei des Angeklagten Honorarnoten gesendet habe. Meist habe er einen monatlichen Vorschuss gefordert, insoweit sei dann noch eine Endabrechnung gemacht worden, da sei oft nicht viel geblieben und dem Geld habe er dann auch noch hinterher laufen müssen.
1024
Mit dem Zeugen B… und den Verfahrensbeteiligten werden zwei Honorarnoten an die Kanzlei des Angeklagten
- 03.08.2016, Anwaltschaftliche Mitarbeit Vorschuss: 5.000,- € zzgl. MWSt, Bd. 23 „B…“ – Bl. 23003
- 02.09.2016, Anwaltschaftliche Mitarbeit Vorschuss: 5.000,- € zzgl. MWSt, Bd. 23 „B…“ – Bl. 23004
in Augenschein genommen, verlesen und vom Zeugen erläutert:
1025
Dies seien Vorschussforderungen gewesen; wie erwähnt, sei dann noch eine Endabrechnung für jeden Monat gemacht worden. Er habe jedes einzelne Mandat gegenüber der Kanzlei abgerechnet, deshalb habe seine Honorarnote auch jeden Monat eine unterschiedliche Höhe ausgewiesen.
1026
Soweit er sich erinnern könne – so der Zeuge B… weiter – habe es bezüglich Urlaub oder Krankheit keine Regelung zwischen ihm und der Kanzlei gegeben. Wenn er allerdings im Urlaub gewesen sei, habe er auch kein Geld erhalten.
1027
Er habe keine eigene Werbung betrieben, keine eigenen Geschäftsbücher (im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten) geführt, auch nicht über eigene Briefbögen verfügt oder in der Kanzlei des Angeklagten eigene Angestellte gehabt (nur in seiner Freilassinger Kanzlei habe er eine Rechtsanwaltsgehilfin gehabt). Ob und welche Visitenkarten er gehabt habe, wisse er nicht mehr.
1028
Weiterhin äußerte der Zeuge B…, dass er alle Versicherungsleistungen selbst aufgebracht habe, Kranken-, Pflege-, Rentenversicherung, Kammerbeiträge und auch Haftpflichtversicherung. Darüber habe er sich geärgert, da der Angeklagte ihm zugesagt habe, ihn als freien Mitarbeiter mit Haftpflicht zu versichern, später habe er sich daran nicht mehr erinnern wollen. Er selbst habe Mehrwert-/Umsatzsteuer ausgewiesen.
1029
Das Thema „Scheinselbstständigkeit“ habe in Bezug auf seine Person nie eine Rolle gespielt. Ob dieses Thema in der Kanzlei betreffend die anderen Kollegen oder unter den Kollegen an sich diskutiert worden sei, könne er mit nicht mehr mit Bestimmtheit sagen.
1030
Bezüglich der anderen, in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen tätigen Rechtsanwälte/innen und deren tatsächlich gelebtem Beschäftigungsverhältnis könne er eigentlich nicht viel sagen, da er ja auch nicht regelmäßig da gewesen sei. In den Kanzleibesprechungen, an denen er auch teilgenommen habe, sei aber etwa die Anwesenheit der Anwälte in der Kanzlei schon Thema gewesen. Dr. S… habe sich geärgert, wenn Rechtsanwälte (nach Ansicht von Dr. S… …) nicht ausreichend da gewesen seien, das habe er denen gegenüber dann auch gesagt. Auch habe der Angeklagte in den Kanzleibesprechungen mehrfach betont, dass er die meisten Umsätze habe, die anderen mehr bringen müssten.
1031
Das Ausscheiden aus der Kanzlei Dr. S… & Kollegen sei dann nicht ganz so erfreulich abgelaufen. Zum einen sei dafür, wie bereits angesprochen, Grund gewesen, dass es schwierig gewesen sei, mit Dr. S… bei rechtlich unterschiedlichen Meinungen zu diskutieren; er habe dann einfach über seinen Kopf hinweg entschieden. Für die Frage und Entscheidung, ob er die Kanzlei übernehmen wolle, habe er sich innerlich eine Frist gesetzt gehabt. Von diesem Vorhaben dann Abstand zu nehmen, sei für ihn auch darauf gegründet gewesen, dass er einmal Zahlen gesehen habe und danach die Ausgaben einfach höher gewesen seien, als die Einnahmen, d.h. eine Übernahme ihm nicht rentabel erschienen sei.
1032
Auf Vorhalt von Bl. 20 f., Schreiben des Angeklagten vom 26.10.2016 im beigezogenen arbeitsgerichtlichen Verfahren Az.: 1 Ca 1384/16, welches mit dem Zeugen und allen Verfahrensbeteiligten in Augenschein genommen und verlesen wurde, äußerte der Zeuge B…, dass er, als er seine Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S… & Kollegen begonnen habe, auf dem Kanzleibriefkopf in der Form aufgenommen worden sei, dass sein Name unter den anderen, in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen gestanden habe, allerdings versehen mit einem * und dem Zusatz „in Kooperation“. Er könne sich nicht erinnern, dass hinter den anderen, in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen ein * und der Zusatz „in freier Mitarbeit“ angebracht gewesen sei. Ebenso könne er sich nicht erinnern, dass während der Zeit, in der er in der Kanzlei beschäftigt gewesen sei, eine Änderung des Briefkopfes in der Form erfolgt sei, dass hinter diesen Anwälten ein * und der Zusatz „in freier Mitarbeit“ angebracht worden wäre (wie Bl. 29 f., Schreiben des Angeklagten vom 14.11.2016 im beigezogenen arbeitsgerichtlichen Verfahren Az.: 1 Ca 1384/16, zu entnehmen).
1033
Auf Nachfrage gab der Zeuge B… schließlich an, dass das Hauptzollamt im Verfahren gegen Dr. S… nicht auf ihn zugekommen sei. Er habe von dem Verfahren erst erfahren, als er vor einiger Zeit – den genauen Zeitpunkt wisse er nicht mehr – Dr. S… angerufen habe, da er ihm ein Kunstrechtsmandat habe vermitteln wollen. Dr. S… habe ihm dann erzählt, dass gegen ihn ein Verfahren wegen Scheinselbstständigkeit laufe und ihn/B… auch gefragt, ob er als Zeuge geladen sei. Er sei aber zum damaligen Zeitpunkt nicht geladen gewesen. Inhaltlich sei mit dem Angeklagten nichts be- oder abgesprochen worden.
1034
Die Aussage des Zeugen B… (der keine schriftliche Vereinbarung mit der Kanzlei des Angeklagten betreffend seine Beschäftigung – daneben hatte er zu der Zeit noch eine eigene Kanzlei in Freilassing – schloss und dessen Wunsch es war, als freier Mitarbeiter in der Kanzlei zu arbeiten, da er ausloten wollte, ob er die Kanzlei übernehmen würde) war für die Kammer insoweit von Relevanz, als er hinsichtlich der anderen in der Kanzlei tätigen Anwälte berichtete, dass Anwesenheit etwa in den Kanzleibesprechungen vom Angeklagten thematisiert wurde, der seinen Ärger zum Ausdruck brachte, wenn Anwälte seiner Meinung nach nicht ausreichend da waren.
1035
Zudem wurde sein Name auf dem Kanzleibriefkopf in der Form aufgenommen, dass dahinter ein * und der Zusatz „in Kooperation“ angebracht war, eine erkennbar andere „Handhabung“ als bei den übrigen in der Kanzlei tätigen Anwälten.
1036
Auch betreffend die Aussagen der Anwaltszeugen, die im Tatzeitraum nicht mehr in der Anwaltskanzlei des Angeklagten arbeiteten bzw. nicht Gegenstand der Anklage waren (D. II. 2.) b)), haben sich für die Kammer im Ergebnis keinerlei objektivierbaren Anknüpfungstatsachen dafür ergeben, dass ihre jeweilige Aussage in den Kernpunkten nicht glaubhaft und glaubwürdig wäre. Zum Teil war auch bei ihnen der bereits betreffend die Zeugen D. II. 2.) a) 3. dargelegte „Zwiespalt“ (vgl. etwa besonders M…) erkennbar, ebenso ein schnelles Berufen auf Erinnerungslücken).
1037
Lediglich betr. die Zeugin L… und die Frage der Vorlage freier Mitarbeiterverträge im Zusammenhang mit der Prüfung durch Frau G… vom Finanzamt M.am I. (vgl. insoweit nachfolgend deren Aussage Ziffer D. II. 2.) c) 3.) hatte die Kammer den Eindruck, dass deren Erklärung, dass sie glaublich keinen freien Mitarbeitervertrag vorgelegt habe, dies aber nicht mehr wisse, ggf. davon ablenken sollte, dass sie eine evtl. Beteiligung nicht einräumen wollte.
1038
Insgesamt haben sich für die Kammer aber keine Hinweise dafür ergeben, dass einer der Zeugen D. II. 2.) b) den Angeklagten zu Unrecht belastet haben könnte (auch insoweit eher das Gegenteil).
1039
Damit ist durch die Aussagen dieser Zeugen insgesamt das vom Angeklagten zu Beginn der 80ziger Jahre bereits angelegte („Wurzel des Systems“) und über Jahrzehnte etablierte „Modell der Scheinselbstständigkeit“ bestätigt, vor allem, dass die tatsächlich gelebten Verhältnisse in der Kanzlei des Angeklagten über die Jahre betr. die dort tätigen Anwälte bereits abhängige Beschäftigungsverhältnisse dokumentierten, insbesondere aufgrund der jeweiligen Eingliederung in den bestehenden Kanzleibetrieb, d.h. die dort vorgefundenen Rahmenbedingungen und Organisationsabläufe, sowie die Vorgaben des Angeklagten betreffend Zeit, Ort und (zumindest bei Tätigkeitsbeginn) auch Inhalt der Tätigkeit, aber auch im Hinblick auf die vom Angeklagten als „Chef“ (auch im Verhältnis und gegenüber F. und L…) vorgegebenen Direktiven und Weisungen, daneben das Fehlen von eigenständigem Auftreten am Markt ohne Bezug zur Kanzlei des Angeklagten, der Nichtbeschäftigung eigenen Personals, das Fehlen von eigenem Unternehmensrisiko (Einflussmöglichkeiten oder gar Mitspracherechten), sowie der festen Pauschalhororarzahlung (ohne Umsatzbeteiligung) unabhängig von Gewinn und Verlust und auch im Falle von Abwesenheiten.
1040
Bereits zu der Zeit, als der Angeklagte zu Beginn der 80ziger seine Kanzlei gründete und ein Jahr später Rechtsanwalt F. als Partner hinzukam, sowie sich die Frage nach Mitarbeitern stellte, brachte der Angeklagte klar zum Ausdruck, dass er Mitarbeiter nicht (offiziell) als Arbeitnehmer einstellen will.
1041
Auch in dieser Zeit traf letztlich der Angeklagte die Entscheidung, wer als Rechtsanwalt/in eingestellt wird und gab die Bezeichnung des vertraglichen Miteinanders (freie Mitarbeiterschaft) vor, traf aber auch sonstige organisatorische Entscheidungen ohne seinen Partner F.. Ebenso war es seit Bestehen der Kanzlei des Angeklagten so, dass die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen ein eigenes Büro hatten, in den Kanzleibetrieb eingegliedert waren und nach den tatsächlich gelebten Verhältnissen dem Angeklagten in einer Einarbeitungsphase die gefertigten Schriftsätze vorlegen mussten. Die Arbeitszeit ging von morgens ca. 08:00 Uhr bis abends (vgl. F.).
1042
Als dann 1995 Rechtsanwalt F. ausschied und Rechtsanwältin S. L…, die 1991 in die Sozietät eingetreten war, gemeinsam mit Dr. S… die Kanzlei fortführte, änderte sich an diesen „Grundbedingungen“ nichts: Die formale „Freie Mitarbeiterschaft“ für in der Sozietät tätige Rechtsanwälte/innen war bereits in Stein gemeißelt (vgl. D. II. 2.) b) 3.); der Angeklagte war es, der gegenüber Dritten vorgab und diese Ansicht auch durchsetzte, dass Rechtsanwälte Organe der Rechtspflege seien, und damit etwas anderes als die freie Mitarbeiterschaft nicht vereinbar sei (vgl. M…, L…, G…), eine Ansicht, die er auch in seiner im Selbstleseverfahren „1“ VII. eingeführten Erklärung gemäß § 163 a StPO vom 22.08.2019 noch aufrecht erhielt. Dementsprechend wurden auch in der Zeit, als die Kanzlei von Dr. S… und L… „geführt wurde“, mit den in der Sozietät tätigen Rechtsanwälten/innen jeweils als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarungen (Mantelvertrag) geschlossen. Daneben wurde aber jeweils zusätzlich auf einem gesonderten Blatt eine Zusatzvereinbarung geschlossen, die den jeweiligen Mantelvertrag in Kernpunkten, die für freie Mitarbeiterschaft sprachen, durch widersprechende Regelungen aushebelte/kappte, um tatsächlich die Voraussetzungen für ein Über-Unterordnungsverhältnis zu schaffen und die tätigen Rechtsanwälte kontrollieren zu können.
1043
Für alle neu in der Sozietät beginnenden Rechtsanwälte/innen gab es kein Aushandeln der vertraglichen Bedingungen. Alle neu beginnenden Rechtsanwälte/innen waren unerfahrene Berufsanfänger, die im Hinblick auf den Ruf der Kanzlei dankbar waren, dort eine Beschäftigung zu finden. Der Angeklagte gab die vertragliche Gestaltung vor (was ein Aspekt für Über-Unterordnung ist), die Verträge wurden von den „Neuen“ überwiegend (Ausnahme: Volpert) gar nicht gelesen; im Hinblick auf das Ansehen der Kanzlei und die Person des Angeklagten machten sich die jungen Anwälte – zunächst bei Arbeitsaufnahme und in den Anfängen ihrer Beschäftigungszeit – auch keine Gedanken über die vertraglichen, vom Angeklagten vorgefertigt vorgelegten Formulierungen. Die Freude darüber, in einer guten, großen und renommierten Kanzlei eine Beschäftigung gefunden zu haben, überwog. Zudem erhielten sie von bereits beschäftigten Anwälten (den „Älteren“) die Information, dass diese vertragliche Regelung „Standard“ ist. Die Zusatzvereinbarungen standen in wesentlichen Punkten im Widerspruch zum Mantelvertrag (insb. bezüglich Werbung und der Frage der Beschäftigung eigenen Personals, sowie zur Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei – jeweils zustimmungsbedürftig). Mantelvertrag und Zusatzvereinbarung enthielten aber auch bereits in sprachlicher Hinsicht „kritische“ Formulierungen – wenn die Kammer auch nicht verkennt, dass jede kritische Formulierung für sich alleine gesehen noch nicht ausschlaggebend für die Annahme des Fehlens einer freien Mitarbeiterschaft sein mag – wie etwa Probezeit, Probearbeitsverhältnis oder die unveränderte Honorarfortzahlung im Falle von Urlaub und Krankheit bzw. die umsatzunabhängige Möglichkeit des Abrufens von monatlichen Teilleistungen bezüglich des vereinbarten Jahreshonorars (auch als es der Kanzlei etwa in den Jahren 2011/2012 wirtschaftlich schlechter ging, sie bereits liquiditätsmäßig im Minus war, die tätigen Rechtsanwälte ihr Honorar aber in der vereinbarten Höhe unbeeinflusst davon unverändert weiter erhielten (vgl. D. II. 2.) b) 3.).
1044
Unabhängig von diesen kritischen Aspekten der getroffenen vertraglichen Vereinbarungen war es seit Bestehen der Sozietät von Dr. S…, L… & Kollegen so, dass die dort tätigen Rechtsanwälte/innen jeweils ein eigenes Büro zugewiesen bekamen, in den Kanzleibetrieb und die Kanzleiabläufe fest integriert waren (schon beginnend mit der Kontakt-/Mandatszuteilung: für die Verteilung nach Rechtsgebieten war der Angeklagte verantwortlich, er war es, der dieses System im Kanzleiablauf gegenüber den Sekretärinnen vorgegeben hatte – V…/L… –, ein System, das auch betreffend den noch gegenständlichen Tatzeitraum Gültigkeit hatte). Die Kanzleiinfrastruktur einschließlich kanzleieigenem Personal stand den Anwälten zur Verfügung, ohne dass ihnen dafür ein Kostenanteil in Rechnung gestellt wurde, sie kannten diese Kosten nicht einmal und waren auch nicht in der Lage – ohne Mitwirken des Angeklagten – Einblick in die entsprechende Datei zu nehmen. Sie war paßwortgesichert (vgl. nachfolgend W…, D. II. 2.) d) 5.).
1045
Eine Einflussmöglichkeit oder gar ein Mitspracherecht hinsichtlich Entscheidungen betreffend Anschaffung von Betriebsmitteln, Einstellung oder Kündigung von Personal oder weiterer Mitarbeiter, betreffend Kalkulation einschließlich eventueller Reduzierungen bezüglich Ausgaben etc. hatte auch in den Zeiten vor dem verbliebenen Tatzeitraum keiner der Rechtsanwälte/innen.
1046
Weiterhin legte insbesondere der Angeklagte, der auch im Verhältnis zu Frau L… letztendlich die alleinige Entscheidungsbefugnis innehatte (so D. II. 2.) a) 3.1.; 3.2. oder 3.4. bzw. b) 3.), fest, dass die in der Sozietät tätigen Rechtsanwälte/innen (neben der festgelegten maximalen Jahresabwesenheitsgrenze durch Urlaub und Krankheit, innerhalb derer die Honorarzahlung unverändert weiter erfolgte) während der Kanzleikernzeiten anwesend sein sollten. Auch dieses Anliegen wurde vom Angeklagten – sofern ein Anwalt nicht von morgens ca. 08:00 Uhr bis abends in den Kanzleiräumlichkeiten war – immer wieder persönlich gegenüber dem jeweiligen Betroffenen eingefordert, war und blieb aber auch über die Jahre „Dauerthema“ in den Kanzleibesprechungen (so D. II. 2.) a) 3.5.). Der Angeklagte überprüfte die Anwesenheit auch, fragte etwa, wenn er einen Anwalt nicht antraf und kontrolliert hatte, dass dieser laut Terminkalender nicht bei einem Gerichts- oder sonstigen Auswärtstermin war, bei den Sekretärinnen nach, monierte die Abwesenheit (vgl. D. II. 2.) b) 5.).
1047
Ebenfalls als „Modell/System“ stellte sich nach den Zeugenaussagen für die Kammer die Einarbeitung der „Neuen“ mittels Korrekturmappe bzw. Notizzetteln dar. Der Angeklagte ließ sich die Schriftsätze vorlegen, nahm auch inhaltliche Korrekturen vor, achtete zudem auf eine einheitliche Außendarstellung der Kanzlei durch ein einheitliches Auftreten aller für die Kanzlei tätigen Anwälte, auch betreffend die stilistische Außendarstellung in Schriftsätzen. Im Laufe der Zeit wurden die Anwälte/innen in der Mandatsbearbeitung freier, betreffend Einzelfälle kam es aber immer wieder vor, dass der Angeklagte sich „einmischte“, etwa einen Anwalt anwies, Mandate, in denen Forderungsausfälle drohten, und die der Anwalt nicht weiterbearbeitet hätte, fortzuführen (so D. II. 2.) b) 4.).
1048
Die Kanzlei zahlte für die Rechtsanwälte/innen Fortbildungs-/Fachanwaltskosten, immer wieder auch – nach den Kanzleibesprechungen – gemeinsame Abendessen oder Betriebsausflüge incl. Anfahrts- und Übernachtungskosten (z.B. nach Wien und Rom).
1049
Die Mandatsverhältnisse kamen seit Bestehen der Kanzlei nach übereinstimmenden Aussagen der Zeugen ausschließlich mit der Kanzlei zustande, wurde ausschließlich im Namen der Kanzlei bearbeitet. Die Rechnungsstellung an die Mandanten erfolgte mit Kanzleibriefkopf, die Zahlungen auf Kanzleikonten, zu denen die Rechtsanwälte/innen keinen Zugang hatten. Dass das Mandatsverhältnis mit der Kanzlei zustande kam und nicht mit dem jeweiligen Anwalt, hat der Angeklagte über die Jahrzehnte selbst bei Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Ausscheiden durch sein Verhalten immer wieder dokumentiert (vgl. Streit bezüglich Mandatsmitnahme bzw. Zahlung einer Ablöse für die Mandate – G… wäre ich freier Mitarbeiter gewesen, wären die Mandate auch meine gewesen, ich hätte sie dann mitnehmen können, ohne etwas dafür bezahlen zu müssen …; Verweigerung der Mitnahme von Akten gegenüber H…, auch nachdem Mandanten das Mandatsverhältnis zur Kanzlei bereits gekündigt hatten und obwohl mit dem Angeklagten ein Termin zur Abholung vereinbart worden war; H…: … Angeklagter habe die Ansicht vertreten, es seien Akten und Mandate der Kanzlei; … die Zahlung einer Ablöse erachte er im Hinblick auf ein angebliches freies Mitarbeiterverhältnis für ungewöhnlich …). Im Übrigen ergibt sich die auch durch mit früher in seiner Kanzlei tätigen Anwälten geführten Schrift-/E-Mail Verkehr, der exemplarisch durch Verlesung Eingang in die Hauptverhandlung gefunden hat (vgl. Erwähnung bei den einzelnen Zeugen).
1050
Eine eigene Außendarstellung hatten die Rechtsanwälte/innen auch vor dem noch verbliebenen, nicht verjährten verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum nicht (was der Angeklagte im Übrigen auch nicht wollte, er wollte eine einheitliche Außendarstellung): Sie hatten keine eigene Betriebsstätte, beschäftigten kein eigenes Personal, hatten eine persönliche Leistungserbringungspflicht, hatten keine eigenen Visitenkarten, keine eigene Werbung (ohne Kanzleibezug), keine eigenen Geschäftsbücher, d.h. keinen eigenständigen Auftritt am Markt und in der Branche. Ihre Einnahmen bezogen sie im Wesentlichen durch die Zahlungen des Angeklagten, sie hatten keine anderen Auftraggeber bzw. nur in untergeordnetem Umfang. Sofern ein Anwalt in der nicht von Ziffer C. erfassten Zeit eine „Nebentätigkeit“ ausübte, ist zudem anzuführen, dass dies bei G… eine Aufsichtsratstätigkeit in den letzten 2-3 Jahren vor seinem Ausscheiden war, die zum einen mit Genehmigung des Angeklagten und nicht während der Kanzleikernzeiten erfolgte, zudem nicht besonders oft, halt nur einige Male im Jahr und für die er jährlich Sitzungsgeld in Höhe von (nur) 500,- € erhielt (Rechtsanwältin L… war ohnehin in der Kanzlei des Angeklagten nur teilzeitbeschäftigt, hatte im Übrigen noch einen eigenen Kanzleibetrieb, ebenso Berners, beide hatten keine schriftliche Vereinbarung mit der Kanzlei und waren auch nicht Gegenstand der Anklage).
1051
Alle Anwälte, die eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung mit der Kanzlei des Angeklagten hatten, erwirtschafteten ihre Existenzgrundlage auch vor dem noch verbliebenen, verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum ausschließlich durch ihre Tätigkeit für die Sozietät. Die Abrechnung des Honorars der Rechtsanwälte gegenüber der Sozietät (monatliche Rechnungsstellung) erfolgte nach einem einheitlichen „System“, wurde durch den „Neuen“ jeweils von älteren Kollegen übernommen, ebenso die Handhabung, die eigenen Einkünfte gegenüber Behörden als solche aus selbstständiger Tätigkeit anzugeben (vgl. D. II. 2.) a) 3.1.; 3.2.; 3.4. oder 3.6.; b) 5.).
1052
Die Rechnungen an die Kanzlei bestanden auch vor dem noch verbliebenen, verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum jeweils aus 2 Blättern („2-Blatt-Rechnungs-System“).
1053
Auf Blatt 1 befanden sich immer 2 Positionen: Die monatliche Vergütung bezeichnet als Vergütung als freier Mitarbeiter, Vergütung laut Vereinbarung, Vergütung, Pauschalhonorar, Honorar gemäß Vereinbarung, Honorar für freie Mitarbeit, Pauschalhonorar netto oder Nettobetrag; in den jeweiligen Betrag waren jedoch auch (ohne gesonderte Ausweisung oder Erkennbarkeit) die im jeweiligen Monat entstandenen Fahrtkosten/Abwesenheitsgelder (nach BRAGO bzw. RVG) eingerechnet, ohne gesondert ausgewiesen zu sein, sodass die monatliche Vergütung jeweils scheinbar variierte, trotz gleichbleibender monatlicher (Pauschal-)Vergütung. Die Zusammensetzung des „angeblichen“ Nettohonorars und das tatsächliche Nettohonorar, waren damit nicht ohne weiteres erkennbar bzw. bestand die Möglichkeit, die tatsächliche Leistung eines monatlichen festen Pauschalhonorars zu verschleiern. Neben der monatlichen Vergütung war die MWSt/USt ausgewiesen. Erst aus dem gesonderten, 2. Blatt und der dortigen Aufstellung der Fahrtkosten und Abwesenheitsgelder nach BRAGO bzw. RVG war der Betrag ersichtlich, der der monatlich vom vereinbarten Jahreshonorar abrufbaren Teilleistung per Rechnung jeweils hinzugefügt wurden. Damit entstand der Eindruck einer – für freie Mitarbeit/Selbständigkeit eher üblichen – Vergütung in wechselnder Höhe, je nach Umfang erbrachter Dienstleistungen.
1054
Gleichfalls gaben die Anwälte etwa in ihrer Einkommenssteuererklärung – ebenfalls nach Rücksprache untereinander, da dies Standard sei (vgl. etwa D. II. 2.) a) 3.1. oder 3.6.) – an (s. auch eingeführte Feststellungen entsprechend selbst Leseverfahren „7“, D. II. 2.) e) 3.2.), dass ihre Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit herrühren.
1055
Diese verfestigt gelebten tatsächlichen Verhältnisse in der Kanzlei des Angeklagten blieben auch nach Ausscheiden von Rechtsanwältin S. L… und innerhalb der dann fortbestehenden Kanzlei Dr. S… & Kollegen, wie insbesondere die Feststellungen aufgrund der Zeugenaussagen (Rechtsanwälte, die im verfahrensgegenständlichen Zeitraum in der Kanzlei des Angeklagten tätig waren; Ziffer D. II. 2.) a) 3.) a)) dokumentieren, im Wesentlichen er- und beibehalten.
1056
Zudem ist zu sehen, dass die Problematik „Scheinselbstständigkeit“ nicht nur unter den Kollegen – wenn auch nicht zu Beginn ihrer Beschäftigung in der Kanzlei des Angeklagten, so doch im Laufe der Zeit – immer wieder thematisiert wurde, nicht nur im verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum (s.o.), sondern auch davor von den Anwälten/innen kritisch gesehen wurde, aber auch persönlich (s. Schrift-/E-Mail-Verkehr) an den Angeklagten Dr. S… als Problem herangetragen wurde, der daraufhin abwiegelte, dass das alles kein Thema sei, da alles geprüft worden und alles in Ordnung sei.
1057
Zur Problematik, ob die in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte selbst Bedenken an der „Freien Mitarbeiterschaft“ hatten, waren zusammengefasst folgende Aussagen im Rahmen der Hauptverhandlung zu gewinnen:
M. H… „Scheinselbstständigkeit“ der Rechtsanwälte/innen wurde unter den Kollegen thematisiert; allerdings wurde immer betont, dass das Dr. S… schon immer so gemacht habe; ich habe meine Tätigkeit selbst als Scheinselbstständigkeit eingeordnet, nicht erst im Zusammenhang mit der Kündigung/dem Ausscheiden;
U. V… „Schemselbstständigkeit“ kein Thema; Kollege Al. G… Streit mit dem Angeklagten, weiß nicht, ob wegen Statusfragen; auch habe er nichts von einer Betriebsprüfung oder gar deren Ergebnis mitbekommen; An. H…. Im Kollegen-Gruppchen wurde ab und an erörtert, ob die Rechtsanwälte/innen wirklich freie Mitarbeiter sind; er sei heute der Ansicht, dass die Zusatzvereinbarung im Hinblick auf die freie Mitarbeiterschaft schon sehr bedenklich sei, R. B… „Scheinselbstständigkeit“ fiel als Begriff ab und an, Genaueres musste er nicht mehr;
Ul. A… unter den Kollegen sei schon mal Thema gewesen, ob die Rechtsanwälte/innen in der Kanzlei tatsächlich selbstständig seien, was aber nicht in großer Runde besprochen worden sei; es seien einzelne Kollegen gewesen; sie könne sich etwa an eine Kollegin erinnern, die nur kurz da gewesen sei, die das thematisiert habe (den Namen wisse sie heute nicht mehr): von Dr. S… wisse sie, dass eine sozialversicherungsrechtliche Prüfung erfolgt sei, er habe danach geäußert, dass alles passe, es keine Beanstandungen gegeben habe; wann das gewesen sei, wusste sie nicht, auch nicht, ob der Status der Anwälte geprüft worden sei;
Ro. B… „Scheinselbstständigkeit“ der Rechtsanwälte/innen wurde unter den Kollegen thematisiert, K. B…, geb H… über „Scheinselbstständigkeit“ wurde im Kollegenkreis gesprochen, allerdings nicht vertieft, da es hieß, es passt schon, Dr. S… hat das schon immer so gemacht;
B. W… „Scheinselbstständigkeit“ während seiner Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S… Thema gewesen, mal locker in der Runde unter den Kollegen, wann und von wem, unklar, es sei dann mal gefallen, dass eine Prüfung der Rentenversicherung erfolgt und alles o.k. sei; hinsichtlich des Umfangs/Gegenstandes der Prüfung habe er keine Kenntnis gehabt, auch nicht nachträglich gewonnen;
Dr. St. M… „Schemselbstständigkeit“ der Rechtsanwälte/innen war als Nebengeräusche immer mal wieder unter den Kollegen Thema, deshalb wäre es ihr sehr recht gewesen, wenn eine Statusprüfung durch die Deutsche Rentenversicherung durchgeführt worden wäre;
An. D… zw. den Türen und unter den Kollegen stellte sich immer wieder die Frage, sind wir eigentlich tatsächlich freie Mitarbeiter oder nicht?; das Thema wurde abgewiegelt, da Dr. S… das schon immer so gemacht hat; Dr. S… habe auch selbst anlässlich einer Kanzleibesprechung, sie glaube Ende 2013, mal davon gesprochen, dass eine Betriebsprüfung stattgefunden habe; sie wisse allerdings nicht, ob sich diese auch auf die freien Mitarbeiter bezogen habe;
St.F. Thematik „Scheinselbstständigkeit“ war „allgemeiner Bürotalk“ (Vielleicht sind wir am Ende alle Schemselbstständige, da muss man mal was machen!), aber auch Gegenstand eines persönlichen Gespräches zwischen ihr und dem Angeklagten; die Thematik wurde abgewiegelt, da alles geprüft und o.k. sei; N. L…: „Scheinselbstständigkeit“ der Rechtsanwälte/innen wurde besprochen, Näheres wusste er nicht mehr, auch mit Dr. S… nach der Durchsuchung, der fühlte sich aber im Hinblick auf durchgeführte Betriebsprüfungen sicher, An. K… „Scheinselbstständigkeit“ der Rechtsanwälte/innen war erst nach ihrem Ausscheiden Thema M… als er sich in späteren Jahren seinen „Mitarbeitervertrag“ angeschaut, natürlich auch Berufserfahrung gesammelt habe, habe er sich schon gedacht, dass die Merkmale, die für eine angestellte Tätigkeit sprechen würden, überwiegend seien, auch bei der praktischen Umsetzung;
Al. G…: das Thema „Scheinselbstständigkeit“ war in der Kanzlei des Angeklagten ein offenes Geheimnis; L…: Frau L… hatte bezüglich der Thematik „freie Mitarbeiterschaft“ ein ungutes Gefühl, wollte das geklärt, auf saubere Füße gestellt wissen; mit ihren Bedenken konnte sie bei dem Angeklagten nicht durchdringen; unter den Kollegen wurde das Thema dahingehend angesprochen, dass den Anwälten ein Fixgehalt vom Angeklagten gezahlt wurde, die Anwälte aber nicht prozentual an den Mandaten beteiligt seien, man durch Mehrarbeit nicht mehr erzielen konne, lediglich ein Umsatzziel als Grundlage für eine Erhöhung des Pauschalhonorars versprochen worden sei; außerdem erhalte man bei Urlaub Lohnfortzahlung, sei in den Kanzleibetrieb eingegliedert und könne auch in zeitlicher Hinsicht nicht machen, was man wolle;
Di. W… (vgl. nachfolgend D. II. 2.) d) 5.): im Rahmen der Betriebsprüfung (2013 oder 2014) erfolgte Hinweis von Frau F. dass „Scheinselbstständigkeit“ in Bezug auf die Rechtsanwälte/innen der Kanzlei problematisch sein konne, was an den Angeklagten so weitergegeben wurde;
W… (vgl. nachfolgend D. II. 2.) d) 4.): „Schemselbstständigkeit“ der Rechtsanwälte/innen in der Kanzlei erörtert worden
1058
Die damit nach Überzeugung der Kammer bewiesene Arbeitgeberstellung (vgl. dazu insbesondere auch Ziffer E. wegen der Verknüpfung tatsächlicher Feststellungen mit rechtlichen Aspekten) des Angeklagten gegenüber den in der Kanzlei tätigen Anwälten als seinen, bei ihm abhängig Beschäftigten kannte der Angeklagte auch: Er wusste positiv, dass er Arbeitgeber der Rechtsanwälte war, hatte das „Modell“ (der „Scheinselbstständigkeit“) entwickelt, aufrechterhalten und fortentwickelt. Er wusste, dass er deshalb verpflichtet gewesen wäre, für die beschäftigten Rechtsanwälte/innen Beiträge zur Sozialversicherung abzuführen; dies unterließ er pflichtwidrig.
1059
Dies ergibt sich nach Überzeugung der Kammer zum einen insbesondere unter Berücksichtigung der bereits festgestellten Zeugenaussagen, aber auch der Aussagen nachbenannter Zeugen, daneben dem Inhalt der verlesenen Urkunden, v.a. auch in Form des Schriftverkehrs zwischen dem Angeklagten und einzelnen Rechtsanwälten/innen, aber auch E-Mail-Verkehr mit dem Steuerbüro H… (insbesondere der bewussten Übersendung nur des Mantelvertrages „H…“ und „D…“, ohne die jeweils gleichzeitig abgeschlossene Zusatzvereinbarung, womit sich die vom Angeklagten bewusst geschaffene Möglichkeit des Weglassens der Zusatzvereinbarung zur Verschleierung der tatsächlichen Gegebenheiten realisiert hat).
1060
Zum anderen folgt dies aber auch aus dem Umstand, dass der Angeklagte dann, wenn an ihn persönlich irgendein Zweifel im Hinblick auf die Frage, ob die in seiner Kanzlei tätigen Anwälte freie Mitarbeiter oder abhängig Beschäftigte sind, herangetragen wurde, vorgab, dies sei beanstandungsfrei geprüft worden (vgl. D. II. 2.) 3.11. oder 3.10.), obwohl ihm bekannt war, dass dies gerade nicht der Fall war, d.h. es nie zu einer Statusfeststellung betreffend die in seiner Kanzlei tätigen Anwälte gekommen war. Dieses Abwiegeln des Angeklagten mit falschem Vortrag war auch der Grund dafür, dass, wenn unter den Anwaltskollegen das Thema „Scheinselbstständigkeit“ als offenes Geheimnis virulent war, es meist wieder schnell vom Tisch war, da es hieß, der Angeklagte hat das schon immer so gemacht, der weiß was er tut, es ist geprüft worden (vgl. etwa D. II. 2.) a) 3.1.; 3.5.; 3.7.; 3.8.; 3.9.; 3.10.; 3.11.; 3.13.; b) 4. … sicher kein Umdenken beim Angeklagten zu bewirken ….).
1061
Insoweit hat die Kammer folgende Beweise erhoben:
1062
c) Zeugen, die in der Kanzlei des Angeklagten sozialversicherungsrechtliche Betriebsprüfungen nach § 28 p Abs. 1 SGB IV durchführten bzw. Prüfungen durch das Finanzamt:
c) 1. Zeugen M. H. und Ma. B. (DRV):
1063
Die beiden Zeugen Mi. H… und Ma. B… sind Betriebsprüfer bei der Deutschen Rentenversicherung.
1064
c) 1.1. Der Zeuge Mi. H… erläuterte zunächst, dass er generell im Jahr ca. 320 sozialversicherungsrechtliche Betriebsprüfungen nach § 28 p Abs. 1 SGB IV durchführe, ab und an seien da auch Rechtsanwaltskanzleien dabei.
1065
Gegenstand der Prüfung sei die ordnungsgemäße Erfüllung der Meldepflichten und sonstiger Pflichten nach dem SGB IV, die im Zusammenhang mit dem Gesamtsozialversicherungsbeitrag stünden, insbesondere die Richtigkeit der Beitragszahlungen und der Meldungen betreffend der von einem Arbeitgeber gemeldeten Arbeitnehmer.
1066
Diese Überprüfungen erfolgten grundsätzlich stichprobenartig, insbesondere auch deshalb, weil für jede Prüfung eine enge Zeitvorgabe bestehe, abhängig von der Anzahl der Beschäftigten (sog. Kapazitätstabelle). Im Übrigen sei aufgrund der ausdrücklichen Bestimmung in § 11 Abs. 1 S. 1 BVV den Prüfinstitutionen eine Beschränkung auf Stichproben erlaubt.
1067
Grundsätzlich sei es so, dass ca. 2-3 Monate vor dem eigentlichen Prüftermin eine sog. Prüfankündigung schriftlich verschickt werde. In dieser würde zum einen der Prüftermin, an dem dann die sozialversicherungsrechtliche Prüfung vor Ort stattfände, konkret benannt, zum anderen würden die prüfrelevanten Unterlagen benannt, die vorbereitet und bereitgestellt werden sollten. Grundlage für die Überprüfung der vom Arbeitgeber vorgenommenen versicherungs- und beitragsrechtlichen Beurteilung seien die nach § 28 f Abs. 1 IV i.V.m. § 8 BVV zu führenden Entgeltunterlagen, d.h. v.a. die Lohnabrechnungen der gemeldeten Angestellten/Arbeitnehmer.
1068
Möglich sei es auch, dass Unterlagen geprüft würden, die der Klärung dienten, ob ein versicherungs- und beitragspflichtiges Beschäftigungsverhältnis überhaupt vorliegt (z.B. Honorar- oder Gesellschaftsverträge), allerdings sei es so, dass dann zunächst entsprechende Fragebögen an Auftraggeber und Beschäftigte versandt würden. Dann laufe ein gesondertes Verfahren an.
1069
Über den Prüftermin werde nicht nur etwa das Steuerbüro schriftlich informiert, sondern auch der Auftraggeber/Arbeitgeber des Betriebs oder der Kanzlei.
1070
Im November 2013 habe er im Steuerbüro der Kanzlei Dr. S…, L… & Kollegen, Ho. H… in W., eine entsprechende Prüfung der in der Kanzlei gemeldeten Arbeitnehmer vorgenommen. Es sei so, dass er seiner Erinnerung nach für die Prüfung der Kanzlei des Angeklagten ca. 2 Stunden zur Verfügung gehabt habe. Da er sich glaublich zwei Tage im Waldkraiburg aufgehalten habe, habe er im Steuerbüro H… wohl mehrere Betriebe geprüft, die Anzahl könne er heute aber nicht mehr sagen.
1071
Die Prüfung betr. die Kanzlei des Angeklagten habe sich auf die zurückliegenden 4 Jahre, also 2009 – 2012, bezogen. Gegenstand der stichprobenartigen Prüfung sei ausschließlich die Lohnbuchhaltung gewesen. Geprüft worden seien die gemeldeten Arbeitnehmer/Angestellten der Kanzlei.
1072
Er könne ausschließen, dass Gegenstand der Prüfung freie Mitarbeiter gewesen seien, da zum einen der Prüfungsumfang und das Ergebnis ansonsten in dem Bescheid vom 15.11.2013, welcher nochmals mit dem Zeugen und allen Verfahrensbeteiligten in Augenschein genommen und verlesen wurde (eingeführt im Selbstleseverfahren „3“ II., Anlage 6 zu Protokoll), seinen Niederschlag gefunden hätte, zum anderen wäre bei Prüfung von Honoraren bzw. der Beschäftigung von freien Mitarbeitern zunächst an diese, aber auch den Auftraggeber jeweils ein Fragebogen hinsichtlich der Ausgestaltung der Beschäftigung/Tätigkeit zum Zwecke des Ausfüllens versandt worden. Der Zeuge betonte nochmals, dass in dem Bescheid von 2013 betr. die Kanzlei Dr. S… aber keine Prüfungsfeststellungen bzgl. freier Mitarbeiter enthalten seien. Im Übrigen wäre der Status – wenn dies nicht bereits im Vorfeld von dem Auftraggeber/Arbeitgeber „angestoßen worden wäre“ – dann in einem gesonderten Verfahren überprüft worden. Zu betonen sei auch – so der Zeuge H… weiter –, dass bei der Prüfung der Lohnbuchhaltung Honorare von freien Mitarbeitern grundsätzlich auch nicht festzustellen seien, da diese nicht in den Lohnbuchhaltungslisten enthalten seien, sondern vielmehr in den Summen- und Saldenlisten der sog. Finanzbuchhaltung. Die BwA sei von ihm nicht eingesehen worden.
1073
Auf Vorhalt der schriftlichen Stellungnahme des Angeklagten vom 22.08.2019 (eingeführt im Selbstleseverfahren „1“ VII.), die Rechtsanwälte H… und D… seien geprüft worden, es habe insoweit keine Beanstandungen gegeben, äußerte der Zeuge H…, dass dies unzutreffend sei.
1074
Auf weiteren Vorhalt der Verteidigung, ob es möglich sein könne, dass eine Prüfung der freien Mitarbeiter quasi zwischen Tür und Angel in den Räumlichkeiten des Steuerbüros Ha. in W. stattgefunden habe, schloss dies der Zeuge kategorisch aus.
1075
Die Betriebsprüfung der gemeldeten Arbeitnehmer im Jahr 2013 sei im Wesentlichen beanstandungsfrei erfolgt, es habe lediglich eine geringfügige Nachforderung über 142,13 € gegeben (da die besondere beitragsrechtliche Regelung zur Gleitzone für eine Arbeitnehmerin keine Anwendung gefunden habe, weil das regelmäßige, monatliche Arbeitsentgelt nicht innerhalb der Gleitzone gelegen habe und für eine Arbeitnehmerin die Auszahlung von Überstundenvergütungen während der Elternzeitphase nicht verbeitragt worden sei).
1076
Auf Vorhalt der Aussage F. (und H…), dass er/H… anlässlich der Betriebsprüfung 2013 Verträge von freien Mitarbeitern angefordert und ihm/H… dann zwei Mantelverträge (nicht Zusatzvereinbarungen) vorgelegt worden seien, äußerte der Zeuge H…, der am 30.12.2021 nochmals geladen wurde, dass er derartige Verträge weder angefordert noch gesehen habe. Er schließe eine entsprechende Prüfung von freien Mitarbeiterverträgen aus. Insoweit wiederholte der Zeuge, dass eine entsprechende Prüfung ihren Niederschlag im Prüfbescheid gefunden hätte. Dem Prüfbescheid sei Entsprechendes aber nicht zu entnehmen. Als Zweites käme hinzu, dass bei Prüfung von freien Mitarbeiterverträgen jeweils Fragebögen mit einer 2 bis 3-wöchigen Rücklaufzeit sowohl an den Auftraggeber als auch an den/die Beschäftigten versandt würden. Und drittens sei es so, dass dann, wenn er überhaupt in die Prüfung freier Mitarbeiter eingetreten wäre, nicht einzelne, sondern alle Verträge der in der Kanzlei des Angeklagten beschäftigten freien Mitarbeiter angefordert und gesichtet hätte, da grundsätzlich gesprochen nur nach Zusendung aller Verträge für alle in einem Betrieb tätigen freien Mitarbeiter eine Gesamtbeurteilung möglich sei. Dass über die freien Mitarbeiter zwischen Tür und Angel besprochen worden sei, schließe er nach wie vor kategorisch aus.
1077
c) 1.2. Der Zeuge Ma. B… nahm dann im Jahre 2017 ebenfalls betreffend die 4 zurückliegenden Jahre (2013 – 2016) wiederum im Steuerbüro der Kanzlei des Angeklagten Ha. in W. stichprobenartig eine sozialversicherungsrechtliche Prüfung der Arbeitnehmer vor.
1078
Auch er betonte, dass im Hinblick auf die Zeitvorgaben die Prüfung jeweils stichprobenartig sei, die angestellten Personen sozialversicherungsrechtlich geprüft würden.
1079
Am 10.01.017 sei ein Prüfbescheid ergangen, welcher nochmals mit dem Zeugen und allen Verfahrensbeteiligten in Augenschein genommen und verlesen wurde (eingeführt im Selbstleseverfahren „3“ II.), laut welchem die von der Deutschen Rentenversicherung in Stichproben durchgeführte Prüfung der gemeldeten Arbeitnehmer im gesamten Prüfzeitraum zu keinen Feststellungen hinsichtlich des Gesamtsozialversicherungsbeitrages geführt habe.
1080
Ebenso wie der Zeuge H… hinsichtlich des von ihm geprüften Zeitraumes wies auch der Zeuge B… darauf hin, dass im Jahr 2017 eine Prüfung der freien Mitarbeiter betr. die Kanzlei des Angeklagten nicht erfolgt sei; er habe die Aufzeichnungen von damals noch und habe diese nochmals durchgeschaut; diese würden das bestätigen. Es sei deshalb natürlich auch keine Statusprüfung erfolgt.
1081
Seitens der Verteidigung wurde der Ablauf für den hypothetischen Fall einer Prüfung der freien Mitarbeiter erfragt: Insoweit führte der Zeuge B… ebenso wie H… aus, dass zunächst Frag B… gebögen an Auftraggeber und Beschäftigte versandet worden wären, dann ggf. eine Statusprüfung erfolgt bzw. die Clearingstelle in Berlin eingeschaltet worden wäre. Außerdem wäre es so gewesen, dass dem Prüfbericht zu entnehmen gewesen wäre, dass sich die Prüfung auch auf freie Mitarbeiter bezogen hätte.
1082
Auch der Zeuge B… schloss auf ausdrückliche Nachfrage der Verteidigung aus, dass quasi zwischen Tür und Angel eine Überprüfung der freien Mitarbeiter erfolgt sein könnte.
1083
An der Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit der Aussagen der beiden Sachbearbeiter der Deutschen Rentenversicherung haben sich überhaupt keine Zweifel ergeben; vielmehr haben sie widerspruchsfrei, detailliert und nachvollziehbar ausgesagt, insbesondere auch der Zeuge Huber betr. den im Rahmen der Betriebsüberprüfung 2013 tatsächlich stattgehabten Prüfungsumfang.
1084
Damit ergibt sich für die Kammer aus der Aussage der beiden Betriebsprüfer der Deutschen Rentenversicherung in den Jahren 2013 und 2017 für die jeweils zurückliegenden 4 Jahre, dass es zu keiner Prüfung der freien Mitarbeiter in der Kanzlei des Angeklagten bzw. vom Status der dort tätigen Rechtsanwälte/innen kam.
1085
Aufgrund der glaubhaften und glaubwürdigen Angaben des Zeugen H… schließt die Kammer auch aus, dass er ihm im Rahmen der sozialversicherungsrechtlichen Betriebsprüfung 2013 „Freie Mitarbeiterverträge“ angefordert hat und ihm im Rahmen der Prüfung dann zwei als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarungen vorgelegt wurden.
1086
Daraus ist aber zu schlussfolgern, dass der Angeklagte, sofern er bei Aufkommen von Zweifeln dahingehend, ob die freie Mitarbeiterschaft der in seiner Kanzlei tätigen Anwälte „in Ordnung sei“, in den Raum stellte, es habe eine Betriebsprüfung – der freien Mitarbeiter – gegeben und da sei alles o.k. gewesen, dies bewusst wahrheitswidrig vorgab.
c) 2. Zeugen aus dem Steuerbüro „H…“ – Ho. H… und Ha. F., vom Angeklagten und S. L… von der Schweigepflicht entbunden
1087
Der Zeuge Ho. H…, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater in W., war bereits für die als GbR geführte Anwaltssozietät Dr. S…, L… & Kollegen tätig. Nachdem der Angeklagte kurzzeitig gekündigt habe – den genauen Zeitpunkt wisse er nicht mehr –, sei er aber im Sommer 2012 wieder vom Angeklagten eingeschaltet/beauftragt worden und bis heute für ihn und die Kanzlei tätig.
1088
Für die Kanzlei sei Folgendes gemacht worden: Führung der Lohn- und Gehaltsbuchhaltung, sowie der Jahresabschluss. Da sei auch immer seine Mitarbeiterin, Han.F., zugegen gewesen. Außerdem habe er die private Steuererklärung des Angeklagten gemacht.
1089
Im Rahmen der Führung der Lohn- und Gehaltsbuchhaltung, sowie des Jahresabschlusses habe er selbst keine „Freien Mitarbeiterverträge“ angeschaut. Er habe die Verträge deshalb nicht angeschaut, weil diese ja zwischen zwei Volljuristen geschlossen worden seien und er deshalb auf deren Richtigkeit vertraut habe.
1090
„Scheinselbstständigkeit“ sei nie ein Thema gewesen, weder zwischen ihm/H… und Dr. S…, noch zwischen ihm/H… und Frau F. noch zwischen ihm/H… und anderen Rechtsanwältin/innen aus der Kanzlei (er habe überhaupt nur einmal Kontakt zu einem Anwalt aus der Kanzlei gehabt, der für ihn im Rahmen einer (eigenen) Honorarklage tätig geworden wäre).
1091
Er habe auch nie persönlich mit Frau G… vom Finanzamt M.am I. gesprochen, glaublich nur einmal schriftlich verkehrt; da wären aber die „Freien Mitarbeiterverträge“ ebenfalls kein Thema gewesen. Wären diese „Freien Mitarbeiterverträge“ vom Finanzamt angeschaut worden, hätte er das seiner Ansicht nach mitbekommen.
1092
Der Zeuge bleibt auch auf Vorhalt der Aussage der Zeugin W… (vgl. nachfolgend im Einzelnen)
„Im Jahr 2013/2014 glaublich im Rahmen einer Betriebsprüfung sei „Scheinselbstständigkeit“ in Bezug auf die Rechtsanwälte/innen in der Kanzlei Dr. S… schon mal Thema gewesen. Frau F. von der Steuerkanzlei H… in W. habe sie darauf hingewiesen, dass dies problematisch sein könne, sie habe das an Dr. S… so weitergegeben“
dabei, dass er von solchen Gesprächsinhalten nichts wisse.
1093
Wenn er gemerkt hätte, dass mit „Freien Mitarbeitern“ etwas nicht stimmen würde, dann würde er dies üblicherweise seinem Mandanten sagen. Das Thema „Scheinselbstständigkeit“ trete im Steuerbüro schon immer mal wieder auf. Wenn Unsicherheiten bestünden, würde üblicherweise ein förmliches Statusfeststellungsverfahren angeregt.
1094
Er wisse schon, dass sich die Abgrenzungskriterien für die freie Mitarbeiterschaft und die abhängige Beschäftigung geändert hätten. Dies sei auch Anlass gewesen, den Angeklagten verdachtsunabhängig anzuschreiben.
1095
Der Zeuge H… überreichte ein Schreiben an den Angeklagten vom 24.10.2013 (eingeführt im Selbstleseverfahren „5“ und Anlage 18 zu Protokoll), welches nochmals verlesen wurde und folgenden Inhalt hat:
1096
Sehr geehrter Herr Dr. S…, im Rahmen von Sozialversicherungsprüfungen steht die Scheinselbstständigkeit freier Mitarbeiter vermehrt im Fokus. Im ursprünglichen § 7 Abs. 4 SGB IV fanden sich Regelungen, ab wann die Tätigkeit freier Mitarbeiter nicht mehr als freie Mitarbeiterschaft gewertet wird. Letztendlich sind die Umstände des Einzelfalles ausschlaggebend, ob die Tätigkeit freier Mitarbeiter als Scheinselbstständigkeit eingestuft wird.
1097
Eine Scheinselbstständigkeit freier Mitarbeiter konnte danach vorliegen, wenn mindestens eine der folgenden Bedingungen erfüllt war:
1. Der freie Mitarbeiter besitzt Weisungsgebundenheit an nur einen Arbeitgeber.
2. Der freie Mitarbeiter ist in die tägliche Arbeitsorganisation eingebunden.
3. Der Hauptumsatz des freien Mitarbeiters (80 %) wird nur durch einen Auftraggeber erzielt.
4. Beim freien Mitarbeiter ist keine unternehmerische Tätigkeit erkennbar.
5. Der freie Mitarbeiter hat selbst keine versicherungspflichtigen Angestellten beschäftigt.
1098
Nunmehr ergeben sich lediglich über die Abgrenzung zur „Beschäftigung“ zwei wichtige Anhaltspunkte aus dem geänderten Gesetzestext (§ 7 Abs. 1 SGB IV):
1. Tätigkeit nach Weisungen
2. Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.
1099
Die Prüfer orientieren sich bei der Abgrenzung zwischen „abhängiger Beschäftigung“ und „selbstständiger Tätigkeit“ jedoch immer noch nach den ursprünglichen Abgrenzungsmerkmalen.
1100
Bitte prüfen Sie nach diesen Kriterien die mit ihren freien Mitarbeitern geschlossenen Verträge auf ihre sozialversicherungsrechtlichen Auswirkungen.
1101
Auf dieses Schreiben vom 14.10.2013 sei keine Reaktion durch Dr. S… erfolgt.
1102
Mit Schreiben vom 16.08.2013 habe die Deutsche Rentenversicherung – Mi. H… – eine Betriebsprüfung Sozialversicherung für die Zeit vom 05. bis 06.11.2013, (ebenfalls eingeführt im Selbstleseverfahren „5“ und auch nochmals im Rahmen der Hauptverhandlung verlesen) angekündigt gehabt, gleichzeitig einen Erhebungsbogen übersandt.
1103
Am 05./06.11.2013 habe dann diese Prüfung in den Räumlichkeiten des Steuerbüro’s stattgefunden. An diesem Tag habe H… (es sei um das Thema „Fremdleistungen“ gegangen) um die Vorlage von zwei „Freien Mitarbeiterverträgen“ gebeten. Dr. S… habe den von Rechtsanwalt An. H… (Datum 12.02.2007) und jenen von An. D… (Datum 16.09.2013) übersandt. Er glaube, dass die Verträge (ohne die jeweils zusätzlich abgeschlossene Zusatzvereinbarung) per E-Mail gekommen seien. Das (Anforderung/Übersendung) wisse er aber nur von Frau F., seiner Steuerfachangestellten.
1104
Er selber habe sich die nach Aussage von F. übermittelten Verträge nie angeschaut. Auch habe er im Zusammenhang mit der Anforderung der Verträge nicht noch einmal die Abgrenzungskriterien freie Mitarbeiterschaft und abhängige Beschäftigung geprüft. Die Verträge seien seinem Kenntnisstand nach von Frau F. – die die Prüfung begleitet habe – an H… überreicht worden, weshalb es – dies wurde ihm vorgehalten – für ihn nicht erklärlich sei, weshalb H… angebe, keine Freien Mitarbeiterverträge angeschaut zu haben („Das hat mich auch gewundert“). Bei der eigentlichen Prüfung im November 2013 durch H… sei er nicht zugegen gewesen. Später habe es aber eine Schlussbesprechung – diese habe zwischen 10 und 15 Minuten gedauert – gegeben, da sei seiner Ansicht nach Nichts beanstandet worden; der Prüfbericht sei auch ihm, nicht nur Dr. S…, ausgehändigt worden. Heute wisse er über den konkreten Inhalt aber nichts mehr.
1105
Bei der weiteren Prüfung im Jahr 2017, als Ma. B… von der DRV im Steuerbüro gewesen sei, seien Freie Mitarbeiter sicher nicht geprüft worden.
1106
Befragt danach, ob und wenn ja, wann und wie er im Ermittlungs-/Strafverfahren Kontakt – insb. betr. das laufende Verfahren gegen Dr. S… – mit dem Angeklagten gehabt habe, äußerte der Zeuge H…, dass dies Mittwoch oder Donnerstag in der letzten Woche gewesen sei (seine Vernehmung erfolgte am 07.12.2021). Auch 2-3 Wochen zuvor sei es zu einem Kontakt gekommen. Es sei um die Einkommensteuererklärung 2019 (privat) und den Jahresabschluss 2020 (bzgl. Kanzlei) gegangen.
1107
Han.F. sei dabei gewesen. Dr. S… habe für die Dauer von etwa 10-15 Minuten über das laufende Verfahren berichtet, auch seine missliche Lage geschildert, sich über den Gang der Hauptverhandlung beklagt und erwähnt, dass auch er/H… und F. wohl als Zeugen geladen würden. Da seine Zeugenschaft im Raum gestanden sei, seien keine Einzelheiten besprochen, insbesondere sei nicht über den Inhalt der bereits vor dem Landgericht Traunstein durchgeführten Beweisaufnahme im Verfahren gegen Dr. S… gesprochen worden.
1108
Seiner Erinnerung nach sei es so gewesen, dass der Angeklagte bereits im Besprechungszimmer gewesen sei, er dann gleichzeitig mit Frau F. hinzugekommen sei. Der Angeklagte habe gleich zu Beginn der Besprechung über das laufende Verfahren berichtet, wie gesagt 10-15 Minuten. Frau F. sei da dabei gewesen. Eigentlich könne er ausschließen, dass sie währenddessen das Besprechungszimmer im Steuerbüro verlassen habe, ebenso, dass das Gespräch erst bei der Verabschiedung des Angeklagten aufgekommen sei.
1109
Der Zeuge Ho. H… wurde am 30.12.2021 nochmals als Zeuge geladen. Er teilte mit, dass vom Amtsgericht Traunstein (Az.: 5 Gs 5257/21) gegen ihn am 16.12.2021 Haftbefehl wegen des dringenden Tatverdachts der uneidlichen Falschaussage (anlässlich seiner Zeugenvernehmung am 07.12.2021 vor der Kammer) in Tatmehrheit mit Beihilfe zum Vorenthalten und Veruntreuung von Arbeitsentgelt erlassen, er am 20.12.2021 vorläufig festgenommen worden sei und er anschließend an diesem Tag vor dem Ermittlungsrichter anlässlich der Haftbefehlseröffnung Angaben gemacht habe.
1110
Diese wurden von der Kammer im Selbstleseverfahren „9“ (Anlage 29 zu Protokoll) eingeführt und auszugsweise verlesen.
1111
Der Zeuge Ho. H… machte am 30.12.2021 nach Belehrung gemäß § 55 StPO im Beisein seines Zeugenbeistandes, Rechtsanwalt Zürner, betr. das gegenständliche Verfahren folgende Angaben:
1112
Zunächst äußerte er, dass er bezüglich des Schreibens vom 24.10.2013 (s.o.) bei seiner 1. Vernehmung am 07.12.2021 eine falsche Aussage gemacht habe. Es habe sich beim Schreiben vom 24.10.2013 tatsächlich nicht um einen Standardbrief an alle seine Mandanten mit freien Mitarbeitern gehandelt. Vielmehr sei es so gewesen, dass er Bedenken (die er auf Nachfrage nicht näher konkretisieren konnte oder wollte) bezüglich des Status der in der Kanzlei des Angeklagten beschäftigten Anwälte gehabt und deshalb diesen Brief speziell an den Angeklagten gerichtet habe.
1113
Hinsichtlich der Gespräche mit dem Angeklagten Dr. S… vor seiner ersten Zeugeneinvernahme am 07.12.2021 in Bezug auf das Strafverfahren bzw. die bereits laufende Hauptverhandlung äußerte der Zeuge, dass diese Gespräche am 10.11.2021 und 29.11.2021 in seinem Steuerbüro stattgefunden hätten.
1114
Am 10.11.2021 sei es um die privaten Steuersachen des Angeklagten gegangen, dann auch um die persönliche Situation von Dr. S… im Hinblick auf das gegen ihn laufende Strafverfahren. Konkretes könne er, Ha., aber nicht mehr erinnern. Um die Frage „Scheinselbstständigkeit“ sei es jedenfalls nicht gegangen.
1115
Am 29.11.2021 habe der Angeklagte eine Liste mit Elementen mitgebracht (diese seien auf ein Formular mit Daten zur Statusabfrage geschrieben gewesen) und ihm vorgelegt, die Kriterien zur Abgrenzung abhängig Beschäftigter – freier Mitarbeiter enthalten hätte. Dr. S… habe ihn gefragt, welche Elemente er/H… im Rahmen der Zeugenvernehmung vortragen könne, die für freie Mitarbeiterschaft sprächen. Er/H… habe daraufhin zu Dr. S… gesagt, dass er/Dr. S… einen Mustervertrag schicken solle, damit er sich diesen anschauen könne. Am 02.12.2021 gegen 10:00 Uhr habe er dann per E-Mail den Vertrag „V…“ nebst Zusatzvereinbarung und einen Vertrag betreffend An. K… übersandt bekommen. Er habe sich diese Verträge ausdrucken lassen und sie auch kurz durchgesehen. Es sei in der Folgezeit vor seiner Zeugeneinvernahme zu keinerlei Kontakt diesbezüglich (weder telefonisch noch schriftlich noch in sonstiger Art und Weise) mit Dr. S… gekommen.
1116
In den Verträgen „V…“ und „K…“ habe er dann Markierungen in Farbe (Textmarker und Stift) betreffend Punkte vorgenommen, bezüglich derer er davon ausgegangen sei, dass diese negativ ausgelegt werden könnten. Er habe die Verträge kritisch gesehen. Wann er diese Markierungen vorgenommen habe, wisse er nicht mehr, er glaube aber nach dem 20.12.2021 im Hinblick auf seine neuerliche Zeugeneinvernahme am 30.12.2021.
1117
Mit dem Angeklagten habe er am 29.11.2021 jedenfalls ausführlich die Abgrenzungskriterien zwischen Angestellten und freien Mitarbeitern diskutiert und besprochen. Wie bereits erwähnt, habe der Angeklagte von ihm wissen wollen, ob er positive Abgrenzungsmerkmale erkenne. Dieses Ersuchen habe sich auf seine Aussage im Zeugenstand bezogen, aber nicht in dem Sinne, dass er etwas fälschlich sage, sondern in Bezug auf seine Beurteilung. Daraufhin habe er/H… aktuelle Verträge angefordert. Er habe nichts von den tatsächlichen Verhältnissen in der Kanzlei gewusst. An dem Vertrag „V…“ sei eine Zusatzvereinbarung angeheftet gewesen – bei dem anderen Vertrag nicht –, welche den Vertrag als solchen gewissermaßen eingeschränkt habe (z.B. betreffend die Frage der Beschäftigung eigenen Personals).
1118
Seiner Meinung nach habe ihn der Angeklagte aber nie beeinflussen wollen, auch nicht unter Druck gesetzt.
1119
Sofern der Angeklagte am 29.11.2021 über das laufende Verfahren für die Dauer von etwa 10-15 Minuten berichtet und sich über den Gang der Hauptverhandlung beklagt habe, habe Dr. S… beispielsweise ausgeführt, ein Zeuge habe gelogen und wahrheitswidrig behauptet, nicht in der Kanzlei seiner Ehefrau gearbeitet zu haben.
1120
Die Verträge „H…“ und „D…“ habe er, sofern ihm dies vorgehalten werde, im Rahmen der Betriebsprüfung 2013 nicht gesehen.
1121
Vom Hören-Sagen – durch seine Mitarbeiterin Han.F. – habe er Kenntnis davon erlangt, dass der Prüfer H…, freie Mitarbeiterverträge angefordert haben soll. Die Betriebsprüfung 2013 sei aber ausschließlich von Frau F. begleitet worden. Er wisse nur durch ihre Mitteilungen, dass dann H… auch freie Mitarbeiterverträge vorgelegt worden sein sollen. Er selbst habe 2013 die Verträge „H…“ und „D…“ nicht gesehen, habe sich daher 2013 im Rahmen der Sozialversicherung auch vom Angeklagten nicht getäuscht gefühlt, da er ja gar nicht in die Prüfung involviert gewesen sei. Er habe die Verträge „H…“ und „D…“ erst im Zusammenhang mit dem E-Mail Verkehr mit dem Angeklagten im Mai 2019 (s. nachfolgend) zur Kenntnis genommen. Den Verträgen „H…“ und „D…“ sei aber keine Zusatzvereinbarung beigefügt gewesen; dass eine solche bestanden, aber gefehlt habe, habe er nicht vermutet.
1122
Vor seiner Zeugeneinvernahme am 07.12.2021 habe er sich gedacht, dass dann, wenn er nicht danach gefragt werde, dazu (zu den Verträgen „H…“ und „D…“, aber auch „V…“ und „K…“) auch nichts sagen werde.
1123
Soweit er am 07.12.2021 bei Vorlage der Verträge „H…“ und „D…“ geäußert habe, dass er diese noch nie gesehen habe, überhaupt die freien Mitarbeiterverträge (also auch betreffend V… und K… nicht gesehen habe, habe er das fälschlicherweise gesagt; warum, wisse er heute auch nicht; es tue ihm leid.
1124
Nach Zusendung der Verträge V… und K… habe er noch mit Frau F. darüber gesprochen, er wisse noch, dass sie gesagt habe: „Schauen Sie mal das zweite Blatt an!“.
1125
Zudem wurden im Kontext der Zeugenaussage H… folgende Schreiben verlesen:
- Schreiben von Ho. H…, i.A. F., an den Angeklagten – persönlich – vertraulich – vom 20.11.2013, welches im Selbstleseverfahren „9“, dort Bl. 23 f., eingeführt wurde und wo es u.a. heißt:
1126
… Weitere Besprechungspunkte konnten mit dem Prüfer so geklärt werden, dass eine Erwähnung im Prüfbericht nicht erforderlich wurde. Es handelt sich dabei unter anderem um die Dauerkarte „Wacker B.“ und die Mitgliedschaft im Fitnessclub, die als Geschenk den gesamten Mitarbeitern und Rechtsanwälten zur Verfügung gestellt worden war. Aufgrund unserer Erklärungen und Erläuterungen verzichtete der Prüfer auf eine umfangreiche Einsicht in das Belegwesen (Werbung/Künstler – Sozialkasse, freie Mitarbeiter). Er beschränkte sich auf Stichproben …
1127
Der Angeklagte stand auch nach Kenntniserlangung, dass ein Ermittlungsverfahren gegen ihn geführt wird, mit Ho. H… anbetreffend den Gegenstand des Ermittlungsverfahrens (und nicht erst im November 2021) in einem schriftlichen Austausch, wie etwa aus nachfolgenden Schreiben ersichtlich wird:
- Schreiben des Angeklagten an H… vom 05.03.2018 – eingeführt in Selbstleseverfahren „10“:
1128
….. Im Zusammenhang mit dem Ermittlungsverfahren gegen mich (Sozialversicherungsthema) übersende ich Ihnen zur Vervollständigung der Unterlagen den Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts Traunstein in Kopie mit der Bitte um Kenntnisnahme. … Der wesentliche gegen mich sprechende Umstand ist die Tatsache, dass monatlich pauschal abgerechnet wird. In einem Urteil des Landgerichts Berlin ist geklärt, dass es zulässig ist diesen Abrechnungsmodus zu vereinbaren. Unabhängig davon wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir die eine oder andere Hilfestellung geben könnten …..
- Schreiben des Angeklagten an H… vom 22.05.2019 – eingeführt in Selbstleseverfahren „9“, Bl. 133 f.:
1129
… In dem Ermittlungsverfahren gegen mich gibt es – abgesehen von der Sturheit der Staatsanwaltschaft – keine neueren Erkenntnisse. Der Zoll hat die Ermittlungen abgeschlossen. Die Akte (über 1000 Seiten) liegt der Staatsanwaltschaft vor. Die zuständige Staatsanwältin hat mündlich gegenüber meinem Verteidiger Professor Dr. Eder angedeutet, sie wolle mich anklagen. …
- E-Mail von H… an den Angeklagten vom 24.05.2019 – eingeführt in Selbstleseverfahren „9“, Bl. 131:
1130
… Im November 2013 fand für die Zeit vom 01.01.2009 – 31.12.2012 eine Prüfung durch die Deutsche Rentenversicherung statt. …. Dabei wurden auch die Zahlungen an die freien Mitarbeiter überprüft und zwei Verträge hierzu beispielhaft angefordert und vorgelegt (wusste H… nur vom Hören-Sagen von F., s.o.). Diese beiden Verträge (D… und H…) füge ich als Anlage bei, ebenso mein Schreiben vom 20.11.2013 an Sie über das Ergebnis dieser Prüfung. Ich hoffe und wünsche, dass es letztlich doch nicht zu einer Anklage kommen wird. ….
1131
Rückübersandt hat Ho. H… an den Angeklagten dann nochmals die Mantelverträge „H…“ und „D…“ (ohne jeweils getroffene Zusatzvereinbarung), sowie sein Schreiben vom 20.11.2013 (s. zum Inhalt oben)
1132
Die Zeugin Han.F. Steuerfachangestellte, ist seit 42 Jahren im Steuerbüro H… tätig, die ab 2012 auch wieder (nach einer kleinen „Auszeit“) für die Kanzlei Dr. S… tätig war.
1133
2013 – glaublich im November – sei von Mi. H…, DRV, eine sozialversicherungsrechtliche Betriebsprüfung nach § 28 p Abs. 1 SGB IV betr. die Kanzlei Dr. S…, L… & Kollegen und den Zeitraum 2009 – 2012 durchgeführt worden (H… sei nur einmal 2013 im Steuerbüro gewesen). Für diese sozialversicherungsrechtliche Prüfung habe H… (am Tag der Prüfung, nicht bereits mit der Ankündigung der Prüfung entsprechend Schreiben vom 16.08.2013) exemplarisch zwei freie Mitarbeiterverträge vorgelegt bekommen wollen (im Zuge der Personalkostenprüfung/Fremdleistungen). An diesem Prüftag habe H… bei ihnen im Steuerbüro mehrere Auftraggeber geprüft, sie wisse heute nicht mehr die genaue Anzahl.
1134
Sie habe dann jedenfalls am Prüfungstag zwei Verträge bei Dr. S… angefordert und auch übersandt bekommen, sie glaube per Fax, das wisse sie aber heute nicht mehr genau. Diese habe sie H… vorgelegt. Der habe sie für die Dauer von etwa 2-3 Stunden während der Prüfung gehabt, sie wisse aber nicht, ob er sie angeschaut habe. Sie habe die Verträge später von ihm im Rahmen der Abschlussbesprechung kommentarlos zurückerhalten. Bei dieser Abschlussbesprechung habe H… geäußert, dass alles o.k. sei, er habe aber nichts zu dem Prüfungsumfang gesagt.
1135
Sie persönlich sei davon ausgeschlossen, dass H… auch die freien Mitarbeiterverträge geprüft habe, wenn sie die ihm schon übergebe, weshalb sie über die vorgehaltene Aussage von H…, er habe keine freien Mitarbeiterverträge geprüft, überrascht sei. Es sei auch nicht über das Thema „Statusprüfung“ mit oder von H… gesprochen worden. Beanstandungen im Prüfbericht seien ihr nicht erinnerlich.
1136
Sie selbst habe die Verträge nicht angeschaut, dafür habe sie schon deshalb keinen Grund gesehen, weil in der Kanzlei des Angeklagten ja auch Steuer- und Arbeitsrechtler seien, die würden ihrer Meinung nach schon wissen, was sie tun.
1137
„Scheinselbstständigkeit“ sei nie ein Thema gewesen, weder zwischen ihr/F. und H… noch zwischen ihr/F. und Dr. S… oder ihr/F. und jemand Anderem aus der Kanzlei des Angeklagten.
1138
Die Zeugin bleibt auch auf Vorhalt der Aussage der Zeugin W… (vgl. nachfolgend im Einzelnen)
„Im Jahr 2013/2014 glaublich im Rahmen einer Betriebsprüfung sei „Scheinselbstständigkeit“ in Bezug auf die Rechtsanwälte/innen in der Kanzlei Dr. S… schon mal Thema gewesen. Frau F. von der Steuerkanzlei H… in W. habe sie darauf hingewiesen, dass dies problematisch sein könne, sie habe das an Dr. S… so weitergegeben“
dabei, sich nicht an solche Gesprächsinhalte erinnern zu können, könne das aber auch nicht ausschließen. Di. W… kenne sie, die sei Buchhalterin bei Dr. S… gewesen.
1139
Sie habe im Rahmen ihrer Tätigkeit als Steuerfachangestellte schon ab und an mit Statusfeststellungen zu tun gehabt, etwa bei einem Gesellschafter-Geschäftsführer. Sie sei dann mit dem Mandanten den Fragebogen der DRV durchgegangen, den sie angefordert habe, wenn ein Mandant habe wissen wollen, ob er rentenversicherungspflichtig sei. 2013 haben sie aber gewiss von Mi. H… keinen Fragebogen betreffend die Statusfeststellung der freien Mitarbeiter in der Kanzlei des Angeklagten bekommen.
1140
Im Jahr 2017 habe es noch mal eine Prüfung durch die DRV, den Ma. B… gegeben, habe es auch keine Beanstandungen gegeben.
1141
Befragt danach, wann sie zuletzt Kontakt mit dem Angeklagten gehabt habe, äußerte die Zeugin F., dass dies letzte Woche am Donnerstag (02.12.2021) in der Steuerkanzlei, für die Dauer von etwa 1 Stunde, gewesen sei. Dr. S… sei schon im Besprechungszimmer gewesen, als sie gekommen sei, ihr Chef, Ho. H…, sei etwa 1 Minute später auch gekommen. Es sei um den Jahresabschluss 2020 und einige Rückfragen, die das Finanzamt bzgl. 2019 gehabt habe, gegangen.
1142
Als die Besprechung schon zu Ende gewesen sei, sozusagen im Rausgehen während der Verabschiedung, habe Dr. S… H… und sie gefragt, wann wir (H…/F.) im Strafverfahren gegen ihn/Dr. S… als Zeugen geladen seien. Ihr Chef H… hätte erwidert, dass sie erst im Januar 2022 geladen gewesen seien, jetzt ihre Zeugeneinvernahme aber vom Gericht vorgezogen worden sei. Mehr sei nicht gesprochen worden, insbesondere habe sich Dr. S… nicht über den Gang der Hauptverhandlung beklagt.
1143
Dabei blieb die Zeugin F. auch nach Vorhalt der Aussage H… vom 07.1.2021, die in diesem Punkt divergent ist.
1144
Im Hinblick auf diese Aussage der Zeugin F. hat die Staatsanwaltschaft auch gegen sie Haftbefehl beantragt, der am 16.12.2021 gegen die Zeugin vom Amtsgericht Traunstein – Ermittlungsrichter – erlassen wurde.
1145
Die Kammer hatte beabsichtigt, im Hinblick auf die Widersprüchlichkeiten in den Aussagen H… – F. – W… auch die Zeugin F. nochmals zu hören.
1146
Nach Rücksprache mit dem Zeugenbeistand und Verteidiger der Zeugin F. teilte dieser mit, dass sie sich bei erneuter Ladung zur Zeugeneinvernahme im gegenständlichen Verfahren auf § 55 StPO berufen wird, weshalb alle Verfahrensbeteiligten auf die nochmalige Zeugeneinvernahme von Han.F. verzichteten (vgl. Protokoll vom 11.01.2022).
1147
Damit ist aber die Aussage der Zeugin F. nach Überzeugung der Kammer – bereits im Abgleich mit der Aussage des Zeugen Ho. H… – nicht glaubwürdig, weshalb sie auch nicht geeignet ist, zur Überzeugung der Kammer dahingehende beizutragen, dass H… – entgegen seiner Aussage – im Rahmen der Betriebsprüfung 2013 zwei „Freie Mitarbeiterverträge“ angefordert und vorgelegt bekommen hat.
1148
Der Zeuge H… hatte das Gericht im Rahmen seiner 1. Zeugenaussage bewusst – zum Teil auch durch Weglassen relevanter Umstände, wobei er im Rahmen der Zeugenbelehrung ausdrücklich darauf hingewiesen worden war, dass auch dies die Annahme einer Falschaussage rechtfertigen kann – mit der Unwahrheit bedient, im Rahmen seiner 2. Zeugeneinvernahme, nachdem seitens der Staatsanwaltschaft gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden war, allerdings dann seine Aussage korrigiert zum einen dahingehend, dass er das Schreiben vom 24.10.2013 gezielt an den Angeklagten versendet hatte und zum anderen dahingehend, dass er von den Verträgen „H…“ und „D…“ (allerdings ohne die gleichzeitig geschlossenen Zusatzvereinbarungen) im Zusammenhang mit dem E-Mail-Verkehr mit dem Angeklagten im Mai 2019 Kenntnis erlangt hatte, zudem vor seiner 1. Zeugenvernehmung vom Angeklagten noch die Verträge „V…“ (mit Zusatzvereinbarung) und „K…“ (bei ihr kam es nicht zum Abschluss einer Zusatzvereinbarung) übersandt bekam.
1149
Nicht geklärt werden konnte, wann genau die Verträge „H…“ und „D…“ und von wem bei der Kanzlei des Angeklagten angefordert und von wem sie sodann an das Steuerbüro H… ohne Zusatzvereinbarung übersandt wurden. Nach Überzeugung der Kammer steht aber sehr wohl fest, dass dies entweder der Angeklagte selbst war bzw. es auf seine Veranlassung hin erfolgte (vgl. nachfolgende Aussage W…, D. II. 2.) d) 5.).
1150
Möglicherweise erfolgte dies in zeitlichem Zusammenhang mit der angekündigten Betriebsprüfung 2013 bzw. dem Schreiben des Zeugen H… vom 24.10.2013, etwa um bei Nachfrage durch den Betriebsprüfer „ggf. etwas vorlegen zu können“.
1151
Aufgrund der Aussage des Zeugen H… ist zum einen für die Kammer aber sicher davon auszugehen, dass er im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Betriebsprüfung 2013 (Ankündigung erfolgte am 16.08.2013 für den Zeitraum 05./06.11.2013) mit dem Schreiben vom 24.10.2013 im Hinblick auf Bedenken, die er bezüglich des Status der in der Kanzlei des Angeklagten beschäftigten Anwälte hatte, speziell den Angeklagten durch dieses Schreiben auf die Problematik hinweisen wollte. Zum anderen ist davon auszugehen, dass Dr. S… den Zeugen H… vor dessen erster Zeugenaussagen am 07.12.2021 durch die Thematisierung, welche Elemente er/H… im Rahmen der Zeugeneinvernahme vortragen könne, die für freie Mitarbeiterschaft sprechen, wobei er ihm auch eine Liste mit Elementen, Kriterien zur Abgrenzung mitbrachte, zumindest in sublimer Weise psychisch beeinflusst hat. Auch hat der Angeklagte, als er dem Zeugen Ha. die Verträge „H…“ und „D…“ übersandte (bzw. die Anweisung zur Übersendung gab; vgl. auch nachfolgend D. II. 2.) d) 5.) – der genaue Zeitpunkt und die genauen Umstände der Zusendung konnte nicht geklärt werden –, die Zusatzvereinbarung zum Mantelvertrag, die auch mit diesen beiden Anwälten geschlossen worden war, nicht mitübersand (bzw. nicht mitübersenden lassen).
1152
Unabhängig davon, dass die Kammer aufgrund der glaubhaften und glaubwürdigen Aussage des Zeugen H… aber davon ausgeht, dass von ihm kein „Freier Mitarbeitervertrag“ angefordert und ihm auch kein solcher vorgelegt wurde, wäre die Vorlage nur des Mantelvertrages ohnehin eine bewusste Täuschung gewesen, die mangels korrekter Vorlage der erforderlichen Anknüpfungstatsachen auch keine ordnungsgemäße Prüfung nach sich gezogen hätte, was der Angeklagte auch wusste.
c) 3. Zeugin P. G… Finanzamt M. am I.:
1153
Die Zeugin P. G… ehemals Mitarbeiterin beim Finanzamt in M. am I. (derzeit an das Gesundheitsamt E. abgeordnet), hat steuerrechtliche Prüfungen in der noch als GbR geführten Anwaltssozietät Dr. S…, L… & Kollegen – Zeitraum einmal 2007/2009, sowie dann 2010 bis Mitte 2012, Ausscheiden Frau L… – durchgeführt, aber auch in der Anwaltskanzlei Dr. S… & Kollegen – Zeitraum Mitte 2012/2013 -. Gegenstand der steuerrechtlichen Prüfungen seien jeweils die Betriebseinnahmen und die Betriebsausgaben gewesen, d.h. es gehe lediglich um die Fragestellung, ob die insoweit zu ermittelnden Kosten mit dem Betrieb zusammenhängen können; der Grund der Kosten werde nicht überprüft.
1154
Im Zusammenhang mit einer der steuerrechtlichen Prüfungen sei Rechtsanwältin L… ein Fragenkatalog unter dem Datum 15.09.2011 übergeben worden.
1155
Die Zeugin übergibt insoweit nochmals und vollständig (L…) hatte nur das erste Blatt dieses Fragebogens überreicht; vgl. oben und Anlage 8 zu Protokoll) den Fragenkatalog bzw. zwei Kopien des Fragenkatalogs, einmal mit handschriftlichen Bemerkungen, die sie gemacht hat und einmal mit Bemerkungen, die nicht von ihr – glaublich aber von Rechtsanwältin L… – stammen (vgl. Anlage 20 zu Protokoll).
1156
Frage 9 dieses Kataloges: Teilen Sie bitte mit, wie die Vergütung für die freien Mitarbeiter ermittelt wurde. Gibt es dazu Verträge, Stundenaufzeichnungen o.ä.? Wenn ja bitte noch vorliegen. Insoweit erklärte die Zeugin G…. Es sei von ihr handschriftlich vermerkt worden: „Verträge nein, Abrechnungen ja“. Dementsprechend sei sie sich sicher, dass sie keine Verträge betreffend freie Mitarbeiter vorgelegt bekommen habe, auch an Stundenaufzeichnungen könne sie sich nicht erinnern, wohl aber Abrechnungen (waren in den normalen Betriebsausgaben abgelegt). Auf der zweiten Kopie sei neben dieser Frage – nicht von ihr – vermerkt: „Grundvergütung variabel.“
1157
Frage 10 dieses Kataloges: Wieso übernimmt die Anwaltskanzlei die Kosten für die Rechtsanwaltskammerbeiträge und die Fortbildungskosten für die freien Mitarbeiter? Insoweit äußerte die Zeugin G… dass ihr gegenüber erklärt und dann von ihr so vermerkt worden sei (einzige Bemerkung, mit ihrer Handschrift auf der zweiten Kopie): „ist mit Anwälten so vereinbart worden.“
1158
Die Zeugin G… betonte, dass sie sich keine Gedanken gemacht habe, ob die „freien Mitarbeiter“ tatsächlich freie Mitarbeiter gewesen seien; dies sei für ihre steuerrechtliche Prüfung – bei dieser sei Nichts zu beanstanden gewesen – irrelevant.
1159
Das Thema „Scheinselbstständigkeit“ habe sie ebenfalls nicht überprüft, auch nie mit Dr. S…, Rechtsanwältin L… oder dem Steuerberater H… diskutiert.
1160
Auch aus der Aussage der Zeugin G… geht damit für das Gericht klar hervor, dass sie hinsichtlich der „Freien Mitarbeiter“ keine Prüfung, insbesondere keine Überprüfung von deren Status vorgenommen hat. Vielmehr hat sie betont, dass ihr keine Verträge betreffend die freien Mitarbeiter vorgelegt wurden und aus der Sphäre der Kanzlei heraus mitgeteilt wurde, dass die Grundvergütung variabel ist (was unter Berücksichtigung der tatsächlich geleisteten monatlichen pauschalen Honorarvergütung – wie sie vertraglich vereinbart und auch von allen Zeugen bestätigt wurde – gerade nicht zutreffend war, vgl. Zeugenaussagen und nachfolgend D. II. 2.) e) 4.).
d) Empfangsdamen/Sekretärinnen/Rechtsanwaltsgehilfinnen und Dr. M…
1161
Die Zeugin Cl. S…, die von Mai 1996 bis zum 30.04.2017 Bürokraft in der Kanzlei des Angeklagten war, gab zunächst an, dass sie den Arbeitsvertrag mit dem Angeklagten geschlossen habe. Sie habe in der Kanzlei bereits ein Praktikum gemacht gehabt, es sei kein schriftlicher Arbeitsvertrag gefertigt worden, sie habe mit dem Angeklagten alles mündlich vereinbart. Ihre Aufgabe sei die Aktenverwaltung (Akten kopieren und herrichten für Besprechungen und Termine etc.), das Führen des Terminkalenders gewesen, aber auch die Annahme von eingehenden Telefonaten und deren Weiterleitung an Rechtsanwälte/innen. Schreibarbeiten habe sie keine erledigt. Dies sei Aufgabe der Sekretärinnen der jeweiligen Vorzimmer gewesen. Die Verteilung der Kontakte an die in der Kanzlei jeweils tätigen Rechtsanwälte/innen sei nach Fachgebieten erfolgt. Auch sie habe entsprechende Telefonate entgegengenommen und dann dem jeweils „gefragten“ Fachgebiet entsprechend „zugeteilt“. Bei Zweifeln habe sie Rücksprache mit dem jeweiligen Vorzimmer genommen. Wie dann genau die Zuteilung erfolgt sei, wisse sie nicht. Sie habe auch keine Kenntnis davon, ob den einzelnen Rechtsanwälten/innen die Ablehnung von Mandaten (mit oder ohne Begründung) möglich gewesen sei.
1162
Sie sei ebenso in das Führen des Terminkalenders (Gerichtstermine, Besprechungen usw.) eingebunden gewesen. In den Terminkalender hätten auch die Rechtsanwälte/innen selbstständig Urlaub eingetragen; sie habe für den Angeklagten die eingetragenen Urlaubstage nicht gezählt/zusammengestellt. Im Krankheitsfall habe der jeweilige Anwalt angerufen und das mitgeteilt, sie wisse heute aber nicht mehr genau, wie das mit der Krankheit vermerkt worden sei; sie wisse auch nicht mehr, ob eine Krankmeldung/Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung der Rechtsanwälte/innen notwendig gewesen sei. Gleichfalls habe sie keine Kenntnis darüber, ob im Falle der Krankheit oder des Urlaubs – oder auch sonstiger Abwesenheit – Besprechungstermine bei/mit Mandanten abgesetzt oder eine Vertretung durch einen anderen Anwalt erfolgt sei. Wenn sie selbst krank gewesen sei, habe sie angerufen und Bescheid gegeben, aber auch eine Krankmeldung vorlegen müssen.
1163
Jede/r Rechtsanwalt/in habe ein eigenes Büro gehabt, zu welchem auch die anderen Zugang gehabt hätten. Auch zum Büro des Angeklagten habe grundsätzlich jeder Zugang gehabt. Zudem habe es in der Kanzlei einen Besprechungsraum gegeben, nicht für jeden einzelnen Rechtsanwalt einen eigenen, vielmehr einen gemeinsamen, den alle hätten nutzen können. Dort seien auch Besprechungen der Rechtsanwälte/innen untereinander abgehalten worden, sowie die monatlichen Kanzleibesprechungen, an denen sie auch gelegentlich teilgenommen habe. Was da im Einzelnen besprochen worden sei, wisse sie heute nicht mehr, es habe aber zwischen den Rechtsanwälten zum Beispiel auch einen Austausch über schwierige Fälle stattgefunden.
1164
Hinsichtlich der Rechnungen der Rechtsanwälte/innen an die Kanzlei könne sie keine Angaben machen, sie habe die weder geschrieben noch entgegengenommen.
1165
Gleiches gelte für Rechnungen an die Mandanten; dies sei von den Sekretärinnen/Rechtsanwaltsgehilfinnen des jeweiligen Vorzimmers gemacht worden. Sie habe mit Abrechnungen/Konten gar nichts zu tun gehabt.
1166
Sie habe Ende 2016 vom Angeklagten nach über 20-jähriger Tätigkeit für seine Kanzlei die Kündigung erhalten, da er sich habe verkleinern wollen. Im Rahmen der Beendigung des Vertragsverhältnisses habe es Streit gegeben; die Kündigung sei für sie ungerecht gewesen. Es sei dann um eine Abfindung, Weihnachtsgeld, die Erstellung eines Zwischenzeugnisses und andere Dinge gegangen.
1167
Rechtsanwältin Dr. An... M… sei von ihr zur Durchführung eines arbeitsgerichtlichen Verfahrens beauftragt worden bzw. sie im arbeitsgerichtlichen Verfahren gegen den Angeklagten zu vertreten. Im Rahmen dieses Verfahrens vor dem Arbeitsgericht Rosenheim habe ihre Anwältin Dr. M. dann schon auch etwas dazu vorgebracht, dass in der Kanzlei des Angeklagten mehr als 5 Arbeitnehmer beschäftigt gewesen seien; da seien ihre Erinnerung nach auch Anwälte/innen aufgelistet gewesen, sie können dazu aber keine näheren Detailangaben machen. Die arbeitsgerichtliche Auseinandersetzung habe dann mit einem Vergleich geendet.
d) 2. Zeugen Dr. An... M…
1168
Die Zeugin Dr. An... M…, schilderte, dass sie Cl. S…, nachdem dieser vom Angeklagten im September 2016 gekündigt worden sei, im arbeitsgerichtlichen Verfahren vor dem Arbeitsgericht Rosenheim vertreten habe.
1169
Die Zeugin Dr. An... M… legte dar, dass das Kündigungsschutzverfahren nur dann betrieben werden kann, wenn mehr als 5 Arbeitnehmer von einem Arbeitgeber beschäftigt werden. Dies sei bereits im Rahmen der Durchführung des Gütetermins am 15.11.2016 Thema gewesen, wo auch davon die Rede gewesen sei, dass verschiedene, in der Kanzlei tätige Rechtsanwälte/innen de facto als Arbeitnehmer beschäftigt würden. Im Gütetermin vor dem Arbeitsgericht Rosenheim habe der Richter, Dr. H…, dazu geäußert, dass sich Dr. S…, das gut überlegen solle, ob er das festgestellt wissen wolle. In dem nach dem Gütetermin unter dem 30.11.2016 erstellten Schriftsatz – dies wurde auch durch die in Augenscheinnahme des selbigen im beigezogenen arbeitsgerichtlichen Verfahren, Az.: 1 Ca 1384/16, und dessen Verlesung bestätigt, dort Bl. 48 ff. – habe sie dann nochmals u.a. als soazialversicherungspflichtige Arbeitnehmer in der Kanzlei des Angeklagten auch die Rechtsanwälte/innen A…, B…, D…, Dr. St. M…, K… und L… angeführt.
1170
Bezüglich der Arbeitsbedingungen der genannten Personen habe sie selbst anhand sämtlicher infomaterialien, die ihr zur Verfügung gestanden hätten, Prüfungen vorgenommen, aber auch Informationen von der Mandantin S… (welche sie nicht von der Schweigepflicht entbunden habe), sowie anderen Klienten erhalten. Sie habe dabei auch die ihr bekannten Kriterien für die Annahme sozialversicherungspflichtiger Tätigkeit (Weisungsgebundenheit, Einbindung in den Betrieb etc.) berücksichtigt.
1171
Dr. S… habe dann nicht groß widersprochen; vielmehr sei es am 20.12.2016 – so die Zeugin Dr. An... M… – zum Vergleichsabschluss im arbeitsgerichtlichen Prozess betreffend die Zeugin S… gekommen; der Angeklagte habe ihren Vergleichsvorschlag widerspruchsfrei und vollumfänglich akzeptiert.
1172
Nach Anhängigwerden des arbeitsgerichtlichen Verfahrens sei es zum einen zur Änderung der Briefkopfgestaltung gekommen, konkret nach Durchführung des Gütetermins am 15.11.2016 vor dem Arbeitsgericht Rosenheim. Die Briefkopfgestaltung sei dahingehend geändert worden, dass die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen jeweils mit einem * und dem Zusatz „in freier Mitarbeit“ versehen worden seien (vgl. etwa Bl. 20 f., Schreiben vom 26.10.2016, im Vergleich zu Bl. 29 f., Schreiben vom 16.11.2016 im beigezogenen arbeitsgerichtlichen Verfahren Az.: 1 Ca 1384/16).
1173
Aus den Aussagen der beiden Zeuginnen S… und Dr. M… ist zu folgern, dass als Folge der Kündigung von Cl. S… durch den Angeklagten ein arbeitsgerichtliches Verfahren angestrengt wurde, in dessen Rahmen u.a. auch Thema war, dass in der Kanzlei des Angeklagten tätige Rechtsanwältin/innen – konkret in Rede standen die Anwälte A…, B… D… Dr. St. M…, K… und L… – de facto als Arbeitnehmer beschäftigt würden. Dies war auch Thema im Gütetermin vom 15.11.2016. Danach wurde zum einen die Briefkopfgestaltung der Kanzlei des Angeklagten dahingehend geändert, dass die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen mit einem * und dem Zusatz „in freier Mitarbeit“ versehen wurden, zum anderen kam es am 20.12.2016 zum Vergleichsabschluss in dem arbeitsgerichtlichen Prozess nach den Vorgaben der Klägerin. An den tatsächlich gelebten Beschäftigungsverhältnissen der in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte änderte sich aber auch nach Änderung der Briefkopfgestaltung nichts, wie unter nochmaligem Verweis auf die Zeugenaussagen D. II. 2.) a) feststeht.
1174
Zudem ergibt sich aus der Aussage der Zeugin S… die als „kanzleieigenes Personal“ zu bezeichnen ist und die in dieser Funktion von den in der Kanzlei tätigen Anwälten „genutzt“ wurde, dass sie für die Tätigkeit der Anwälte relevante Arbeiten in Form der Aktenverwaltung (Kopieren und Herrichten der Akten), Führen des Terminkalenders (Gerichtstermine, Besprechungen etc.), Annahme von eingehenden Telefonaten und Weiterleitung an die Rechtsanwälte/innen nach Fachgebieten erbracht hat.
1175
Die Zeugin An...Ma. R…, äußerte, sie sei seit 01.09.2016 bis dato Sekretärin in der Kanzlei des Angeklagten.
1176
Zu ihrem Tätigkeitsfeld gehöre die Entgegennahme von Telefonaten, die Vereinbarung von Terminen, aber auch die Anlage von Akten. Sie habe glaublich mit dem Angeklagten keinen schriftlichen Vertrag geschlossen.
1177
Die Rechtsanwälte/innen eines Fachgebietes hätten jeweils ein eigenes Vorzimmer gehabt, dieses sei mit zwei Sekretärinnen besetzt, welche aber mehrere Rechtsanwälte/innen betreut hätten. Für sie sei der Angeklagte immer der „Chef“ gewesen, auch bezüglich der Rechtsanwälte/innen.
1178
Nach dem Modus betreffend die Verteilung der eingehenden Kontakte befragt, äußerte die Zeugin R… dass eigentlich sie am Empfang entschieden habe, wie/wem der jeweilige Kontakt zugewiesen werde; es habe bezüglich der einzelnen telefonisch eingehenden Kontaktanfragen keine Rücksprache mit den Juristen (Rechtsanwälten) geben. Einen eigentlichen „Verteilungsschlüssel“, da es ja pro Fachgebiet zum Teil mehrere Rechtsanwälte/innen gegeben habe, könne sie nicht benennen; sie habe halt geschaut, wer gerade viel und wer weniger zu tun habe. Vereinzelt habe es dann schon Rechtsanwälte/innen gegeben, die eine Mandatsübernahme abgelehnt hätten. Sie könne sich beispielsweise an einen Fall des sexuellen Kindesmissbrauchs erinnern, den Rechtsanwalt W… nicht habe übernehmen wollen, da ihn dieser zu sehr belastet habe. Insoweit habe dieser ihrer Erinnerung nach aber auch keine Rücksprache mit dem Angeklagten genommen, das wisse sie aber nicht mehr sicher.
1179
Sie habe auch den Terminkalender geführt. In diesen seien etwa Urlaubstage der jeweiligen Anwälte eingetragen worden; dies sei wichtig gewesen, um für anrufende Kontakte Termine mit einem/r Rechtsanwalt/in vereinbaren und eingetragen zu können. Dass ein Urlaubsantrag bzw. eine förmliche Genehmigung des Urlaubes erforderlich gewesen sei, wisse sie nicht. Jede/r Rechtsanwalt/in habe sehen können, wer da gewesen sei und wer nicht. Sie wisse aber nicht, ob Dr. S… der täglich ein aktuelles Terminkalender-Blatt erhalten habe, die Anzahl eingetragener Urlaubstage oder sonstiger Abwesenheiten kontrolliert habe.
1180
Soweit ein Rechtsanwalt/in sich am Empfang krank gemeldet habe, sei ihrer Erinnerung nach ein Attest nicht notwendig gewesen; sie wisse nicht, wie solchenfalls (aber auch im Urlaubsfalle) die Vertretung organisiert gewesen sei.
1181
Die Rechtsanwälte/innen seien eigentlich immer in der Kanzlei gewesen, hätten dort jeweils ein eigenes Büro gehabt und dieses auch genutzt. Ihr sei nicht bekannt, dass Rechtsanwälte/innen H. Of. gemacht hätten.
1182
Die Büros, welche auch für alle zugänglich gewesen seien, seien voll eingerichtet gewesen, wer das bezahlt habe, wisse sie nicht. In der Kanzlei habe es auch eine Bibliothek und einen Besprechungsraum gegeben; alle hätten diese Räume nutzen können.
1183
Danach befragt, ob es für die Rechnungen der Rechtsanwälte/innen an die Kanzlei Muster gegeben habe, äußerte die Zeugin R… dass sie dies nicht wisse, sie wisse nur, dass die Rechtsanwälte/innen monatlich Rechnungen an die Kanzlei bezüglich ihrer Tätigkeit gestellt hätten; diese Rechnungen seien aber in die Buchhaltung gegangen und dort bearbeitet worden. Die Rechnungen an die Mandanten seien mit Kanzleibriefkopf rausgegangen, das habe sie schon gesehen; die Rechnungen seien aber letztendlich von den jeweiligen Vorzimmern gemacht und bearbeitet worden. Genau wisse sie es nicht, sie gehe aber davon aus, dass die Gelder auch durch die einzelnen Vorzimmer eingetrieben worden seien, wenn ein Mandant nicht oder nicht vollständig gezahlt habe.
1184
Soweit während ihrer Tätigkeit in der Kanzlei Rechtsanwälte/innen ausgeschieden seien, hätten diese nach ihrem Kenntnisstand die laufenden Akten mitgenommen und nicht zurückgebracht. Details dazu wisse sie aber nicht.
1185
Bei Anbahnungsgesprächen betreffend Rechtsanwälte/innen sei sie nie zugegen gewesen.
1186
Die Kanzleiöffnungszeiten seien von 08:00 bis 12:00 Uhr und von 13:00 bis 17:30 Uhr gewesen, die Rechtsanwälte/innen seien da zum Großteil da gewesen, wenn sie nicht Auswärtstermine (Gerichtstermine o.ä.) gehabt hätten. Wenn Rechtsanwälte/innen während der Kanzleizeiten nicht da gewesen seien, sei dies schlecht gewesen; zum Teil hätten sich dann auch Mandanten aufgeregt.
1187
Erinnerlich sei ihr auch, dass etwa die Rechtsanwältinnen Dr. M… F. und A… die wegen ihrer Kinder nur Teilzeit beschäftigt gewesen seien, flexible Arbeitstage gewollt hätten. Wegen der Kinder seien sie teilweise auch mal zu spät gekommen, was dann wieder bei Mandantenanrufen zu Stress geführt habe. Meldung gegenüber dem Angeklagten habe sie – soweit sie sich erinnern könne – darüber aber nicht gemacht.
1188
Ihr sei bekannt, dass einige Rechtsanwälte auch neben der Tätigkeit in der Kanzlei andere Tätigkeiten ausgeübt hätten, Genaueres wisse sie aber nicht: Sie glaube, dass Rechtsanwalt H… noch in der Kanzlei seiner Ehefrau L. in D. gearbeitet habe, Rechtsanwalt U. V. in der Kanzlei seiner Frau Sa. V… in T., Rechtsanwalt B. als Vorstand bei dem Tennisclub W. und Rechtsanwalt H… als Lehrer an der FOS in Al.. Sie glaube auch, dass Rechtsanwalt B. in Re. gearbeitet habe, wo er auch seinen Hauptwohnsitz gehabt habe.
1189
Sie wisse, dass es Kanzleibesprechungen (etwa einmal pro Monat) gegeben habe; was da die Rechtsanwälte/innen untereinander und mit dem Angeklagten besprochen hätten, sei ihr aber nicht bekannt.
1190
Die Zeugin Da. W… die von 1994 – 1997 in der Kanzlei des Angeklagten eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsfachangestellten gemacht hatte, war danach zunächst noch 1 Jahr angestellt, anschließend für 3 Jahre in einer anderen Rechtsanwaltskanzlei, ehe sie ab 2002 bis Ende 2012 wieder in der Kanzlei des Angeklagten und zwar als dessen Sekretärin gearbeitet hat. In dem Vorzimmer, in dem sie tätig gewesen sei, sei sie außer für den Angeklagten auch für die Rechtsanwälte H…, B… und z.T. auch für Rechtsanwältin A… zuständig gewesen.
1191
Ihre Aufgabe habe darin bestanden, Bänder dazu schreiben (ob die geschriebenen Diktate/Schriftsätze dann noch durch den Angeklagten überprüft worden seien, wisse sie nicht), Rechnungen an die Mandanten zu stellen bzw. den Zahlungseingang zu überprüfen, ggf. auch die Zwangsvollstreckung bei säumigen Mandanten zu betreiben, aber auch telefonischen Kontakten/Mandatsanfragen einen Termin bei einem/r Rechtsanwalt/in zu geben.
1192
In den Terminkalender seien (neben den Terminen der Kontakte mit bestimmten Anwälten, sowie Gerichtsterminen) auch Urlaubstage der Rechtsanwälte/innen eingetragen worden. Sie habe aber nicht mitbekommen, dass etwa durch den Angeklagten (oder Frau L… eine Überprüfung/Zählung der eingetragenen Tage erfolgt wäre.
1193
Im Krankheitsfall sei so gewesen, dass der/die jeweilige Rechtsanwalt/in am Empfang Bescheid gegeben habe. Sie habe nicht mitbekommen, dass eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung notwendig gewesen sei.
1194
Zum Thema „Mandatsverteilung“ könne sie eigentlich nur sagen, dass nach ihrem Kenntnisstand die Verteilung nach Fachgebieten erfolgt sei (es sei denn, ein Mandant/Kontakt habe einen bestimmten Rechtsanwaltswunsch geäußert). Die Zuteilung sei ihrer Meinung nach auch unter dem Aspekt erfolgt, bei welchem Rechtsanwalt/in – sofern mehrere das gleiche Fachgebiet bearbeitet hätten – einem Anrufer schneller ein Termin habe angeboten werden können; dies sei aus dem Terminkalender ablesbar gewesen, wo entsprechende Einträge erfolgt seien. Dies habe sie ohne Rücksprache mit dem Angeklagten entscheiden können.
1195
Die Kanzleiöffnungszeiten seien glaublich von 08:00 bis 18:00 Uhr, freitags bis 16:00 Uhr, gewesen; die Terminsvergabe sei – soweit sie sich erinnere – von 08:00 bis 12:00 Uhr und 14:00 Uhr bis 17:00 Uhr erfolgt, die Rechtsanwälte/innen seien da überwiegend da gewesen.
1196
Jeder Rechtsanwalt/in habe ein eigenes Büro gehabt, welches auch voll ausgestattet gewesen sei, d.h. mit Möbeln, Computer und Internetzugang, Telefon, Literatur, Zeitschriften, Büchern etc. Für alle habe jeweils die Möglichkeit des Zuganges zu dem jeweiligen Büro bestanden. Ihr sei nicht bekannt, dass die Rechtsanwälte/innen für die zur Verfügungstellung der Kanzleiräumlichkeiten/Büros, der kanzleiinternen Infrastruktur incl. Neuanschaffungen, Reparaturen usw. etwas hätten bezahlt müssen. Wie die Aufteilung der Büros vonstatten gegangen sei, und wer das bestimmt habe, wisse sie nicht im Detail. Wenn ein/e neue/r Rechtsanwalt/in gekommen sei, habe der Angeklagte aber „wegen der praktischen Einarbeitung“ schon gesagt, dass der jeweilige Anwalt/in erst einmal über sein Vorzimmer laufen solle.
1197
Es habe auch ein Besprechungsraum in der Kanzlei existiert, zu dem alle Zugang gehabt hätten; es sei nicht so gewesen, dass jeder Rechtsanwalt einen eigenen Besprechungsraum gehabt habe. Es habe einen Server, eine Buchhaltung, eine Bibliothek gegeben, aus ihrer Sicht einen kanzleiinternen Bestand, auf den jeder Zugriff gehabt habe.
1198
Sie wisse nicht, dass es für Rechnungen der Rechtsanwälte/innen an die Kanzlei Muster gegeben habe, könne sich auch nicht erinnern, dass von Rechtsanwälten/innen außergewöhnliche Kosten in Rechnung gestellt worden seien.
1199
Die Rechnungen an die Mandanten seien mit Kanzleibriefkopf rausgegangen. Sie habe nie eine Rechnung an einen Mandanten im Namen eines einzelnen, in der Kanzlei tätigen Rechtsanwaltes gesehen. Wenn ein Mandant nicht vollständig oder gar nicht gezahlt habe, sei das Geld im Namen der Kanzlei über die Vorzimmer eingetrieben worden.
1200
Vor etwa 10-15 Jahren habe sie mal allgemein mitbekommen, dass das Thema „Scheinselbstständigkeit“ in der Kanzlei erörtert worden sei, sie könne sich aber nicht erinnern, dass dies personenbezogen gewesen sei.
1201
Einblick dahingehend, ob es Rechtsanwälte/innen gegeben habe, die Sozialabgaben bezahlt hätten, habe sie nicht gehabt.
1202
Schließlich gab die Zeugin an, dass sie derzeit in einer Rechtsanwaltskanzlei in M. als Rechtsanwaltsfachangestellte arbeite. Dort seien die tätigen Rechtsanwälte/innen angestellt. Diese unterlägen der Zeiterfassung, müssten Urlaubsanträge stellen und im Krankheitsfall eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung beibringen.
1203
Die beiden Zeuginnen R… und W… Sekretärinnen in der Kanzlei des Angeklagten, schilderten zum einen übereinstimmend, dass jeder der in der Kanzlei tätigen Anwälte ein eigenes, voll ausgestattetes Büro hatte und auch die kanzleiinterne Infrastruktur einschließlich des Personals in Form von Sekretärinnen/Rechtsanwaltsgehilfinnen für Arbeiten wie Aktenanlage und -verwaltung, Telefondienst, Kontakt-/Mandatszuteilung (nach Fachgebieten, ohne dass ihnen der Verteilungsschlüssel i. E. bekannt war), Vornahme von Terminsabsprachen und Führen des Terminkalenders etc. nutzte.
1204
Auch berichteten sie, dass die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen während der Kanzleiöffnungszeiten eigentlich immer vor Ort, im Büro waren.
1205
Die Zeugin R… schilderte zudem, dass sich der Angeklagte täglich ein tagesaktuelles Blatt des Terminkalenders, aus welchem die eingetragenen Abwesenheiten der Anwälte ersichtlich waren (Gerichts-/Besprechungstermine, Urlaubsabwesenheit) vorlegen ließ, was zumindest eine Überprüfung der An- und Abwesenheit durch den Angeklagten erlaubte. Auch äußerte sie, dass der Angeklagte für die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen der „Chef“ war.
1206
Soweit sie angab, dass Anwälte neben ihrer Tätigkeit in der Kanzlei andere Tätigkeiten ausgeübt hätten (sie nannte H… V… B…, H… und B…) ist die Kammer der Überzeugung, dass dies nicht auf eigener Wahrnehmung beruht: Denn zu Beginn ihrer Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten im September 2016 waren die Anwälte H… V…, B… H… und B… bereits (seit etlichen Monaten, teilweise bereits Jahren) nicht mehr in der Kanzlei des Angeklagten beschäftigt. Die Kammer geht daher davon aus, dass ihr die „Info“ über die angebliche Tätigkeit von Anwälten während/neben ihrer Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten bei anderen Auftraggebern zugetragen wurde.
1207
Die Zeugin W… bestätigte zudem die aus den Aussagen der einzelnen Anwälte bereits gewonnene Erkenntnis, dass es durch den Angeklagten eine „praktische Einarbeitung“ der „Neuen“ (Anwälte) gab. Außerdem bekam sie mit, dass „Scheinselbstständigkeit“ in der Kanzlei thematisiert wurde.
d) 5. Zeugin Di. W… geb. H…
1208
Die Zeugin Di. W… begann im September 1996 in der Kanzlei des Angeklagten in B. ihre Ausbildung, welche sie 1999 abschloss. Nach einer Unterbrechung aufgrund persönlicher Umstände arbeitete sie erneut von 2008 bis März 2015 in der Kanzlei des Angeklagten, schwerpunktmäßig in der Buchhaltung. Den entsprechenden Arbeitsvertrag habe sie mit dem Angeklagten geschlossen.
1209
Als Buchhalterin habe sie alle laufenden Geschäftsvorgänge gebucht, d.h. auch Umsätze der einzelnen, in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen (errechnet aus den jeweils bearbeiteten Mandaten), wie sich etwa aus den, die Rechtsanwältin D… (Bd. 10 „D…“ – Bl. 10159) oder B… (Bd. 4 „B…“ – Bl. 04015 und Bl. 04016) betreffenden Umsatzstatistiken ergibt, die mit der Zeugin und allen Verfahrensbeteiligten nochmals in Augenschein genommen und auszugsweise verlesen wurden.
1210
Sie habe die Gesamtaufwendungen der Kanzlei gebucht: Löhne/Gehälter – gesetzliche soziale Aufwendungen – freiwillige soziale Aufwendungen wie Kosten für Kaffee, Klopapier, Wasser etc. – sonstige Personalkosten – Miete – Heizung, Gas, Strom, Wasser – sonstige Raumkosten – Versicherungen/Beiträge – Werbe -/Reisekosten – Instandhaltung und Werkzeuge – verschiedene Kosten.
1211
Die Kostenaufstellung der Kanzlei und die Auswertung derselben sei in einer passwortgeschützten Datei in der EDV der Kanzlei abgelegt worden, zu der keiner der in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen Zugang gehabt habe, lediglich der Angeklagte.
1212
Sie habe schon mitbekommen, dass die Verteilung der Kontakte/potentiellen Mandanten an die Rechtsanwälte/innen über die Empfangsdamen und nach Fachgebieten erfolgt sei, zu 95 % habe das dann schon gepasst, nur gelegentlich sei eine interne Umverteilung erforderlich gewesen. Ebenso habe sie mitbekommen, dass der Terminkalender vom Empfang geführt worden sei. Sie habe nicht mitbekommen, dass die Rechtsanwälte/innen einen Urlaubsantrag hätten stellen müssen; dies sei nur bezüglich der Angestellten so gewesen, da habe sie die beantragten Urlaubstage in einen Ordner eingetragen; einen solchen Ordner habe sie bezüglich der Rechtsanwälte/innen nie gesehen.
1213
Zur Registrierung von Krankheiten bei Rechtsanwälten/innen können sie nur sagen, dass bei Erkrankung am Empfang angerufen und dies vermerkt worden sei. Eine Krankmeldung oder Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung von Rechtsanwälten/innen habe sie nie gesehen. Die Rechtsanwälte/innen seien allerdings auch nie länger krank gewesen (mal 1-2 Tage im Jahr), nur Rechtsanwalt H… habe einmal wegen Pfeifferschen Drüsenfiebers glaublich 3 Wochen gefehlt.
1214
Die Rechtsanwälte/innen hätten ein eigenes Büro, voll ausgestattet, gehabt; ihnen seien auch Sekretärinnen im Vorzimmer (zwei Sekretärinnen pro Vorzimmer für jeweils ein Fachgebiet) zur Verfügung gestellt worden; in der Kanzlei habe es einen Server, eine Buchhaltung, einen Besprechungsraum gegeben, dies sei für sie eine Kanzleieinheit gewesen.
1215
Für Miete und die gesamte kanzleiinterne Infrastruktur seien den Rechtsanwälten/innen keine Kosten in Rechnung gestellt worden, auch nicht, wenn etwas angeschafft worden sei (in ihrer Zeit etwa verschiedene Einrichtungsgegenstände oder eine neue Computeranlage einschließlich Server). In der Zeit, in der sie die Buchhaltung gemacht habe, habe sie dies so mitbekommen.
1216
Im Jahr 2013/2014 – glaublich im zeitlichen Zusammenhang zu einer Betriebsprüfung – sei „Scheinselbstständigkeit“ in Bezug auf die Rechtsanwälte/innen in der Kanzlei schon mal Thema gewesen. Frau F. vom Steuerbüro H… in W. habe sie darauf hingewiesen, dass dies problematisch sein könne; sie habe das an Dr. S… so weitergegeben.
1217
Den Prüfungsumfang im Einzelnen könne sie nicht angeben, könne sich aber noch erinnern, dass es bei dieser Betriebsprüfung nicht um die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen gegangen sei.
1218
Sie wisse nicht, dass es für Rechnungen der Rechtsanwälte/innen an die Kanzlei Muster gegeben habe, könne sich auch nicht erinnern, dass von Rechtsanwälten/innen außergewöhnliche Kosten in Rechnung gestellt worden seien. Wenn ein Mandat ausgefallen sei, ein Mandant nicht gezahlt habe, habe der das Mandat bearbeitende Rechtsanwalt betreffend seine an die Kanzlei gestellte Honorarrechnung keinen Abzug erhalten. Auch bei Verlusten der Kanzlei habe es keinen Abzug betreffend die Honorarrechnungen der Anwälte an die Kanzlei gegeben. Die Rechnungen der Rechtsanwälte/innen an die Kanzlei seien eigentlich immer gleich aufgebaut gewesen. Sie hätten einen monatlichen Fixbetrag, daneben Abwesenheitsgelder etc. nach RVG und Umsatzsteuerbeträge enthalten. Mit der Zeugin und allen Verfahrensbeteiligten wird exemplarisch aus der Akte „B…“ (Bd. 14 „B…“ – Bl. 14057) und aus der Akte „B…“ (Bd. 5 „B…“ – Bl. 05073) eine solche Monatsrechnung an die Kanzlei in Augenschein genommen und von der Zeugin nochmals erläutert: Die Rechnungen hätten aus 2 Blättern bestanden. Auf Blatt 1 habe sich der Posten „Vergütung“ (die bei den einzelnen Anwälten unterschiedlich hoch gewesen sei, auch abhängig davon, ob sie Teilzeit oder Vollzeit gearbeitet hätten) einschließlich Fahrtkosten etc. (in einem Betrag ausgewiesen) und „MWSt/USt“ befunden, auf Blatt 2 seien die Fahrt- und Abwesenheitsgelder nach RVG im Einzelnen aufgeschlüsselt gewesen.
1219
Die Rechnungen an die Mandanten seien mit Kanzleibriefkopf rausgegangen, jeweils von dem, das jeweilige Mandat bearbeitenden Rechtsanwalt, unterschrieben. Jede/r Rechtsanwalt/in habe eine eigene Buchungsnummer gehabt. Sie habe nie eine Rechnung an einen Mandanten im Namen nur eines einzelnen, in der Kanzlei tätigen Rechtsanwaltes gesehen. Wenn ein Mandant nicht vollständig oder gar nicht gezahlt habe, sei das Geld im Namen der Kanzlei über die Vorzimmer eingetrieben worden.
1220
Sie habe natürlich in der Buchhaltung auch Umsatzlisten, aufgeschlüsselt nach jedem/r einzelnen Rechtsanwalt/in, gefertigt, monatlich. Diese seien monatlich auch dem Angeklagten ausgedruckt und vorgelegt worden, nicht aber den einzelnen Rechtsanwälten/innen. Es habe auch Jahreslisten gegeben, in denen den Umsätzen die Ausgaben gegenüber gestellt worden seien; es seien sozusagen betriebswirtschaftliche Listen gewesen.
1221
Für die Büronutzung jedes einzelnen als Rechtsanwalt in der Kanzlei Tätigen, habe es in den betriebswirtschaftlichen Gesamtlisten keine Berechnungsgrundlage aufgeschlüsselt nach einzelnen Rechtsanwälten gegeben.
1222
Im Hinblick auf die Aussage der Zeugin W. - im Jahr 2013/2014 glaublich im zeitlichen Zusammenhang zu einer Betriebsprüfung sei „Schemselbstständigkeit“ in Bezug auf die Rechtsanwälte/innen in der Kanzlei schon mal Thema gewesen.
1223
Frau F. von der Steuerkanzlei H… in W. habe sie darauf hingewiesen, dass dies problematisch sein könne; sie habe das an Dr. S… so weitergegeben – und die bezüglich dieser Thematik danach gewonnenen Erkenntnisse durch Aussagen der Zeugin F. (und H…) wurde Di. W… am 11.01.2022 durch die Kammer nochmals als Zeugin einvernommen. Insoweit sagte sie zu dieser Thematik, wie wörtlich protokolliert wurde, folgendes:
Frage: war Thema Scheinselbständigkeit durch Hinweise von Frau F.?
Ich denke, dass es im Rahmen dieser Betriebsprüfung war. Ich vermute, es war noch vor der Betriebsprüfung.
Frage: Was war der genaue Inhalt der Aussage von Frau F.?
Dass es möglicherweise Probleme mit den Verträgen oder Rechnungen der freien Mitarbeiter geben könnte.
Frage: War es ein persönliches Gespräch?
Ich kann es ausschließen, es war meines Erachtens telefonisch.
Frage: Was war ihre Reaktion?
Ich bin zu Dr. S… und habe ihm das gesagt.
Dr. Sta. hat mir gegenüber ein Statement abgegeben, warum dies nicht problematisch sei. Ich habe dieses Statement erhalten.
Frage: Können sie sich an den Inhalt des Statements erinnern?
Nein, nachdem ich rechtlich nicht bewandert bin, ich dachte, es sollen doch die beiden telefonieren und ich habe sie zusammengeführt.
Ich weiß nicht mehr, ob das ein Telefongespräch war oder sonstiges, aber sie haben miteinander gesprochen.
Frage: Sind Verträge bei ihnen angefordert worden. Antwort:
Wenn bei mir Verträge angefordert worden wären, hätte ich sie geschickt. Es kann aber auch sein, dass sie bei Dr. S… angefordert worden sind, dann hätte sein Vorzimmer die geschickt.
Ich hätte die Verträge aber auch nur dann geschickt, wenn mich Dr. S… angewiesen hätte, diese zu schicken.
Frage: Sind Verträge mit oder ohne Zusatzvereinbarung geschickt worden?
1224
Ergänzend wurde die Zeugin W… unter Vorlage einer Beispielsrechnung aus dem Bd. 04 „Bö.“ – Bl. 04113 – zum einen befragt, wie die Honorarleistungen an die Anwälte gebucht wurden: Die Zeugin gab an, dass diese Honorare auf dem Ausgabenkonto „Freie Mitarbeiter“ gebucht worden seien.
1225
Ihr sei keine Weisung des Angeklagten an die Buchhaltung bekannt, dass die beiden Rechnungsblätter der jeweiligen Anwälte nicht „getackert“ werden durften. Es sei vielmehr sogar so, dass diese meist nicht „getackert“ worden seien, ihr als Buchhalterin vielmehr mit einer Büroklammer oder in einer Folie vorgelegt worden seien, was sie gestört habe, da dann eine Zettelwirtschaft entstanden sei. Deshalb habe sie ihrerseits die beiden Rechnungsblätter der einzelnen Anwälte im Rahmen des Überweisungsvorganges „getackert“. Ob der Angeklagte oder jemand anders später die Klammern wieder entfernt habe, wisse sie nicht.
1226
Sie habe auch nie etwas davon mitbekommen, dass eine Anweisung zum „Nicht-tackern“ durch den Angeklagten gegenüber den Anwälten erteilt worden sei.
1227
Die von den in der Kanzlei tätigen Anwälten an die Kanzlei gestellten Honorarrechnungen seien nie außer Haus (aus der Kanzlei heraus) gegeben worden.
1228
Auf Nachfrage der Staatsanwaltschaft erläuterte die Zeugin, dass sie den Inhalt des im Rahmen der wörtlichen Protokollierung benannten Gespräches zwischen Dr. S… und F. nicht wiedergeben könne.
1229
Die Verträge der freien Mitarbeiter seien (ebenso wie die der Angestellten) in einem Schrank hinter dem Schreibtisch im Büro des Angeklagten abgelegt gewesen; ohne ausdrückliche Zustimmung und Anweisung des Angeklagten hätte sie die Verträge nicht (nirgendwohin) übersandt (auch keine andere Sekretärin).
1230
Die Zeugin Di. W… bestätigte durch ihre Aussage die von allen im noch verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte bereits dargelegten, tatsächlich gelebten Verhältnisse, insbesondere betreffend deren Eingliederung in Organisationen und Rahmenbedingungen des Kanzleibetriebes: Alle Anwälte hatten ein voll ausgestattetes eigenes Büro einschließlich Kanzleiinfrastruktur und Personal, welches sie ohne Kostenbeitrag nutzten. Die Anwälte erhielten zudem ein festes Pauschalhonorar, ohne jeglichen Abzug etwa auch bei Ausfallen eines Mandates oder Verlusten der Kanzlei. Die Mandate wurden mit Kanzleibriefkopf bearbeitet, die Rechnungen auf den Namen der Kanzlei gestellt und auch – sofern sie nicht vollständig oder gar nicht bezahlt wurden – im Namen der Kanzlei eingetrieben.
1231
Darüber hinaus bestätigte die Zeugin – dies ist für die Frage vorsätzlichen Handelns des Angeklagten von Relevanz –, dass im Rahmen der Betriebsprüfung 2013 der Hinweis „Scheinselbstständigkeit“ von Frau F. ihr gegenüber erfolgte, eine Information, die sie an den Angeklagten Dr. S… weitergab. Der Zeugin gegenüber „bügelte“ der Angeklagte diese Thematik ab, nahm aber diesbzgl. Kontakt zu Frau F. auf.
1232
Des Weiteren schilderte die Zeugin, dass die Verträge der in der Kanzlei tätigen Anwälte in einem Schrank im Büro des Angeklagten aufbewahrt wurden. Sie konnte sich nicht erinnern, dass Verträge angefordert wurden im Zusammenhang mit der Betriebsprüfung, war sich aber sicher, dass sie dann, wenn eine Anforderung erfolgt wäre, Verträge nur auf Weisung des Angeklagten geschickt worden wären.
1233
Sofern also Mantelverträge (ohne Zusatzvereinbarung) der Anwälte „H…“ und „D…“ tatsächlich ans Steuerbüro H… (im Zuge der Betriebsprüfung 2013 oder wann auch immer) übersandt wurden, wäre dies nur auf Weisung des Angeklagten (ausgeführt durch sie oder eine andere Sekretärin) oder durch diesen selber geschehen, der somit bewusst die den Mantelvertrag konterkarierende Zusatzvereinbarung nicht mitübersandt hätte bzw. die Mit-Übersendung der Zusatzvereinbarung bewusst nicht mitveranlasst hätte.
1234
Betreffend die Zeuginnen W… W…, S… und Dr. M… haben sich für die Kammer keinerlei Umstände ergeben, die geeignet wären, Zweifel an der Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit der jeweiligen Aussage zu begründen.
1235
Betr. der Zeugin R… hat sich dies für die Kammer zumindest bzgl. des Aspektes, ob die in der Kanzlei tätigen Anwälte daneben/gleichzeitig auch andere Tätigkeiten verrichteten – sie nannte H…, V… B…, H… und B… –, deshalb anders dargestellt, da diese Anwälte zum Zeitpunkt ihres Tätigwerdens in der Kanzlei bereits alle ausgeschieden waren, sie also eine angebliche „Nebentätigkeit“ dieser Anwälte nicht aufgrund eigener Wahrnehmung schildern konnte. Sofern sie dies von dritter Seite (Hören-Sagen) mitbekommen hätte, hätte sie dies im Rahmen der Zeugenaussage darlegen müssen, was sie allerdings nicht tat.
e) 1. Verlesene Schreiben und E-Mails:
e) 1.1. Schreiben Dr. S… an Dr. M… vom 07.02.2013 (Bd. 2 „Dr. M…“ – Bl. 02122)
Sehr geehrte Frau Dr. M… in der Anlage übersende ich ihnen zweifach den freien Mitarbeitervertrag sowie eine kurze Zusatzvereinbarung mit der Bitte um Gegenzeichnung und Rückleitung eines Vertragsexemplars an mich….. Wie besprochen, beginnt Ihre freie Mitarbeitertätigkeit am 01.03.2013. Wir sind so verblieben, dass zunächst 3 Halbtage wie folgt geleistet werden: Montag, Mittwoch, Freitag, wobei die Montagstätigkeit erst ab 01.04.2013 möglich ist. Ich schlage vor, dass wir die Montage zunächst im März 2013 offen lassen und in späteren Monaten fortschreiben, sodass im März 2013 lediglich je 1/2 Tag Mittwochs und Freitags geleistet werden.
1236
In diesem Schreiben macht der Angeklagte gegenüber Rechtsanwältin Dr. M… in zeitlicher Hinsicht Vorgaben.
e) 1.2. Schreiben Dr. S… an N. L… vom 24.03.2016 (Bd. 7 „L…“ – Bl. 07008)
Sehr geehrter Herr L…, in der Anlage übersende ich Ihnen den Entwurf des freien Mitarbeitervertrages zwischen der Kanzlei Dr. S… & Kollegen und Ihnen ab 18.04.2016. Ich habe den Vertrag bereits unterzeichnet. Ich bitte Sie, ein Exemplar gegengezeichnet zurückzuleiten.
Arbeitsbeginn wäre dann der 02.05.2016, ca. 08:00 Uhr. ….
Sie können dem Vertrag entnehmen, dass ich eine Probezeit eingebaut habe.
1237
In diesem Schreiben macht der Angeklagte gegenüber Rechtsanwalt L… in zeitlicher Hinsicht Vorgaben betr. den Arbeitsbeginn. Auch ergibt sich daraus, dass der Vertrag vom Angeklagten vorgefertigt und Rechtsanwalt L… nur noch zu Unterschrift zugesendet wurde, sowie dass etwa auch er/Dr. S… eine Probezeit einbaut.
e) 1.3. Schreiben Dr. S… an St.F. vom 21.05.2015 (Bd. 21 „F.“ – Bl. 21012)
Sehr geehrte Frau F. In der Anlage übersende ich Ihnen zweifach den freien Mitarbeitervertrag sowie eine Zusatzvereinbarung. Wir haben den Arbeitsbeginn mit 2 halben Tagen/Woche ab 01.08.2015 bzw. 03.08.2015 ins Auge gefasst. Ich würde mich freuen, wenn Sie bereits in der nächsten Kanzleibesprechung teilnehmen könnten. Diese findet am Donnerstag, 18.06.2015 ab 18:00 Uhr in der Kanzlei statt.
1238
In diesem Schreiben an Rechtsanwältin F. spricht der Angeklagte ebenfalls vom Arbeitsbeginn (nicht etwa vom Beschäftigungsbeginn oder Beginn der Mitarbeit).
e) 1.4. Schreiben und E-Mails des Angeklagten an Anwälte:
1239
Dass der Angeklagte nach den tatsächlich gelebten Verhältnissen Arbeitgeber der in seiner Kanzlei tätigen Anwälte war – und dies auch wusste (vgl. auch nachfolgende Ausführungen zum Vorsatz – E. III.) –, folgt indiziell auch aus seinen eigenen Formulierungen in verschiedenen Schreiben und E-Mails. Insoweit wird exemplarisch nochmals (wurden bereits z.T. im Rahmen der jeweiligen Zeugeneinvernahme verlesen und vorgehalten, s.o.) auf Folgendes Bezug genommen:
* Anweisung von Dr. S… an Rechtsanwalt M. H… als Folge der fristlosen Kündigung vom 17.07.2013 (vgl. D. II. 2.) a) 3.1.) wo es heißt: Herrn H… ist es untersagt, Akten oder sonstige Unterlagen der Kanzlei mitzunehmen, Kanzleidateien mitzunehmen oder auszudrucken. Die Mitnahme beschränkt sich auf seine persönlichen Sachen.
1240
Hierzu äußerte der Zeuge H… dass der Angeklagte dies tatsächlich so praktizierte * Wh.A. Nachricht vom 11.06.2015 an H. (vgl. D. II. 2.) a) 3.3.):
Du hattest mir Deine Arbeitsleistungen mehr oder weniger bis Ende Juni 2015 zugesagt.
Dein derzeitiger Urlaub passt nicht in die Abläufe, zumal Du im 1. Halbjahr 2015 bereits 32 Urlaubstage gebucht hast, abgesehen von den Abwesenheiten für die Schule und von Krankheitstagen.
Ich bitte um Bearbeitung der laufenden Verfahren bis zu Deinem Ausscheiden. Ich bitte dringend um weitere Veranlassung insbesondere auch im Mandat Dr. L…
1241
Es findet sich der handschriftliche Vermerk: per Wh.A.an An. geschickt am 11.06.2015
1242
Zwischenzeugnis vom 27.05.2015 für Ha. und Zeugnis vom 15.04.2016 für W… beide jeweils vom Angeklagten unterschrieben, wo es u.a. jeweils heißt …. sein Verhalten gegenüber Vorgesetzten und Kollegen ist immer vorbildlich … (vgl. D. II. 2.) a) 3.3. und 3.8.)
1243
Selbst von der Verteidigung des Angeklagten wurde vorgebracht, dass diese Zeugnisse typische Arbeitszeugnisse, Standardzeugnisse seien, die natürlich arbeitnehmerfreundlich formuliert sein müssten. Bei Ausscheiden eines freien Mitarbeiters schreibe man eher Referenzen, eine Einschätzung, die von der Kammer geteilt wird. Dass der Begriff „Vorgesetzter“ in beiden Zeugnissen verwendet wird, mag ein „doppeltes“ Versehen sein, ist allerdings – insbesondere unter Berücksichtigung der juristischen Qualifikation des Angeklagten – durchaus auch ein Indiz für das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses und das entsprechende Wissen und Wollen des Angeklagten (vgl. auch E. III.).
1244
Kündigungsschreiben des Angeklagten, datierend vom 13.03.2015 vor, an Rechtsanwalt R. B…
Sehr geehrter Herr Kollege B…, lieber R., hiermit kündige ich den freien Mitarbeitervertrag ordentlich zum 30.06.2015. Eine eventuelle Fortsetzung des Vertragsverhältnisses über den 01.07.2015 hinaus würde Verhandlungen und eine Einigung bis 20.05.2015 über modifizierte Vertragsbedingungen etwa auf der Grundlage einer umsatzbezogenen Entgeltregelung voraussetzen. (vgl. D. II. 2.) a) 3.4.) Umsatzbezogene Entgeltregelungen waren bis dahin also kein Thema, wären Gegenstand eines modifizierten Vertrages gewesen.
1245
Schreiben des Angeklagten, datierend vom 13.12.2016 an Rechtsanwältin B…
… Dein Arbeitszimmer wird dir ab der letzten Januarwoche 2017 nicht mehr zur Verfügung stehen … über die Mitnahme und Bewertung der Akten kann vorbehaltlos verhandelt werden ….
1246
Ebenso ist auf ein Schreiben des Angeklagten an den Zeugen B… datierend vom 13.04.2015 (vgl. D. II. 2.) a) 3.5.) hinzuweisen:
1247
Offenbar, hast du eine Reihe von Schritten hinter meinem Rücken (Fettdruck wurde aus Originalschreiben übernommen) und ohne Absprache – gegenüber Dritten hast du das anders behauptet – eingeleitet, wie Kündigungen von Mandanten, Kanzleiadresse M… straße 15 b in B., Werbemaßnahmen für deine Kanzlei in B. etc.. Ich halte dein Vorgehen für extrem illoyal und unseriös.
1248
Dass sich der Angeklagte durch das Handeln von B… „hintergangen fühlte“, ist mit der Annahme freier Mitarbeiterschaft nicht vereinbar, es gibt keinen Grund, warum B… mit dem Angeklagten seinen weiteren Berufsweg hätte absprechen sollen oder gar müssen.
1249
Dass der Angeklagte nach den tatsächlich gelebten Verhältnissen Arbeitgeber der in seiner Kanzlei tätigen Anwälte war, diese mithin abhängig Beschäftigte (und er das auch wollte und wusste; vgl. ebenso E. III.), ergibt sich auch aus einigen Schreiben der Anwälte an Dr. S… und dem jeweiligen Kontext. Auch insoweit sei beispielhaft noch mal auf folgende Schreiben verwiesen:
* Schreiben von Rechtsanwalt H… Dr. S… vom 17.07.2013 (vgl. D. II, 2.) a) 3.1.):
1250
Hilfsweise erkläre ich die Aufrechnung mit den von mir verauslagten Kosten der letzten 4 Jahre für Sozialversicherungsträger. Ich habe meinen Beschäftigungsstatus bei Dir zwischenzeitlich von den Kollegen G… und W… – Fachanwälte für Arbeitsrecht – prüfen lassen. Diese sind sicher, dass bei meinem Beschäftigungsverhältnis die Voraussetzungen der Scheinselbstständigkeit erfüllt sind. Diese Auffassung wird auch von der Kollegin L… geteilt. Sie hat den Kollegen H… angestellt. Solltest Du es dennoch auf einen Rechtsstreit ankommen lassen, können die Grundsätze der Scheinselbstständigkeit gerne vor dem Arbeitsgericht erörtert werden. Hilfsweise berufe ich mich auf Verjährung. Du hast meine Abrechnung monatlich überprüft und abgezeichnet.
* E-Mail von Rechtsanwalt H… an Dr. S… vom 14.06.2015 (vgl. D. II. 2.) a) 3.4.):
1251
Besonders entsetzt mich, dass du angebliche „Urlaubstage“ von mir im Kalender versucht hast zu „zählen“. …. Mit Verwunderung nehme ich als Fachanwalt für Arbeitsrecht zur Kenntnis, dass du in deinem Schreiben sehr deutlich von einem arbeitgeberseitigen Direktionsrecht Gebrauch machst. Ich bin bislang davon ausgegangen, dass unser Vertragsverhältnis eine freie Mitarbeiterschaft (auch wenn es bei meinen Kollegen möglicherweise faktisch anders sein mag) darstellt. …. Falls du von deinem arbeitgeberseitigen Direktionsrecht bezüglich des Arbeitsortes Gebrauch machen willst, ersuche ich dich um Mitteilung ….“
* Brief von Rechtsanwalt B… an Dr. S… vom 15.04.2015 (vgl. D. II. 2.) a) 3.6.):
1252
Alleine im März sind drei langjährige Mitarbeiter gegangen. Ich bin mir sicher, dass noch viele folgen werden, sobald sie eine andere Arbeitsstelle gefunden haben. Es sind ja nahezu alle auf der Suche, weil keiner mehr daran glaubt, dass es die Kanzlei noch lange gibt. Dies war auch der Grund, da ich mit dem geringen Gehalt von nur 3000 € als Scheinselbstständiger (= 2500 € als Angestellter), dass du mir seit 5 Jahren gezahlt hast, keine Rücklagen bilden, geschweige denn eine Familie gründen konnte. ….. Das offene Gehalt fordere ich mit separatem Schreiben an.
1253
B… erklärte hierzu, dass er zu diesem Zeitpunkt auch davon ausgegangen sei, dass er ein Scheinselbstständiger in der Zeit der Kanzleizugehörigkeit war, wenn er das auch nicht vollständig rechtlich durchprüfte.
1254
Im Schreiben vom 15.04.2015 heißt es weiter: Die von dir gemachte Aufrechnung weise ich zurück. Es gibt nichts aufzurechnen. Es bringt auch nichts, ins Blaue hinein ohne jegliche Bezifferung dubiose Schadensersatzforderungen anzukündigen. Soweit du die Akte „S…“ genannt hast, möchte ich darauf hinweisen, dass ich dich in dieser Akte (ebenso wie in vielen anderen Akten zahlungsschwacher Mandanten) mehrfach darauf hingewiesen hatte, dass wir bei der Firma S… wohl auf unserem Honorar sitzen bleiben werden, da ich sehr schnell bemerkt hatte, dass Frau L… nicht zahlungsfähige ist. Trotzdem wolltest du die Akte bearbeitet haben.
1255
Dazu legte der Zeuge dar, dass es bei mehreren Mandaten während seiner Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten so war, dass er vom Angeklagten angewiesen wurde, etwas zu tun, was ihm nicht sinnvoll erschien.
1256
Dass der Angeklagte nach den tatsächlich gelebten Verhältnissen Arbeitgeber der in seiner Kanzlei tätigen Anwälte war, diese mithin abhängig Beschäftigte, ergibt sich daneben indiziell auch aus den von ihnen selbst bereits im Ermittlungsverfahren anlässlich ihrer Vernehmungen bzw. in den ausgefüllten Fragebögen verwandten Begrifflichkeiten (man bedenke, es handelt sich um Volljuristen), wie sie über die vom Zeugen Z. M. G… erstellte Liste auch nochmals in die Hauptverhandlung eingeführt wurden (vgl. D. II. 2.) f) 1.) und auch aus im Rahmen der Hauptverhandlung verwandten Begrifflichkeiten (s.o.).
1257
e) 2. Vergleich der tatsächlich gelebten Bedingungen in Beschäftigungsverhältnissen der Anwälte außerhalb der Kanzlei des Angeklagten und in der Kanzlei Dr. S….
1258
Der Vergleich der tatsächlich gelebten Beschäftigungsverhältnisse der Anwälte in der Kanzlei des Angeklagten mit Beschäftigungen vor bzw. nach der Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten in angestellten bzw. selbstständigen Verhältnissen ergab im Kern, dass es bezüglich der inhaltlich juristischen Arbeit unabhängig von der Beschäftigungsform keine wesentlichen Unterschiede gab – was dem im Rahmen der rechtlichen Bewertung und der Frage der Weisungsgebundenheit noch anzusprechenden Aspekt, dass inhaltliche Weisungen bei Diensten höherer Art ein nicht so gravierendes Indiz sind, Rechnung trägt (Stichwort: „Verfeinerung der Weisungsgebundenheit zur funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“) -.
1259
Betreffend die zeitliche Komponente war festzustellen, dass auch nicht alle angestellten Anwälte einer Zeiterfassung/Stechuhr unterlagen (s.o.).
1260
Allerdings waren alle Anwälte, die außerhalb der Kanzlei des Angeklagten als freie Mitarbeiter oder Selbstständige tätig waren, einem unternehmerischen Risiko ausgesetzt, mussten Kalkulieren, Einnahme- und Ausgabelisten führen, sich um die Beschaffung von Betriebsmitteln, Kanzleiinfrastruktur und Personal kümmern, waren an Kosten der Kanzlei (prozentual) beteiligt, wurden auf dem Briefkopf als Partner geführt und rechneten ihre Mandate auf eigenen Namen ab.
1261
Zusammengefasst ergab sich Folgendes:
* Zeuge H… -> nach Ausscheiden „Teilzeit“ Syndikusanwalt; auch dort keine Zeiterfassung; inhaltlich aber nicht mit der Tätigkeit bei Dr. S… vergleichbar, Arbeit in Personalabteilung (vgl. D. II. 2.) a) 3.3.);
* Zeuge B… -> vor Tätigkeit in der Kanzlei Dr. S… selbstständig: dort Mandate selbstständig abgerechnet, an Unkosten der Kanzlei prozentual beteiligt; als Partner auf dem Briefkopf geführt (vgl. D. II. 2.) a) 3.4.);
* W… -> nach Ausscheiden aus der Kanzlei des Angeklagten tätigt in einer Bürogemeinschaft; anwaltschaftliche Tätigkeit nahezu unverändert im Vergleich zu derjenigen bei Dr. S… allerdings muss er sich jetzt in Absprache mit dem Kollegen um Kalkulation, Erstellung von Einnahme- und Ausgabelisten, aber auch um die Kanzleiinfrastruktur kümmern; bei Aufbau der Bürogemeinschaft hat er einiges an Investitionen getätigt, auch hat er jetzt das eigene Risiko, wie es läuft (vgl. D. II. 2.) a) 3.8.);
* Zeugin Dr. St. M… -> vor Eintritt in die Kanzlei des Angeklagten Arbeitnehmerin in einer Anwaltskanzlei: gewünschter Urlaub auf Antrag und Zeiterfassung am PC auf Vertrauensbasis, im Übrigen wies Tätigkeit, v.a. den Inhalt der anwaltschaftlichen Tätigkeit betreffend, kein Unterschied zu Dr. S… auf; jetzt Syndikusanwältin, Unterschied zur Tätigkeit bei Dr. S… liegt darin, dass jetzt Minuten genaue Zeiterfassung (vgl. D. II. 2.) a) 3.9.).
* Zeugin D… -> nach Ausscheiden beim Angeklagten angestellte Anwältin in Münchner Kanzlei; dort keine Arbeitszeiterfassung, Chef schaute nur, dass man nicht zu früh geht; inhaltlich war es, dass der Chef sie mal zu Gerichtsterminen von Kollegen geschickt hat (nach Aussage der Zeugin A… aber auch beim Angeklagten so), sonst kein Unterschied zum Arbeiten bei Dr. S…
* Zeugin St.F. -> war vor der Tätigkeit in der Kanzlei des Angestellten in einer Nürnberger Großkanzlei festangestellte Anwältin; inhaltlich war ihre Tätigkeit in dieser Kanzlei auch frei (vgl. D. II. 2.) a) 3.11.);
* Zeuge L… -> später, nach Ausscheiden aus der Kanzlei des Angeklagten, auch angestellter Rechtsanwalt; aus seiner Sicht eigentlich zur Tätigkeit und den Abläufen in der Kanzlei des Angeklagten kein Unterschied, weder betreffend Inhalt noch zeitliche und räumliche Ausgestaltung, keine Zeiterfassung, auch betreffend Urlaub und Krankheit sowie beim Angeklagten; betr. die „2. Episode“ seiner Tätigkeit bei Dr. S… eigener Briefkopf, das war mit Dr. S… abgesprochen; tageweise Abrechnung, wobei er das Geld nur bekam, wenn er auch da war, nicht bei Urlaubsabwesenheit; inhaltlich war es aber nichts anders (vgl. D. II. 2.) a) 3.13.);
* Zeugin K… -> nach Ausscheiden angestellte Rechtsanwältin; Tätigkeit im Vergleich zur Zeit in der Kanzlei Dr. S… eigentlich nicht anders; vertraglich zwar Arbeitszeit von 40 Stunden pro Woche festgeschrieben, wenn mit Arbeit fertig, kann sie aber gehen (vgl. D. II 2.) a) 3.14.).
e) 3. Im Selbsteseverfahren eingeführt:
1262
e) 3.1. Erklärung des Angeklagten vom 22.08.2019 (eingeführt im Selbstleseverfahren „1“ VII.):
1263
Mit Schreiben vom 22.08.2019 hatte der Angeklagte eine Erklärung gemäß § 163 a StPO abgegeben, welche im Selbstleseverfahren „1“ VII. in die Hauptverhandlung eingeführt wurde und in welcher er im Kern ausführt, dass ihn der Vorwurf strafbaren Verhaltens gemäß § 266 a StGB schwer trifft. „Ich halte die Umstände der Einleitung des Ermittlungsverfahrens als Folge einer inhaltlich falschen anonymen Anzeige und nach verdeckten, aus meiner Sicht einseitigen Ermittlungen gegen mich mit ausschließlich belastenden Umständen nicht für geeignet, die sachlich und rechtlich stark verkürzt und auf unzutreffenden Annahmen beruhende Anklage zuzulassen.“
1264
Der Angeklagte erklärte am 30.12.2021, dass er hinsichtlich der Frage, ob seine Stellungnahme vom 22.08.2019 Gegenstand seiner Einlassung im Rahmen der Hauptverhandlung sein solle, keine Angaben machen zu wollen.
1265
Daher hat die Kammer diese Erklärung nicht als Einlassung des Angeklagten im Rahmen der Hauptverhandlung gewertet, sie aber ihm Wege des Urkundsbeweises im Selbstleseverfahren „1“ VII. eingeführt – im Übrigen (wie im Rahmen der jeweiligen Zeugenaussage angeführt) auch verschiedenen Rechtsanwälten/innen auszugsweise vorgehalten und sie insoweit auch nochmals verlesen.
1266
In inhaltlicher Sicht hat der Angeklagte zusammenfassend in der Erklärung vom 22.08.2019 im Kern Folgendes dargelegt, wobei seinen angeführten Aspekten jeweils nochmals kurz zusammengefasst die Erkenntnisse aus der Beweisaufnahme betr. den jeweiligen Punkt gegenübergestellt werden:
- …. ich möchte vorab darauf hinweisen, dass bei übergeordneter Betrachtung zu würdigen ist, dass Rechtsanwälte als Organe der Rechtspflege und als Angehöriger eines freien Berufes gemäß ihrer Zulassung und Vereidigung mit Blick auf die Beachtung der berufsrechtlichen Gesetzesgrundlagen nicht einer beschränkbaren Statusfeststellung des Sozialversicherungsträgers unterliegen … -> Dies ist sachlich und rechtlich unzutreffend, auch betreffend Rechtsanwälte ist die Statusprüfung durch Sozialversicherungsträger möglich und zulässig.
- Alle freien Mitarbeiter hatten ihr eigenes Haftungsrisiko mit eigener Haftpflichtversicherung abgesichert. Die Einzelversicherungen waren lediglich gebündelt in einer Gruppenversicherung bei der Allianz. -> Insoweit ergab die Beweisaufnahme – wie dargelegt –, dass ein eigenes Haftungsrisiko der in der Kanzlei tätigen Anwälte nicht bestand; die Mandatsverhältnisse kamen mit der Kanzlei zustande, die bei Haftungsfragen auch „geradestehen“ musste (vgl. auch „Haftungsfall M…“ nach dessen Ausscheiden aus der Kanzlei – Äußerung des Richters am Oberlandesgericht München zu Dr. S… „Sie haben sich ja selbst verklagt!“ oder „Haftungsfall Dr. St. M….“
- Der durchschnittliche Jahresumsatz führte zu Kürzungen des Entgeltes -> hat keiner der Zeugen bestätigt, im Gegenteil, vgl. Aussage … – oder auch Erhöhungen -> eine direkte Umsatzbeteiligung, Beteiligung an Gewinn und Verlust, bestätigte keiner der Anwälte.
- Die Zahlung von Pauschalentgelten für freie Mitarbeiter ist in Rechtsprechung und Literatur anerkannt. Pauschalen stellen als Abrechnungssaldo in einem Leistungsaustausch eine Vereinfachung der Abrechnung dar -> JA, wenn sie projektbezogen geleistet werden und wenn die tatsächlich gelebten Verhältnisse im Übrigen freier Mitarbeiterschaft entsprechend, was vorliegend gerade nicht der Fall war, insbesondere im Hinblick auf die Eingliederung der Anwälte in die Rahmenbedingungen und automatisierten Organisationsabläufe des Kanzleibetriebs und die Gebundenheit durch Weisungen des Angeklagten bezüglich v.a. Zeit und Ort, aber auch Inhalt, sowie das Fehlen unternehmerischen Risikos bzw. eigenständigen Auftretens am Markt.
- Die freien Mitarbeiter teilten sich ihren Tagesablauf selbstständig ein. Die Notwendigkeit einer zeitlichen Einteilung mit Anwesenheit in der Kanzlei und für die Wahrnehmung von Terminen ergab sich aus der Sache. – NEIN, bereits vertraglich geregelten Pflicht zum Koordinieren der An- und Abwesenheiten einschließlich festgesetzter „Obergrenze“ von Abwesenheitstagen, bis zu der unverändert die Honorarvergütung fortgezahlt wurde; Zeugen schilderten daneben „Wunsch“ des Angeklagten nach Anwesenheit bzw. die vom Angeklagten vorgebrachte Kritik, sofern sie nach Ansicht des Angeklagten zu wenig in der Kanzlei anwesend waren (… „Das geht nicht, dass Sie da nicht da sind!“, „Ihr müsst von da bis da anwesend sein!“, „Ihr könnt nicht so lange Mittag machen!“, „Ihr könnt nicht erst mal in der Kanzlei frühstücken!“, „Sie können nicht irgendwann kommen!“ …); zudem ergab sich aus dem in die Hauptverhandlung eingeführten Schriftverkehr zwischen dem Angeklagten und einzelnen Anwälten durchaus eine Einflussnahme des Angeklagten auf die Tätigkeit der Anwälte auch in zeitlicher Hinsicht, vgl. etwa Korrespondenz Dr. S… – H…, ebenso wünschte es der Angeklagte nicht, dass die Anwälte alle gleichzeitig in den Sommerferien Urlaub nahmen oder während der Brückentage die Kanzlei nicht besetzt war.
- Die Mandanten wurden von dem jeweiligen freien Mitarbeiter gemäß ihrem Fachgebiet beraten und von der Vollmachtserteilung bis zum Abschluss des Verfahrens begleitet -> Zeugen schilderten übereinstimmend, dass die Vollmacht zwar auch von dem einzelnen Anwalt unterschrieben wurde, aber auf der Vollmacht der Kanzleibriefkopf war und das Mandatsverhältnis ausschließlich mit der Kanzlei zustande kam, auch die Rechnungsstellung gegenüber den Mandanten durch die Kanzlei erfolgte, was sich zum Teil auch aus den bereits angeführten Schreiben und E-Mails zwischen Angeklagtem und verschiedenen Anwälten ergab, jedenfalls erfolgte die Mandatsbearbeitung aber nicht im Wege eines eigenständigen Außenauftritts der in der Kanzlei tätigen Anwälte (vielmehr erbrachten diese ihre Arbeit als Teil der Kanzlei für die Kanzlei),
- Rechnungsstellung erfolgt mit den Unterschriften der freien Mitarbeiter (ohne Rücksprache mit der (muss wohl heißen: dem oder den Kanzleipartnern) Kanzleipartner) -> Zeugen legten übereinstimmend dar, dass auch die Rechnung an die Mandanten mit Kanzleibriefkopf gestellt wurde, die Kanzlei-Steuernummer angegeben war, die Zahlungen auf Kanzleikonten, zu denen sie keinen Zugriff hatten, erfolgten und ggf. notwendige Forderungseintreibungen durch die Kanzlei vorgenommen wurden.
- Es gab keine Urlaubseinteilung oder – Kontrolle. Die Anwältinnen und Anwälte trugen ihre Abwesenheit ein. Die Freiräume von 30 Tagen wurden nie kontrolliert oder nachgewiesen. Aufgrund der pauschalierten Zahlungen der Kanzlei an die freien Mitarbeiter musste jedoch eine Grenze gezogen werden, da ansonsten ein Pauschalierungsmodell dazu hätte führen können, dass bei großen Abwesenheitszeiten und kaum erwirtschafteten Umsätzen es zu Verwerfungen gekommen wäre. Dies galt es auszuschließen. -> Beweisaufnahme ergab, dass die Rechtsanwälte/innen die Abwesenheitstage grundsätzlich bei weitem nicht ausgeschöpft haben; aus der Korrespondenz zwischen Dr. S… und H… insbesondere der E-Mail vom 14.06.2015, ergibt sich ein „Zählen der Urlaubstage“; Zeugen berichteten z.T. vom „Abstimmen der Urlaubstage“ oder dem Hinweis des Angeklagten, dass nicht alle gleichzeitig in … Sommerferien oder an Brückentagen abwesend sein können; auch schilderte die Zeugin R… decker, dass dem Angeklagten täglich ein aktuelles Terminkalender-Blatt vorgelegt wurde, in welches die Urlaubstage und sonstige Abwesenheiten der Anwälte eingetragen waren (Nachweis), sodass der Angeklagte diese (theoretisch) auch kontrollieren konnte.
- Es gab keine Registrierung von krankheitsbedingten Abwesenheiten. Die Anwälte waren „schlicht“ nicht da, wenn sie krank oder im Urlaub waren und erklärten dies maximal aus organisatorischen Gründen, wonach etwaige Fristen oder Termine verschoben werden mussten. -> JA, allerdings waren alle Anwälte im verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum, wenn überhaupt, lediglich wenige Tage im Jahr („nicht mal eine Hand voll“) krank.
- Die freien Mitarbeiter stellten keineswegs ihre ganze Arbeitskraft in den Dienst der Kanzlei. Alle Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte hatten neben ihrer freien Mitarbeit andere Funktionen bzw. Aufgabenbereiche, eigene Mandate und auch eigene Beratungsverhältnisse. …. – Die meisten Anwälte hatten zusätzlich Auftraggeber und entsprechende Einnahmen (K…, B… H…, V… und andere) -> Beweisaufnahme widerlegt dies eindeutig: Vortrag des Angeklagten in seinem Schreiben vom 22.08.2019 zur Tätigkeit einzelner Anwälte erwies sich als falsch (vgl. Aussagen der Zeugen, D. II. 2.) a) 3.) und nochmals nachfolgend auch im Zusammenhang mit Darlegungen zum Vorsatz, Ziffer E. II. 2.) i); vielmehr war übereinstimmender Tenor der Angaben der Zeugen, dass sie mit der Arbeit in der Kanzlei derart ausgelastet („Akten ohne Ende“) waren, dass sie für andere Auftraggeber gar nicht hätten tätig sein können.
- Alle freien Mitarbeiter kassierten die Abwesenheitsgelder und Fahrtkosten gemäß RVG als selbstständige Rechtsanwälte nach gesetzlichen Vorgaben. ->, allerdings stellte die Kanzlei diese Kosten dann dem jeweiligen Mandanten in Rechnung.
- Mandate bzw. Mandanten wurden von den freien Mitarbeitern selbstbestimmt ausgewählt und gegebenenfalls auch abgewiesen -> Beweisaufnahme stellt das nicht so dar; vielmehr erfolgte die Kontakt-/Mandatszuweisung über Empfang/Sekretariat nach Fachgebieten, ein Zuteilungssystem, welches vom Angeklagten bereits Jahre vor dem verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum etabliert worden war; der Verteilungsschlüssel war den Anwälten, insbesondere, wenn es betreffend ein Fachgebiet mehrere Anwälte gab, unklar; die „Neuen“ mussten zunächst immer die wenig lukrativen Zivilsachen („Kleinscheiß“, TelekomMandate) bearbeiten; zudem kam es im Einzelfall immer wieder zu Zuweisungen von Akten/Mandaten durch den Angeklagten persönlich, sowie zu Anweisungen durch ihn, etwa Mandate zahlungsschwacher Mandanten weiter zu bearbeiten.
- Es gab für die Rechtsanwälte keine üblichen Bürozeiten, sondern nur die selbstbestimmten Zeiten für Besprechungen und die Bearbeitung der Mandate nach eigenen Vorgaben -> Beweisaufnahme kommt insoweit zu einem anderen Ergebnis: Zum einen Koordinierungspflicht bereits vertraglich bestimmt, zum anderen Wunsch und Maßregelung durch Angeklagten, wenn man während der Kanzleikernzeiten zwischen 08:00 Uhr und 18:00 Uhr nicht verfügbar war (s.o.), teilweise wurde auch die Anweisung zur Anwesenheit referiert (H…, ebenfalls werden Vorgaben des Angeklagten betr. Arbeitszeiten aus der verlesenen schriftlichen Korrespondenz ersichtlich; im Übrigen war den in der Kanzlei tätigen Anwälten klar, dass man während der Kernzeiten auch im Hinblick auf den etablierten Organisationsablauf in der Kanzlei da sein musste, daran hielten sich – da dies klar war – auch die meisten Anwälte.
- Alle Rechtsanwälte waren am Gewinn und Verlust beteiligt, da sich die Entgeltgestaltung danach ausrichtete. Bemessungsgrundlagen wurden in Vereinbarungen festgelegt. -> Beweisaufnahme erbrachte betreffend die Anwälte gerade nicht die Feststellung, dass sie an Gewinn und Verlust beteiligt waren, eher das Gegenteil, vgl. etwa L… oder Linke; im Übrigen war eine Umsatzbeteiligung in den Verträgen zwischen der Kanzlei des Angeklagten und dem/der jeweiligen Rechtsanwalt/in auch lediglich in Aussicht gestellt; die Erhöhung der monatlichen Pauschalvergütung stand allein in der Macht und dem Ermessen des Angeklagten.
- Die schriftlichen freien Mitarbeiterverträge regelten die Unabhängigkeit der Mitarbeiter ausdrücklich. -> NEIN, da bereits durch die Zusatzvereinbarung die im Mantelvertrag suggerierte Unabhängigkeit wieder „hinfällig“ war, wie sich etwa aus der Regelung hinsichtlich Werbung, der Beschäftigung eigenen Personals durch den freien Mitarbeiter und die Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei ergibt, die laut Zusatzvereinbarung der Zustimmung/Genehmigung der Sozietät bedurften.
- Die Bearbeitung eigener Mandate war jederzeit (ohne Rücksprache) möglich. Dies entsprach auch der Praxis. Bei der Bearbeitung eigener Mandate durch die freien Mitarbeiter war lediglich ein Korrektiv zu beachten, nämlich die Koalitionsfreiheit der Mandatsbeziehung. -> Wie bereits kurz gefasst betreffend den vorangegangenen Punkten dargestellt, war die Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei nur mit Zustimmung der Sozietät möglich. Im Übrigen hat keiner der in der Kanzlei tätigen Anwälte grundsätzlich eigene Mandate (schon gar nicht in relevantem Umfang) bearbeitet, was bereits aufgrund der zeitlichen Eingebundenheit in dem Kanzleibetrieb des Angeklagten in nennenswertem Umfang faktisch nicht möglich war; wenn Anwälte vereinzelt „eigene“ Mandate hatten, war dies oft rechtlichen oder taktischen Erwägungen in Abstimmung mit Dr. S… geschuldet.
- Es gab keine Weisungsgebundenheit in der Akquisition und in der Mandatsbearbeitung -> Beweisaufnahme: Zum Teil in den Verträgen bereits fragwürdige Formulierungen wie Probezeit und Probearbeitsverhältnis, zum anderen gaben die Rechtsanwälte/innen durchgehend an, dass es eine Einarbeitungs-/Ausbildungszeitzeit zwischen einigen Monaten bis zu 2-3 Jahren gab, während der auch inhaltliche Weisungen durch den Angeklagten ausgesprochen („Korrekturmappen“) und von ihnen beachtet wurden (… ich hätte mich nicht getraut, das nicht anzunehmen ….); auch gab es Anweisungen des Angeklagten, Mandate zahlungsschwacher, aber mit ihm befreundeter Mandanten weiter zu bearbeiten; der Angeklagte legte Wert auf ein einheitliches Auftreten der Kanzlei nach außen, etwa auch betreffend die stilistische Gestaltung der Schriftsätze; ebenso wurde berichtet, dass es auch nach der „Einarbeitungszeit“ einzelfallbezogen immer wieder dazu kam, dass Dr. S… sich „einmischte“.
- Die Zurverfügungstellung eines Büros unter Sachmittel ergab sich aus der Konstruktion „Außensozietät“. Dies hat nichts mit Weisungsgebundenheit zu tun. -> Beweisaufnahme: aber auch keine „Anrechnung“, nicht mal Kenntnis der Rechtsanwälte/innen, welcher Kostenanteil auf sie jeweils überhaupt entfiel.
- Es gab keine Direktionsbefugnis der Kanzleiführung für die freien Mitarbeiter. Vielmehr hatten sie selbst Direktionsbefugnis gegenüber dem Personal -> NEIN, aufgrund der Beweisaufnahme steht fest, dass die in der Kanzlei tätigen RechtsanwäIte/innen keine Weisungsbefugnis gegenüber dem kanzleiinternen Personal hatten, ebenso wenig eine Einflussmöglichkeit oder ein Mitspracherecht betreffend Einstellungen oder Kündigungen; bereits vertraglich war ihnen verwehrt, eigenes Personal ohne Zustimmung und Genehmigung der Sozietät/Kanzlei zu akquirieren.
- Es gab keine Wettbewerbsbeschränkungen während des Bestandes der freien Mitarbeiter -> Doch, schon in den vertraglichen Regelungen nur möglich mit Genehmigung der Kanzlei; im Übrigen schilderten alle Zeugen übereinstimmend, keine eigene Werbung ohne Kanzleibezug betrieben zu haben, Werbung wurde von der Kanzlei geschaltet und bezahlt; auch hatten sie keine eigenen Visitenkarten ohne Kanzleibezug, auch diese wurden durch die Kanzlei gestaltet, gedruckt und bezahlt. Zudem ist etwa aus dem Schreiben des Angeklagten an Ro. B… vom 13.04.2015 (D. II. 2.) a) 3.6.) zu entnehmen, dass der Angeklagte Ro. B… sogar nach dessen Ausscheiden aus der Kanzlei am 31.03.2015 vorwirft, hinter seinem (Dr. S…) Rücken Werbemaßnahmen für seine (B… neue) Kanzlei in B. zu betreiben und in der M… 15 in B. eine Kanzleiadresse/einen neuen, eigenen Kanzleisitz zu etablieren.
- Alle Rechtsanwälte konnten bzw. nahmen die bearbeiteten eigenen Mandate und Akten zum Ausscheiden aus der Kanzlei mit -> Beweisaufnahme: z.T. wollten die Anwälte gar keine Mandate mitnehmen (z.B. aus privaten Gründen, weil beispielsweise eine räumliche Veränderung im Raum stand oder, weil sie einen klaren Cut wollten), teilweise gab es aber auch erheblichen „Ärger“ und Anwälte mussten sich die Mitnahme erkämpfen (H…, L… D. II. 2.) a) 3.1. und b) 5.) oder es mussten Geldbeträge/Ablösen gezahlt werden, wobei angemerkt wurde, dass das für ein angebliches freies Mitarbeiterverhältnis schon ungewöhnlich sei (D. II. 2.) a) 3.3.) bzw. dann, wenn man freier Mitarbeiter gewesen wäre und die Mandate auch eigene Mandate gewesen wären, dann sie hätte mitnehmen können, ohne dafür etwas zahlen zu müssen (D. II. 2.) b) 4.).
- Soweit bekannt, hatten alle freien Mitarbeiter die Freistellungen von den Sozialversicherungsabgaben beantragt und entsprechend die Zahlungen an die spezifischen Einrichtungen geleistet -> Ja, vgl. Beweiswürdigung Aussage bzw. Ermittlungen des Zeugen An. L… insoweit nachfolgend D. II. 2.) f) 2.).
- Sozialversicherungsrechtlich wurden im Laufe der über 30 Jahre alle freien Mitarbeiter erwähnt, geprüft bzw. zur Kenntnis genommen. Die Rechtsanwälte H… und D… wurden 2013 ausdrücklich geprüft und als freie Mitarbeiter anerkannt -> Die Beweisaufnahme: bestätigte weder sozialversicherungsrechtlich die Prüfung der Rechtsanwälte „H…“ und „D…“ noch gar die sozialversicherungsrechtliche Prüfung aller freien Mitarbeiter.
- Alle freien Mitarbeiter wurden angemessen bezahlt (§ 26 BU). Die Bezahlung entsprach einer vergleichbaren Zahlung im öffentlichen Dienst unter Bruttogehaltsgesichtspunkten. -> Beweisaufnahme erbrachte die Feststellung, dass die Anwälte ihre Honorarvergütung zum Teil als „knapp“ einordneten, sie jedenfalls nicht deutlich über dem Arbeitsentgelt eines vergleichbar sozialversicherungspflichtig Beschäftigten lag (s. i.E. noch Ziffer D. II. 2.) e) 3.3. und Ziffer E. I. 2.) b) bb) 3.).
- Alle freien Mitarbeiter hatten eigenen Sachaufwand mit entsprechender steuerlicher Behandlung (eigene Pkw, eigene Kommunikationseinrichtungen – Handy, Tablett, Laptop etc.). -> Auch dies wurde durch die Beweisaufnahme nicht bestätigt; die Gestellung der Betriebsmittel erfolgte (nahezu ausschließlich) durch Dr. S…, der sogar, sofern Bücherwünsche geäußert wurden, diese erfüllte und die Bücher für seine Anwälte bezahlte; nur in absolut untergeordnetem Umfang brachten Anwälte bereits vor ihrer Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten in ihrem Besitz befindliche Bücher mit oder schafften sich während dieser Zeit neue Literatur an.
- Alle Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte hatten durch die Arbeit in der Kanzlei beste Startmöglichkeiten für eine Partnerstellung in der Kanzlei, eine eigene Kanzleigründung oder für den Wechsel in eine andere Kanzlei. – JA, die Beweisaufnahme bestätigte, dass alle Anwälte in der Kanzlei eine sehr gute Ausbildung durch den Angeklagten genossen; dies gaben sie an und waren auch dankbar, durch den Angeklagten Dr. S… eine so gute Ausbildung genossen zu haben.
- Keiner der Rechtsanwälte musste der Kanzleiführung die Abrechnungen oder Beendigung von Mandaten mitteilen oder seine Arbeit rechtfertigen. Die Mandate wurden von Anfang bis Ende selbstständig bearbeitet. -> So nicht richtig, siehe obige Ausführungen zur „Einarbeitung“, sowie zu einzelfallbezogenen Weisungen des Angeklagten, der sich auch nach der jeweiligen „Einarbeitungszeit“ einzelfallbezogen einmischte, aber auch Zeitvorgaben hinsichtlich der Bearbeitung der Mandate machte (vgl. D. II. 2.) b) 5.).
e) 3.2. Steuerliche Unterlagen der im verbliebenen Tatzeitraum in der Kanzlei Dr. … & Kollegen tätigen Rechtsanwälte (eingeführt im Selbstleseverfahren „7“, Anlage 27 zu Protokoll)
im Wege des Selbstleseverfahrens „7“ wurden betreffend die (noch) verfahrensgegenständlichen Rechtsanwälte/innen, die dem Sachverhalt entsprechend Ziffer C. zugrunde gelegt wurden, die in den Beweismittelordnen der jeweiligen „Fallakten“ hinter einem Trendblatt mit der Beschriftung „Steuer oder Streufa“ vorhandenen steuerlichen Unterlagen nebst Auswertung des Finanzamtes in die Hauptverhandlung eingeführt.
1267
Daraus ist ersichtlich, dass alle Anwälte (Ausnahme: L…, bzgl. dem die Einreichung von Steuererklärungen dem Akt nicht zu entnehmen ist) ihre Einkünfte als solche aus selbstständiger Tätigkeit deklarierten.
e) 3.3. Selbstleseverfahren „6“, Anlage 24 zu Protokoll
1268
Im Wege des Selbstleseverfahrens „6“ wurde ein von der Verteidigung übergebener Auszug aus der von der Bundesrechtsanwaltskammer in Zusammenarbeit mit dem Institut für freie Berufe regelmäßig herausgegebenen statistischen Erhebung über die Einkommenssituation der Anwaltschaft – durchschnittliche Höhe der Einkommen der (in Vollzeit tätigen) angestellten Anwälte und der als freie Mitarbeiter (in Vollzeit) tätigen Rechtsanwälte in Deutschland (West) in den Jahren 2002-2018 – in die Hauptverhandlung eingeführt.
1269
Daraus ergeben sich betr. den noch verbliebenen Tatzeitraum 2013-2017 zum einen Daten nur für das Jahr 2013 und das Jahr 2016, da der Auszug nicht für jedes Jahr gesondert Daten enthält.
1270
Zum anderen ist festzustellen, dass in der Tabelle betr. das „Durchschnittliche Bruttoeinkommen der angestellten Rechtsanwälte/Vollzeit nach Kanzleiform“ jeweils ganz rechts ein Balkendiagramm „Gesamt“ (Einzelkanzleien/Sozietäten) und die Angabe der Anzahl der untersuchten/einbezogenen Fälle abgebildet ist. Der jeweilige Jahresbalken enthält einen Strich; die direkt darüber stehende Zahl gibt in Fettschrift das arithmetische Mittel (des durchschnittlichen Bruttoeinkommens der angestellten Rechtsanwälte/Vollzeit im jeweiligen Jahr (West) in Tsd. €) wieder, die darunter stehende Zahl, kursiv gedruckt, gibt den Median wieder.
1271
Für 2013 ist als durchschnittliches Bruttoeinkommen angestellter Rechtsanwälte/Vollzeit entsprechend dem arithmetischen Mittel ein solches von 64.000,- € (= 5.330,- € pro Monat brutto) angegeben, nach dem Median ein solches von 54.000,- € (= 4.500,- € brutto pro Monat)
1272
Für 2016 ist als durchschnittliches Bruttoeinkommen angestellter Rechtsanwälte entsprechend dem arithmetischen Mittel ein solches von 66.000,- € (= 5.500,- € pro Monat brutto), angegeben, nach dem Median ein solches von 51.000,- € (= 4.250,- € brutto pro Monat).
1273
Das tatsächlich zwischen der Kanzlei des Angeklagten und den Anwälten vereinbarte monatliche Pauschalhonorar lag (bei Vollzeit-Anwälten) im Tatzeitraum zw. 2.500,- € und 6.000,- € und damit nicht deutlich über dem festgestellten Arbeitsentgelt eines vergleichbar sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (was nachfolgend bei den rechtlichen Ausführungen Ziffer E. noch in die erforderlichen Wertungen einbezogen werden wird).
e) 4. Verlesene Rechnungen der verschiedenen Rechtsanwälte/innen an die Kanzlei:
1274
In Augenschein genommen und auszugsweise verlesen werden aus den Akten A…, B… B… B…, D…, B…, H… H…, H…, K…, L…, Dr. M.. U. V… und W… die Rechnungen, die von diesen Anwälten an die Kanzlei gestellt wurden, im Einzelnen (Anwälte alphabetisch verlesen)
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Bd. 3 „A…“ – Bl.
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Bd. 5 „B…“ – Bl.
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Bd. 14 „B…“ – Bl. 14126-14177
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Bd. 4 „B…“ – Bl.
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Bd. 10 „D…“ – Bl. 10006-10079
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Bd. 21 „F.“ – Bl. 21012-21021
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Bd. 13 „H…“ – Bl. 13019-13224
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Bd. 8 „K…“ – Bl.
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Bd. 7 „L…“ – Bl.
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Bd. 2 „Dr. M…“ – Bl. 02009 – 02120
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Bd. 6 „U. V…“ – Bl.
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Bd. 9 „W…“ – Bl.
1275
Gleichzeitig wurde betreffend jeden einzelnen Rechtsanwalt/in stichpunktartig die Übersicht der Vergütungen (vgl. anschließend D. II. 2.) f) 1., Zeuge Z. M. G…), insbesondere betreffend die Zeiten der Veränderung der Vergütungen, in Augenschein genommen und verlesen.
1276
Insoweit sind zwei Feststellungen zu treffen gewesen:
1277
Zum einen hat sich durchgehend ein gleiches „System“ bezüglich der Rechnungen, die monatlich von dem/der jeweiligen Rechtsanwalt/in an die Kanzlei gerichtet wurde, dargestellt:
1278
Die Rechnungen bestanden jeweils aus 2 Blättern.
1279
Auf dem jeweiligen Blatt 1 befinden sich 2 Positionen: Die monatliche Vergütung bezeichnet als Vergütung als freier Mitarbeiter, Vergütung laut Vereinbarung, Vergütung, Pauschalhonorar, Honorar gemäß Vereinbarung, Honorar für freie Mitarbeit oder Pauschalhonorar netto; in den jeweiligen Betrag waren auch die im jeweiligen Monat entstandenen Fahrtkosten und Abwesenheitsgelder (nach RVG) hinzugerechnet, ohne gesondert ausgewiesen zu sein, so dass die monatliche Vergütung jeweils unterschiedlich hoch ausgewiesen war, trotz gleichbleibender monatlicher Vergütung. Zudem war auf Blatt 1 jeweils der Mehrwert-/Umsatzsteuerbetrag ausgewiesen.
1280
Aus Blatt 2 und der dortigen Aufstellung der Fahrtkosten und Abwesenheitsgelder nach RVG ergab sich der Betrag, der der monatlich vom vereinbarten festen Jahreshonorar abrufbaren pauschalen Teilleistung per Rechnung hinzugerechnet wurde („2-Blatt- Rechnungs-System“).
1281
Eine Ausnahme ergab sich nur für die Rechnungen von Rechtsanwältin Dr. M…, im Zeitraum März bis Oktober 2013:
1282
Für die Monate März – Mai 2013 und Juli sowie September 2013 stellte Dr. M… „nur“ das Honorar gemäß Vereinbarung (März – Mai und Juni 2013 1.700,- € und für September 2013 2.500,- €) und keine Kosten nach RVG in Rechnung.
1283
Betreffend den Abrechnungszeitraum Juni und August 2013 (Bd. 2 „Dr. M…“ – Bl. 02012 f. und 02015 f.) hat sie ihre Rechnung an die Kanzlei so gefertigt, dass auf Blatt 1 (3 Positionen) das Honorar gemäß Vereinbarung, die (Gesamt-) Kosten nach RVG und die USt ersichtlich waren, auf Blatt 2 wurden die Kosten nach RVG nochmals im Einzelnen aufgeschlüsselt dargestellt. Ab dem Abrechnungszeitraum Oktober 2013 bis zu ihrem Ausscheiden am 30.06.2018 hat auch Dr. M… ihre Rechnungen an die Kanzlei nach dem oben geschilderten „System der 2 Blätter“ gestellt, d.h. auf Blatt 1 wurden nur noch 2 Posten („Honorar gemäß Vereinbarung“, welches die RVG-Gelder ohne gesonderte Ausweisung enthielt, mithin variierend war, und „USt“) ausgewiesen. Aus Blatt 2 und der dortigen Aufstellung der Fahrtkosten und Abwesenheitsgelder nach RVG war der Betrag, der der monatlich vom vereinbarten Jahreshonorar abrufbaren Teilleistung per Rechnung hinzugerechnet wurde, zu ersehen.
1284
Zum anderen waren auf den in Augenschein genommenen Rechnungen teilweise Löcher von Heftklammern sichtbar, aber – mit Ausnahme von Bl. 10067 in Bd. 10 „D…“ – keine Heftklammerabdrücke.
1285
In der Gesamtschau dieser, im Rahmen. der Beweisaufnahme gewonnenen Erkenntnisse, ist die Kammer der Überzeugung, dass der Angeklagte die tasächlichen, statusbegründenden Umstände betreffend die Beschäftigung der in seiner Kanzlei tätig Anwälte und seine Stellung als Arbeitgeber diesen gegenüber kannte.
1286
Ebenso kannte er auch die dadurch begründeten Wertungen und Verpflichtungen des Arbeits- und Sozialversicherungsrechtes, insbesondere die daraus resultierende Beitragsabführungspflicht.
1287
Darauf wird nachfolgend unter Ziffer E. III., rechtliche Einordnung, Vorsatz – wegen der „Überlappung“ der beweisrechtlichen und rechtlichen Einordnung – nochmals eingegangen werden.
1288
Schließlich hat die Kammer Beweis erhoben zur Frage des Verfahrensganges und zur Frage der Schadensermittlung:
f) Sachbearbeiter und Schadensermittler der DRV:
1289
Der Zeuge Z. M. G… schilderte zum einen den Gang des Verfahrens:
1290
Das Verfahren habe seinen Ausgang durch ein anonymes Schreiben vom 01.12.2016 an die Staatsanwaltschaft Tr. – dieses Schreiben wurde mit dem Zeugen und allen Verfahrensbeteiligten in Augenschein genommen und verlesen (Bl. 2 d.A.) – genommen, welches dem Hauptzollamt mit einer Verfügung der Staatsanwaltschaft, in der Hintergrundermittlungen in Auftrag gegeben wurden, vorgelegt worden sei. In dem anonymen Schreiben seien die Rechtsanwälte/innen Ul. A…, K. B…, Dr. St. M… An. D…, N. L…, und An. K… benannt gewesen, hinsichtlich derer eine entsprechende Abklärung im Datensystem der Deutschen Rentenversicherung (DRV) ... und beim Finanzamt B. ergeben habe, dass keiner der genannten Rechtsanwälte/innen zur Sozialversicherung gemeldet gewesen sei.
1291
Mit Verfügung vom 03.01.2017 sei seitens der Staatsanwaltschaft dann ein Anfangsverdacht im Sinne des § 152 StPO betreffend das Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt im Sinne des § 266 a StGB bejaht worden. Beschuldigter sei damals (nur) Dr. S… gewesen, als Tatzeitraum sei damals die Zeit ab 2012 geführt worden.
1292
Aufgrund der erkennbaren Brisanz des Falles seien in enger Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft, insbesondere Herrn Dr. R… und Herrn Z…, zunächst unter Berücksichtigung der Rechtsprechung weitere Vorabklärungen durchgeführt worden. Diese Abklärungen etwa beim Finanzamt in B., in Form von Internetrecherchen oder hinsichtlich der steuerlichen Veranlagung der Rechtsanwälte, die in der Kanzlei des Angeklagten tätig gewesen seien, habe einige Zeit in Anspruch genommen.
1293
Von Juli 2017 bis zum 15.10.2017 seien die Ermittlungen dann ins Stocken geraten, wegen zweier weiterer, dringender und vorrangiger Verfahren. Am 15.10.2017 habe dann der Leiter der FKS Tr., Z. O…, darauf gegenüber der Staatsanwaltschaft Tr. hingewiesen, ebenso darauf, dass das Verfahren in Kürze weiter betrieben werde. Nach Rücksprache und Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft seien dann verschiedene Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse vorbereitet worden. Der Erlass der Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse (nach § 102 StPO bezüglich Dr. S… und nach § 103 StPO bezüglich der tätigen Rechtsanwälte/innen B…, D… L…, An..., K… und Dr. M…) durch den zuständigen Ermittlungsrichter habe auch einige Zeit in Anspruch genommen, da der Ermittlungsrichter verschiedene Einwände gehabt habe.
1294
Am 21.12.2017 habe erneut eine Besprechung mit Dr. F. von der Staatsanwaltschaft stattgefunden, der auf den aktuellen Sachstand gebracht worden sei. Zwischenzeitlich seien auch die Rechtsanwältinnen D… (ging in eine Kanzlei nach München), K… (ging in die Kanzlei von S. L…) und B… (machte eine eigene Kanzlei auf) nicht mehr in der Kanzlei des Angeklagten gewesen. Anlässlich dieser Besprechung habe Dr. F. auch die Anweisung erteilt, die Ermittlungen auf weitere Rechtsanwälte (W…, V…, B…, H…, B… und H… sowie dessen Ehefrau L…) auszuweiten.
1295
Am 02.01.2018 habe er der dann neue Entwürfe betr. Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse an die Staatsanwaltschaft übermittelt, die letztendlich durch den Ermittlungsrichter Ende Januar 2018 (22.01.2018) erlassen worden seien (außer betreffend den Angeklagten alles Beschlüsse gemäß § 103 StPO).
1296
Am 05.02.2018 sei es schließlich zur Durchsuchung in den Kanzleiräumen des Angeklagten gekommen, erst zu diesem Zeitpunkt habe Dr. S… davon erfahren, dass Ermittlungen gegen ihn geführt wurden. Auch die anderen § 103 StPO-Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschlüsse seien vollstreckt worden mit Ausnahme desjenigen betreffend Dr. M… (da diese ihren Wohnsitz in Österreich gehabt habe) und betreffend Ul. A… (da diese im Krankenhaus gewesen sei).
1297
Aus ermittlungstaktischen Erwägungen seien vor den Durchsuchungs- und Beschlagnahmemaßnahmen keine Zeugeneinvernahmen der in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen durchgeführt worden.
1298
Nach den Durchsuchungen und Beschlagnahmen (seien mit etwa 50 Leuten an unterschiedlichen Objekten erfolgt) sei zunächst eine erste Sichtung der sichergestellten Unterlagen erfolgt. Es habe sich um einen erheblichen Umfang an Unterlagen gehandelt (mindestens 10 Umzugskartons); die erste Sichtung, die er mit vier weiteren, Vollzeit tätigen Leuten durchgeführt habe, habe gut einen Monat in Anspruch genommen. Gleichzeitig sei damit begonnen worden, vorgefundene Unterlagen zu sortieren und einzuscannen, Excel-Tabellen zu erstellen etc. Am 01.03.2018 habe er eine E-Mail an die Staatsanwaltschaft gefertigt, in welcher er nochmals hinsichtlich des Ermittlungszeitraumes – „2012 bis heute“ –, sowie bezüglich der Beweismittel, die Gegenstand der jeweiligen Durchsuchungsbeschlüsse sein sollten, Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft Tr. nahm. Daraufhin habe ihm Dr. F. am 02.03.2018 geantwortet, es sei um die Ausweitung der Ermittlungen auf den Zeitraum 2005 – 2012, sowie auf weitere Rechtsanwälte/innen (M… G… und G…, sowie H… und F.) gegangen, am 06.03.2018 habe er die Anweisung von der Staatsanwaltschaft erhalten, auch gegen S. L… Ermittlungen einzuleiten.
1299
Gegen Rechtsanwalt J.B…, der in Freilassing eine eigene Kanzlei gehabt habe und Rechtsanwältin Dr. Dorothee L…, die in die Schweiz verzogen sei, seien keine Ermittlungsverfahren eingeleitet worden.
1300
Von der Durchsuchung bis zur Feststellung der endgültigen Zahlen, die als Berechnungsgrundlage an die Fachbehörde, die Deutsche Rentenversicherung Berlin, übersandt worden seien, habe es bis Juni 2018 gedauert. Erst dann hätten die ermittelten Nettolöhne mittels Erhebungshilfe an die Deutsche Rentenversicherung auf den Weg gebracht werden können. Dort habe es dann nochmals einige Monate gedauert, bis die Schadensberechnung vorgelegen habe.
1301
Dr. S… sei dann auch zum Zwecke der Vernehmung geladen worden, zu einer Beschuldigtenvernehmung sei er allerdings nicht erschienen. Der Angeklagte habe sich aber durch einen Schriftsatz vom 21.03.2019 über seinen damaligen Verteidiger zum Vorwurf geäußert.
1302
Des Weiteren referierte der Zeuge G…, dass betreffend die in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen unter Berücksichtigung der Vorgaben einer internen Dienstanweisung (der auch verschiedene Gerichtsurteile zu § 266 a StGB zugrunde legen) und in Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft (Dr. F.) ein Muster-Fragebogen erarbeitet worden sei, um die erforderlichen Feststellungen für eine Abgrenzung zwischen freien Mitarbeitern und abhängig Beschäftigten unter Berücksichtigung des Problems der Scheinselbstständigkeit vornehmen zu können.
1303
Dieser Muster-Fragebogen sei dann bei Durchführung der Zeugeneinvernahmen abgearbeitet worden bzw. Zeugen zum Ausfüllen zugesandt worden. Einige Zeugen hätten von § 55 StPO Gebrauch gemacht, seiner Erinnerung nach die Zeugin A…, K…, D… und H… (letzterer bei den meisten Fragen), eventuell auch der Zeuge F., das wisse er heute aber nicht mehr sicher.
1304
Den Schlussbericht habe er schließlich unter dem 03.01.2019 fertiggestellt, Anklage sei dann am 25.06.2019 durch die Staatsanwaltschaft Tr. zum Landgericht Traunstein erhoben worden.
1305
Betreffend die in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen sei seiner Erinnerung nach nie eine sozialversicherungsrechtliche Prüfung/ein Statusfeststellungsverfahren durchgeführt worden. Es habe – glaublich 2009/2013/2017 – in der Kanzlei des Angeklagten Statusfeststellung nach § 28 p SGB IV betreffend die dort tätigen Sekretärinnen/Rechtsanwaltsgehilfin gegeben, nach seiner Erkenntnis aber nicht betreffend die dort tätigen Rechtsanwälte/innen.
1306
Auf Nachfrage äußerte der Zeuge, dass ihm betreffend die Außendarstellung der Rechtsanwälte etwa betreffend Vollmachtsvordrucke oder Briefköpfe nichts erinnerlich sei, er habe allerdings auch nicht in Mandantenakten „rumgeschnüffelt“, da dies nicht durch den Durchsuchungsbeschluss gedeckt gewesen sei.
1307
Hinsichtlich der Frage der Befreiung einzelner, in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte, von der Renten- und/oder Krankenversicherungspflicht habe er keine Erkenntnisse, zuständig dafür sei der Betriebsprüfer An. L… gewesen.
1308
Die schlussendliche Bewertung erfolge durch die Rentenversicherung, er liefere der Deutschen Rentenversicherung lediglich die Tatsachengrundlagen.
1309
Als sprachliche „Auffälligkeiten“ aus seiner Sicht habe er einmal in den jeweils als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichneten Vereinbarungen zwischen den Anwälten und der Kanzlei des Angeklagten über die Zeit Verschiedenes festgestellt, was er in einer Liste zusammengestellt habe.
1310
Diese Liste ist im Selbstleseverfahren „3“ V. eingeführt worden und beinhaltet Folgendes:
Fehlblatt 178-237 Tabelle
Arbeitsgeber-
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Arbeitsnehmer-
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Summe/Beiträge
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anteil
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anteil
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Einzugstelle AOK ... – 59 Fälle -
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15.043,12 €
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15.043,12 €
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30.086,24 €
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Einzugsstelle T. (T. Kr.) – 46 Fälle -
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8.389,94 €
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8.389,94 €
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16.779,88 €
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Einzugsstelle B. – 26 Fälle -
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1.621,53 €
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1.621,53 €
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3.243,06 €
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Einzugsstelle K.(Kaufmännische Krankenkasse) – 58 Fälle -
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|
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25.087,53 €
|
25.087,53 €
|
50.175,06 €
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1311
Insgesamt errechnen sich damit 189 Taten und folgender Gesamtschadensbetrag (Schadensbetrachtung im Hinblick auf die Strafzumessung):
Arbeitsgeber-
|
Arbeitsnehmer-
|
Summe/Beiträge
|
anteil
|
anteil
|
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65.344,52 €
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66.527,3 €
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100.284,24 €
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1312
Zweifel an der Glaubhaftigkeit und Glaubwürdigkeit der Aussagen des Sachbearbeiters und Zeugen Z. M. G… und des Betriebsprüfers der Deutschen Rentenversicherung und Zeugen An. L. haben sich in keinster Form ergeben.
1313
Das Gericht hat die durch den Zeugen An. L… schlussendlich ermittelten (strafrechtlichen) Schadenssummen in die Feststellungen unter Ziffer C. übernommen.
1314
Die Kammer hat die Ermittlung der Nettovergütungen und Bruttovergütungen überprüft und mit dem gleichen Ergebnis nachvollzogen. In die Berechnung sind – bei Vorliegen – weitere Informationen etwa hinsichtlich Steuerklasse, Kinderfreibetrag oder Kirchensteuer nachvollziehbar eingeflossen. Von den sich daraus ergebenden Beträgen sind die Sozialversicherungsbeiträge unter Berücksichtigung der Bemessungsgrenzen für die Kranken- und Pflegeversicherung bzw. die Renten- und Arbeitslosenversicherung errechnet worden. Aus den ermittelten Bruttolöhnen wurden die tatsächlich geschuldeten Sozialversicherungsbeiträge – wie die Kammer mit gleichem Ergebnis nachvollzogen hat – errechnet, wie dargestellt (vgl. Tabelle 1).
1315
Die Schadensberechnung (Berechnung der verkürzten Sozialversicherungsbeiträge) durch die DRV ist in sich verständlich und schlüssig, widerspricht keinen Denkgesetzen und entspricht den gesetzlichen Vorgaben.
E. Rechtliche Einordnung:
1316
Durch die somit zur Überzeugung der Kammer feststehenden Sachverhalte hat sich der Angeklagte Dr. Sta. wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 189 Fällen gem. §§ 266 a Abs. 1 und Abs. 2; 52; 53 StGB schuldig gemacht.
I. Arbeitgeberstellung des Angeklagter und Arbeitnehmerstellung der für ihn tätigen Rechtsanwälte/innen:
1317
§ 266 a Abs. 1 und Abs. 2 StGB – in der Fassung betreffend den Gültigkeitszeitraum ab 01.08.2004-23.08.2017, sowie dann in der Fassung ab 24.08.2017 – stellt denjenigen unter Strafe, der als Arbeitgeber der Einzugsstelle Beiträge des Arbeitnehmers zur Sozialversicherung einschließlich der Arbeitsförderung, unabhängig davon, ob Arbeitsentgelt gezahlt wird, vorenthält und die für den Einzug der Beiträge zuständige Stelle pflichtwidrig über sozialversicherungsrechtlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen hat und dadurch dieser Stelle vom Arbeitgeber zu tragende Beiträge zur Sozialversicherung einschließlich der Arbeitsförderung unabhängig davon, ob Arbeitsentgelt gezahlt wird, vorenthält.
1318
Vorangestellt wird seitens der Kammer darauf verwiesen, dass als Täter von § 266 a Abs. 1 und Abs. 2 StGB nur Arbeitgeber (oder gleichgestellte Personen) in Betracht kommen, wobei der zur Täterqualifikation verwendete Begriff ein Statusbegriff ist, der allein sozial- bzw. zivilrechtsakzessorisch ausgefüllt werden kann, da das Strafrecht über keine eigenen Kriterien verfügt, anhand derer die Voraussetzungen der Arbeitgebereigenschaft beurteilt werden können.
1319
Das Sozialversicherungsrecht verweist in § 7 Abs. 1 SGB IV auf das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses und damit auf das Arbeitsrecht. Die sozialversicherungs- und arbeitsrechtlichen Wertungen der Begründung des Beschäftigungsverhältnisses sind bis auf wenige Sonderkonstellationen deckungsgleich. Arbeitgeber im Sinne von § 266 a StGB können nur diejenigen sein, die arbeits- und/oder sozialversicherungsrechtlich Arbeitgeber sind; die arbeits- bzw. sozialversicherungsrechtliche Arbeitgebereigenschaft ist also notwendige Bedingung des strafrechtlichen Arbeitgeberstatus.
1320
Als Sonderdelikt kann § 266 a StGB lediglich von denjenigen Personen täterschaftlich verwirklicht werden, die den jeweils erforderlichen Status in eigener Person aufweisen (vgl. MüKo/Radtke, StGB, 4. Aufl. 2022, § 266 a StGB Rn. 10 f.; Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 266 a Rn. 4 ff.; Dr. Sittard und Mehrtens, „Aktuelle Entwicklungen in der Rechtsprechung zur Scheinselbstständigkeit“, NZA-RR 2019, 457 ff.).
1321
§ 7 Abs. 1 SGB IV ist die Grundsatznorm zur Abgrenzung des versicherungspflichtigen Personenkreises. Das Gesetz bedient sich bei den Tatbeständen der Versicherungs- und Beitragspflicht eines tatbestandlich zwar nicht ganz scharf konturierten, aber durch Abs. 1 S. 2 und die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts mit Blick auf das aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG resultierenden Bestimmtheitsgebotes hinreichend präzisierten Begriffes (vgl. BSG, Urteil vom 18.11.2015 – B 12 KR 16/13 R, Rn. 16; ErfK/Rolfs, 22. Aufl. 2022, SGB IV, § 7 Rn. 4).
1322
Die Kammer verkennt auch nicht, dass der Arbeitnehmer-Begriff (arbeitsrechtlicher Begriff -> § 611 a Abs. 1 BGB gültig seit 01.04.2017) und der Beschäftigten-Begriff (sozialrechtlicher Begriff -> § 7 Abs. 1 SGB IV) nicht identisch sind, sondern zwei selbstständige Rechtsinstitute, die lediglich wegen der überwiegend gleichartigen Voraussetzungen der von § 611 a Abs. 1 BGB und der sozialrechtlichen Rechtsprechung zugrunde gelegten Kriterien zumeist zusammenfallen (s. auch nachfolgend und vgl. etwa BGH, Urteil vom 18.07.2019 – 5 StR 649/18 Rn. 19; ErfK/Rolfs, a.a.O., SGB IV, § 7 Rn. 2; Dr. Holthausen, „Statusfeststellung und Scheinselbstständigkeit“, RdA 2020, 92 ff.).
1323
Für die Abgrenzung von Arbeitnehmern (sozialversicherungspflichtig abhängig Beschäftigten) einerseits und Selbstständigen andererseits gibt es kein Einzelmerkmal, welches für oder gegen die Arbeitnehmereigenschaft spricht, vielmehr ist die Abgrenzung anhand einer Gesamtwürdigung aller maßgeblichen Umstände des Einzelfalles vorzunehmen. D.h., ob jemand abhängig beschäftigt oder selbstständig tätig ist, richtet sich danach, welche Umstände das Gesamtbild der Arbeitsleistung prägen und hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen (vgl. z.B. BSG, Urteil vom 04.06.2019 – B 12 R 2/18 Rn. 13; BSG, Urteil vom 31.03.2017 – B 12 R 7/15 R Rn. 19-21; BAG, Urteil vom 11.08.2015 – 9 AZR 98/14 Rn. 16; LSG Berlin – Brandenburg, Urteil vom 15.02.2008 – L 1 KR 276/06 oder auch MüKo/Radtke, a.a.O. § 266 a Rn. 12 ff.).
1324
Dabei gibt es keine absoluten „KO-Kriterien“, die für oder gegen einen Arbeitsvertrag sprechen; es gibt kein Einzelmerkmal, das aus der Vielzahl möglicher Merkmale unverzichtbar vorliegen muss, damit man von persönlicher Abhängigkeit sprechen kann; ebenso wenig gibt es ein Merkmal für die persönliche Abhängigkeit, das sich nicht auch gelegentlich bei Selbstständigen findet. Deshalb verbietet sich auch – wie von der Verteidigung immer wieder betreffend einzelne Kriterien herausgestellt und als Rechtfertigung der Annahme freier Mitarbeiterschaft in den Raum gestellt – die Auseinandersetzung nur mit einem oder wenigen der von der obergerichtlichen Rechtsprechung entwickelten Abgrenzungskriterien. Vielmehr ist im Rahmen einer wertenden Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalles zwar besonders relevant, die dominierenden Kriterien betreffend Weisungsfreiheit und Eingliederung in die Organisation des Betriebes zu prüfen (vgl. etwa BGH, Urteil vom 18.07.2019 – 5 StR 649/18 Rn. 19; BSG, Urteil vom 31.03.2017 – B 12 R 7/15 R Rn. 21; LSG Berlin – Brandenburg, Urteil vom 15.02.2008 – L 1 KR 276/06; Dr. Kock, NJW 2021, 993; ErfK/Rolfs, a.a.O., SGB IV, § 7 Rn. 18), daneben kommt aber auch den weiteren entwickelten Kriterien in der Gesamtschau zumindest indizielle Bedeutung zu.
1325
Bei der tatbestandlichen Beurteilung ist regelmäßig vom Inhalt der zwischen den Beteiligten getroffenen Vereinbarung auszugehen, der von der Kammer betr. jeden einzelnen, im noch verbliebenen, nicht verjährten Tatzeitraum in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwalt/Anwältin festgestellt wurde und der bereits Zweifel am Vorliegen einer „Freien Mitarbeiterschaft“ aufkommen lässt.
1326
Für die Beurteilung der rechtlichen Einordnung ist anerkanntermaßen aber nicht nur die vertragliche Gestaltung auf dem Papier (allein) maßgeblich (vgl. etwa auch § 611 a Abs. 1 S. 6 BGB), entscheidend sind vielmehr die tatsächlich gelebten Verhältnisse bei der Vertragsdurchführung.
1327
Dies gilt insbesondere dann, sofern eine Tätigkeit sowohl abhängig beschäftigt als auch selbstständig erbracht werden kann; den vertraglichen Vereinbarungen zwischen Arbeitnehmer/Auftragnehmer und Arbeitgeber/Auftraggeber kommt bei Diskrepanzen zu den tatsächlich gelebten Verhältnissen nur ausnahmsweise eine gewichtige Rolle zu (BGH, Urteil vom 18.07.2019 – 5 StR 649/18 Rn. 20; BAG, Urteil vom 11.08.2015 – 9 AZR 98/14 Rn. 16; MüKo/Radtke, a.a.O., § 266 a Rn. 13).
1328
Schließlich ist auch die Ernsthaftigkeit der dokumentierten Vereinbarung zu prüfen (vgl. BSG, Urteil vom 04.06.2019 – B 12 R 2/18 R Rn. 14).
1329
§ 7 Abs. 1 SGB IV definiert die Beschäftigung als eine nichtselbständige Arbeit, insbesondere als Tätigkeit nach „Weisungen“ und in „Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.“ § 611 a Abs. 1 BGB – gültig seit 01.04.2017 (!) – regelt, dass durch den Arbeitsvertrag der Arbeitnehmer im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet wird. Dabei ist ausgeführt (S. 2-4), dass das Weisungsrecht Inhalt, Durchführung, Zeit und Ort der Tätigkeit betreffen kann. Weisungsgebunden ist, wer nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann, wobei der Grad der persönlichen Abhängigkeit auch von der Eigenart der jeweiligen Tätigkeit abhängt.
1330
Betreffend das Verhältnis der beiden Normen zueinander ist aus Sicht der Kammer zudem darauf zu verweisen, dass der Gesetzesbegründung zu § 611 a BGB zu entnehmen ist, dass Vorschriften, die eine abweichende Definition des Arbeitnehmers, des Arbeitsvertrages oder des Arbeitsverhältnisses vorsehen, um einen engeren oder weiteren Geltungsbereich festzulegen, unberührt bleiben sollen (BT-Drucks 18/9232 S. 31).
1331
In Kenntnis dieser gesetzlich unterschiedlich definierten Begriffe des Beschäftigten und des Arbeitnehmers sind von der Rechtsprechung sowohl des Bundesarbeitsgerichtes als auch des Bundessozialgerichtes für die Frage der Abgrenzung abhängiger Beschäftigung und selbstständiger Beschäftigung/freier Mitarbeiterschaft, wie bereits angesprochen, verschiedene Kriterien entwickelt worden (auf welche nachfolgende im Einzelnen noch eingegangen werden wird), wobei die Frage der prägenden Eingliederung in die Organisation eines Betriebes ebenso wie grundsätzlich die Frage einer Weisungsgebundenheit (betreffend Zeit, Ort, Inhalt) als gravierende Indizien angesehen werden. Zum einen ist allerdings zu beachten, das Weisungsgebundenheit und Eingliederung in den Betrieb weder in einem Rangverhältnis zueinander stehen noch kumulativ vorliegen müssen (vgl. BSG, Urteil vom 04.06.2019 – B 12 R 2/18 R Rn. 24; BSG, Urteil vom 18.11.2015 – B 12 KR 16/13 R, Rn. 16; BAG, Urteil vom 11.08.2015 – 9 AZR 98/14 Rn. 16), um abhängige Beschäftigung zu bejahen. Zum anderen ist betreffend letzteres Kriterium (Weisungsgebundenheit) anerkannt, dass das Weisungsrecht insbesondere bei sog. „Diensten höherer Art“ – solche erbringen auch Rechtsanwälte – auf’s Stärkste eingeschränkt und die Dienstleistung in solchen Fällen trotzdem fremdbestimmt sein kann, wenn sie ihr Gepräge von der Ordnung des Betriebes erhält, in deren Dienst die Arbeit verrichtet wird. Insoweit hat sich in der Rechtsprechung der Sozial-, aber auch Arbeitsgerichte die Formulierung entwickelt, dass die Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers im Falle der Erbringung von Diensten höherer Art sich zur funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess verfeinert (vgl. BSG, Urteil vom 04.06.2019 – B 12 R 2/18 R Rn. 24; BSG, Urteil vom 31.03.2017 – B 12 R 7/15 R Rn. 21; ErfK/Rolfs, a.a.O., § 7 Rn. 11; Dr. Sittard und Mehrtens, „Aktuelle Entwicklungen in der Rechtsprechung zur Scheinselbstständigkeit“, NZA-RR 2019, 457 ff.; Dr. Holthausen, „Statusfeststellung und Scheinselbstständigkeit“, RdA 2020, 92 ff.).
1332
Die Bedeutung des Merkmals der Eingliederung in die Organisation eines Betriebes in § 7 Abs. 1 SGB IV wird nicht durch die Änderung von § 611 a BGB mit Wirkung vom 01.04.2017 in Frage gestellt (s.o.).
1333
Insgesamt sind als wesentliche Kriterien für die Annahme abhängiger Beschäftigung neben der Eingliederung in die Organisation eines Betriebes und dem – ggf. zur funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess verfeinerten – Weisungsrecht die Kriterien der Nichtbeschäftigung von Hilfskräften/eigenem Personal, die mangelnde Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und das Fehlen eigener Betriebsstätten, die Gestellung wesentlicher Arbeitsmittel durch den Weisungsgeber, die feste Entlohnung anstelle einer Gewinn- und Verlustbeteiligung, die Gewährung von Entgeltfortzahlung bei Urlaub und im Krankheitsfall, das Verbot, gegenüber Kunden im eigenen Namen oder für eigene Rechnung aufzutreten, anerkannt.
1334
Demgegenüber ist eine selbstständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko einschließlich Einsatz von eigenem Kapital, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit, eine erfolgsabhängige Vergütung oder eine solche, die weit über dem für Angestellte üblichen liegt und Eigenvorsorge ermöglicht, das Recht, sich durch Dritte vertreten zu lassen oder die Möglichkeit, auch für andere Auftraggeber tätig zu werden, gekennzeichnet (vgl. (vgl. BSG, Urteil vom 31.03.2017 – B 12 R 7/15 R Rn. 21; BSG, Urteil vom 18.11.2015 – B 12 KR 16/13 R, Rn. 16; LSG Berlin – Brandenburg, Urteil vom 15.02.2008 – L 1 KR 276/06; ErfK/Rolfs, a.a.O., SGB IV, § 7 Rn. 14; Dr. Sittard und Mehrtens, „Aktuelle Entwicklungen in der Rechtsprechung zur Scheinselbstständigkeit“, NZA-RR 2019, 457 ff.; Dr. Holthausen, „Statusfeststellung und Scheinselbstständigkeit“, RdA 2020, 92 ff.).
1335
Wie angesprochen, ist jedoch immer eine Gesamtwürdigung aller Umstände der tatsächlichen Verhältnisse und eine Feststellung maßgebend, welche Merkmale (für eine abhängige Beschäftigung oder Selbstständigkeit sprechend) überwiegen.
1336
Schließlich ist darauf zu verweisen, dass dem Gericht bei der Gesamtwürdigung aller Umstände der tatsächlich gelebten Verhältnisse ein Beurteilungsspielraum zusteht, im Rahmen von dessen Ausfüllung sich die Kammer aber durchaus auch bewusst war, dass, je größer Unklarheiten im Rahmen der wertenden Gesamtbetrachtung zur Statuseinordnung – betreffend jeden einzelnen Rechtsanwalt – zutage treten, desto eher die Gewichtung im Sinne der vom Auftraggeber/Angeklagten vorgenommenen Einordnung fallen muss; insoweit ist gleichzeitig auch der Wandel der Rechtsprechung mit in den Blick zu nehmen.
1337
Die Kammer war sich dabei zudem bewusst, dass anwaltliche Tätigkeit von Rechts wegen in verschiedenen möglichen Rechtsformen ausgeübt werden kann (vgl. hierzu §§ 2 und 46 BRAO), im Rahmen von Bürogemeinschaften, Außensozietäten, Sozietäten, insbesondere aber auch in Form freier Mitarbeiterschaft, sowie auch in Form abhängiger Beschäftigung.
1338
Die Parteien haben zwar das Wahlrecht, wie die Tätigkeit/in welcher Rechtsform ausgeübt werden soll, weshalb bei der Beurteilung der Verhältnisse Ausgangspunkt zunächst die jeweilige vertragliche Vereinbarung ist (s.o.). Ergeben sich diesbezüglich (bereits) Zweifel, ist in einem nächsten Schritt zu prüfen, wie sich die gelebte Praxis, die tatsächliche Ausgestaltung der Beschäftigung in einer wertenden Gesamtbetrachtung darstellt.
1339
Denn es ist ebenso anerkannt, dass dann, wenn Divergenzen zwischen der getroffenen Vereinbarung und der tatsächlichen Vertragsdurchführung bestehen, die gelebte Praxis der formellen Vereinbarung vorgeht. Dies hat seine Rechtfertigung darin, dass die Sozialversicherung neben der sozialen Absicherung des Einzelnen auch dem Schutz der Mitglieder der Pflichtversicherungssysteme, die in einer Solidargemeinschaft zusammengeschlossen sind, dient; die Träger der Sozialversicherung sind Einrichtungen des öffentlichen Rechts, was es ausschließt, dass über die rechtliche Einordnung einer Tätigkeit allein die von den Vertragsschließenden getroffenen Vereinbarungen entscheiden (vgl. BSG, Urteil vom 29.01.1981 – 12 RK 63/79; Urteil vom 30.10.2013 – B 12 KR 17/11 R – juris Rn. 28; Urteil vom 16.08.2017 – 12 RK 14/16 R; MüKo/Radtke, a.a.O., § 266 a Rn. 14 a; Fischer, a.a.O., § 266 a Rn. 4 a; Dr. Holthausen, „Statusfeststellung und Scheinselbstständigkeit“, RdA 2020, 92 ff.).
1340
Konkret heißt dies, dass, wenn die Voraussetzungen für die Annahme eines Arbeitgeber-/Arbeitnehmerverhältnisses tatsächlich vorliegen, zwingend dessen Rechtsfolgen eintreten – unabhängig davon, was die Parteien für eine rechtliche Einordnung gewollt haben oder geregelt haben wollten (vgl. BSG, Urteil vom 04.06.2019 – B 12 R 2/18 Rn. 20; BSG, Urteil vom 11.08.2015 – 9 AZR 98/14 Rn. 22; LSG Berlin – Brandenburg, Urteil vom 15.02.2008 – L 1 KR 276/06; Dr. Kock, NJW 2021, 993).
1341
Das im gegenständlichen Verfahren im Raum stehende Phänomen der sog. „Scheinselbstständigkeit“ ist – wie die Verteidigung zu Recht betont – gesetzlich nicht geregelt, taucht aber als Begriff sowohl in der obergerichtlichen Rechtsprechung als auch der Literatur immer wieder auf und ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Person zwar nach der zugrunde liegenden Vertragsgestaltung selbstständige Dienst- oder Werkleistungen für ein fremdes Unternehmen erbringt, tatsächlich unter Berücksichtigung der de facto gelebten Beschäftigungsbedingungen aber keine selbstständigen Arbeiten – mit der damit verbundenen Folge der Sozialversicherungs- und Lohnsteuerpflicht – leistet.
1342
Schließlich hat die Kammer in den Blick genommen, dass anwaltliche Tätigkeit (theoretisch) auch in Form des Rechtsinstitutes der sog. arbeitnehmerähnlichen Selbstständigen im Sinne des § 2 S. 1 Nr. 9 SGB VI erbracht werden kann (LSG Berlin – Brandenburg, Urteile vom 27.06.2007 – L 16 R 1458/06).
1343
2.) Konkrete Bewertung der in der Kanzlei des Angeklagten im Tatzeitraum tätigen Anwälte (tatsächlich gelebte Verhältnisse):
1344
a) Unter Berücksichtigung der dargelegten Grundvoraussetzungen zum Verständnis des Tatbestandes des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt war der Angeklagte im Hinblick auf die in der Kanzlei tätigen Anwälte tatsächlich die Person des Arbeitgebers:
1345
Er traf die organisatorischen Entscheidungen und war insbesondere auch persönlich verantwortlich – in Streitfällen auch alleine – für die Einstellung und Beschäftigung des Personals, auch der in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen, und zwar „in jeder Phase der Kanzlei“, also bereits zu Zeiten in der Sozietät mit Rechtsanwalt F. (vgl. D. II. 2.) b) 1. und b) 2. – M…: … Dr. S… hat alles alleine entschieden, auch nicht gemeinsam mit F. und …), aber auch zu Zeiten mit Frau L…, nach deren Aussage er sich bei Unstimmigkeiten auch durchsetzte (… sie sei in den Entscheidungsprozess nicht eingebunden gewesen … betreffend die Einstellung von Ro. B… sei sie dagegen gewesen, der Angeklagte habe sich aber dafür entschieden …), eine Wahrnehmung, die auch die Anwälte, soweit sie dies mitbekamen, teilten (vgl. etwa H…, laut dessen Angaben es mit L… keine Berührungspunkte gab; Frau L… selbst sprach davon, dass sie nicht nennenswert in Entscheidungsprozesse eingebunden war; der Angeklagte der Entscheider war; B…: … bei differierenden Ansichten hatte L… kein gleichberechtigtes Mitspracherecht, vielmehr hatte der Angeklagte die letzte Entscheidungsbefugnis; A… Dr. S… hatte beispielsweise bei den Kanzleibesprechungen die Leitung inne; V…: … bei organisatorischen Fragen und Fragen betreffend das Personal war der Angeklagte federführend, nicht Frau L…) und natürlich auch weiterhin nach Ausscheiden von Frau L… Ende April 2012, als er als alleiniger Kanzleiinhaber die Kanzlei führte.
1346
Der Angeklagte wurde auch von den Rechtsanwälten/innen als „Chef“ bezeichnet (vgl. z.B. M… G…, L…, V… D… oder L…, der sich als Teil der Kanzlei sah, die von Dr. S… geführt und organisiert, der als Chef bezeichnet wurde, auch von den Rechtsanwälten/innen; die Sekretärinnen S… und R… bestätigten dies).
1347
Er war somit tatsächlich die als Auftraggeber zu bezeichnende, verantwortliche Person.
1348
Er hat diese Aufgabe auch nicht delegiert: Er hat die Einstellungsgespräche geführt, die Bewerbungen bearbeitet, beantwortet und letztverantwortlich darüber entschieden, die Verträge zur „Freien Mitarbeit“ nebst Zusatzvereinbarung – die schon weit vor dem verbliebenen Tatzeitraum von ihm so konzipiert waren – vorgegeben (vgl. D. II. 2.) b) 1. und 3.), ebenso das „Mandats-Zuteilungssystem“ (D. II. 2.) a) 3.2. – im Hintergrund war Dr. S… für die Verteilung nach Rechtsgebieten verantwortlich), daneben die Bearbeitung einzelner Mandate direkt an einzelne Anwälte übertragen. Er hat den Kanzleisitz vorgegeben, die Betriebsmittelbeschaffung und Gestellung der wesentlichen Arbeitsmittel organisiert, die Kanzleibesprechungen geleitet, die „Neuen“ eingearbeitet, Streitigkeiten bei Ausscheiden einzelner Anwälte schriftlich ausgetragen. Er hat Werbung und Visitenkarten gestaltet, geschaltet und veranlasst, dass die dafür entstehenden Kosten von der Kanzlei getragen werden.
1349
b) Für die Frage, ob bezüglich des in Rede stehenden Tatzeitraumes ab Februar 2013 bis Ende Dezember 2017 der Angeklagte rechtlich Arbeitgeber der in seiner Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen war, ist Folgendes auszuführen:
1350
Gemessen an den von Rechtsprechung aufgestellten Kriterien ist die Kammer unter Berücksichtigung der erhobenen Beweise betreffend jeden einzelnen der im Tatzeitraum Februar 2013 bis Dezember 2017 für den Angeklagten tätigen Rechtsanwalte/innen in einer individuellen, personenbezogenen wertenden Gesamtbetrachtung der Überzeugung, dass aufgrund des Vertragsinhalts, aber v.a. der tatsächlichen Gegebenheiten also der „gelebten Beziehungen“, eine abhängige Beschäftigung gegeben war:
1351
Vorangestellt wird seitens der Kammer ausdrücklich nochmals betont, dass die jeweiligen Kriterien hinsichtlich jedes/r einzelnen Rechtsanwaltes/in individuell geprüft wurden.
1352
Betreffend der Rechtsanwältinnen Dr. H… und A… wurde der Sachverhalt gemäß § 154 (a) Abs. 2 StPO nicht weiter verfolgt:
1353
Bzgl. Dr. H… war – wie bereits erwähnt – die gelebte Zeit von weniger als 2 Monaten Tätigkeit sehr kurz. Außer der vertraglichen Vereinbarung und der geschilderten Einarbeitungszeit in der Kanzlei (entsprechend den auch von den anderen Anwälten geschilderten Modalitäten) konnten keine aussagekräftigen Feststellungen zur prägend gelebten Tätigkeit gemacht werden.
1354
Betreffend Ul. A… lag kein schriftlicher Vertrag vor. Das Gericht war zudem der Auffassung, dass deren Tätigkeit bei Tätigkeitsbeginn im Wesentlichen der Zuarbeit für L… und Dr. S… diente und sich von der originären Tätigkeit der übrigen Rechtsanwälte/innen in der Kanzlei inhaltlich unterschied („Sonderstellung“). Sie hatte ein eigenes Büro zu Hause, von wo aus sie auch oft arbeitete und wo sie auch spezielle Steuerprogramme installiert hatte, die ihr in der Kanzlei nicht zur Verfügung standen.
1355
Andererseits mied sie aber Außenkontakte und war nicht an einer erfolgsorientierten und finanziellen Verbesserung der Kanzlei interessiert, da die von ihr erwirtschafteten Honorare nicht ihrer Existenzsicherung dienten (Freude an juristischem Arbeiten stand im Vordergrund). Ab 2008 hatte sie auch in der Kanzlei ein eigenes, voll ausgestattetes Büro, welches sie wie die Kanzleiinfrastruktur einschließlich Personal grundsätzlich kostenfrei nutzen konnte und vor allem ab Ausscheiden von S. L… im Jahr 2012 auch nutzte, verbunden mit einer größeren Eingliederung in den Kanzleibetrieb. Auch sie erhielt im Falle von Abwesenheiten – aus welchem Grund auch immer – das vereinbarte Honorar weiterhin, sogar 2018, als sie aufgrund eines Skiunfalles von Januar bis Mai arbeitsunfähig war, wie sich aus Vorlage entsprechender Unterlagen durch die Verteidigung ergab.
1356
Allerdings fand bei ihr wegen des Skiunfalles und eines sich daran anschließenden Krankenhausaufenthaltes, sowie Reha anders als bei den übrigen noch verfahrensgegenständlichen Anwälten keine Durchsuchung statt. Weitere Ermittlungen erscheinen nach aktuellem Stand, insbesondere auch unter Berücksichtigung einer Verfahrensbeschleunigung, zeitnah nicht mehr erfolgversprechend.
aa) Vertragliche Regelung:
1357
Die im verbliebenen Tatzeitraum Februar 2013 bis Dezember 2017 in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen hatten alle eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung, mit Ausnahme der Rechtsanwälte N. L… und An. K…, zusätzlich eine „Zusatzvereinbarung“ auf gesondertem Blatt.
1358
Die als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung enthielt jeweils ebenso wie die „Zusatzvereinbarung“ in sprachlicher und inhaltlicher Hinsicht Formulierungen, die gegen freie Mitarbeiterschaft sprechen:
1359
In sprachlicher Hinsicht ist beispielhaft betreffend die vertragliche Vereinbarung nebst Zusatzvereinbarung etwa auf Folgendes hinzuweisen:
1360
Der „Freie Mitarbeitervertrag“ von Rechtsanwalt Ro. B… enthält die Formulierung (Ziffer 3.) Probearbeitsverhältnis, derjenige von N. … (ebenfalls Ziffer 3.) Probezeit.
1361
In den mit den jeweiligen Rechtsanwälten/innen geschlossenen Vereinbarungen findet sich durchgängig – mit leichten sprachlichen Abweichungen –, die Regelung, dass die Anwesenheiten und Abwesenheiten der freien Mitarbeiter mit dem allgemeinen Kanzleibetrieb zu koordinieren sind.
1362
Insoweit ist der Begriff des „Koordinierens“ – in den bezeichneten Verträgen – bereits von seiner sprachlichen Bedeutung her dahingehend festgelegt, dass verschiedene Dinge, Vorgänge o.ä. aufeinander abzustimmen, miteinander in Einklang zu bringen sind, d.h. verschiedene menschliche, soziale, wirtschaftliche und technische Vorgänge gegenseitig zu organisieren und zu regeln sind (begriffliche Herkunft vom lateinischen ordinäre = in Reih und Glied stellen, regeln, ordnen). Ist etwas – hier konkret die An- und Abwesenheiten – zu koordinieren, liegt eben gerade keine freie Verfügbarkeit vor, vielmehr insoweit eine Eingliederung in die konkreten Abläufe des Kanzleibetriebes.
1363
Im Übrigen wird betreffend die sprachlichen „Besonderheiten“ auf die im Rahmen der Beweiserhebung vom Zeugen Z. M. G… zusammengestellte, im Selbstleseverfahren „3“ V. eingeführte und im Rahmen der Beweiswürdigung nochmals dargestellte Liste betreffend die Vertragsformulierungen für jeden einzelnen Anwalt Bezug genommen (vgl. D. II. 2.) f) 1.).
1364
Keiner der Verträge enthält eine Beschreibung des von den Anwälten/innen zu erbringenden Leistungsbildes, ihrer Tätigkeit. Vielmehr wird der Kanzlei des Angeklagten – wie bei einem Arbeitnehmer – die ganze (konkret geistige) Arbeitskraft eines jeden Anwaltes zur Verfügung gestellt.
1365
In den Vereinbarungen finden sich Vorgaben in zeitlicher Hinsicht:
- betr. Rechtsanwalt B…: … wöchentlich mit 3 Tagen tätig ….
- betr. Rechtsanwältin Dr. M…: … Es werden 15 Wochenstunden zugrunde gelegt, die nach Möglichkeit in 3 Halbtagen geleistet werden ….
- betr. Rechtsanwältin F.: … bei voller Arbeitsleistung (40-60 Stunden/Woche). Beispielsweise wird bei einer reduzierten Leistungseinheit von 2 halben Tagen/Wochen 1/5 des Grundentgeltes zugrunde gelegt mit entsprechender linearer Anpassung für die Zukunft.
- betr. Rechtsanwalt L…: … bei voller Arbeitsleistung ….
- betr. Rechtsanwältin K…: … bei voller Arbeitsleistung ….
1366
Sofern neben der als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichneten Vereinbarung eine „Zusatzvereinbarung“ getroffen wurde, wurden in inhaltlicher Hinsicht durch letztere einige Regelungen des „Freien Mitarbeitervertrages“ faktisch wieder ausgehebelt (vgl. D. II. 2.) a) 3.3.; 3.6.; 3.7.; 3.8.; b) 2. und b) 4.). Darüber machten sich die Anwälte bei Abschluss des Vertrages keine Gedanken, sie unterschrieben die vom Angeklagten vorgegebenen Vereinbarungen, meist ohne sie überhaupt gelesen oder gar inhaltlich näher zur Kenntnis genommen zu haben – machten sie oft erst Monate/Jahre später – (Ausnahme: V… D. II. 2.) a) 3.2.), einfach aufgrund des Umstandes, dass sie den Job in der renovierten Kanzlei unbedingt haben wollten und als Berufsanfänger genaue rechtliche Bewertungen/Überprüfungen noch nicht vornehmen konnten oder wollten, zum anderen aber auch, weil die Vereinbarung alternativlos vom Angeklagten vorgegeben war – dem sie als erfahrenen Juristen zudem dahingehend vertrauten, „das schon alles passt“ – und von den älteren Kollegen jeweils als Standard und üblich angepriesen wurde.
1367
Es war also kein „Verhandeln“ der Inhalte der jeweiligen Vereinbarung zwischen „gleichwertigen“ Vertragspartnern, die ihre jeweiligen Interessen einbringen und aushandeln, gegeben, vielmehr auch insoweit ein Über-/Unterordnungsverhältnis:
1368
Keinem der Rechtsanwälte/innen eröffnete sich im Rahmen des Anbahnungs-/Einstellungsgespräches auch nur eine Wahlmöglichkeit für die Vereinbarungsgestaltung – … vom Angeklagten vorformuliert vorgelegt, kein inhaltliches Aushandeln … den neuen Rechtsanwälten/innen gegenüber wurde geäußert, es sei der Standardvertrag in der Kanzlei und ein jeder bekomme einen solchen … es gebe nichts anderes, als einen frei Mitarbeitervertrag … es habe keine Wahlmöglichkeit gegeben, der Inhalt sei nicht diskutabel gewesen … das Modell der freien Mitarbeiterschaft habe der Angeklagte vorgegeben … war seine Idee … üblich, von niemandem hinterfragt …). Vielmehr brachte der Angeklagte in den jeweiligen Einstellungsgesprächen deutlich zum Ausdruck, dass für ihn nur das „Modell der freien Mitarbeiterschaft“ in Betracht kommt, eine Auffassung, die er bereits seit Gründung der Kanzlei im Jahr 1982 vertrat, wie etwa auch die Rechtsanwälte F. (… er habe das dem Angeklagten überlassen, der habe Anwälte nicht als Arbeitnehmer einstellen wollen …), M… (… er habe von 2 anderen, als freie Mitarbeiter in der Kanzlei tätigen Anwälten einen entsprechenden Vertrag gehabt, der auf seine Person umgeändert worden sei …), L… (… in Stein gemeißelt …) oder G… (… das Modell der freien Mitarbeiterschaft sei in der Kanzlei des Angeklagten alternativlos gewesen …) schilderten. Der Angeklagte legte den Rechtsanwälten/innen jeweils einen bereits ausformulierten „Freien Mitarbeitervertrag“ nebst Zusatzvereinbarung zur Unterschrift vor. Die Anwälte unterschrieben, ohne dass zwischen ihnen und dem Angeklagten als Vertragspartner Vertragsinhalte ausgehandelt wurden, vielmehr „machten sie einfach bei dem bereits bestehenden Modell mit“.
1369
Die Kammer verkennt dabei nicht, wie von der Verteidigung bemängelt, dass der Umstand, dass der Angeklagte interessierten Rechtsanwälten/innen eine freie Mitarbeit und keinen Arbeitsvertrag anbot, Ausdruck seiner rechtlichen Möglichkeit ist; allerdings wäre der Angeklagte dann auch gehalten gewesen, die vereinbarte Beschäftigungsart tatsächlich so zu leben.
1370
In inhaltlicher Hinsicht war jedenfalls etwa festzustellen, dass es in dem „Freien Mitarbeitervertrag“ heißt „Der freie Mitarbeiter kann eigenes Personal beschäftigen“. Diese für Selbstständigkeit sprechende Formulierung ist aber durch die in der Zusatzvereinbarung getroffene Regelung „Die Beschäftigung eigenen Personals durch den freien Mitarbeiter und die Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei bedürfen der Zustimmung der Sozietät.“ faktisch wieder hinfällig. Ebenso verhält es sich zum Beispiel mit der Bestimmung im „Freien Mitarbeitervertrag“, dass der freie Mitarbeiter selbst werben kann, wenn in der Zusatzvereinbarung die Regelung festgeschrieben ist, „Werbemaßnahmen des freien Mitarbeiters sind mit der Sozietät abzustimmen und von dieser zu genehmigen.“
1371
Weiterhin ist der vertraglichen Regelung betreffend die im maßgeblichen Tatzeitraum in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen zu entnehmen, dass das vereinbarte Honorar sich unabhängig von Abwesenheiten (ohne Krankheit – also Urlaub – bis zu 28 Werktagen und mit Krankheit bis zu 30 Werktagen) bzw. bei L…, K… allgemein (keine Differenzierung nach Urlaub und Krankheit) 30 Werktagen p.a. bzw. 28 Werktagen p.a. (D… St.F.) bzw. 18 Halbtagen (Dr. M…) nicht verändert.
1372
Die Kammer verkennt zwar nicht, dass § 2 S. 2 BUrlG auch für sog. arbeitnehmerähnliche Personen (arbeitnehmerähnliche Selbstständige im Sinne des § 2 S. 1 Nr. 9 SGB VI) einen Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub normiert.
1373
Allerdings ist diese Norm nach Überzeugung der Kammer, da zwischen dem Angeklagten und den Anwälten evident ein Arbeitgeber-/Arbeitnehmerverhältnis bestand, also eindeutig die tatsächlichen Voraussetzungen für ein Arbeitsverhältnis „ohne Vertretbarkeit einer anderen Sicht der Dinge“ sprechen (vgl. nachfolgend), nicht einschlägig.
1374
Die festgeschriebene Honorarfortzahlung im Falle der Abwesenheit ohne Erkrankung, d.h. im Urlaubsfalle, ist insoweit (aber auch) nur eines der in die Gesamtbetrachtung einzustellenden Indizien, welches unter Berücksichtigung insbesondere der (noch darzulegenden) Annahme einer Eingliederung der Anwälte in den Kanzleibetrieb, einer gegebenen Weisungsgebundenheit und des Fehlens eines unternehmerischen Risikos der Anwälte aber eher als übliche Regelung von Urlaubstagen, die auch Arbeitnehmern bezahlt zur Verfügung gestellt werden („Obergrenze“), zu werten ist.
1375
Ebenso findet sich in den vertraglichen Regelungen keinerlei Hinweis, dass in dem vereinbarten Pauschalhonorar irgendein Kostenanteil für die Inanspruchnahme des zur Verfügung gestellten, vollständig eingerichteten Büros inklusive kanzleieigenem Personal und kanzleieigener Infrastruktur (Gestellung der wesentlichen sächlichen und persönlichen Arbeitsmittel) in Ansatz gebracht wurde. Vielmehr ist vertraglich sogar die Übernahme von Fortbildungskosten/Weiterbildungsmaßnahmen durch die Kanzlei festgeschrieben (Zusatzvereinbarung bzw. bei L… und K… im „Freien Mitarbeitervertrag“). Das jeweils vereinbarte feste Pauschalhonorar basiert auch nicht auf projektbezogenen Leistungen der Rechtsanwälte/innen, sondern ist wie bei „gewöhnlichen Arbeitnehmern ein festes Gehalt für die persönliche Erbringung einer Leistung“.
1376
Eine Umsatzbeteiligung ist in den Verträgen zwischen der Kanzlei des Angeklagten und dem/r jeweiligen Rechtsanwalt/in lediglich optional in Aussicht gestellt, eine Rechtssicherheit schaffende Regelung findet sich demgegenüber betreffend eine Umsatzbeteiligung nicht (abgesehen davon, dass alle im fraglichen Tatzeitraum tätigen Rechtsanwälte/innen übereinstimmend angaben – vgl. D. II. 2.) a) –, dass nach den tatsächlich gelebten Verhältnissen eine Umsatzbeteiligung ihrerseits nicht erfolgte, allenfalls vom Angeklagten in Abständen und nach seinem Ermessen eine Erhöhung des Pauschalhonorars festgesetzt wurde).
1377
Betreffend die Rechtsanwälte N. L… und An. K… war betreffend die vertraglichen Regelungen (im Jahr 2016) festzustellen, dass diese nur eine als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung mit der Kanzlei des Angeklagten schlossen.
1378
Inhaltlich fehlte auch diesen Vereinbarungen eine Leistungsbeschreibung der Tätigkeit und es blieb bei den Regelungen, dass An- und Abwesenheiten mit dem allgemeinen Kanzleibetrieb zu koordinieren sind, gleichfalls Werbemaßnahmen, sowie dass sich die Honorarzahlung bis zu einer Abwesenheit von 30 Werktagen p.a. nicht verändert, eine Umsatzbeteiligung optional angeboten wurde, Kosten für Weiterbildung von der Kanzlei getragen werden, ebenso Berufshaftpflichtversicherung und Kammerbeitrag.
1379
Ebenso muss darauf verwiesen werden, dass auch im Rahmen der Hauptverhandlung seitens der Rechtsanwälte/innen immer wieder Formulierungen gewählt wurden, die nicht mit einer freien Mitarbeiterschaft in Einklang zu bringen sind, ein Umstand, dem die Kammer im Hinblick darauf, dass es sich bei allen Zeugen um Volljuristen handelt, die zudem durch das gegenständliche Verfahren zusätzlich „sensibilisiert“ wurden und von denen viele mit Zeugenbeistand auftraten, nicht lediglich eine untergeordnete indizielle Bedeutung beimessen kann (vgl. z.B. H…: …. Assistent des Angeklagten …; … Gespräche über Gehaltsvorstellungen …; … seine Frau, Rechtsanwältin L…, habe einen Arbeitsgerichtsprozess gegen den Angeklagten führen wollen …; V…: … der Angeklagte gab Richtlinien in der Bearbeitung vor …; H…: … er sei in der Kanzlei im Prinzip Vollzeit tätig gewesen, 40 Wochenstunden …; … beim Ausscheiden habe er ein Empfehlungsschreiben bekommen, das aussehe wie ein Arbeitszeugnis – sein Verhalten gegenüber Vorgesetzten ist immer vorbildlich … Urlaubstage wurden vom Angeklagten offensichtlich gezählt …; B…: … das Wichtigste sei der Ausbildungsaspekt gewesen …; B…: … eine gute Ausbildung beim Angeklagten genossen ….; W…: … jeder Arbeitgeber sei doch froh, wenn er einen Entwurf des Arbeitszeugnisses bekomme …; Dr. St. M…: … sie habe ihre Arbeitskraft für die Kanzlei erbracht, für Dr. S… eingesetzt …; D…: … sie und die Kollegen hätten sich jedenfalls nicht getraut, zum Chef, Dr. S…, zu gehen und zu sagen, dass das mit der freien Mitarbeiterschaft schwierig sei …; … Lehrzeit …; St.F.: … sie habe ihre Zeit beim Angeklagten als Ausbildung, als Erprobung angesehen …; L…: … Fixlohn …. Probezeit …; … er sei Teil der Kanzlei gewesen, die von Dr. S… geführt und organisiert worden sei …; K…: … der Angeklagte habe sie an die Hand genommen, überall mit hingenommen, in Besprechungs-/Gerichtstermine, habe die Mandate gemeinsam mit ihr bearbeitet …; aber auch bereits M…: … von sich aus habe er keine Gehaltserhöhungen beansprucht …; G…: … überobligatorischer Arbeitsaufwand …. Gehaltserhöhungen …;).
bb) Tatsächlich gelebte Verhältnisse der ausgeübten anwaltlichen Tätigkeit:
1380
Neben diesen geschilderten sprachlichen und inhaltlichen Aspekten der zwischen der Kanzlei des Angeklagten und den Rechtsanwälten/innen geschlossenen Vereinbarungen, die bereits große Zweifel am Vorliegen einer freien Mitarbeiterschaft aufkommen lassen, sprechen gegen eine solche nach Überzeugung der Kammer aber v.a. die im Rahmen der Beweisaufnahme gewonnen Erkenntnisse über die tatsächlich gelebten Verhältnisse im Zusammenhang mit der Tätigkeit.
1381
In einer von der Kammer vorgenommenen Einzelbetrachtung je Anwalt/Anwältin, sowie einer jeweiligen wertenden Gesamtbetrachtung war die Zuordnung der gelebten Verhältnisse bezüglich jedes/r einzelnen, im verfahrensgegenständlichen Zeitraum beim Angeklagten tätigen Rechtsanwalt/in zum Typus der freien Mitarbeiterschaft verwehrt.
1382
Hierbei wurde anhand der Zeugenaussagen deutlich, dass alle Rechtsanwälte/innen im Wesentlichen in vergleichbarer Art und Weise beschäftigt waren und sich auch über die Zeit hinweg, d.h. auch im gesamten noch verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum, die Arbeitsbedingungen im Kern nicht geändert haben:
bb) 1. Kriterien Weisungsgebundanheit (betreffend Zeit/Dauer, Ort und Art/Inhalt):
1383
Wie im Rahmen der Hauptverhandlung von allen Verfahrensbeteiligten immer wieder zu Recht betont und auch den obigen allgemeinen Darlegungen zu entnehmen, ist eines der maßgeblichen Kriterien für die vorzunehmende Abgrenzung von abhängiger Beschäftigung und freier Mitarbeiterschaft bei der Betrachtung der tatsächlich gelebten Verhältnisse die Klärung der Frage, ob dem Auftraggeber, d.h. konkret dem Angeklagten gegenüber den im fraglichen Zeitraum in seiner Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen ein Weisungsrecht zustand und zwar betreffend Zeit/Dauer, Ort und Art/Inhalt der anwaltschaftlichen Tätigkeit (vgl. BGH, Urteil vom 18.07.2019 – 5 StR 649/18 Rn. 19; BAG, Urteil vom 11.08.2015 – 9 AZR 98/14 Rn. 16; LAG Berlin, Beschluss vom 27.01. 2014 – 4 Sa 1731/13 Rn. 30; LSG Berlin – Brandenburg, Urteil vom 15.02.2008 – L 1 KR 276/06).
1384
Das Bundesarbeitsgericht weist in dem zitierten Urteil vom 11.08.2018 darauf hin, dass das Weisungsrecht Inhalt, Durchführung, Zeit, Dauer und Ort der Tätigkeit betreffen kann (nicht muss) und Arbeitnehmer derjenige Mitarbeiter ist, der nicht im Wesentlichen frei seine Tätigkeit gestalten und seine Arbeitszeit bestimmen kann, wobei der Grad der persönlichen Abhängigkeit auch von der Eigenart der jeweiligen Tätigkeit abhängig ist.
1385
Verfahrensgegenständlich ist hinsichtlich der Frage einer Weisung des Angeklagten betreffend Zeit/Anwesenheit der jeweiligen Rechtsanwälte/innen zunächst festzustellen, dass es zwar keine Zeiterfassung etwa in Form einer Stechuhr gab.
1386
Die Möglichkeit der Überprüfung war aber durch die Einträge der Abwesenheiten im Kanzlei-Terminkalender, der dem Angeklagten durch die tägliche Vorlage eines aktuellen Terminkalenderblattes zugänglich war (vgl. Aussage R… D. II. 2.) d) 3.), jederzeit gegeben.
1387
Ob der Angeklagte dies tatsächlich bei jedem/r Rechtsanwalt/in überprüft hat oder nicht, konnte nicht abschließend festgestellt werden. Es war aber zum einen so, dass die Rechtsanwälte/innen während der üblichen Kanzleiöffnungszeiten/Kernzeiten (sofern sie keine Auswärtstermine hatten) eigentlich ausschließlich in der Kanzlei waren und zum anderen die vereinbarte Anzahl der Urlaubs- und Krankheitstage, bei der die Honorarzahlung unverändert blieb, grundsätzlich nicht annähernd ausreizten (Ausnahme: Rechtsanwältin D…), so dass es keine Veranlassung zu Beanstandungen gab (worauf nochmals eingegangen wird).
1388
Daneben ergaben sich aber durchaus Aspekte, die für eine gewisse tatsächliche Überprüfung der Abwesenheiten durch den Angeklagten sprechen:
1389
Insoweit sei etwa nochmals auf die Korrespondenz zwischen Rechtsanwalt An. H… und Dr. S…, insbesondere die Wh.-A. vom 11.06.2015 und die E-Mail vom 14.06.2015 verwiesen; aus beiden Dokumenten ergibt sich ein „Zählen der Urlaubstage“ (vgl. D. II. 2.) d) 3.3.).
1390
Auch gab es durchaus ein „Abstimmen“ der Urlaubstage mit dem Angeklagten (s. W… D. II. 2.) a) 3.8.; B…, D. II. 2.) a) 3.4.; D…, D. II. 2.) a) 3.10.; K… D. II. 2.) a) 3.14. – … abgesprochen, fragte Dr. S…, ob das passt …; L…, D. II. 2.) a) 3.13. – … Absprache, wer wann in Urlaub geht …) oder den Wunsch des Angeklagten, dass nicht alle Anwälte während der Sommerferien gleichzeitig in Urlaub gehen (vgl. A…, D. II. 2.) a) 3.5.) bzw. etwa an Brückentagen die Kanzlei unbesetzt ist (s. L…), und es stieß nicht auf Gegenliebe bei Dr. S…, wenn ein Anwalt in Urlaub gehen wollte, schon gar nicht, wenn er zwei Wochen in Folge gehen wollte (s. L… D. II. 2.) b) 5.; H…, D. II. 2.) a) 3.3.). Der Angeklagte fragte aber auch bei Sekretärinnen/dem Empfang nach, wann welcher Anwalt morgens anfangen würde; wenn er einen Anwalt nicht antraf (und kein Gerichtstermin im Terminkalender eingetragen war), war er darüber sehr verärgert und monierte dies (s. D. II. 2.) b) 5). Weiterhin wird zum Beispiel aus dem Schreiben Dr. S… an Dr. M… vom 07.02.2013 das Vorgeben zeitlicher Aspekte durch den Angeklagten gegenüber dieser Anwältin – wie geschildert – deutlich (Dr. M… äußerte zudem, dass die Möglichkeit bestanden habe, (lediglich) im Einzelfall zeitliche Verschiebungen vorzunehmen), ebenso den Schreiben vom 24.03.2016 an Rechtsanwalt L… oder dem vom 21.05.2015 an Rechtsanwältin F. (vgl. D. II. e.) 2.1. – 2.3.). Damit haben die in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte aber gerade nicht allein die Dauer ihrer Abwesenheiten bzw. ihres Urlaubes bestimmt (wie etwa die Auftragnehmerin in LAG Berlin, Beschluss vom 27.01.2014 – 4 Sa 1731/13 Rn. 33).
1391
Zu berücksichtigen ist auch, dass in den Vereinbarungen zwischen dem/der jeweiligem/r Rechtsanwalt/in und der Kanzlei die Rede davon ist, dass bis zu einer maximalen Jahresabwesenheit (grdsl. ohne Krankheit bis 28 Tage Werktage bzw. einer Abwesenheit mit Krankheit bis zu 30 Werktagen) die Honorarzahlung unverändert bleibt, eine Formulierung, aus der sich ebenfalls ergibt, dass betreffend die zeitliche Komponente eine Art „Obergrenze“ vorgegeben war.
1392
In den mit den jeweiligen Rechtsanwälten/innen geschlossenen Vereinbarungen findet sich aber auch betreffend den zeitlichen Aspekt eines Weisungsrechtes zum einen durchgängig (wie i.E. dargestellt) der Hinweis darauf – mit leichten sprachlichen Abweichungen –, dass die Anwesenheiten und Abwesenheiten der freien Mitarbeiter mit dem allgemeinen Kanzleibetrieb zu koordinieren sind, womit bereits (s.o.) eben gerade keine freie Verfügbarkeit vorliegt, vielmehr in zeitlicher Hinsicht eine Eingliederung in die konkreten Abläufe des Kanzleibetriebes.
1393
Zudem finden sich in einzelnen der Vereinbarungen Hinweise auf den zeitlichen Umfang und damit eine zeitliche Vorgabe der vereinbarten Tätigkeit – wie soeben ausgeführt -.
1394
Vertragliche Vereinbarungen zu Beschäftigungsverhältnissen – die ohnehin nicht schriftlich vorliegen müssen – enthalten in der Praxis meist zudem nicht abschließende Regelungen, sodass für den Angeklagten auch die Möglichkeit bestand, im Rahmen der tatsächlich gelebten Verhältnisse Weisungen vorzunehmen, was er auch tat, wie nachfolgend ausgeführt.
1395
Insoweit ist zu betonen, dass die Frage des WIE’s der Ausübung des Direktions-/Weisungsrechtes irrelevant ist, d.h. die Weisungserteilung kann nicht nur durch schriftliche oder verbale Äußerungen, sondern selbst durch Zunicken oder gar konkludent signalisiert werden; durch sie kann die Hauptpflicht des Beschäftigten konkretisiert werden, ebenso arbeitsbegleitende Ordnungen.
1396
In diesem Kontext ist im konkreten Fall von Bedeutung, dass alle im Tatzeitraum in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen – ebenso wie die bereits davor tätigen – im Kern übereinstimmend schilderten (vgl. i.E. D. II. 2.) a) 3. und b)), dass die Anwesenheit während der üblichen Kanzleizeiten vom Angeklagten gewünscht (H…, B…; B…; L…) war, erwartet (B…) wurde, eine entsprechende Anweisung bestand (H…) bzw. dass klar war, dass man während der Kernzeit des Kanzleibetriebes da sein musste (V…; D… – … es war völlig klar, dass man während des Kanzleibetriebes vor Ort sein musste … –; St.F.) bzw. sollte (W…), – andernfalls zeigte sich der Angeklagte Dr. S… verärgert, s. auch B… D. II. 2.) b) 6.) –, was eine (zulässige) mündliche bzw. konkludente Ergänzung/Konkretisierung der vertraglichen Vereinbarung, die An- und Abwesenheiten mit dem allgemeinen Kanzleibetrieb zu koordinieren, dargestellt. Der Angeklagte wies darauf in den monatlichen Kanzleibesprechungen (D. II. 2.) a) 3.5. – A…: das war schon relativ häufig, stand bei den Kanzleibesprechungen auf der Tagesordnung, Dr. S… hat es weiter gepredigt; auch betreffend einzelne Personen, etwa B… und V… ebenso D…; H…), bei denen die Anwälte/innen anwesend zu sein hatten, immer wieder hin, verknüpft mit der Umsatzsituation der Kanzlei; er äußerte immer wieder, dass da mehr raus zu holen sei, wenn die Rechtsanwälte/innen häufiger anwesend wären. Zudem wies er immer wieder darauf hin, dass die Anwesenheit zur Kernzeit wegen des Kanzleiablaufes auch notwendig sei (vgl. z.B. H…, D. II. 2.) a) 3.3.). Zum anderen forderte der Angeklagte anlassbezogen gegenüber einzelnen Rechtsanwälten/innen deren Anwesenheit zu Zeiten, die diese von sich aus nicht in der Kanzlei verbrachten. So schilderte etwa Rechtsanwältin K… einen Vorfall, als sie an einem Nachmittag bereits nach Hause gegangen war, der Angeklagte aber nach einem Termin betreffend ein großes Mandat noch mit ihr habe sprechen wollen und ihr gegenüber, nachdem sie nicht mehr anwesend gewesen war, am nächsten Tag geäußert hat: „Das geht nicht, dass Sie da nicht da sind!“ Die Zeugin A… berichtete davon, dass in Kanzleibesprechungen Aussagen des Angeklagten fielen wie: „Ihr müsst von da bis da anwesend sein.“ oder „Ihr könnt nicht so lange Mittag machen“ oder „Ihr könnt nicht erst mal in der Kanzlei frühstücken.“ An. D… (auch V… gab ergänzend Bemerkungen des Angeklagten gegenüber Anwältin an, wie „Sie sollten früher, kommen, könnten nicht irgendwann kommen!“.
1397
Die Anwesenheit zu den Kanzleikernzeiten war also dem Angeklagten für den Kanzleibetrieb und damit den Betriebsablauf (s. nachfolgend Eingliederung in den Kanzleibetrieb) relevant, er gab insoweit immer wieder Direktiven vor, ebenso gab es in den Kanzleibesprechungen immer wieder die Verknüpfung der Frage „Anwesenheit <-> Umsatzsteigerung“ durch den Angeklagten. Diese Sichtweise des Angeklagten, die Ausdruck seines arbeitgeberrechtlichen Weisungsrechtes ist, war für die in seiner Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen auch in der Form relevant, dass sie sich (grundsätzlich) daran gehalten haben (s. exemplarisch nochmals etwa W…, aber auch die übrigen Anwälte).
1398
Im Übrigen vertrat der Angeklagte die Ansicht, dass ein Anwalt, der nicht Vollzeitjurist sei, seiner Ansicht nach nicht ins Team passe (vgl. G…).
1399
Sofern seitens der Verteidigung darauf abgestellt wird, eine Weisung in zeitlicher Hinsicht durch den Angeklagten habe es nicht gegeben, da er die Anwesenheit in den Kernzeiten nur gewünscht habe, worin aber noch keine arbeitsrechtlich relevante Weisung zu sehen sei, teilt die Kammer diese Auffassung damit nicht: Zum einen wurde dieser Wunsch tatsächlich so gelebt, d.h. die in der Kanzlei tätigen Anwälte hielten sich grundsätzlich daran und waren in den Kanzleiöffnungszeiten (mit Ausnahme des Wahrnehmens von Gerichtsterminen oder Mandantenbesprechungen außerhalb der Kanzlei) im Büro verfügbar (s. auch D. II. 2.) d) 3., R…). Zum anderen ist das Weisungs-/Direktionsrecht eines Arbeitgebers dadurch gekennzeichnet – da es nicht möglich ist, sämtliche Eventualitäten bereits im Vorfeld arbeitsvertraglich zu regeln –, dass der Betriebsablauf gesteuert wird, er Anordnungen über die Einzelheiten der notwendigen Ordnung und des Verhaltens im Betrieb näher bestimmt, vorgibt, so wie es der Angeklagte tat.
1400
Anwälte, die während der üblichen Kanzleizeiten (und auch darüber hinaus) anwesend waren, wurden persönlich nicht nochmals ausdrücklich vom Angeklagten auf eine Anwesenheit während der Kernkanzleizeiten hingewiesen bzw. wegen Nichteinhaltung kritisiert. Daraus kann aber im Umkehrschluss nicht gefolgert werden, dass diese in ihrer zeitlichen Einteilung völlig frei gewesen wären; es hatte dann insoweit eben kein Anlass für den Angeklagten bestanden, hinsichtlich des Themas „Anwesenheit“ – „Koordinierung der An- und Abwesenheiten mit dem Kanzleibetrieb“ Kritik zu äußern und die Anwesenheit während der Kanzleiöffnungszeiten nochmals ausdrücklich einzufordern.
1401
Insgesamt ist damit sowohl nach den vertraglichen Formulierungen als auch nach den gelebten Verhältnissen davon auszugehen, dass in zeitlicher Hinsicht Weisungen des Angeklagten bestanden, wobei seitens der Kammer ausdrücklich nochmals darauf verwiesen wird, dass für die Annahme einer Tätigkeit nach Weisung (auch in zeitlicher Hinsicht) nicht Voraussetzung ist, dass dem Dienstherrn ein ins Einzelne gehendes Weisungsrecht zusteht und von ihm ausgeübt wird (ErfK/Rolfs, a.a.O., SGB IV, § 7 Rn. 10).
1402
Unabhängig davon, dass alle Rechtsanwälte/innen mit Beginn ihrer Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten ein eigenes Büro zugewiesen bekamen und zu Hause über kein eigenes Büro verfügten (Fehlen einer eigenen Betriebsstätte) bzw. dort nur marginal Tätigkeiten für die Kanzlei verrichteten (1-2 % der Tätigkeit für die Kanzlei zu Hause erbracht, so H… bzw. 5 %, so B…, aber kein Empfang von Mandanten o.ä.), war (mit der zeitlichen Vorgabe) aber auch der Ort, an dem die Rechtsanwälte/innen ihre vertraglich vereinbarte Hauptpflicht zu erbringen hatten, bestimmt, nämlich am Sitz der Kanzlei des Angeklagten:
1403
Die Rechtsanwälte/innen sollten während der Kanzleizeiten in der Kanzlei anwesend sein und dort ihre anwaltschaftliche Tätigkeit (Mandatsbearbeitung, Beratung der Mandanten etc.) erbringen und waren das (fast ausschließlich) auch (es war also betr. die gelebten Verhältnisse gerade nicht so, wie etwa bzgl. des dem Beschluss des LAG Düsseldorf vom 21.08.2018 – 8 Ta 288/18 zugrunde liegenden Sachverhaltes, dass der Auftraggeber lediglich die Möglichkeit der Nutzung der Büroräume anbot, vielmehr war klar, dass die Anwälte die Büroräume während der Kanzleikernzeiten nutzen mussten und nutzten). Auch war es so, dass sowohl die abgelegten (Archiv im Keller der Kanzlei) als auch die aktuell laufenden Fälle (Büro bzw. Vorzimmer), also die Akten der Mandanten und das notwendige Equipment sich ausschließlich in der Kanzlei befand. Die Betriebsmittel und das notwendige Personal, die Rechtsanwaltsgehilfinnen, die für die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte und den Inhalt ihrer Arbeit notwendige Tätigkeiten verrichteten (vgl. etwa Aktenanlagen, Terminsabsprachen, Führen des Fristenkalenders und Überprüfung der Fristen, Schreiben der Diktate einschließlich der Rechnungen an die Mandanten, Eintreibung von Forderungen bei Ausfall etc.) und sonstige Mitarbeiter, wie Buchhalterin, waren in der Kanzlei örtlich verfestigt, wo ebenfalls Literatur, Internetzugang, Rechtsanwaltsprogramme etc. vorhanden waren und von den Anwälten zur Erbringung ihrer vertraglich vereinbarten Leistung genutzt wurden. Die Tätigkeit konnte schwerpunktmäßig nur am Sitz der Kanzlei des Angeklagten verrichtet werden (Anwälte hatten keine eigene Betriebsstätte, wo sie etwa Mandanten hätten empfangen können) und wurde es auch. Dass ab und zu Akten zur Vorbereitung eines Falles/eines Gerichtstermines oder zur Vertiefung am Wochenende oder am Feierabend mit nach Hause genommen wurden, steht der Bewertung der örtlichen Gebundenheit nicht entgegen. Die Zeugen, die gelegentlich in der Freizeit zuhause arbeiteten, berichteten zudem, dass sie zwar seit dem Studium oder der Promotion etwa einen Computer zuhause hatten, sonst aber keine nennenswerten Gerätschaften/Arbeitsmittel angeschafft hatten, die eine vollwertige anwaltliche Arbeit ermöglichen hätten.
1404
Damit haben aber alle Rechtsanwälte/innen, die dem Sachverhalt Ziffer C. des Urteils zugrunde gelegt sind, ihre Tätigkeit in prägender Weise am Kanzleisitz des Angeklagten in der Marktlerstr. 15 b in B. bzw. nach Umzug der Kanzlei in der Wackerstraße ausgeführt, ein Umstand, der zudem dem Koordinieren der An- und Abwesenheiten mit dem Kanzleibetrieb und der Weisung des Angeklagten nach Anwesenheit während der Kanzleiöffnungszeiten zwingend geschuldet war.
1405
Bei der Gewichtung des Kriteriums inhaltliche Weisungen ist zunächst allgemein zu berücksichtigen, dass sogar das Fehlen inhaltlicher Weisungen oder ein eingeschränktes Weisungsrecht ein weniger gewichtiges Argument für die im Räume stehende Abgrenzungsfrage ist, soweit es sich um einen „freien Beruf“, wie den des Rechtsanwalts handelt (vgl. etwa Urteil des BSG vom 04.06. 2019 – B 12 R 2/18 R und E. I. 1.), allgemeine rechtliche Ausführungen).
1406
Umgekehrt ist es aber ein gewichtiges Argument für die Annahme des Status „abhängige Beschäftigung“, wenn ein Weisungsrecht, gerade inhaltlich, in der Ausübung eines „freien Berufs“ besteht oder auch nur in Einzelfragen tatsächlich ausgeübt wurde.
1407
Die wesentliche Grundlage eines „freien Berufs“ ist die Ausübung der Tätigkeit in freier Art und Weise. Rechtsanwälte/innen sind nach § 1 BRAO unabhängige Organe der Rechtspflege; sie üben den Beruf frei aus und ihre Tätigkeit ist kein Gewerbe (§ 2 BRAO). Aus § 1 BORA folgt, dass der Rechtsanwalt seinen Beruf frei, selbstbestimmt und unreglementiert ausübt.
1408
Auch wenn der Verteidigung Recht zu geben ist, dass die Freiheit der Advokatur, wie sie in § 2 BRAO festgeschrieben ist, grundsätzlich gewährleisten soll, dass bei der Ausübung der Advokatur staatliche Kontrolle und Bevormundung ausgeschlossen ist und die Advokatur unter der Herrschaft des Grundgesetzes der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des Einzelnen überantwortet ist, soweit sie nicht durch verfassungsgemäße Regelungen beschränkt ist, ergibt sich daraus trotzdem, dass für die Ausübung des Berufes des Anwaltes die Erbringung ideeller Leistungen im Vordergrund steht, der Anwalt Mandanten umfassend beisteht und deren Interessen auf der Grundlage eines bestehenden besonderen Vertrauensverhältnisses unabhängig, frei und uneigennützig wahrnimmt und damit Dienstleistungen höherer Art erbringt.
1409
Das Berufsbild des Rechtsanwaltes ist damit, was die Frage der Weisungsgebundenheit oder Weisungsungebundenheit als Kriterium für die Abgrenzung freier Mitarbeiterschaft von abhängiger Beschäftigung anbelangt, nicht mit den von der obergerichtlichen Rechtsprechung bisher geprüften klassischen „Gewerben“ vergleichbar. Vielmehr ist der Beruf des Rechtsanwaltes als „freier Beruf“ ein Beruf höheren Dienstes, bezüglich dem der Frage der Weisungsgebundenheit nicht die gleiche Bedeutung zukommt, wie etwa im Gaststätten- oder Baugewerbe. Vielmehr können Weisungsgebundenheit und Direktionsrecht in inhaltlicher Hinsicht auch bei abhängiger Beschäftigung, insbesondere beim qualifizierten Beruf der Anwaltstätigkeit, anerkanntermaßen stark eingeschränkt sein, sogar fast fehlen; trotzdem kann die Leistung fremdbestimmt sein, wenn sie ihr Gepräge von der Ordnung des Betriebes erhält, in deren Dienst die Arbeit verrichtet wird (vgl. BSG, Urteil vom 04.06.2019 – B 12 R 2/18 R Rn. 24).
1410
In Bezug auf den konkreten, verfahrensgegenständlichen Fall ist insoweit zunächst von Bedeutung, dass bereits vor dem verfahrensgegenständlichen Zeitraum ein seit Jahrzehnten etabliertes „System der Kohtaktzuteilung“ in Bezug auf die jeweils in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte bestand, ein Verteilungssystem, für das der Angeklagte Dr. S… verantwortlich war (vgl. D. II. 2.) a) 3.2.; b) 1. und 2.). Die Anwälte unterlagen damit bereits durch die Art und Weise der Zuteilung ihrer Arbeit, wie sie in der Kanzlei des Angeklagten durch ihn initiiert praktiziert wurde, einer inhaltlichen Weisung (der persönlichen Leistungserbringung bzgl. des zugeteilten Mandates), aber auch einer Eingliederung in den Organisationsablauf und die Rahmenbedingungen der Kanzlei (s. nachfolgend).
1411
Kontakte wurden über den Empfang/die Sekretärinnen den in der Kanzlei tätigen Anwälten nach Fachgebieten zugeteilt. Entgegen der von der Verteidigung gelegentlich vorgebrachten Ansicht, dieses System habe „nichts mit dem Angeklagten zu tun“, ist etwa durch die Aussage des Zeugen V… dokumentiert, dass das System der Mandatsverteilung durch Empfang/Sekretariat durch den Angeklagten selbst etabliert worden war – Dr. S… war im Hintergrund für die Verteilung nach Rechtsgebieten zuständig, D. II. 2.) a) 3.2. – (vgl. auch L…: … an die Mandate kamen die Anwälte über den Empfang/die Sekretärinnen nach Fachgebiet, Dr. S… hatte das so mit den Sekretärinnen besprochen …, D. II. 2.) b) 5.).
1412
Den einzelnen Anwälten war zudem – sofern mehrere Anwälte/innen das gleiche Fachgebiet bearbeiteten – der Verteilungsschlüssel unbekannt (s. z.B. H…, B… B…, Dr. M… D…).
1413
Auch gab es zum Teil Mandatszuweisungen und damit „Bearbeitungsaufträge“ direkt und persönlich durch Dr. S… (vgl. B… – … Es habe immer wieder Mandate gegeben, wo er vom Angeklagten angehalten worden sei, etwas zu tun, was ihm nicht sinnvoll erschienen sei … Akte „S… – … Trotzdem wolltest du/H. die Akte bearbeitete haben … –; B…: … Treuhandangelegenheiten … mit Dr. S… abgestimmt, dass er diese aus taktischen Gründen nicht auf Kanzleinamen, sondern auf eigenen Namen bearbeiten sollte …; St.F.: … Dr. S… habe ihr die Akten zur Bearbeitung zugeteilt und sie habe sich dieser Akten angenommen; D…: … Dr. S… äußerte, sie solle die Beratertätigkeit betr. den Haus- und Grundbesitzerverein mitmachen …; St.F.: … ich bekam die Akten direkt von Dr. S… zugeteilt …; K…: … neben der Fallzuweisung nach Rechtsgebieten durch den Empfang wurden ihr auch Mandate von Dr. S… zugewiesen …; G…: … auch wenn Forderungsausfall drohte, war Mandat zu bearbeiten, war der Mentalität des Angeklagten – „Augen zu und durch“ – geschuldet …), ohne dass es insoweit zu einer vorherigen Absprache bzw. einem „gleichberechtigten Einverständnis“ des „zuständigen Anwaltes“ gekommen wäre. Etwas „einfach zu machen“, war nicht möglich (vgl. etwa L…: … Arbeitsrecht hätte ich aber nicht machen können …; oder Streit zwischen A… und K… über die Zuweisung von Fällen).
1414
Der „Neue“ musste zudem oft zunächst kleinere, unrentable Zivilverfahren („Kleinscheiß“), wenig lukrative TelekomMandate bearbeiten (vgl. H…; B… D…, B…).
1415
Die Zeugin A… schilderte außerdem, dass im Rahmen der Kanzleibesprechungen die anstehenden Gerichtstermine durchgegangen wurden, und dann, wenn für einen Anwalt zwei Termine zeitgleich eingetragen waren, Dr. S… bestimmte, wer welchen Termin wahrnehmen müsse.
1416
Betreffend die Beurteilung der konkret gelebten tatsächlichen Verhältnisse in der Kanzlei des Angeklagten im fraglichen Tatzeitraum ist nach Überzeugung der Kammer unter Berücksichtigung der Aussagen der beschäftigten Rechtsanwälte/innen weiterhin davon auszugehen, dass der Angeklagte auch bezüglich der Art/des Inhaltes der Aktenbearbeitung durchaus immer wieder ein Weisungsrecht ausübte:
1417
Dies folgt für die Kammer insbesondere aus der Schilderung der Zeugen, dass es zu Beginn der Tätigkeit eines jeden/r Rechtsanwaltes/in eine „Einarbeitungszeit“ (H… D… K…ner), „Probearbeitszeit“ (B… so auch in seinem „Freien Mitarbeitervertrag“ formuliert), „Ausbildungszeit“ (B…) bzw. „Probezeit“ (L…) gab, Ausbildungsaspekte (B…) und Qualitätskontrolle (B…) durch den Angeklagten in der „Anfangsphase“ im Vordergrund standen, der die „Neuen“ an die Hand nahm, Mandate gemeinsam mit diesen bearbeitete (K…) bzw. dies eine Zeit der Ausbildung, der Erprobung war (St.F.).
1418
Diese Eingliederung und inhaltliche Reglementierung/Kontrolle zu Arbeitsbeginn (im Übrigen auch bereits vor dem verfahrensgegenständlichen Zeitraum so tatsächlich gelebt und praktiziert, vgl. D. II. 2.) b) 2. und 4.) durch den Angeklagten war auch seine Absicht, wie etwa durch die Aussage der Zeugin Da. W… (wenn neue Anwälte gekommen seien, habe der Angeklagte gesagt, wegen der praktischen Einarbeitung, dass der jeweilige Anwalt erst einmal über sein Vorzimmer laufen soll) belegt ist.
1419
Während dieser Zeit musste „der Neue“ alle Schriftsätze dem Angeklagten vorlegen, welcher diese nicht nur in sprachlicher Hinsicht, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht, Rechtsfragen betreffend, korrigierte. Der Angeklagte war es – und zwar auch schon in den Jahren, Jahrzehnten vor dem verfahrensgegenständlich verbliebenen Zeitraum; vgl. Er.…, der ein einheitliches Auftreten der Kanzlei nach außen bei den neuen Anwaltskollegen etablieren wollte und etablierte (- … Korrekturmappe … (V…, H…; G…); … inhaltlich-juristische Vorgaben; … ich war Assistent des Angeklagten … (H…), … Korrekturmappe – der Angeklagte gab die Richtlinien in der Bearbeitung vor … (V…), … meine Arbeit war auch inhaltlich sehr stark durch den Angeklagten geprägt … (B…); … der Angeklagte erteilte mir Anweisungen inhaltlicher Art … (B…); … da ging ein Schriftsatz auch schon mal 4-5 mal hin und her … (G…); … einheitliches Auftreten nach außen … (B… L…); … quasi an der Hand geführt … (B…); … Notizzettel …; … sie habe sich ja in der Lehrzeit befunden … (D…) … bei Gericht hieß es, wenn neue Anwälte auftraten … ein „S…-Schriftsatz“ … (M…).
1420
Die Korrekturen nahm der Angeklagte vor, der/die jeweilige Rechtsanwalt/in übernahm sie (… nicht getraut, dass nicht anzunehmen … – K… –); auch dies war „etabliert“ (… habe es so gemacht, wie Dr. S… es wollte – L…: … bemüht, die Vorgaben von Dr. S… bestmöglichst umzusetzen und zu erfüllen … – M…). Diese jeweilige Einarbeitungs-/Ausbildungs- bzw. Probearbeitszeit dauerte mehrere Monate (vgl. Zeugen V…, H…, W…) bis zu 2-3 Jahren (H…; B… B…; M…).
1421
Eine solche Handhabung widerspricht in groben Maße einer selbstständigen Tätigkeit, gerade unter Berücksichtigung des Charakters des „freien Berufs“ eines Rechtsänwalts.
1422
Nach Ablauf dieser jeweiligen Einarbeitungs-/Ausbildungs- bzw. Probearbeitszeit wurde die inhaltliche Gestaltung der Tätigkeit für die in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen – so ihre Aussagen – freier, wenn der Angeklagte auch in Einzelfällen gegenüber den Anwälten immer wieder inhaltlich Einfluss nahm.
vgl. H… Wh.-A. des Angeklagten an H… vom 11.06.2015, die Ausdruck zeitlicher und inhaltlicher Weisung durch Dr. S… ist …. ….
Du hattest mir deine Arbeitsleistungen mehr oder weniger bis Ende Juni 2015 zugesagt. Dein derzeitiger Urlaub passt nicht in die Abläufe, zumal du im 1. Halbjahr 2015 bereits 32 Urlaubstage gebucht hast, abgesehen von der Abwesenheit für die Schule und von Krankheitstagen. Ich bitte um Bearbeitung der laufenden Verfahren bis zu deinem Ausscheiden. ….
B…: … auch nach der Ausbildungsstation kam es immer wieder zu Abstimmungen mit dem Angeklagten auch in inhaltlicher Hinsicht ….
B… – …. Es habe immer wieder Mandate gegeben, wo er vom Angeklagten angehalten worden sei, etwas zu tun, was ihm nicht sinnvoll erschienen sei … Akte „S… – … Trotzdem wolltest du/H. die Akte bearbeitete haben … (Korrespondenz im Zusammenhang mit dem Ausscheiden)
Dr. M…: … bis zuletzt hat sich der Angeklagte ab und zu „eingemischt“ …
D…: … auch nach der Einarbeitung ab und zu „eingemischt“ …
K…: … auch nach der Einarbeitungszeit hat der Angeklagte immer wieder Einfluss auf die Bearbeitung der Mandate in inhaltlicher Hinsicht ausgeübt, bis zum Ende vor allem bei größeren Mandaten, bezüglich derer viel. Honorar im Raum stand …
G…: … auch wenn Forderungsausfall drohte, war Mandat zu bearbeiten, war der Mentalität des Angeklagten – „Augen zu und durch“ – geschuldet …
1423
Zudem kam es vor, dass der Angeklagte betreffend die zeitliche Komponente der Mandatsbearbeitung konkrete Vorgaben machte, was etwa von der Zeugin L… (D. II. 2.) b) 5.) auch unter Berücksichtigung der in § 11 BORA geregelten anwaltschaftlichen Berufspflicht als Taktung der Mandatsbearbeitung, eine Art Zertifizierung angesehen wurde, bezüglich derer der Angeklagte auch, wenn sich ein Anwalt nicht daran hielt, deutlich Unmut zum Ausdruck brachte.
1424
Unter Berücksichtigung der dargelegten Aspekte zum Charakter des „freien Berufs“ spricht unabhängig davon aber auch die für den jeweiligen Anwalt im Laufe der Zeit gewonnene Freiheit (diese bestätigen alle im verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum noch tätigen Anwälte, auch die zuvor tätigen Anwälte) nicht gegen die Annahme abhängiger Beschäftigung:
1425
Denn – wie dargelegt – kommt unabhängig davon, dass zu Beginn der Tätigkeit eines/r jeden Rechtsanwälte/in nach der Schilderung der Zeugen keine inhaltliche Weisungsunabhängigkeit in der Kerntätigkeit, der Mandatsbearbeitung, gegeben war (und auch danach ab und zu), diesem Kriterium für den Zeitraum der Tätigkeit nach der jeweiligen „Einarbeitungs-, Ausbildungs-/Probearbeitszeit“ aus Sicht der Kammer aus den genannten Gründen (Organ der Rechtspflege, Berufsausübung frei, selbstständig und unreglementiert; §§ 2, 3 BRAO; § 1 BORA; Erbringung von Diensten höherer Art, in denen sich die Weisungsgebundenheit zur funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess verfeinern kann) aber kein so gewichtiges Indiz zu. Anerkanntermaßen stellt die Eigenverantwortlichkeit des Dienstleistenden vor allem bei Diensten höherer Art (allein) ohnehin noch keinen gewichtigen Beweis für eine persönliche Unabhängigkeit dar (vgl. „Honorararzt“ BSG, Urteil vom 04.06.2019 – B 12 R 2/18 R Rn. 24).
1426
Dies zeigt auch die vergleichende Betrachtung der Tätigkeit der jeweiligen Anwälte außerhalb der Kanzlei des Angeklagten (davor oder danach), soweit sie als angestellte Anwälte beschäftigt waren, hinsichtlich derer beispielhaft nur nochmals auf die Angaben einiger Zeugen verwiesen wird (s. im Übrigen Zusammenstellung oben D. II. 2.) e) 2.):
* Zeugin Dr. St. M… vor Eintritt in die Kanzlei des Angeklagten Arbeitnehmerin in einer Anwaltskanzlei: gewünschter Urlaub auf Antrag und Zeiterfassung am PC auf Vertrauensbasis, im Übrigen wies Tätigkeit, v.a. den Inhalt der anwaltschaftlichen Tätigkeit betreffend, kein Unterschied zu Dr. S… auf (vgl. D. II. 2.) a) 3.9.);
* Zeugin D… -> nach Ausscheiden beim Angeklagten angestellte Anwältin in Münchner Kanzlei; dort keine Arbeitszeiterfassung, Chef schaute nur, dass man nicht zu früh geht; inhaltlich war es so, dass der Chef sie mal zu Gerichtsterminen von Kollegen geschickt hat (nach Aussage der Zeugin A… aber auch beim Angeklagten so), sonst kein Unterschied zum Arbeiten bei Dr. S…;
* Zeugin St.F.> war vor der Tätigkeit in der Kanzlei des Angestellten in einer Nürnberger Großkanzlei festangestellte Anwältin, inhaltlich war ihre Tätigkeit in dieser Kanzlei auch frei (vgl. D. II. 2.) a) 3.11.);
* Zeuge L… -> später, nach Ausscheiden aus der Kanzlei des Angeklagten, auch angestellter Rechtsanwalt; aus seiner Sicht eigentlich zur Tätigkeit und den Abläufen in der Kanzlei des Angeklagten kein Unterschied, weder betreffend Inhalt noch zeitliche und räumliche Ausgestaltung, keine Zeiterfassung, auch betreffend Urlaub und Krankheit sowie beim Angeklagten (vgl. D. II. 2.) a) 3.13.).
1427
Der Beruf des Rechtsanwaltes ist eher mit anderen freien Berufen, wie etwa dem des Honorararztes in Krankenhäusern oder Architekten vergleichbar.
1428
Insoweit hat das Bundessozialgericht etwa mit Urteil vom 04.06.2019 (B 12 R 2/18 R Rn. 24) zum einen herausgestellt – wie bereits angesprochen –, dass Weisungsgebundenheit und Eingliederung in den Betrieb nicht kumulativ vorliegen müssen, eine Eingliederung nicht zwingendgend mit einem umfassenden Weisungsrecht einhergeht, und zum anderen, dass eine Dienstleistung vielmehr bereits dann fremdbestimmt ist, wenn sie ihr Gepräge von der Ordnung des Betriebes erhält, etwa durch die Bereithaltung von jederzeit verfügbarem, besonders geschultem Personal und die Einbindung der Ärzte in Qualitätssicherungs- und Kontrollmechanismen.
1429
In diesen Fällen der Erbringung von Diensten höherer Art verfeinerte sich die Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers „zur funktionsgerechten, dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“.
bb) 2. Kriterium Eingliederung in den Kanzleibetrieb:
1430
Nach Überzeugung der Kammer sind diese Vorgaben auf die in der Kanzlei des Angeklagten im maßgeblichen Tatzeitraum tätigen Rechtsanwälte/innen zwanglos übertragbar.
1431
Bezüglich der Anwälte ist das zentrale Abgrenzungskriterium der Eingliederung in die Organisation des Weisungsgebers, d.h. in Rahmenbedingungen und Organisationsabläufe der Kanzlei des Angeklagten, eindeutig zu bejahen (vgl. etwa BGH, Urteil vom 18.07.2019 – 5 StR 649/18 Rn. 19; BSG, Urteil vom 04.06.2019 – B 12 R 2/18 R Rn. 23; LSG Berlin – Brandenburg, Urteil vom 15. 02.2008 – L 1 KR 276/06; Dr. Kock, NJW 2021, 993;).
1432
Die bereits dargelegte, von den Rechtsanwälte/innen geschilderte Eingliederung in den Kanzleibetrieb ergibt sich zum einen aus den Vorgaben des Angeklagten betreffend Zeit und Ort.
1433
Die Dienstleistungen als solche, die die in der Kanzlei des Angeklagten im fraglichen Tatzeitraum tätigen Rechtsanwälte/innen zu erbringen hatten, waren von der Ordnung des Kanzleibetriebes geprägt, ihre Tätigkeit war und wurde im Dienste des Kanzleibetriebes eingesetzt.
1434
So war schon die Zuteilung der Mandate und damit die Kerntätigkeit der Anwälte durch den kanzleiinternen Organisationsablauf bestimmt (s. vorangegangene Ausführungen: – Zuweisung der Kontakte und Mandate grundsätzlich über Empfang und Sekretariat nach Fachgebieten, ein System, welches seit Bestehen der Kanzlei 1982 vom Angeklagten vorgegeben und gelebt wurde; – Anwälte gleicher Fachgebiete hatten keine Kenntnis davon, wonach sich der Verteilungsschlüssel ausrichtete; – gelegentlich kam es deshalb zu Unstimmigkeiten, vgl. etwa Verärgerung der Zeugin K… darüber, dass Fälle, die sie wollte und für den Fachanwalt brauchte, Rechtsanwältin A… zugewiesen wurden; – Umstand, dass die „Neuen“ den wenig lukrativen „Kleinscheiß“, TelekomMandate zugewiesen bekamen und bearbeiten mussten; – aber auch Zuweisung von Einzelfällen/-aufgaben durch den Angeklagten Dr. S… persönlich).
1435
Alle dem Sachverhalt Ziffer C. zugrunde liegenden Anwälte hatten in den Kanzleiräumlichkeiten ein eigenes, voll ausgestattetes Büro nebst Kanzleiinfrastruktur und kanzleieigenem Personal, die Akten – sowohl die laufenden wie die beendeten – befanden sich in der Kanzlei (Büro/Vorzimmer/Archiv). Über eine eigene Betriebsstätte verfügte keiner der Anwälte, ebenso wenig über eigenes Personal, eigene Angestellte. Gegenüber dem kanzleieigenen Personal hatten sie keine Weisungsbefugnis (vgl. W… D. II. 2.) a) 3.8., F. D. II. 2.) a) 3.11. oder L… D. II. 2.) a) 3.13.).
1436
Die als „Freier Mitarbeitervertrag“ bezeichnete Vereinbarung enthielt jeweils den Passus, der freie Mitarbeiter kann eigenes Personal beschäftigen, in der jeweiligen Zusatzvereinbarung war dieser Passus jedoch dahingehend „relativiert“, dass die Beschäftigung eigenen Personals durch den freien Mitarbeiter und die Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei der Zustimmung der Kanzlei bedürfen.
1437
Das besonders geschulte Personal in Form von Sekretärinnen/Rechtsanwaltsgehilfinnen stand den Rechtsanwälten/innen jederzeit zur Verfügung, und übte für die von den Anwälten zu erbringenden Dienstleistungen notwendige Tätigkeiten und „Kontrollen“ aus, etwa in der Form, dass die in der Kanzlei angestellten Sekretärinnen/Rechtsanwaltsgehilfinnen Akten an- und vorlegten, Termine absprachen (auch Terminkalender führten), Fristen überwachten, Diktate und Rechnungen schrieben, Zahlungseingänge kontrollierten/überwachten, ggf. auch Mahnungen schrieben und Forderungen eintrieben usw. Jede/r Anwalt/in hatte – entsprechend seinem/ihrem Fachgebiet – ein Vorzimmer mit 2 Sekretärinnen/Rechtsanwaltsfachgehilfinnen, welche – wie bereits mehrfach ausgeführt – Telefonate entgegennahmen und Kontakte auf die Anwälte verteilten. Es war aber beispielsweise auch erforderlich, dass den Sekretärinnen/Rechtsanwaltsgehilfinnen An- und Abwesenheiten der Anwälte bekannt waren (diese mussten daher in einen Terminkalender eingetragen werden), um Terminsabsprachen mit Mandanten/Kontakten für die Anwälte treffen zu können. Dies war ein Organisationsablauf, den der Angeklagte im Wesentlichen bereits seit Gründung der Kanzlei 1982 installiert hatte und der auch im gegenständlichen Tatzeitraum Februar 2013 bis Dezember 2017 als etabliertes Modell gelebt/gehandhabt wurde. Hinsichtlich des kanzleieigenen Personals in Form von Sekretärinnen/Rechtsanwaltsgehilfinnen/Buchhalterin/Putzfrau hatten die Anwälte keinerlei Einflussmöglichkeit, geschweigedenn Mitspracherecht (Einstellung/Kündigung etc.), sie mussten dafür auch keinerlei Kosten bzw. Kostenanteil erbringen, kannten diesen Kostenfaktor nicht einmal (vgl. H… V… H…, B…; W… Dr. M…, D…; St.F..
1438
Diese, durch die Nutzung des Kanzleibüros (als einziger Betriebsstätte) und des kanzleiinternen Personals bereits gegebene „Verzahnung“ mit dem Kanzleibetrieb ist aus Sicht der Kammer weiterhin dokumentiert dadurch, dass den Anwälten die wesentlichen Arbeitsmittel zur Verfügung gestellt wurden, ohne dass ihnen ein Kostenanteil für Miete, Büroeinrichtung, Heizung, Strom, Software, EDV nebst Programmen für Rechtsanwälte, Hardware, Computer, Kopierer, Drucker, Wartung der Geräte und Softwareupdates, Telefon- und Papier-, Portokosten etc. in Rechnung gestellt wurde. Die Kosten für die Gestellung der wesentlichen Arbeitsmittel wurden ausschließlich von der Kanzlei getragen, eine (Teil-)Umlegung auf die einzelnen Anwälte erfolgte nicht, diese kannten nicht einmal den hypothetisch/theoretisch für ihre jeweilige Person festzusetzenden Kostenanteil (vgl. beispielhaft nochmals H… V…; H…, B…, B… B…, W…, Dr. M…; D…; St.F..
1439
Die Rechtsanwälte/innen haben nur in geringem, absolut untergeordnetem Umfang eigene Bücher für ihr jeweiliges Fachgebiet angeschafft bzw. bereits zuvor besessene Bücher ins Kanzleibüro mitgenommen und dort mitbenutzt. Üblich war es demgegenüber sogar vielmehr, dass die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen „Bücherwünsche“ äußern konnten, die Bücher dann von der Kanzlei besorgt und bezahlt wurden (vgl. etwa Zeuge B… G…).
1440
Die Eingliederung in die Arbeitsorganisation der Kanzlei des Angeklagten ergibt sich zudem daraus, dass die Rechtsanwälte/innen keinen Einfluss auf die Ausgestaltung – ggf. Änderung – der kanzleiinternen Infrastruktur hatten, neben dem fehlenden Einfluss oder gar Mitspracherecht bzgl. Personal (Sekretärinnen, aber auch Anwaltskollegen) hatten sie auch weder Einfluss noch Mitspracherechte hinsichtlich der Ausgestaltung der Büroräumlichkeiten, der Anschaffung von Equipment einschließlich Abschluss von Wartungsverträgen o.ä., sowie Bürobedarf, sonstigen Betriebsmitteln etc. (vgl. Zeugen H…, V…, H…; B… B…; W…, Dr. M…; St.F.; L…, K… – so schon zu Zeiten M… G…).
1441
Alle im verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum in der Kanzlei des Angelegten tätigen Rechtsanwälte/innen hatten damit bezüglich der komplexen Organisation des Kanzleibetriebes keinerlei Gestaltungsspielraum, vielmehr hat die Fremdbestimmtheit ihrer Arbeit, die sich auch durch den betriebsorganisatorischen Zusammenhang mit der gesamten Kanzleiinfrastruktur ausdrückt, durch dce Eingliederung in den Kanzleibetrieb ihre Bestätigung gefunden.
1442
Dass die verfahrensgegenständlichen Rechtsanwälte/innen als dem Kanzleibetrieb zugehörig und damit eingegliedert anzusehen waren, folgt daneben aus dem Umstand – auf den nachfolgend noch ausdrücklich eingegangen werden wird –, dass sowohl die Vollmachten, der Briefkopf aller Schriftsätze, als auch die Rechnungsstellung an die Mandanten im Namen der Kanzlei erfolgten – d.h. die Mandatsverhältnisse (ausschließlich) mit der Kanzlei zustande kamen, im Kanzleinamen bearbeitet und abgerechnet, die Rechnungen an die Mandanten mit Kanzleibriefkopf verschickt wurden, Zahlungen auf Kanzleikonten erfolgten, zu denen die einzelnen Anwälte keinen Zugang hatten (so alle Anwälte uni sono).
1443
Die in der Kanzlei tätigen Anwälte waren unter dem Briefkopf „Dr. S… L… & K… bzw. „Dr. S… & Kollegen“ ab 01.05.2012 „aufgelistet“, bis November 2016 ohne den Zusatz * „in freier Mitarbeit“ – die tatsächlich gelebten Beschäftigungsverhältnisse änderten sich aber auch nach Anbringung dieses Zusatzes nicht. Sie hatten keine Visitenkarten ohne Kanzleibezug, betrieben keine Werbung ohne Kanzleibezug, waren also auch insofern in den Kanzleibetrieb eingegliedert, nur als Teil der Kanzlei des Angeklagten auf dem Markt aktiv, nicht als eigenständige Rechtsanwälte.
1444
Die noch verfahrensgegenständlichen Rechtsanwälte/innen sind in die bereits bestehende Ordnung einschließlich bereits „in Stein gemeißeltem“ System (Vertragsform/Mandatszuteilung an die einzelnen Anwälte über Empfang/Sekretärinnen nach Fachgebiet etc.) in die Kanzlei des Angeklagten eingetreten, d.h., sie haben sich dort in die in räumlicher und sachlich/inhaltlicher Hinsicht bereits bestehenden Rahmenbedingungen eingefügt, und wurden in das bereits (seit 1982) etablierte und standardisierte Kanzleisystem eingebunden und eingegliedert, haben dort als Glied eines größeren Ganzen ihre Arbeitskraft zur Verfügung gestellt, ihre Arbeitskraft für die Kanzlei erbracht (vgl. V…: … die Außendarstellung habe sich immer auf die Kanzlei bezogen, nie auf ihn persönlich…; H…: … er sei Teil der Kanzlei gewesen, habe keinen eigenen Außenauftritt gehabt … er sei Teil der Kanzlei gewesen, die von Dr. S… geführt und organisiert wurde …; W…: … er sei im Außenverhältnis, in der Branche nicht als eigenständiger Rechtsanwalt aufgetreten, nur als Teil der Kanzlei …; Dr. St. M…: … sie habe das so gesehen, dass sie ihre Arbeitskraft für die Kanzlei erbracht, für Dr. S… eingesetzt habe …).
1445
Die Eingliederung in den Kanzleibetrieb war starr vorgegeben, beginnend am Standort, ebenso betreffend Erlangung der Mandate, der Rahmenbedingungen im Auftreten der Kanzlei nach außen. Dr. S… war hinsichtlich Organisation und Personal federführend, nicht nur im verfahrensgegenständlichen, noch nicht verjährten Tatzeitraum, sondern auch davor, eigentlich beginnend ab Kanzleigründung Anfang der 80ziger Jahre (vgl. F. M… L…; G…, H…; V…, H…; B… B…).
1446
Damit ist aber bereits nach den beiden, auch von Seiten der Verteidigung als zentral bezeichneten Kriterien, vor allem im Hinblick auf die Einbindung der Rechtsanwälte/innen in den Kanzleibetrieb des Angeklagten und die – nicht mal notwendigerweise zwingend kumulativ erforderliche Weisungsgebundenheit, da gegenständlich Dienste höherer Art in Rede stehen – auch konkret gelebte und gegebene Weisungsgebundenheit der Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen sowohl in zeitlicher und örtlicher Hinsicht, aber auch in inhaltlicher Hinsicht, von abhängiger Beschäftigung auszugehen.
1447
Wie bereits einleitend allgemein angeführt und dargestellt, haben sich im Laufe der Jahre in der Rechtsprechung von BGH, BAG und BSG eine Vielzahl weiterer Kriterien entwickelt, die ergänzend für die Frage der Abgrenzung freie Mitarbeiterschaft – Selbstständigkeit in den Blick zu nehmen sind:
bb) 3. Kriterium des unternehmerischen Risikos/Tätigwerdens:
1448
Weiteres, ebenfalls zentrales Abgrenzungskriterium ist die Frage, ob für die Rechtsanwälte/innen während ihrer Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten ein unternehmerisches Risiko/Tätigwerden bestand – was unter Berücksichtigung der im Rahmen der Beweisaufnahme gewonnenen Erkenntnisse und Feststellungen zu den tatsächlich gelebten Verhältnissen im Ergebnis zu verneinen war.
1449
Die Verteidigung erklärte für den Angeklagten, dass dies kein relevantes Abgrenzungskriterium sei, da die Frage der Abgrenzung von Selbststähdigkeit und Unselbstständigkeit keine wirtschaftliche/unternehmerische Kategorie sei, sondern eine die personale Abhängigkeit betreffende (wie sich etwa auch aus § 2 S. 1 Nr. 9 SGB VI ergäbe).
1450
Nach Überzeugung der Kammer ist unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtssprechung sowohl des BGH, des BAG als auch des BSG, aber auch der Literatur – exemplarisch sei nur nochmals auf die Entscheidungen BGH, Urteil vom 18.07.2019 – 5 StR 649/18 Rn. 21; BSG, Urteil vom 04.06.2019 – B 12 R 2/18 R Rn. 27; BSG, Urteil vom 18.11.2015 – B 12 KR 16/13 R, Rn. 16; MüKo/Radtke, a.a.O., § 266 a Rn. 13 und Dr. Holthausen, „Statusfeststellung und Scheinselbstständigkeit“, RdA 2020, 92 ff. verwiesen – die Frage des unternehmerischen Risikos/Tätigwerdens aber sehr wohl eines der für die Abgrenzung relevanten Kriterien (wenn es auch den entscheidenden Hauptkriterien der persönlichen Abhängigkeit und der Eingliederung in die betriebliche Organisation vom Gewicht her nicht gleichwertig bzw. im Verhältnis zu diesen nicht vorrangig ist) und wurde deshalb auch im konkreten Fall in die wertende Gesamtbetrachtung mit einbezogen.
1451
Insoweit ist aus Sicht der Kammer zunächst auszuführen, dass als Unternehmensrisiko die Gewinnschance oder Verlustgefahr, die sich aus der unternehmerischen Betätigung ergibt, zu verstehen ist. Die Veriustgefahr kann in einem Verlust des eingesetzten Eigenkapitals bestehen, aber auch bereits dann vorliegen, wenn der Erfolg des Einsatzes der unternehmerischen Arbeitskraft unsicher ist oder, wie in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes definiert, wenn der Erfolg eines eigenen wirtschaftlichen Einsatzes ungewiss ist.
1452
Unter Berücksichtigung dieser begrifflichen Prämisse ist für das Gericht ein unternehmerisches Risiko der im fraglichen Tatzeitraum in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen nicht gegeben, kein unternehmerisches Auftreten im Rechtsverkehr erkennbar und zwar aus folgenden Erwägungen:
1453
Sie haben kein Eigenkapital eingesetzt, was im Hinblick auf ihre berufliche Tätigkeit – mit Schwerpunkt einer geistigen Arbeit – noch von geringerer Bedeutung sein mag (vgl. etwa auch BSG Urteil vom 31.03.2017 – B 12 R 7/15 R Rn. 43). Jedoch benötigt auch ein Rechtsanwalt für die Ausübung seiner Tätigkeit Büroräumlichkeiten (Parteiverkehr/Räume für Besprechungen mit Mandanten) einschließlich Büromöbeln, Bürogeräte wie Computer, Drucker, Kopierer usw. Literatur Abrechnungsprogramme, sowie ein Sekretariat mit Rechtsanwaltsgehilfinnen für Schreibarbeiten etc. (soweit er diese organisatorischen und verwaltungsimmanenten Aufgaben nicht selbst verrichtet). All dies erfordert Investitionen und den Einsatz von Kapital.
1454
Keiner der verfahrensgegenständlich in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen (und auch nicht die davor tätigen Rechtsanwälte, vgl. D. II. 2.) a) und b)) hat insoweit kalkuliert, Entscheidungen getroffen, Investitionen getätigt o.ä.. Sie hatten nicht einmal Einblick in die Gesamtkalkulation der Kanzlei oder die Kalkulation insoweit bzgl. ihre eigene Person. Sie haben vielmehr alle jeweils einen vollständig ausgestatteten Arbeitsplatz nebst kanzleiinterner Infrastruktur und geschultem, kanzleiinternen Personal zur Verfügung gestellt bekommen, ohne dass sie dafür irgendwelche Kosten hätten tragen müssen. Insbesondere bezüglich des Personals in Form von Empfangsdamen und Sekretärinnen/Rechtsanwaltsgehilfinnen ist nochmals zu betonen, dass diese für die Ausübung der anwaltschaftlichen (Kern-)Tätigkeit relevante Aufgaben erfüllten (z.B. Entgegennahme von Telefonaten, Zuteilung an einen für das gefragte Fachgebiet zuständigen Rechtsanwalt und Absprache von Besprechungsterminen, die in dem Kanzleiterminkalender vermerkt wurden, ebenso wie die Abwesenheiten, während derer keine Termine eingetragen werden durften; Sekretärinnen/Rechtsanwaltsgehilfinnen erledigten Aktenanlage und -verwaltung, Schreibarbeiten betr. Schriftsätze, Rechnungen an die Mandanten einschließlich ggf. erforderlicher Mahnungen und Forderungseintreibungen, führten den Fristenkalender und überwachten Fristen etc., vgl. D. II. 2.) a) und b)). Einen Einfluss auf die Kostenkalkulation der Kanzlei des Angeklagten, die Beschaffung von Betriebsmitteln u.ä. oder gar ein Mitspracherecht insoweit hatten die Anwälte nicht (vgl. z.B. vgl. D. II. 2.) a) und b)).
1455
Nur am Rande sei auch erwähnt, dass gegen ein eigenes unternehmerisches Tätigwerden spricht, dass es der Angeklagte war, der den Sitz der Betriebsstätte vorgab und etwa im Jahr 2016 den Kanzleisitz von der Marktlerstraße 15 b in B. in die Wackerstraße verlegte, womit nicht alle zum damaligen Zeitpunkt in seiner Kanzlei noch tätigen Anwälte einverstanden waren (vgl. D…, D. II. 2.) a) 3.10.).
1456
Diejenigen Anwälte, die nach ihrer Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten selbstständig waren, gaben übereinstimmend an (vgl. auch Zusammenstellung D. II. 2.) e) 2.), dass sie – abweichend von den Verhältnissen in der Kanzlei des Angeklagten – als Selbstständige Kalkulationen vornahmen, Einnahme- und Ausgabelisten erstellten, Unkosten der Kanzlei (anteilig) tragen, sich um die Beschaffung von Betriebsmitteln und die Erhaltung der Betriebsinfrastruktur kümmern mussten und kümmerten (Suchen von Büroräumlichkeiten, Anschaffung und Instandhaltung von Inventar, PC-Anlagen, EDV-System, Literatur, sowie sonstigem Betriebsequipment, Personal etc.), auch eigene Investitionen tätigten und immer das Risiko „vor Augen hatten, wie es läuft“ (vgl. H…, B…, B…, W…).
1457
In der jeweiligen, mit der Kanzlei getroffenen Vereinbarung war zudem mit den meisten Rechtsanwälten/innen ein festes Jahreshonorar vereinbart, von dem für ihre Arbeit, die nicht projektbezogen war, monatliche Teilleistungen per Rechnung abgerufen werden konnten und wurden. Die monatlichen Teilleistungen (Jahreshonorar : 12) erfolgten unabhängig vom Gewinn und Verlust, unabhängig von dem durch den/die jeweiligen Rechtsanwalt/in erwirtschaften Umsatz, sowie unabhängig von der Gesamtumsatzsituation der Kanzlei und unabhängig von krankheits-/urlaubsbedingten Abwesenheiten bis zu der vertraglich vereinbarten „Obergrenze“ von 2a bzw. 30 Werktagen, was de facto einer „Lohnfortzahlung“ entspricht, aber auch unabhängig davon, ob die Mandanten ihrerseits bereits an die Kanzlei gezahlt hatten.
1458
Betreffend die Rechtsanwälte Dr. St. M… L… und K… war jeweils eine feste Monatsvergütung vereinbart, die von diesen in Rechnung gestellt wurde, allerdings ebenfalls unabhängig von Gewinn und Verlust, unabhängig von dem durch den/die jeweiligen Rechtsanwalt/in erwirtschaften Umsatz, sowie unabhängig von der Gesamtumsatzsituation der Kanzlei und unabhängig von krankheits-/urlaubsbedingten Abwesenheiten bis zu der vertraglich vereinbarten „Obergrenze“ von 28 bzw. 30 Werktagen, sowie unabhängig davon, ob die Mandanten ihrerseits bereits an die Kanzlei gezahlt hatten.
1459
Die im fraglichen Tatzeitraum in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen erhielten also eine feste Entlohnung anstelle einer Gewinn- und Verlustbeteiligung bzw. Umsatzbeteiligung, wie alle übereinstimmend schilderten (vgl. D. II. 2.) a)), ein Indiz abhängiger Beschäftigung (vgl. BSG, Urteil vom 31.03.2017 – B 12 R 7/15 R Rn. 47; ErfK/Rolfs, a.a.O., SGB IV, § 7 Rn. 14). Zudem war die Gewährung der Honorarfortzahlung bei Urlaub und im Krankheitsfall nicht nur vertraglich vereinbart, sondern wurde auch gelebt, was im Hinblick darauf, dass – wie dargelegt – auch die Hauptkriterien für die Abgrenzung abhängiger Beschäftigung und freier Mitarbeiterschaft/Selbstständigkeit in Form von Weisungsgebundenheit und Eingliederung in den Kanzleibetrieb eindeutig im konkreten Fall und bzgl. eines jeden einzelnen, noch verfahrensgegenständlichen Anwalts zu bejahen sind, als ein weiteres Indiz für abhängige Beschäftigung zu werten ist (vgl. ErfK/Rolfs, a.a.O., SGB IV, § 7 Rn. 14).
1460
Die Kammer verkennt auch bei der Beurteilung dieser Aspekte im Rahmen des Abgrenzungskriteriums „unternehmerisches Risiko/-Tätigwerden“ nicht, dass die Vereinbarung von Entgelten Sache der Vertragspartner und Teil der Privatautonomie ist, die Vereinbarung eines festen Honorars für sich allein genommen nicht zwingend für abhängige Beschäftigung spricht und es sich bei der Honorarhöhe nur um eines von unter Umständen vielen in der Gesamtwürdigung zu berücksichtigenden Indizien handelt, sowie dann, wenn das vereinbarte Honorar deutlich über dem Arbeitsentgelt eines vergleichbar eingesetzten sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liegt und dadurch Eigenversorgung zulässt, eher ein Indiz für selbstständige Tätigkeit ist (vgl. etwa BSG, Urteil vom 31.03.2017 – B 12 R 7/15 R Rn. 50).
1461
Im konkreten Fall und betr. die im verbliebenen, noch nicht verjährten Zeitraum in der Kanzlei des Angeklagten beschäftigten Anwälte (ebenso wie die zu Zeiten der Kanzleizugehörigkeit von Frau L… Beschäftigten) war jedoch Folgendes festzustellen:
1462
Der Erfolg des Einsatzes der jeweiligen Arbeitskraft einer/s jeden einzelnen Rechtsanwaltes/in war gerade nicht unsicher. Für keinen Anwalt stand ein Verdienstausfall zu befürchten. Sie erhielten das vereinbarte monatliche Honorar unabhängig von Verlust und Gewinn betreffend ihre eigene Beschäftigung und unabhängig von der Umsatzsituation der Kanzlei, unabhängig davon, ob Mandanten die Rechnungen beglichen, unabhängig davon, ob die Leistungen nach RVG von den Mandanten zurückflossen (vgl. Aussagen aller noch verfahrensgegenständlichen Anwälte – D. II. 2.) a) 3.), z.B. H…: … eine Vergütungsreduzierung stand nie im Raum … 3.3.; ebenfalls ein „Modell“, welches seit Bestehen der Kanzlei des Angeklagten so gelebt wurde (s. D. II. 2.) b)).
1463
Hervorzuheben sei an dieser Stelle nochmals die Aussage Zeugin L… (vgl. i.E. D. II. 2.) b) 3.), die darauf hinwies, dass die Kanzlei im Jahr 2011 ertragsmäßig noch im Plus gewesen, aber liquiditätsmäßig bereits im Minus gewesen sei, und sie, obwohl sie in diesem Jahr ca. 420.000,- € erwirtschaftet habe, nur noch Entnahmen in Höhe von ca. 61.000,- € habe tätigen können, welche noch hätten versteuert werden müssen, während die freien Mitarbeiter äußerst komfortabel weiter die monatlich vereinbarten Honorare ohne Anrechnung der Kosten erhalten hätten. Ebenso ist der Aussage des Zeugen L… – D. II. 2.) a) 3.13. – zu entnehmen, dass er etwa im Jahr 2016, als sei Umsatz grauenhaft gewesen sei, die vereinbarten monatlichen Zahlungen erhielt (gleichfalls etwa H…; B…; Dr. M… G…). Diese gelebten Verhältnisse dokumentieren eindrucksvoll das Fehlen eines unternehmerischen Risikos oder Tätigwerdens für die in der Kanzlei tätigen Anwälte, die im Rahmen ihrer Zeugeneinvernahme selbst im Kern dazu jeweils aussagten: „Ich habe kein unternehmerisches Risiko getragen!“ (vgl. z.B. D. II. 2.) a) 3.9., Dr. St. M…).
1464
Umgekehrt war aber auch die Steigerung des Umsatzes, Ziel des Willens zu unternehmerischem Handeln, für die in der Kanzlei tätigen Anwälte schwierig, etwa im Hinblick darauf, dass v.a. zu Beginn ihrer Tätigkeit, als sie die „Neuen“ waren, sie den wenig lukrativen „Kleinscheiß“, Telekom-Mandate und Mandate ohne größeren Streitwert bearbeiten mussten – als Folge dessen geringeren Umsatz erwirtschafteten, der Angeklagte aber trotzdem mehr Umsatz anmahnte (vgl. H…; B…; B…; D…). Auch die Zeugin K… schilderte etwa, dass – ihrer Ansicht nach zu Unrecht – größere Fälle an die Kollegin Ul. A… zur Bearbeitung zugewiesen wurden, die sie gerne bearbeitet hätte. Zudem waren die Anwälte sozusagen in ihrem Fachgebiet „gefangen“, die Zeugin L… schilderte, dass es nicht möglich gewesen wäre, beispielsweise einfach zu sagen, sie wolle jetzt ein arbeitsrechtliches Mandat bearbeiten, da ihre Bereiche (nur) Insolvenz-, Familien- und Medizinrecht gewesen seien.
1465
Aufgrund des Umstandes, dass die Kontakte und damit die Mandate durch den Empfang, ohne wesentliche Einflussnahmemöglichkeit (sie kannten die Kriterien der Mandatszuteilung, des Verteilungsschlüssels nicht einmal im Detail) durch den jeweiligen Anwalt, – oder direkt durch Dr. S… zugewiesen wurden, war es den Anwälten auch schwer möglich, die Umsätze nach oben „zu korrigieren“, d.h., für sie bestand nicht die Chance, durch unternehmerisches Geschick ihre Tätigkeit so effizient zu gestalten, dass sie das Verhältnis von Aufwand und Ertrag zu ihren Gunsten entscheidend hätten beeinflussen können (vgl. auch BSG, Urteil vom 04.06.2019 – B 12 R 2/18 R Rn. 27).
1466
Sie waren aber nicht nur angewiesen, dass ihnen über den Empfang/das Sekretariat oder den Angeklagten persönlich Kontakte – damit ihre Arbeit – zugewiesen/vermittelt wurden (eigene Werbung ohne Kanzleibezug konnten sie ohne Zustimmung nicht schalten, eigene Mandate außerhalb der Kanzlei durften sie ohne Zustimmung der Sozietät schon nach der vertraglichen Regelung nicht bearbeiten), das jeweilige Mandatsverhältnis kam auch ausschließlich mit der Kanzlei zustande, die Abrechnung der Mandate erfolgte ausschließlich über die Kanzlei auf ein Kanzleikonto, zu dem die Rechtsanwälte/innen keinen Zugang hatten; Forderungseintreibungen wurden durch die Kanzlei vorgenommen. Forderungsausfälle wirkten sich nicht – was typisch für ein unternehmerisches Tätigwerden wäre – auf die Zahlung des Pauschalhonorars durch den Angeklagten an die Anwälte aus.
1467
Am Umsatz war keiner der Anwälte beteiligt, eine Umsatzbeteiligung war vertraglich nur in Aussicht gestellt, optional geregelt.
1468
Es war der Angeklagte, der in unregelmäßigen Abständen eine Änderung der Auszahlungsbeträge bestimmte, Erhöhungen nach seinem Ermessen vornahm.
1469
Demgegenüber zahlte der Angeklagte für „seine Anwälte“ aber nicht nur die Anschaffungskosten betreffend alle Betriebsmittel, Kanzleiinfrastruktur und Personal, er nahm auch etwa „Bücherwünsche“ entgegen und beschaffte diese dann auf Kanzleikosten (D. II. 2.) a) 3.4. oder b) 4.), trug für „seine Anwälte“ (D. II. 2.) a) 3.) auch die (anfallenden) Fortbildungskosten/Kosten für Fachanwaltskurse etc. (erst im Zuge des Ausscheidens der Anwälte gab es auch insoweit „Ärger“, vgl. etwa St.F. D. II. 2.) a) 3.11.), ebenso die Kosten der Haftpflichtversicherung und der Kammerbeiträge (D. II. 2.) a) 3.), bezahlte Schulungen (etwa Schulungswochenende in Freilassing einschließlich Übernachtung etc., vgl. W…, D. II. 2.) a) 3.8.), lud seine Anwälte nach den monatlichen Kanzleibesprechungen zum Essen ein (D. II. 2.) a) 3.1. oder b) 4.), organisierte (z.B. zum Betriebsjubiläum) Betriebsausflüge, etwa nach Wien und Rom für die gesamte Belegschaft einschließlich Anwälten, wobei er die Gesamtkosten (Flug, Unterkunft, Essen etc.) des Betriebsausfluges jeweils vollständig übernahm oder er ließ den Anwälten Dauerkarten für „Wacker B.“ oder die Mitgliedschaft im Fitnessclub zugute kommen (vgl. Schreiben 20.11.2013, D. II. 2.) c) 2.1.).
1470
Ein unternehmerisches Risiko hätte für die im Tatzeitraum in der Kanzlei des Angeklagten beschäftigten Rechtsanwälte/innen demgegenüber nur dann bestanden, wenn sie mit Risiken, die zu einem Teil-, aber auch Komplettausfall des Gewinnes oder Umsatzes führen können, konfrontiert gewesen wären. Sobald aber die Gefahr besteht, dass die geplanten Entwicklungen nicht eintreten, wäre – läge ein unternehmerisches Risiko vor – auch ein sog. Risikomanagement ins Spiel gekommen, das beinhaltet, dass der Versuch unternommen wird, Fehlentwicklungen möglichst zu verhindern und frühzeitig Gegenmaßnahmen zu treffen.
1471
Die in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte waren in ein Risikomanagement aber in keinster Form einbezogen. Ihnen lagen die dafür erforderlichen Grundlagen, Anknüpfungstatsachen für eine Kalkulation etc. gar nicht vor. Sie hatten keinen Einfluss auf die kanzleiinternen Risikofelder wie etwa Unternehmensorganisation (etwa bzgl. Hierarchien, Zuständigkeiten, Kommunikationswege), Unternehmensprozesse (z.B. konkrete Arbeitsanweisungen gegenüber Sekretärinnen etc.), die Wettbewerbs- und Branchensituation, Finanzen (Umsätze und Gewinne, Bonität und Liquidität), oder die Personalbeschaffenheit (betr. Einstellung und Kündigung von Sekretärinnen, aber auch neuen Anwaltskollegen) bzw. Umfang der Anschaffung sonstiger Betriebsmittel, geschweigedenn ein Mitspracherecht (übereinstimmend alle als Zeugen einvernommenen Rechtsanwälte/innen; vgl. D. II. 2.) a) und b)).
1472
Zwar äußerten die Rechtsanwälte/innen, dass Gesamt-Kosten-Aufstellungen betreffend Miete und die kanzleiinterne Infrastruktur etc. jeweils zum Jahresende vorgelegt wurden, ebenso übereinstimmend gaben sie jedoch an, dass sie hinsichtlich der Zusammensetzung dieser Kosten eigentlich weder einen Einblick (vgl. etwa V… H… B…, A…, B…, B… W…, Dr. M…, St.F., Linke, K…), geschweigedenn ein Mitspracherecht etwa betreffend mögliche Reduzierungen gehabt hätten. Die Kostenaufstellung der Kanzlei und die Auswertung derselben war in einer passwortgeschützen Datei in der EDV der Kanzlei abgelegt, zu der der Angeklagte Zugang hatte, nicht jedoch die in der Kanzlei tätigen einzelnen Rechtsanwälte/innen (vgl. Aussage Di. W… D. II. 2.) d) 5.).
1473
Den in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälten fehlte nicht nur eine Einflussmöglichkeit und ein Mitspracherecht betreffend Beschaffung von Betriebsmitteln, Infrastruktur und Personal in der Kanzlei des Angeklagten, sie beschäftigten de facto, nach den gelebten Verhältnissen auch kein eigenes Personal (was ihnen laut Zusatzvereinbarung ja ohnehin auch nur mit Zustimmung der Kanzlei möglich gewesen wäre).
1474
Zudem waren alle im maßgeblichen Zeitraum in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen de facto (nur) für den Angeklagten tätig, entfalteten daneben keine eigenständigen unternehmerischen Tätigkeiten; andere relevante wirtschaftliche Einnahmequellen hatten sie nicht, waren also wirtschaftlich gesehen vom Angeklagten wie Arbeitnehmer abhängig.
1475
Soweit der Angeklagte selbst in seiner Erklärung gemäß § 163 a StPO vom 22.08.2019 (eingeführt im Selbstleseverfahren „1“ VII.) vortrug, dass verschiedene Anwälte, die in seiner Kanzlei im noch verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum tätig waren, nebenbei andere Auftraggeber und Freiräume für sonstige Tätigkeiten hatten, wurde dies durch die Beweisaufnahme nicht bestätigt. Vielmehr gaben alle Zeugen übereinstimmend an, außer dem Angeklagten als Auftraggeber entweder keine bzw. keine wesentlichen anderen relevanten Auftraggeber gehabt zu haben.
1476
So wies der Zeuge H… vehement zurück, während seiner Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten auch in der Kanzlei seiner Ehefrau gearbeitet zu haben; auch diese (Rechtsanwältin L…) wies dies zurück. Soweit Rechtsanwalt U. V… nach der Erklärung des Angeklagten vom 22.08.2019 während der Zeit seiner Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten auch bei seiner Ehefrau gearbeitet haben soll, verneinte der Zeuge Volker V… dies. Rechtsanwalt H… hat während der 9 Jahre, die er in der Kanzlei des Angeklagten beschäftigt war, zwar nicht durchgängig, aber während zwei Schuljahren an der FOS eine Lehrtätigkeit wahrgenommen, allerdings zum einen in Abstimmung mit dem Angeklagten und zeitlicher „Nacharbeit“ in der Kanzlei (… hätte der Angeklagte diese Lehramtstätigkeit nicht gewollt und das nachvollziehbar begründet, hätte er es auch gelassen …), zum anderen war es so, dass er im 1. Schuljahr 10 Wochenstunden unterrichtete, im 2. Schuljahr nur noch 3-4 Wochenstunden an einem Vormittag, da dies neben der Kanzlei zu viel wurde. Auch sah Dr. S… dies als Werbung für die Kanzlei an. Rechtsanwalt B… hatte abweichend vom Vortrag des Angeklagten in seiner Erklärung vom 22.08.2019 keine anderen Auftraggeber, seine Aktivitäten beim Tennisverein Wacker B. waren ausschließlich ehrenamtlich, ausschließlich in der Freizeit und ohne jede finanzielle Entschädigung, nicht einmal eine Aufwandsentschädigung erhielt er. Soweit der Angeklagte vortrug, Rechtsanwalt W… sei neben der Tätigkeit in der Kanzlei auch als Landwirt tätig gewesen, widersprach dem der Zeuge B. W… massiv, er hat lediglich in seiner Freizeit in einem geerbten Waldstück gelegentlich Brennholz geschlagen und war einmal, nachdem infolge eines Orkans Bäume auf die Fahrbahn gefallen waren, von der Kanzlei abwesend, um diese Bäume zu entfernen. Rechtsanwältin K… war gelegentlich im Steuerbüro ihres Vaters tätig, allerdings nur an Wochenenden und während Urlauben in der Kanzlei des Angeklagten, nicht während/unter der Woche.
1477
Insoweit ist auch auf die anerkannte Rechtsprechung zu verweisen, dass selbst eine Tätigkeit für mehrere Auftraggeber für die im Raum stehende Abgrenzung nicht generell, sondern erst in der Zusammenschau mit weiteren typischen Merkmalen einer selbstständigen Tätigkeit, wie zum Beispiel einem Werbenden Auftreten am Markt für die angebotene Leistung – derartige Aspekte fehlen vorliegend völlig – Bedeutung erlangen kann (vgl. BSG, Urteil vom 18.11.2015 – B 12 KR 16/13 R, Rn. 28).
1478
Zu berücksichtigen sind aber auch insoweit aus Sicht der Kammer vor allem nochmals die tatsächlich gelebten Verhältnisse (vgl. nochmals BGH, Urteil vom 18.07.2019 – 5 StR 649/18 Rn. 21; Dr. Kock, NJW 2021, 993), d.h. der Umstand, dass es den in der Kanzlei tätigen Anwälten de facto während der Woche schon zeitlich nicht möglich war, für andere Auftraggeber in nennenswertem Umfang neben der Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten eine Beschäftigung zu übernehmen, für einen anderen Auftraggeber anwaltschaftliche Arbeitsleistungen zu erbringen, da sie in der Kanzlei des Angeklagten so „mit Arbeit eingedeckt“ und damit schon in zeitlicher Hinsicht eingeschränkt waren (vgl. beispielhaft die Zeugen: H…: … in der Kanzlei gab es Akten ohne Ende, eine Arbeit woanders als in der Kanzlei des Angeklagten wäre gar nicht möglich gewesen …; B…: … aufgrund des Umfanges meiner Arbeiten in der Kanzlei wäre es faktisch unmöglich gewesen, noch andere Arbeiten auszuüben …; W… ich war in den Kanzleikernzeiten von 08:00/8:30 Uhr bis 17:30/18:00 Uhr sowieso da; die Zeit hat ohnehin selten gereicht, meist war ich länger da …; D…: … hohe Arbeitsbelastung … keine Chance, selber unternehmerisch tätig zu werden bzw. einen eigenen Mandantenstamm aufzubauen …;).
1479
Unabhängig von der vertraglichen Regelung, dass die Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei ohnehin der Zustimmung bedurft hätte, ist auch zu sehen, dass etwa der Zeuge M… (vgl. D. II. 2.) b) 2.) berichtete, von Kollegen erfahren zu haben, dass diese nur Mandate über die Kanzlei machen durften.
1480
Soweit Anwälte in der Kanzlei des Angeklagten und während der Zeit ihrer Tätigkeit dort vereinzelt überhaupt einmal ein eigenes Mandat hatten bzw. abrechneten, war dies dann auch entweder rechtlichen und taktischen Erwägungen in Absprache mit dem Angeklagten Dr. S… geschuldet (vgl. B… -> Treuhandangelegenheiten; H… -> der auf Weisung des Angeklagten ein Mandat persönlich abzurechnen hatte, weil es sonst Konflikte gegeben hätte. Der Gegner/Mandant war mit dem Angeklagten befreundet) oder nicht geeignet, als Haupteinnahmequelle für die Anwälte qualifiziert zu werden (s. B… -> in fünf Jahren bei Dr. S… zwei Tätigkeiten als gesetzlich bestellte Betreuerin).
1481
Mit diesen gelebten Beschäftigungsbedingungen einhergehend war aber ein Verlust der Dispositionsfähigkeit der in der Kanzlei tätigen Anwälte über ihre Arbeitskraft gegeben. Vielmehr war schon die vertragliche Vereinbarung, welche die Rechtsanwälte/innen mit der Kanzlei des Angeklagten geschlossen hatten, und erst Recht die tatsächlich gelebten Verhältnisse darauf angelegt, dass sie ihre anwaltliche Tätigkeiten fremdnützig (für die Kanzlei des Angeklagten) erbringen, ohne dass sie nach außen erkennbar am Marktgeschehen eigenständig teilnahmen.
1482
Betr. die Honorarhöhe als solche ist die Kammer sich durchaus bewusst gewesen, dass auch diese nur eines von vielen in der Gesamtwürdigung zu berücksichtigenden Indizien darstellt, dann aber, wenn das vereinbarte Honorar deutlich über dem Arbeitsentgelt eines vergleichbar sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liegt und dadurch Eigenvorsorge zulässt, als Indiz für selbstständige Tätigkeit gewertet werden kann (vgl. etwa BSG, Urteil vom 31.03.2017 – B 12 R 7/15 R Rn. 50 oder BSG, Urteil vom 04.06.2019 – B 12 R 2/18 R vom Rn. 30).
1483
Insoweit sei hier zum einen beispielhaft nochmals auf die Aussage folgender Zeugen Bezug genommen:
H…: … zuletzt (ab Januar 2014) habe er monatlich 5.500,- € brutto für eine Beschäftigung von 40 Wochenstunden, auf die Hand etwas unter 3.000,- €, gehabt; für seine derzeitige Angestelltentätigkeit mit einer Stundenzahl von 36 Wochenstunden erhalte er ca. 4.000,- € netto pro Monat;
B… Schreiben vom 15.04.2015 an Dr. S…: …. Dies war auch der Grund, da ich mit dem geringen Gehalt von nur 3000 € als Scheinselbstständiger (gleich 2500 € als Angestellter), dass du mir seit 5 Jahren gezahlt hast, keine Rücklagen bilden geschweige denn eine Familie gründen konnte … Das offene Gehalt fordere ich mit separatem Schreiben an…;
W…: … er habe zunächst Vollzeit 2.300,- € brutto monatlich abrufen können; davon sei noch ca. 1/3, der Hauptposten, für Sozialversicherungsbeiträge weggegangen, ebenso Einkommenssteuer. Er habe am Anfang aber noch im Haus seiner Eltern mietfrei gewohnt, deshalb sei er mit den paar 100,- €, die übrig geblieben seien, zurecht gekommen, sonst wäre es schon sehr eng geworden …
D…: … zuletzt sei ein Gehalt von 4.000,- € brutto gezahlt worden, nach Abzug der Fixkosten sei ihr nicht viel geblieben; im Zusammenhang mit der im Jahr 2016 ins Auge gefassten Änderung der vertraglichen Beziehung zum Angeklagten schrieb sie: … wo ist mein Vorteil hier zu bleiben als freier Mitarbeiter im Vergleich dazu, mich selbstständig zu machen?; er (Dr. S…) habe zwei Anfänger hereingeholt, die momentan noch keinen Umsatz machen, aber deutlich besser verdienen als ich am Anfang …;
L…: … nach der Probezeit habe er ein Fixgehalt in Höhe von 3.200,- €-3.500,- € nebst Mehrwertsteuer bei Vollzeit, 40-45 Stunden pro Woche, gehabt; da seien noch die Steuern abgegangen; auf die Hand habe er monatlich ca. 2.000,- € erhalten; er habe sogar noch Berufshaftpflicht in Höhe von monatlich 200/300,- € gezahlt, habe den Vertrag nicht gelesen, wonach die Kanzlei die Berufshaftpflichtversicherung im Rahmen einer Gruppenversicherung hätte zahlen müssen; nach seiner Tätigkeit in der Kanzlei des Angeklagten sei er in einer Kanzlei als angestellter Anwalt beschäftigt gewesen, verdiene dort monatlich 2.435,- €;
G…: … er sei bestimmt Vollzeit, 40 Stunden pro Woche tätig gewesen. Er habe einen guten Umsatz gehabt, pro Monat 5.500,- € abrufen können; 50 % des Honorars sei noch abgegangen für Steuern, Kranken-, Rentenversicherung etc. Er sei 2004 und 2005 Vater geworden, habe Angst gehabt, wie er seine Familie ernähren könne und was er mache, wenn Kühlschrank und Wäschetrockner mal gleichzeitig kaputtgehen würden. …; M…: …. Das Honorar sei jetzt nicht sonderlich hoch gewesen, er sei aber nicht anspruchsvoll … Wenn man etwa von einer monatlichen Bruttohonorarvergütung in Höhe von 5.000,- €, wie er sie zuletzt erhalten habe, ausgehe, müsse man an Abzügen monatlich etwa 1.200,- € bis 1.400,- € für die Rentenversicherung rechnen, ca. 600,- € für Kranken-/Pflegeversicherung und noch mal etwa 1.000,- € Steuern, sodass einem so etwa um 2.000,- € zum Leben blieben; für G… etwa, der damals Frau und 2 kleine Kinder gehabt habe, sei dies schon schwierig gewesen ….
1484
Unabhängig davon, dass nach diesen Aussagen nach Überzeugung der Kammer bereits nicht davon ausgegangen werden kann, dass die in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte ein deutlich über dem Arbeitsentgelt eines vergleichbar sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liegendes Honorar erhielten und damit relevante Eigenvorsorge betreiben konnten; ergibt sich für das Gericht auch aus dem von der Verteidigung übergebenen Auszug aus der von der Bundesrechtsanwaltskammer in Zusammenarbeit mit dem Institut für freie Berufe regelmäßig herausgegebenen statistischen Erhebung über die Einkommenssituation der Anwaltschaft nichts anderes: Denn durch den Auszug ist, wie unter D. II. 2.) e) 3.3. dargestellt, zum einen nicht belegt, dass den Anwälten vom Angeklagten objektiv deutlich über dem Arbeitsentgelt eines vergleichbar eingesetzten sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liegende Honorare gezahlt wurden. Zum anderen handelt sich insoweit um Durchschnittswerte etwa ohne besondere Berücksichtigung des Umstandes, dass in den Regionen Oberbayerns Lebenshaltungskosten etc. deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegen.
1485
Die Anwälte waren damit wirtschaftlich unselbstständig. Denn wirtschaftliche Abhängigkeit ist regelmäßig gegeben, wenn der Beschäftigte auf die Verwertung seiner Arbeitskraft und die Einkünfte aus der Tätigkeit für den Vertragspartner zur Sicherung seiner Existenzgrundlage angewiesen ist (vgl. BAG, Beschluss vom 21.02.2007 – 5 AZB 52/06, NZA 2007, 699).
bb) 4. Kriterium Außendarstellung:
1486
Anerkannt ist zudem, dass sich die Freiheit des (echten) freien anwaltschaftlichen Mitarbeiters gerade auch darin manifestiert, dass er durch Bearbeitung eigener Mandate in einen gewissen Wettbewerb zum beschäftigenden Anwalt tritt, was aber insbesondere auch eine eigene Außendarstellung erfordert. Die im verfahrensgegenständlich verbliebenen, noch nicht verjährten Tatzeitraum in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen hatten aber keinen relevanten eigenen Außenauftritt, damit keine relevante Außendarstellung und bearbeiteten keine (oder in untergeordnetem Umfang) eigenen Mandate.
1487
Den Anwälten entspr. Ziffer C. dieses Urteiles fehlte nicht nur eine eigene Betriebsstätte (neben dem Büro in der Kanzlei des Angeklagten) und damit eine äußerlich in der Branche sichtbare eigenständige Außendarstellung. Sie haben zudem zwar im Freundes- und Bekanntenkreis „den ein oder anderen Mandanten“ akquiriert, die Vollmacht kam dann aber trotzdem über die Kanzlei zustande, auch diese akquirierten Mandanten wurden also „Kanzleimandate“. Auch diese Mandate wurden wie alle von ihnen bearbeiteten Mandate auf Kanzleipapier abgewickelt, die Rechnung auf den Namen der Kanzlei und unter Angabe der Steuernummer der Kanzlei gestellt. Die Zahlungen erfolgten auf eines der Kanzleikonten. Keiner der Rechtsanwälte/innen hat Zugriff auf diese Konten. Auch diese Mandate wurden also von Beginn bis zur vollständigen Abwicklung einschließlich Rechnungsstellung (und ggf. erforderlicher Mahnung oder Forderungseintreibung etc.) ausschließlich für die Kanzlei bearbeitet.
1488
Die Anwälte traten, wie bereits mehrfach erwähnt, als Teil der Kanzlei für die Kanzlei auf, für die sie ihre Arbeitskraft einsetzten. Sie zeigten kein unternehmerisches Tätigwerden mit Außenwirkung für sich selbst als eigenständige Rechtsanwälte, welches geeignet gewesen wäre (und auch war), potentielle eigene Mandanten an sich zu binden (vgl. W… B… wäre im Übrigen bereits entsprechend der vertraglichen Vereinbarung nur mit Zustimmung der Sozietät möglich gewesen).
1489
Sie betrieben keine eigene Werbung – die sie im Übrigen entsprechend der mit der Kanzlei des Angeklagten getroffenen Vereinbarung bzw. Zusatzvereinbarung ohnehin ebenfalls mit der Kanzlei hätten abstimmen und genehmigen lassen müssen -. Werbung für die in der Kanzlei tätigen Anwälte erfolgte mit Kanzleibezug (Hinweis auf Kanzleiadresse, Namen und Fachanwaltszulassung des jeweiligen Anwalts); auch hatten die Anwälte keine Visitenkarten ohne Kanzleibezug, keinen eigenen Internetauftritt (vgl. z.B. V…; H…; B…; B…; W…, D…, St.F. L…; K… – kein eigener Außenauftritt etwa durch Werbung, eigene Visitenkarten nur mit eigenen Namen o.ä. – im Rahmen der Kanzleiwerbung mit erwähnt –; auch schon M… G…; Ausnahme: Ul. A…, die eine eigene Visitenkarte nur mit ihrem Namen besaß).
1490
Werbung und Visitenkarten wurden im Übrigen von der Kanzlei gestaltet, geschaltet und bezahlt (vgl. u.a. Volpert).
1491
Die Kammer verkennt nicht, dass die Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei die Beachtung des Verbotes der Vertretung widerstreitender Interessen erforderlich gemacht hätte (§ 43 a Abs. 4 BRAO). Allerdings sind bei einer freien Mitarbeiterschaft die Treuepflichten des Mitarbeiters und die Fürsorgepflichten des Prinzipals nicht im gleichen Umfang und in gleicher Stärke ausgeprägt, wie bei einem Arbeitsverhältnis und lassen daher grundsätzlich auch ohne Zustimmung des Prinzipals Außendarstellung in der Branche, sowie die Annahme und Durchführung eigener Mandate zu (eben gerade nicht – wie bereits vertraglich vom Angeklagten vorgegeben – dahingehend, dass die Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei der Zustimmung bedürfe).
1492
Demgegenüber darf ein abhängig Beschäftigter während des bestehenden Arbeitsverhältnisses seinem Arbeitgeber keinen Wettbewerb machen, was aus der Treuepflicht folgt.
1493
Damit haben die Rechtsanwälte/innen aber nicht nur kein unternehmerisches Risiko – wie dargelegt – gehabt, sondern haben mangels Außendarstellung keinerlei eigenständige Unternehmerinitiative und keinen eigenständigen Unternehmerwillen erkennen lassen.
1494
Sie waren Teil der Kanzlei, erbrachten ihre Arbeitskraft für die Kanzlei, was sie selbst so sahen, aber auch der Angeklagte. Dies entsprach den tatsächlich gelebten Beschäftigungsverhältnissen.
1495
Die Briefkopfgestaltung (auf Vollmachten, Kanzleipapier, Rechnungen an die Mandanten etc.) war (bis November 2016) betreffend die in der Kanzlei tätigen Anwälte grundsätzlich einheitlich: Oben der Kanzleiname „Anwaltssozietät Dr. S… L… & Kollegen“ bzw. nach Ausscheiden von S. L… „Kanzlei Dr. S… & Kollegen“ und seitlich angeführt die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen.
1496
An... war die Briefkopfgestaltung lediglich bei dem Zeugen B… – * – „in Kooperation“ –, womit nach außen sichtbar war, dass J.B… einen anderen Status hatte, sowie ab November 2016 (* – „in freier Mitarbeit“ bzgl. der in der Kanzlei des Angeklagten noch tätigen Anwälte – im Zuge des von der Zeugin S… (vgl. D. II. 2.) d) 1.), welche durch die Zeugin Dr. An... M… er (vgl. D. II. 2.) d) 2.) vertreten wurde, geführten arbeitsgerichtlichen Verfahrens), insoweit allerdings, ohne dass sich an den gelebten Verhältnissen der Beschäftigung etwas änderte.
1497
Sofern eine „Ausweisung“ der einzelnen, in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen in der geschilderten Form erfolgte und darin die Zugehörigkeit zu einer „Außensozietät“ im Raum stand, ist dies nach Überzeugung der Kammer aber kein Aspekt, der für eine eigenständige Außendarstellung spricht, insbesondere unter Berücksichtigung der dann erforderlichen Notwendigkeit des Bestehens einer unternehmerischen Tätigkeit jedes einzelnen Anwaltes, welche wie dargestellt, zweifelsohne nicht bestand.
1498
Auch findet bzgl. der Wertung der Kammer hinsichtlich des Kriteriums „Außendarstellung“ etwa die Schilderung des Zeugen N. L… Bedeutung, der nach Ausscheiden aus der Kanzlei im April 2018 nochmals von Juli 2018 bis Ende Oktober 2018 beim Angeklagten (zu diesem Zeitpunkt war es bereits zur Durchsuchung in der Kanzlei gekommen – 05.02.2018 – und der Angeklagte wusste, dass gegen ihn ermittelt wurde) arbeitete. In dieser „2. Episode“ und damit nach dem gegenständlichen Tatzeitraum kam es allerdings zu verschiedenen Änderungen: So hatte L… einen eigenen Briefkopf lautend nur auf seinen Namen, was mit Dr. S… abgesprochen war, wenn er auch nicht mehr sagen konnte, von wem diese „Idee“ kam. Auch bekam er während dieser „2. Episode“ sein Geld nur, wenn er da war, nicht etwa, als er mal eine Woche im Urlaub war (vgl. D. II. 2.) a) 3.13.).
1499
Dass die von den Anwälten während ihrer Zugehörigkeit zur Kanzlei des Angeklagten bearbeiteten Mandate „Mandate der Kanzlei“ waren, kam auch bei Ausscheiden der Anwälte – soweit sie nicht aus persönlichen Gründen an der Mitnahme von Akten/Mandaten ohnehin nicht interessiert waren (H…: … der Angeklagte habe die Ansicht vertreten, es seien Akten und Mandate der Kanzlei ….; B…: … wesentlicher Mandantenstamm blieb in der Kanzlei …; W…; D…; St.F.; K…), – zum Ausdruck, da sich einige Anwälte dann die „Mandatsmitnahme erkämpfen mussten“ (vgl. L…. So schilderte Rechtsanwalt H…, dass er im Rahmen des Ausscheidens nur seine persönlichen Sachen mitnehmen konnte, der Angeklagte ihm selbst die Mitnahme von Mandantenakten hinsichtlich Mandanten, die gegenüber der Kanzlei bereits gekündigt hatten, verweigerte, ebenso die Herausgabe der Stammdaten der Mandanten (vgl. D. II. 2.) a) 3.1.). Rechtsanwalt M… gegenüber machte der Angeklagte eine Ablöse in Höhe von 10.000,- € geltend, die M… auch zahlte, ohne die Aufschlüsselung nach einzelnen Mandaten oder die Berechnungsgrundlage dieser Ablöse zu kennen. Gegenüber G… machte Dr. S… bei dessen Ausscheiden eine Abläse in Höhe von 17.500,- € eltend die für G … nicht durchschaubar war und hinsichtlich derer er anmerkte, dass dann, wenn er freier Mitarbeiter gewesen wäre und die Mandate auch seine Mandate gewesen wären, er diese seiner Ansicht nach hätte mitnehmen können, ohne dafür etwas zahlen zu müssen. Rechtsanwalt H… äußerte dazu, dass er die Zahlung einer Ablöse im Hinblick auf ein angeblich freies Mitarbeiterverhältnis für ungewöhnlich erachte. Betr. Rechtsanwalt B… wurde hinsichtlich der Mandate; die er mitnahm, auf Veranlassung des Angeklagten eine stichtagbezogene Abrechnung mit der Kanzlei vorgenommen. K. B… schrieb der Angeklagte am 13.12.2016 … dein Arbeitszimmer wird dir ab der letzten Januarwoche 2017 nicht mehr zur Verfügung stehen … über die Mitnahme bzw. Bewertung der Akten kann vorbehaltlos verhandelt werden ….
bb) 5. Kriterium Haftungsrisiko:
1500
Eines von vielen, in die Gesamtwürdigung betreffend die Abgrenzung freier Mitarbeiterschaft abhängige Beschäftigung weiter einzupreisendes Indiz ist auch die Frage, wer das Haftungsrisiko trägt.
1501
Ein Selbstständiger hat in der Regel das Haftungsrisiko.
1502
Die in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen trugen jedoch kein Haftungsrisiko.
1503
Insoweit sei nochmals auf den „Haftungsfall M… – 6 O 1335/12 – (vgl. Zeugen M… und G…, sowie Aussage des Vorsitzenden Richters am OLG München gegenüber dem Angeklagten „Da haben Sie sich ja selber verklagt“) Bezug genommen, aber auch den Fall „S…“ (vgl. oder die Aussage der Zeugin Dr. St. M… nach ihrem Ausscheiden habe es in einer Kanzleisache noch einen Haftungsfall gegeben; die Gegenseite habe sie als Einzelanwältin angesehen, das sei aber nicht richtig, da das Mandatsverhältnis mit der Kanzlei Dr. S… & Kollegen zustande gekommen und diese daher auch betreffend den Haftungsfall Ansprechpartner gewesen sei.
1504
f) Als im konkreten Fall ambivalent und damit für die Abgrenzungsentscheidung freier Mitarbeiter – Scheinselbstständiger nicht als so gravierend heranzuziehen, hat die Kammer folgende Aspekte eingeordnet:
* Zwar war in der jeweiligen ve ragte en Vereinbarung bzw. Zusatzvereinbarung die Rede von Urlaub in Höhe von bis zu 28 Tagen, welcher keinen Einfluss auf die vereinbarte Honorarzahlung hat – was bereits, wie oben dargelegt, ein Indiz gegen freie Mitarbeiterschaft/Selbstständigkeit ist.
1505
Jedoch ist zu sehen, dass der Urlaub – so die Zeugen übereinstimmend (D. II. 2.) a) 3.) – andererseits nicht förmlich beantragt und nicht förmlich vom Angeklagten genehmigt werden musste (Ausnahme M…, er sprach nicht nur von einem Abstimmen des Urlaubs, sondern einer Genehmigung durch den Angeklagten).
1506
Es war lediglich Usus, die Urlaubstage in den kanzleiinternen Terminkalender einzutragen (damit an diesen Tagen für den jeweiligen Anwalt kein Termin eingetragen wurde) und den jeweiligen Urlaub mit den Kollegen abzusprechen und „intern“ abzustimmen, teilweise wurde auch vorgetragen, dass ein Abstimmen mit Dr. S… erfolgte. Allerdings schöpfte (außer Rechtsanwältin D…) keiner der in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte die vereinbarte Anzahl der Urlaubstage grundsätzlich auch nur annähernd aus (vgl. D. II. 2.) a) 3.) – wegen der vielen Arbeit.
* Ebenso war in der jeweiligen vertraglichen Vereinbarung bzw. Zusatzvereinbarung geregelt, dass bei Abwesenheit mit Krankheit bis zu 30 Werktagen die vereinbarte Honorarzahlung unverändert blieb, ebenfalls – wie dargelegt – ein Indiz gegen freie Mitarbeiterschaft/Selbstständigkeit.
1507
Jedoch war andererseits von keinem der in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen gefordert, im Falle der Erkrankung eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorzulegen (nur Anruf, dass man nicht kommt), wenn auch – mit Ausnahme des Rechtsanwaltes Ha… – keiner der Anwälte längerfristig erkrankte, pro Jahr in der Regel allenfalls 1-2 Tage.
b) 8. Kriterien im Übrigen:
1508
Demgegenüber hat die Beweisaufnahme das Vorliegen nachbenannter Kriterien, die für die Selbstständigkeit sprechen (können; vgl. ErfK/Rolfs, a.a.O., SGB IV, § 7 Rn. 14), nicht belegt, d.h. neben dem Fehlen des Einsatzes von eigenem Kapital, sowie dem Fehlen einer erfolgsabhängigen Vergütung bzw. einer solchen, die weit über dem für Angestellte üblichen liegt und Eigenvorsorge ermöglicht, hat sich ein Recht der in der Kanzlei tätigen Anwälte, sich durch Dritte vertreten zu lassen ebenso wenig bestätigt, wie die Möglichkeit, auch für andere Auftraggeber tätig zu werden. Anstelle des Rechtes, sich durch Dritte (nicht kanzleiangehörige Anwälte) vertreten zu lassen, ist vielmehr davon auszugehen, dass die in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen eine persönliche Leistungserbringungspflicht hatten – was sie entweder direkt so angaben bzw. schilderten, es sei nie in Rede gestanden, sie hätten ihre Arbeit immer persönlich erbracht (vgl. St.F. W…, D…). Die Kammer verkennt nicht, dass laufende Mandate ggf. auch durch das Vorliegen eines besonderen Vertrauensverhältnisses geprägt sind, was die „Möglichkeit der Vertretung durch Dritte“ einschränkt; allerdings wäre es im Konkreten nicht möglich gewesen, etwa „einfach ein Sabbatjahr“ zu nehmen; in der Zeit hätten für den abwesenden Anwalt die neuen Mandate – bei denen noch kein gefestigtes Vertrauensverhältnis bestand – auch nicht von einem kanzleifremden Anwalt bearbeitet werden können.
1509
Die Möglichkeit, auch für andere Auftraggeber tätig zu werden, bestand bereits im Hinblick auf die zeitlich gegebene Einbindung in den Kanzleibetrieb nicht (vgl. z.B. Zeugen: H… D…). Sie lag im Übrigen auch nicht vor, auch nicht bezüglich der Rechtsanwälte/innen, hinsichtlich derer der Angeklagte in seiner, im Selbstleseverfahren „1“ VII. eingeführten Einlassung vom 22.08.2019 vortrug, dass diese relevante Nebeneinnahmen gehabt hätten. Keiner der Anwälte bestätigte im Rahmen seiner Zeugeneinvernahme die jeweils vorgetragenen Nebentätigkeiten nebst Erhalt einer relevanten Vergütung (vgl. i.E. obige Ausführungen und D. II. 2.) a) 3.).
1510
Weiter ist der insbesondere von der Verteidigung mehrfach in den Raum gestellte Umstand, der für freie Mitarbeiterschaft spräche, nämlich, dass die in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen während dieser Zeit verschiedentlich einen (oder mehrere) Fachanwalt gemacht haben und § 5 FAO vorschreibt, dass die für die Erlangung des Fachanwalts einzureichenden Fälle persönlich und weisungsfrei bearbeitet worden sein müssen (was auch schriftlich zu versichern ist), für die hier im Raum stehende Abgrenzungsfrage aus Sicht der Kammer nicht bedeutsam und zwar aus folgender Erwägung: Zum einen würde dies bedeuten, dass angestellte/abhängig beschäftigte Anwälte – und als solche können Anwälte arbeiten (§§ 2 und 46 BRAO) – nach dem Gedankengang der Verteidigung überhaupt keinen Fachanwalt während der Ausübung angestellter Anwaltstätigkeit erlangen könnten, was aber ausdrücklich als möglich anerkannt ist (vgl. Münchener Anwaltshandbuch, Arbeitsrecht, 5. Aufl. 2021, § 1 Rn. 5; Weyland/Vossebürger, BRAO, 10. Aufl. 2020, FAO, § 5 Rn. 9-13).
1511
Zum anderen ist allein die Abgabe einer Erklärung keine Garantie dafür, dass diese inhaltlich zutreffend ist (wie sich etwa auch in den letzten Jahren immer wieder im Zusammenhang mit Doktortiteln und den insoweit abzugebenden Erklärungen gezeigt hat oder sonstigen schriftlichen Lügen, wie sie insbesondere allen Organen der Rechtspflege bekannt sind).
1512
Gleiches gilt im Ergebnis für den von der Verteidigung mehrfach in den Raum gestellten Aspekt, dass die im verbliebenen Tatzeitraum in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen ihrerseits in den von ihnen abgegebenen Einkommenssteuererklärungen (und auch gegenüber anderen behördlichen Stellen) angaben, ihrer Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit zu erzielen.
1513
Auch insoweit ist ebenfalls zu berücksichtigen, dass diese Erklärungen nicht zutreffend sein müssen (haben im konkreten Fall ja auch – wie festgestellt – den gelebten Verhältnissen tatsächlich widersprochen). Daneben ist zu sehen, dass dies von den „Neuen“ auch nach eingeholter Erkundigung bei den Kollegen und in Abstimmung mit diesen – „dies sei in der Kanzlei schon immer so gemacht worden“ – einfach übernommen wurde (vgl. etwa B… oder H… D. II. 2.) a) 3.6. oder 3.1.), und die als junge, unerfahrene Berufsanfänger in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte zu Beginn ihrer Beschäftigung mangels entsprechender Rechtskenntnisse und (zunächst) fehlendem Problembewusstsein darauf vertraut haben, dass es „passt“, vor allem, weil der Angeklagte, der einen sehr guten Ruf hatte, dies versicherte.
1514
Im Übrigen ist die Abrechnung von Umsatzsteuer anerkanntermaßen als unerhebliches Kriterium eingeordnet worden (vgl. ErfK/Rolfs, a.a.O., SGB IV, § 7 Rn. 15 mit Hinweis auf BSG – Urteil vom 22.06.2005, NZS 2006, 318).
1515
Unter Berücksichtigung all dieser Umstände hat die Kammer im Rahmen der jeweiligen wertenden Einzel- und Gesamtbetrachtung betreffend jede/n einzelnen Rechtsanwalt/in im Zeitraum Februar 2013 bis Dezember 2017 keinen Zweifel daran, dass der Angeklagte ihnen gegenüber im Hinblick auf die tatsächlich gelebten Verhältnisse auch rechtlich gesehen Arbeitgeber war.
1516
Die persönliche Abhängigkeit zeigt sich dabei vor allem in der Bindung der Anwälte im Hinblick auf Zeit und Ort der geschuldeten Dienstleistung, „ähnlich wie bei einer Vollzeitbeschäftigung“. Ebenso ist hinsichtlich der Beurteilung der persönlichen Abhängigkeit die sachliche Abhängigkeit durch Eingliederung in die Organisation des Auftraggebers und Abhängigkeit von Mitarbeitern und den Arbeitsmitteln des Auftraggebers, d.h. konkret der Kanzlei des Angeklagten Dr. S… von Bedeutung.
1517
Eine wirtschaftliche Abhängigkeit ist gleichfalls gegeben gewesen, da diese anzunehmen ist, wenn der Verpflichtete auf die Verwertung seiner Arbeitskraft und die Einkünfte aus seiner Dienstleistung als Existenzgrundlage angewiesen ist. Dies ist dann der Fall, wenn die Tätigkeit die einzige (relevante) wirtschaftliche Existenzgrundlage darstellt, ohne dass es von Bedeutung ist, ob eine vertragliche Erlaubnis vorliegt, daneben anderen Tätigkeiten nachzugehen. Eine vergleichbare soziale Schutzbedürftigkeit liegt vor, wenn das Maß der Abhängigkeit nach der Verkehrsanschauung einen solchen Grad erreicht, wie er im Allgemeinen nur in einem Arbeitsverhältnis vorkommt, und die geleisteten Dienste nach ihrer Typik mit denen eines Arbeitnehmers vergleichbar sind.
1518
Die Kammer verweist nochmals darauf, dass maßgebend für die rechtliche Einordnung des Rechtsverhältnisses dabei der Geschäftsinhalt ist, nicht die gewünschte Rechtsfolge oder die Bezeichnung des Vertrages. Was Geschäftsinhalt ist, kann sich aus den ausdrücklichen Vereinbarungen der Parteien und aus der tatsächlichen Durchführung des Vertrages ergeben. Widersprechen sich Vereinbarung und tatsächliche Durchführung, so kommt es auf die Letztere an. Die tatsächliche Ausgestaltung des Beschäftigungsverhältnisses ist entscheidend und nicht die von den Vertragsparteien gewählte Bezeichnung, die den tatsächlichen Geschäftsinhalt – wie vorliegend – nicht entspricht. Ein Rechtsanwalt, der sich vertraglich einem Rechtsanwalt (Dr. S…) verpflichtet, diesem seine gesamte Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, dem weiter durch Absprache ein bestimmtes Arbeitsgebiet (hier Fachgebiet) zugewiesen ist, dem aber der andere Rechtsanwalt unabhängig davon bestimmte Mandate zuweisen oder entziehen kann, von dem ferner vertraglich erwartet wird, dass er während der üblichen Bürostunden in der Kanzlei anwesend ist und der schließlich weder am Gewinn noch am Verlust der Kanzlei beteiligt ist, ist Arbeitnehmer. Abweichende vertragliche Vereinbarungen über seinen Status sind unerheblich (vgl. etwa nochmals Weyland/Brüggemann, BRAO, 10. Aufl. 2020, § 2 Rn 19 f. m.w.N.).
1519
Lediglich ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass die Kriterien für eine Zuordnung der Tätigkeit der Rechtsanwälte/innen zum Rechtsinstitut der sog. arbeitnehmerähnlichen Selbstständigen im Sinne des § 2 S. 1 Nr. 9 SGB VI aus folgenden Erwägungen ausschied:
1520
Zum einen ist das Vorliegen dieser „Rechtsfigur“ nur dann zu diskutieren, wenn nicht bereits eindeutig – wie aber vorliegend – die tatsächlichen Voraussetzungen eines Arbeitsverhältnisses zu bejahen sind. Personen, die sich nur als Selbstständige generieren, ihrem Erscheinungsbild nach tatsächlich aber Arbeitnehmer sind (Scheinselbstständige), werden von der Norm nicht erfasst (vgl. NK-ArbR/Heinrich Lang, 1. Aufl. 2016, SGB VI., § 2 Rn. 4; KassKomm/Guttenberger, 116. EL Sep. 2021, SGB VI, § 2 Rn. 35).
1521
Zum anderen ist maßgeblicher Unterschied zwischen Arbeitnehmern und arbeitnehmerähnlichen Personen, dass Letztere gerade nicht persönlich abhängig, sondern allein wirtschaftlich abhängig beschäftigt sind (vgl. Hümmerich/Reufels, Gestaltung von Arbeitsverträgen, 4. Aufl. 2019, § 4 Rn. 66; Hromadka, NZA 1997, 569 (575 f.); ErfK/Preis, 22. Aufl. 2022, BGB, § 611 a Rn, 81). Die in der Kanzlei des Angeklagten im verbliebenen, noch nicht verjährten Tatzeitraum tätigen Rechtsanwälte/innen waren aber, wie vorangegangen ausführlichst dargelegt, sehr wohl persönlich vom Angeklagten als ihrem Auftraggeber abhängig (nicht nur wirtschaftlich).
1522
Da der Angeklagte in Bezug auf die in seiner Kanzlei tätigen Anwälte tatsächlich und rechtlich Arbeitgeber war, war er gegenüber der Einzugsstelle verpflichtet, Beiträge des Arbeitnehmers zur Sozialversicherung einschließlich der Arbeitsförderung, unabhängig davon, ob Arbeitsentgelt gezahlt wird, abzuführen.
1523
Die jeweiligen Beiträge für die Sozialversicherung sind nach § 23 Abs. 1 SGB IV jeweils spätestens am drittletzten Bankarbeitstag des Monats der ausgeübten Beschäftigung fällig.
1524
Bezüglich des Tatbestandes nach § 266 a Abs. 2 StGB hat der Angeklagte die für den Einzug der Beiträge zuständige Stelle über sozialversicherungsrechtliche erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen, indem er die Tatsache der Beschäftigung und der Lohnzahlung an die im maßgeblichen Tatzeitraum von Februar 2013 bis Dezember 2017 in seiner Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen nicht angab.
1525
Der Angeklagte kannte seine Arbeitgeberstellung auch und ebenso seine Verpflichtung zum Abführen der Sozialversicherungsbeiträge, sowohl nach § 266 a Abs. 1 StGB, als auch nach § 266 a Abs. 2 StGB und war bemüht, sein Modell der Scheinselbstständigkeit aufrecht zu erhalten und zu leben. Ihm kam es darauf an, Sozialabgaben nicht entrichten zu müssen. Die Gesamtbetrachtung der nachfolgenden Erwägungen ergibt: Er handelte mit Willen auf den Erfolg gerichtet, also der stärksten Form des Vorsatzes, der Absicht, dolus directus 1. Grades. In der Folge wird jedoch die subjektive Tatseite allgemein mit „Vorsatz“ bezeichnet.
1526
Nach der ursprünglichen/bisherigen Rechtsprechung des BGH musste sich der Vorsatz mit Blick auf die Eigenschaft als Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sowie die daraus resultierenden sozialversicherungsrechtlichen Pflichten nur auf die hierfür maßgeblichen, tatsächlichen Umstände beziehen. Einer zutreffenden rechtlichen Einordnung und damit auch eines Fürmöglichhaltens einer Verletzung der etwa in eigener Person bestehenden Verpflichtung zur Beitragsabführung bedurfte es demgegenüber nicht.
1527
Lag die Kenntnis der statusbegründenden tatsächlichen Verhältnisse vor, unterlag der Täter, wenn er glaubte, nicht Arbeitgeber zu sein oder für die Abführung der Beiträge nicht Sorge tragen zu müssen, nach bisheriger Rechtsprechung keinem den Vorsatz ausschließenden Tatbestandsirrtum, sondern allenfalls einem – in der Regel vermeidbaren – Verbotsirrtum (BGH, Beschluss vom 07.10.2009 – 1 StR 478/09, NStZ 2010, 337; BGH, Beschluss vom 04.09.2013 – 1 StR 94/13 (NStZ 2014, 321) Rn: 16 jeweils m.w.N.) vor.
1528
An dieser Rechtsprechung hielt der BGH nicht fest.
1529
Wie bereits im Beschluss vom 24.01.2018 angedeutet wurde (NStZ 2019, 146 Rn. 15), ist vorsätzliches Handeln nach aktueller Rechtsprechung nur dann anzunehmen, wenn der Täter über die Kenntnis der insoweit maßgeblichen, statusbegründenden tatsächlichen Umstände hinaus auch die außerstrafrechtlichen Wertungen des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts – zumindest als Parallelwertung in der Laiensphärg – nachvollzogen hat (zustimmend Habetha, StV 2019, 39; v. Galen/Dawidowicz, NStZ 2019, 148; Schneider/Rieks, HRRS 2019, 62; Rode/Hinderer, wistra 2018, 341; Reichling, StraFo 2018, 357; Floeth, NStZ-RR 2018, 182; MüKoStGB/Radtke, a.a.O., § 266 a Rn. 90; Fischer, a.a.O., § 266 a Rn. 23).
1530
Dies bedeutet, dass sich für den Täter die wesentlichen Bedeutungsinhalte für die Unrechtsbegründung erschlossen haben müssen (MüKoStGB/Joecks, 4. Aufl. 2020, § 16 Rn. 71; BGH, 08.11.2016 – 1 StR 492/15; BGHSt 3, 248).
1531
Der Täter muss danach seine Stellung als Arbeitgeber und die daraus resultierende sozialversicherungsrechtliche Abführungspflicht zumindest für möglich gehalten und deren Verletzung (zumindest) billigend in Kauf genommen haben. Demgemäß ist eine Fehlvorstellung über die Arbeitgebereigenschaft in § 266 a StGB und die daraus folgende Abführungspflicht als Tatbestandsirrtum i.S.v. § 16 Abs. 1 S. 1 StGB einzuordnen (vgl. auch MüKo/Radtke, a.a.O., § 266 a Rn. 90).
1532
Der BGH führt weiterhin aus, dass der Täter die für die Unrechtsbegründung wesentliche Bedeutung der maßgeblichen Tatumstände zutreffend erfasst und die rechtliche Wertung nachvollzogen haben muss (BGH, Beschluss vom 24.09.2019 – 1 StR 346/18 = NJW 2019, 3532 (3533); MüKoStGB/Joecks, a.a.O., § 16 Rn. 70; Radtke, GS Joecks, 543 (549)). Hat er dies nicht, unterliegt er einem vorsatzausschließenden Tatbestandsirrtum, da ihn der spezifische strafrechtliche Normappell nicht erreicht (BeckOK StGB/Kudlich, 42. Ed., § 16 Rn. 14 ff.).
1533
Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Kriterien ist davon auszugehen, dass der Angeklagte vorsätzlich handelte, da er nicht nur die statusbegründenden tatsächlichen Beschäftigungsverhältnisse kannte, sondern ebenso die daraus resultierenden Wertungen und Verpflichtungen des Arbeits-/Sozialversicherungsrechtes, insbesondere die daraus resultierende Beitragsabführungspflicht.
1534
Als Kriterien zum Prüfungsumfang und Maßstab hinsichtlich des subjektiven Tatbestandes (nicht abschließend) führt der Bundesgerichtshof an, dass darauf Rücksicht genommen werden muss,
- inwiefern der Arbeitgeber im Geschäftsverkehr erfahren ist und
- ob ihm das Thema „illegale Beschäftigung“ in der jeweiligen Branche geläufig ist, sowie
- dieses Thema im gegebenen zeitlichen Kontext gegebenenfalls vermehrt Gegenstand des öffentlichen Diskurses war.
1535
Ein gewichtiges Indiz ist darüber hinaus, ob das gewählte Geschäftsmodell von vornherein auf Verschleierung oder eine Umgehung von sozialversicherungsrechtlichen Verpflichtungen ausgerichtet ist. Jedenfalls (bereits) bei Kaufleuten, die als Arbeitgeber zu qualifizieren sind, sind auch die im Zusammenhang mit ihrem Gewerbe bestehenden Erkundigungspflichten im Bezug auf die arbeits- und sozialrechtliche Situation in den Blick zu nehmen, weil eine Verletzung der Erkundigungspflicht auf die Gleichgültigkeit des Verpflichteten hinsichtlich der Erfüllung dieser Pflicht hindeuten kann (vgl. BGH, Urteil vom 08.09.2011 – 1 StR 38/11, NStZ 2012, 160; BGH, Beschluss vom 24.09.2019 – 1 StR 346/18), was (in Zweifelsfällen Einholung von Rat eines Sachkundigen bzw. Prüfung im Rahmen eines Statusfeststellungsverfahrens) umso mehr bei juristisch qualifizierten Personen gelten muss.
1536
Zudem wird insoweit auch der Zeitpunkt der „Wurzel des Beschäftigungsmodells“ eine Rolle spielen, zumal die Rechtsprechung in diesem Bereich Neuerungen erfahren hat.
1537
Die Kammer ist sich bei Prüfung der Frage des Vorliegens des Vorsatzes in der Person des Angeklagten auch des Grundsatzes bewusst gewesen, dass je schwieriger sich die Einordnung des Status nach sozialrechtlicher Betrachtungsweise mit Hilfe der durch die Rechtsprechung entwickelten Kriterien objektiv darstellt und umso größer sich Unsicherheiten in der Bewertung einstellen, umso höhere Anforderungen an den subjektiven Tatbestand zu stellen sind. Unklarheiten können sich nicht zu Lasten des Bürgers auswirken.
2.) Vorsatz des Angeklagten Dr. S…
1538
Unter Berücksichtigung dieser Prämissen hatte die Kammer jedoch keine Zweifel am vorsätzlichen Handeln des Angeklagten.
1539
a) Die Feststellungen im Rahmen der durchgeführten Beweisaufnahme haben eindeutig ergeben, dass der Angeklagte tatsächlich und rechtlich Arbeitgeber war und durchaus seine Stellung als Arbeitgeber und das Bestehen hieraus folgender sozialversicherungsrechtlicher Abführungspflichten nicht nur für möglich gehalten und nicht nur billigend in Kauf genommen hat, sondern positiv wusste, dass er als Arbeitgeber der Rechtsanwälte dazu verpflichtet gewesen wäre.
1540
Er hat ein „Modell der Scheinselbstständigkeit“ entwickelt, aufrechterhalten und fortentwickelt. Dies hat die Beweisaufnahme eindeutig ergeben. Zweifel haben sich insoweit bei Abwägung der Kriterien und Vornahme einer wertenden Gesamtabwägung der tatsächlich gelebten Beschäftigungsverhältnisse betreffend die in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen nicht ergeben.
1541
Aus diesen Gründen war kein Raum für die Annahme eines Irrtums.
1542
b) Unter Berücksichtigung des vom BGH aufgestellten Prüfungsmaßstabs ergeben sich betr. den subjektiven Tatbestand, d.h. den Vorsatz des Angeklagten unter Berücksichtigung des Beweisergebnisses und der von der aktuellen BGH-Rechtsprechung entwickelten Anforderungskriterien keine Zweifel und zwar aufgrund folgender Feststellungen:
1543
Der Angeklagte ist und war bereits zu Beginn der Tatzeit ein erfahrener Jurist/Rechtsanwalt. Er war nach eigenen Angaben im Vorfeld der Taten bis 1980 in der Justiz beschäftigt und in fast allen Fachgebieten des Zivil-/Strafrechts tätig, in der Folge in einer renommierten Münchner Kanzlei im Gesellschaftsrecht. Er beschäftigte sich nach eigenen Angaben mit gemischten Verträgen, hatte in diesem Rechtsgebiet kurz nach dem Studium im Jahr 1975 auch promoviert (Thema „Gemischte Verträge im Umsatzsteuerrecht“, worauf er in seiner Stellungnahme vom 22.08.2019, eingeführt im Selbstleseverfahren „1“ VII., dort Bl. 1681, ausdrücklich nochmals hinwies).
1544
Seine Kanzlei erfasst seit Gründung 1982 alle Gebiete des Zivil-/Familien- und Strafrechts, insbesondere ist er selbst im Gesellschafts- und Sozialrecht sachkundig.
1545
Es wäre – unter Berücksichtigung seiner juristischen Qualifikation und Erfahrung – lebensfremd anzunehmen, dass der Angeklagte die Maßstäbe zur „Scheinselbstständigkeit“ als aktiver Rechtsanwalt und in der Folgezeit bis einschließlich zum noch verbliebenen, nicht verjährten Tatzeitraum, nicht erfasst hätte.
1546
Der Angeklagte ist demnach bezüglich des Wissensmaßstabs nicht lediglich mit einem einfachen Kaufmann zu vergleichen. Hinsichtlich des Wissenshorizonts des Angeklagten ist vielmehr von großer Erfahrung und Kenntnis auszugehen. An den Angeklagten sind daher auch höhere Anforderungen an Erkundigungspflichten (vgl. BGH, Urteil vom 08.09.2011 – 1 StR 38/11, NStZ 2012, 160) zu stellen, als an einen gewöhnlichen, nicht juristisch vorgebildeten Kaufmann.
1547
Bei Zweifeln wäre ein förmliches Statusfeststellungsverfahren durch den Rentenversicherungsträger durchzuführen gewesen, was dem Angeklagten aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit und seiner Qualifikation auch bekannt ist (im Übrigen wurde etwa auch vom Zeugen H… vorgetragen, dass 2009 – damit noch vor Beginn des noch verfahrensgegenständlichen Tatzeitraumes – der Kollege G… im Zuge seines Ausscheidens sogar ein Statusfeststellungsverfahren wünschte, was der Angeklagte aber nicht wollte; vgl. D. II. 2.) a) 3.1.)
1548
Dass in der „Branche“ (vgl. BGH, Beschluss vom 24.09.2019 – 1 StR 346/18), einer langjährig tätigen „Anwaltskanzlei für Zivilrecht u.a.“ und dem „führenden“ Sozius die Abgrenzung und das Thema der „Scheinselbstständigkeit“ bekannt war und die rechtliche Brisanz erkannt werden konnte, ist damit anzunehmen, es wäre lebensfremd, dies zu verneinen.
1549
c) Dies gilt für die Kammer umso mehr, als zum einen (neben der Aussage H… unter Berücksichtigung der Aussage des Zeugen G… (vgl. D. II. 2.) b) 4.) feststeht, dass das Thema „Scheinselbständigkeit“ mit Dr. S… persönlich im Zuge des Ausscheidens von G… im Jahr 2009 (bzw. „Nachgang“ des Ausscheidens) – und damit vor Beginn des verfahrensgegenständlichen Tatzeitraumes, Februar 2013 – Gegenstand der Auseinandersetzung war.
1550
Mit Schreiben vom 21.11.2012 (eingeführt im Selbstleseverfahren „6“, Anlage 24 zu Protokoll) kündigt Rechtsanwalt G… der Kanzlei ein arbeitsgerichtliches Verfahren an, das naturgemäß der rechtliche Arbeitnehmer, nicht der Selbstständige betreibt. Mit Schreiben vom 12.10.2010 moniert Rechtsanwalt G… gegenüber der Kanzlei, dass ihm die Zahlen seiner Umsätze zur Überprüfung einer Prämienzahlung nicht mitgeteilt werden und stellt dabei den Status des „freien Mitarbeiters“ in Frage.
1551
Rechtsanwalt G… berichtete zudem, dass es schon zur Zeit seiner Beschäftigung in der Kanzlei ein „offenes Geheimnis“ unter den Mitarbeitern war, dass sie alle tatsächlich keine Selbstständigen seien.
1552
Ebenso sah auch die Kollegin S. L… die Problematik, wie etwa durch die Aussage der Zeugin L… (vgl. D. II. 2.) b) 5.) dokumentiert: Sie sagte aus, dass sie entweder von Frau L… selbst oder von M. H… als „Quelle“ gehört habe (und das jedenfalls vor Ausscheiden der S. L… Ende April 2012), dass L… betreffend das Thema „Freie Mitarbeiterschaft“ ein ungutes Gefühl gehabt habe und das „auf saubere Füße“ habe stellen wollen. Auch berichtete die Zeugin, dass Frau L… mit ihren Bedenken bei Dr. S… nicht durchdringen konnte, d.h., es musste denklogisch aber ein Gespräch zwischen beiden betreffend diese Thematik stattgefunden haben.
1553
Gleichfalls erhielt der Angeklagte im noch verbliebenen, nicht verjährten Tatzeitraum, im Rahmen von Schriftverkehr – s.o. und vgl. nachfolgend i) – immer wieder „Hinweise“ (auch wenn die Anwälte dies im Rahmen von Streitigkeiten bei der Auseinandersetzung vielleicht auch als Druckmittel eingesetzt haben sollten) auf den Umstand, dass die „freien Mitarbeiterverhältnisse“ kritisch zu sehen waren, nahm dies aber nicht als Anlass, ein Statusfeststellungsverfahren auf den Weg zu bringen, sondern setzte sich darüber (beratungsresistent) hinweg.
1554
Es wird hiermit insbesondere nochmals auf die Schreiben H… an Dr. S… vom 17.07. 2013 (vgl. D. II. 2.) a) 3.1.), Ha. an Dr. S… vom 14.06.2015 (vgl. D. II. 2.) a) 3.4.) oder Rechtsanwalt B… an Dr. S… vom 15.04.2015 (vgl. D. II. 2.) a) 3.4.) verwiesen.
1555
d) Bereits bei Betrachtung der durch den Angeklagten den jeweiligen, (auch) im noch verfahrensgegenständlichen Zeitraum beschäftigten Rechtsanwälten vorgefertigt vorgelegten Mitarbeiterverträgen, incl. der jeweiligen Zusatzvereinbarung - nur L… und K… hatten keine Zusatzvereinbarung, das von ihnen gelebte Beschäftigungsverhältnis unterschied sich aber nicht von dem der anderen Anwälte; im Übrigen enthielt bei ihnen bereits der Mantelvertrag „Widersprüchlichkeiten“; s.o. ist zudem festzustellen, dass diese vertraglichen Regelungen von vornherein auf eine Umgehung von sozialversicherungsrechtlichen Verpflichtungen abzielten.
1556
Die Regelungen in den jeweiligen Zusatzvereinbarungen schränken nämlich die Möglichkeiten der freien Tätigkeit in wesentlichen Punkten ein (vgl. oben, insbesondere betreffend die Beschäftigung eigenen Personals, das Schalten von Werbemaßnahmen oder die Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei), was sich bereits durch einfaches Lesen der im Selbstleseverfahren „1“ I. eingeführten schriftlichen Zusatzvereinbarungen eindrucksvoll bestätigt und vom Zeugen G… auf den Punkt gebracht wurde, der es zu Recht so ausdrückte: „Der Mantelvertrag enthielt Aspekte, die für freie Mitarbeiterschaft sprechen, die Zusatzvereinbarung hebelte diese aber wieder aus, kappte die Regelungen des Mantelvertrages“ (vgl. D. II. 2.) b) 4.).
1557
Darüber hinaus ist der Vertrag optisch derart gestaltet, dass er bei alten Rechtsanwälten (außer L… und K…) aus zwei Teilen besteht. Im Mantelvertrag (1. Seite mit Rückseite) sind Regelungen enthalten, die die Anwälte als „Freie Mitarbeiter“, Selbstständige erscheinen lassen. Durch Regelungen auf einem Extrablatt (Zusatzvereinbarung), welches hypotetisch bei Überprüfungen weggelassen werden kann (und auch tatsächlich wurde, vgl. nachfolgend), wurden die (z.T. deutlich widersprechenden) Einschränkungen vereinbart.
1558
Die Teilung des Vertrages in zwei haptisch getrennte Bestandteile auf zwei unterschiedlichen Seiten ist nach Überzeugung des Gerichts einzig zur Täuschung vorgenommen worden; ein anderer nachvollziehbarer Grund ist nicht ersichtlich (vielmehr hätten ansonsten alle Regelungen in einem schriftlichen Vertrag gefasst werden können). Insoweit ist auch nochmals zu betonen, dass es der Angeklagte persönlich war, der gegenüber den Bewerbern und neuen Rechtsanwälten/innen jeweils den vorgefertigten Mantelvertrag und die vorgefertigte Zusatzvereinbarung vorlegte, diese auch inhaltlich bestimmt hatte, und zwar seit Gründung seiner Kanzlei Anfang der 80ziger Jahre (vgl. Er.F.: … die vertraglichen Angelegenheiten habe er dem Angeklagten überlassen, der Angeklagte habe Anwälte nicht als Arbeitnehmer einstellen wollen …, D. II. 2.) b) 1.); S. L… hat diese jedenfalls nicht verfasst, sie eigentlich auch nie inhaltlich richtig gelesen (D. II. 2.) b) 3.).
1559
e) Die Möglichkeit des Weglassens der Zusatzvereinbarung hat sich auch realisiert:
1560
Im Rahmen der Beweisaufnahme wurde durch Einvernahme der Zeugen F. (Steuerfachanwaltsgehilfin) und H… (Steuerberater der Rechtsanwaltskanzlei, der das vom Hören-Sagen durch F. wusste) behauptet, dass der Zeuge H… (Betriebsprüfer im Jahr 2013) „Freie Mitarbeiterverträge“ während der Prüfung in der Steuerkanzlei H… angefordert haben soll (vgl. D. II. 2.) c) 1.1. und 1.2.). Dementsprechend habe man in der Kanzlei zwei Verträge erbeten, die zugesandt worden seien. Vom Zeugen H… wurden im 10. HVT (07.12.2021) zwei Verträge vorgelegt; es handelte sich um einen Vertrag „H…“ vom 12.02.2007 und einen Vertrag „D…“ vom 16.09.2013, ohne dass die daneben geschlossenen Zusatzvereinbarungen angefügt waren.
1561
Die Kammer ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zwar der Überzeugung, dass der Betriebsprüfer H… im Rahmen der Betriebsprüfung 2013 keine Verträge angefordert und auch keine Verträge vorgelegt bekommen hat (vgl. D. II. 2.) c) 1. und 2.). Allerdings sind die Verträge „H…“ und „D…“ – wenn sich auch die genauen Umstände und der genaue Zeitpunkt nicht klären ließ, sie ggf. nach Ankündigung der Betriebsprüfung 2013 vorsorglich, für den Fall, dass dem Prüfer in Bezug auf die in der Kanzlei tätigen Anwälte etwas hätte vorgelegt werden müssen, übersandt wurden – in die Sphäre des Steuerbüros H… gelangt (dieser hat sie erst im Zusammenhang mit dem E-Mail Verkehr mit dem Angeklagten im Mai 2019 zur Kenntnis genommen, vgl. D. II. 2.) c) 2.1.), jedoch ohne dass die daneben geschlossenen Zusatzvereinbarungen angefügt waren (die aber gerade für die Beurteilung des Status von großer Bedeutung gewesen wären).
1562
Die Zeugin W… ergänzte zudem in ihrer zweiten Einvernahme am 11.01.2022 (vgl. D. II. 2.) d) 5.), dass die Mitarbeiterverträge sich im Schrank hinter dem Schreibtisch des Angeklagten befänden/aufbewahrt würden und sie (ebenso wie andere Sekretärinnen) Verträge nicht ohne Anweisung des Angeklagten übersandt hätte. Ob sie das getan hatte, konnte sie nicht mehr sagen. Dass jemand hypothetisch aus dem Büro des „Chefs“ – ohne Wissen des Angeklagten – „zufällig“ nur die Mantelverträge ohne die beigefügte Zusatzvereinbarung übersandt hätte, erscheint nicht lebensnah, insbesondere wäre dies – hypothetisch unterstellt, die Zusendung wäre im Zusammenhang mit der Betriebsprüfung 2013 erfolgt – unter Berücksichtigung der Bedeutung im gegebenen Zusammenhang (sozialversicherungsrechtliche Betriebsprüfung) nicht anzunehmen, zumal die Zeugin W… berichtete, dass Frau F. ihr gegenüber im zeitlichen Zusammenhang mit der sozialversicherungsrechtliche Betriebsprüfung 2013 telefonisch starke Bedenken bzgl. des Status der freien Mitarbeiter geäußert und sie diesen Gesprächsinhalt mit F. an Dr. S… weitergeleitet hatte. Der Angeklagte hatte ihr gegenüber danach geäußert, dass alles in Ordnung ist, sie – W… – hatte aber F. und den Angeklagten „zusammengeführt“, ohne dass sie noch wusste, ob beide anschließend telefonisch oder persönlich sprachen; auch konnte sie den Inhalt des Gespräches zwischen F. und Dr. S… nicht berichten (vgl. D. II. 2.) d) 5.).
1563
Das Gericht geht auch deshalb von einer bewussten Täuschung über die tatsächlich vereinbarten und praktizierten Verhältnisse aus.
1564
f) Ebenso verhält es sich mit der steuerlichen Prüfung bereits im Jahr 2011 durch die Zeugin …, Finanzamt M.am I..
1565
Diese übermittelte im Zuge der steuerrechtlichen Prüfung Frau Rechtsanwältin L… einen Fragenkatalog (Datum 15.09.2011, Anlage 20 zu Protokoll), in welchem u.a. danach gefragt wurde, wie die Vergütung für die freien Mitarbeiter ermittelt wurde und ob es dazu Verträge, Stundenaufzeichnungen gäbe. Freie Mitarbeiterverträge erhielt sie nicht, sie bekam keine vorgelegt. Die Zeugin hatte auch noch die entsprechenden Unterlagen, welche von ihr dem Gericht übergeben und als Anlage zu Protokoll genommen wurden (vgl. i.E. D. II. 2.) c) 3.).
1566
Die Zeugin gab weiter an, dass – wie auf dem Fragebogen, welcher als Anlage 20 zu Protokoll genommen wurde, ersichtlich –, nicht von ihr (wohl von L…), vermerkt wurde: Grundvergütung variabel, was den tatsächlich gelebten Verhältnissen gerade nicht entsprach (gezahlt wurde das vereinbarte feste monatliche Pauschal honorar).
1567
Auch diese Art der Mitteilung stellt eine bewusste Falschinformation dar, wenn auch durch die Kollegin L… die damit dem Angeklagten behilflich war, um die Prüfung des Status über die Verträge nicht möglich zu machen bzw. zu erschweren. Nach der Lebenserfahrung und insbesondere der Stellung des Angeklagten in der Kanzlei – er war der „Chef“, der „Entscheider“, auch im Verhältnis zu L… – wäre es fernliegend davon auszugehen, dass L… dies tat, ohne den Angeklagten davon in Kenntnis zu setzen.
1568
g) Gleichfalls war nach Überzeugung der Kammer zu berücksichtigen, dass die von den in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälten/innen an die Kanzlei gestellten Rechnungen betreffend das monatlich vereinbarte feste Pauschalhonorar standardisiert einem „Modell“ entsprachen, das alle Anwälte benutzen, wie im Zeugenstand ausgesagt wurde (vgl. D. II. 2.) a) 3.) und e) 4.), und das in dieser Form zur Täuschung erstellt bzw. zumindest zur Täuschung bereit gehalten wurde (hätte beispielsweise die Zeugin G… eine Rechnungsvorlage zum Nachweis der angegebenen, angeblich variablen Grundvergütungen verlangt, hätte nur Blatt 1 der Rechnung vorgelegt werden können).
1569
Alle in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen haben sich den „Aufbau“ der Rechnungen von „älteren“ Kollegen zu eigen gemacht und übernommen (vgl. z.B. H…: … zu Beginn seiner Tätigkeit habe er vom Kollegen H… insoweit ein Muster bekommen, das habe er übernommen und dann halt seine Daten entsprechend monatlich eingefügt …, D. II. 2.) a) 3.4., ebenso etwa V… und L…. Es wurde festgestellt, dass die Rechnungen in der Kombination mit den nach RVG angefallenen Reise-/Fahrtkosten „falsche“ Nettohonorare darlegten. Die Fahrkosten, die in einem separaten Blatt dargestellt wurden, wurden rechnerisch zum vereinbarten Pauschalhonorar hinzugerechnet und die Summe der Beträge als (angebliches) Nettohonorar bezeichnet, weshalb sich monatlich unterschiedliche Beträge ergaben und damit die regelmäßigen festen Pauschalzahlungen, die ein Indiz für eine Arbeitnehmerschaft darstellen, nicht erkennbar gemacht wurden.
1570
Auffallend war insoweit (vgl. nochmals D. II. 2.) e) 4.), dass Rechtsanwältin Dr. M… zunächst eine korrekte Rechnungsstellung vornahm, dann aber ab Oktober 2013 die „Rechnungsgestaltung“ in das allgemein übliche, unkorrekte Modell abänderte und in der Zukunft davon absah, die Reisekosten auf dem ersten Blatt in der Rechnungsstellung separat auszuweisen (wie es korrekt gewesen wäre, was auch etwa dem Zeugen M… von seinem Steuerberater erläutert wurde; D. II. 2.) b) 2.).
1571
Das Gericht sieht keine andere plausible Erklärung, als dass die ursprünglich korrekte Aufstellung mit Täuschungswillen in eine unrichtige abgeändert wurde. Das Gericht zieht insoweit bei lebensnaher Betrachtung unter Berücksichtigung der Gesamtverhältnisse den Schluss, dass dies im Sinne eines Ansinnens des Angeklagten erfolgte, um ggf. auch mittels Vorlage der inhaltlich unkorrekten Rechnungsdarstellung unter Verschleierung der Zahlung einer festen Monatspauschale das „Modell“ der Scheinselbstständigkeit aufrechtzuerhalten.
1572
h) Der Angeklagte hat daneben durch die Veränderung der offiziellen Dokumente – Briefkopf der Kanzlei – im Laufe des Tatzeitraums, bewusst eine „Maßnahme“ ergriffen, um den Anschein der freien Mitarbeiterschaft zu erhalten:
1573
Nach dem Arbeitsgerichtsprozess mit Frau Dr. M… im Fall „S…“ bzw. währenddessen hat er den Briefkopf verändert, spätestens mit Schreiben aus Oktober 2016, indem er den jeweiligen Rechtsanwaltsnamen mit * und dem Zusatz „in freier Mitarbeit“ versah (vgl. i.E. D. II. 2.) d) 1. und 2.). Eine inhaltliche Änderung der tatsächlichen Ausgestaltung der jeweiligen Beschäftigungsverhältnisse hat aber nach Angaben aller Zeugen, wie erwähnt, nicht stattgefunden.
1574
i) Weitere Hinweise darauf, dass der Angeklagte nicht nur mit bedingtem Vorsatz, sondern direktem Vorsatz sein „Modell der freien Mitarbeiterschaft“ in Kenntnis aller tatbestandsrelevanten Umstände einschließlich der arbeits-/sozialversicherungsrechtlichen Konsequenz in Form der Pflicht, Sozialversicherungsbeiträge abzuführen, vollzog, sind folgende Aspekte:
* Es erfolgte eine schriftliche Mitteilung des Zeugen und Steuerberaters H… an den Angeklagten – persönlich adressiert – zu Neuerungen des § 7 SGB IV, insbesondere der Einordnung der freien Mitarbeiter als Selbstständige oder Arbeitnehmer, datiert vom 24.10.2013 (vgl. D. II. 2.) c) 2.1. und eingeführt im Selbstleseverfahren „5“, Anlage 18 zu Protokoll).
1575
In diesem Brief an den Angeklagten stellt H… explizit die Kriterien für die Einordnung als Selbstständiger und Arbeitnehmer dar. Er berichtete im Rahmen seiner zweiten Zeugeneinvernahme vor Gericht, dass seine erste Aussage vor Gericht insoweit falsch gewesen sei, und es sich tatsächlich nicht um einen Standardbrief an alle seine Mandanten mit freien Mitarbeitern handelte. Vielmehr war es so, dass er Bedenken (die er auf Nachfrage nicht näher konkretisieren konnte oder wollte) bzgl. des Status der beschäftigten Rechtsanwälte beim Angeklagten hatte und deshalb diesen Brief speziell an den Angeklagten richtete. In der Folge wurde – wann auch immer, s.o. – an die Steuerkanzlei nur der Mantelvertrag von „H… und „D… gesendet.
1576
Das Schreiben vom 24.10.2013 ist auch nochmals in dem konkreten Zeitzusammenhang der sozialversicherungsrechtlichen Prüfung im Jahr 2013 zu sehen: Die Prüfankündigung erfolgte am 16.08.2013 für die Zeit 05./06.11.2013, d.h. das Schreiben vom 24.10.2013 wurde zwischen Prüfankündigung und tatsächlich durchgeführter Betriebsprüfung an den Angeklagten gesandt, was ein besonderes Befassen mit der Materie impliziert.
* In diesem Zusammenhang/im Zusammenhang mit dem Vorsatz des Angeklagten ist auch das Schreiben von Ho. H…, i.A. F., an den Angeklagten – persönlich – vertraulich – vom 20.11.2013 von Relevanz, welches im Selbstleseverfahren „9“, dort Bl. 23 f., eingeführt wurde und wo es u.a. heißt:
1577
… Weitere Besprechungspunkte konnten mit dem Prüfer so geklärt werden, dass eine Erwähnung im Prüfbericht nicht erforderlich wurde. Es handelt sich dabei unter anderem um die Dauerkarte „Wacker B.“ und die Mitgliedschaft im Fitnessclub, die als Geschenk den gesamten Mitarbeitern und Rechtsanwälten zur Verfügung gestellt worden war. Aufgrund unserer Erklärungen und Erläuterungen verzichtete der Prüfer auf eine umfangreiche Einsicht in das Belegwesen (Werbung/Künstler – Sozialkasse, freie Mitarbeiter). Er beschränkte sich auf Stichproben ….
1578
Eine Prüfung des Status der Rechtsanwälte fand tatsächlich nach Angaben des Betriebsprüfers H… nicht statt. Der Angeklagte konnte also auch nicht irrtümlich von einer Statusprüfung ausgehen. Er wusste positiv, dass eine solche nicht erfolgt war.
1579
Der Angeklagte hat trotzdem mehrfach gelogen, als er etwa gegenüber St.F. (D. II. 2.) a) 3.11.) oder in einer Kanzleibesprechung (vgl. z.B. D…: …. Es sei immer wieder Thema gewesen, „Sind wir Rechtsanwälte eigentlich tatsächlich freie Mitarbeiter oder nicht“. Das Thema sei aber immer wieder schnell abgebügelt worden, weil Dr. S… das schon immer so gemacht habe und Dr. S… selbst in einer Kanzleibesprechung – glaublich so Ende 2013 – mal davon gesprochen habe, dass ja eine Betriebsprüfung stattgefunden habe …, D. II. 2.) a) 3.11.) in Bezug auf die tätigen Rechtsanwälte behauptete, es sei alles o.k., es sei alles geprüft worden. Zuletzt hat er dies im Rahmen seiner Stellungnahme vom 22.08.2019 (Selbstleseverfahren „1“ VII. Nr. 1) getan.
1580
Es ist bei lebensnaher Betrachtung kein anderer Grund dafür ersichtlich, als derjenige, die Täuschung über den Status der Anwälte aufrechtzuerhalten und Zweifel der Mitarbeiter betr. ihren Status im Kern zu ersticken.
* Im zeitlichen Zusammenhang mit der Betriebsprüfung 2013 erfolgte auch ein Anruf von Frau F. an die Zeugin W…. Laut deren Aussage teilte Frau F. anlässlich dieses Telefonats der Buchhalterin W… gleichfalls Bedenken betreffend den Status der „freien Mitarbeiter“/Anwälte in der Kanzlei des Angeklagten mit. Di. W… hat daraufhin den Kontakt zwischen dem Angeklagten und Frau F. hergestellt. Im Nachgang hat der Angeklagte gegenüber Frau W… geäußert, dass alles o.k. sei – Dr. S… hat mir gegenüber ein Statement abgegeben, warum dies nicht problematisch sei – (vgl. D. II. 2.) d) 5.).
* Es gab auch einige „Hinweise“ der in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte direkt an Dr. S… welche der Angeklagte „überging“ und trotz seiner Erfahrungen im Rechtsverkehr unter Verletzung seiner Erkundigungspflichten (etwa in Form der Veranlassung einer Statusprüfung) in seinem Kanzleibetrieb tatsächlich weiter gegenüber den bei ihm tätigen Anwälten als Arbeitgeber fungierte und seiner Pflicht zur Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen nicht nachkam:
* Schreiben von Rechtsanwalt H… an Dr. S… vom 17.07.2013 (vgl. D. II. 2.) a) 3.1.):
1581
Hilfsweise erkläre ich die Aufrechnung mit den von mir verauslagten Kosten der letzten 4 Jahre für Sozialversicherungsträger. Ich habe meinen Beschäftigungsstatus bei Dir zwischenzeitlich von den Kollegen G… und W… – Fachanwälte für Arbeitsrecht – prüfen lassen. Diese sind sicher, dass bei meinem Beschäftigungsverhältnis die Voraussetzungen der Scheinselbstständigkeit erfüllt sind. Diese Auffassung wird auch von der Kollegin L… geteilt. Sie hat den Kollegen H… angestellt. Solltest Du es dennoch auf einen Rechtsstreit ankommen lassen, können die Grundsätze der Scheinselbstständigkeit gerne vor dem Arbeitsgericht erörtert werden. Hilfsweise berufe ich mich auf Verjährung. Du hast meine Abrechnung monatlich überprüft und abgezeichnet.
- E-Mail von Rechtsanwalt H… an Dr. S… vom 14.06.2015 (vgl. D. II. 2.) a) 3.4.):
1582
Besonders entsetzt mich, dass du angebliche „Urlaubstage“ von mir im Kalender versucht hast zu „zählen“. …. Mit Verwunderung nehme ich als Fachanwalt für Arbeitsrecht zur Kenntnis, dass du in deinem Schreiben sehr deutlich von einem arbeitgeberseitigen Direktionsrecht Gebrauch machst. Ich bin bislang davon ausgegangen, dass unser Vertragsverhältnis eine freie Mitarbeiterschaft (auch wenn es bei meinen Kollegen möglicherweise faktisch anders sein mag) darstellt. …. Falls du von deinem arbeitgeberseitigen Direktionsrecht bezüglich des Arbeitsortes Gebrauch machen willst, ersuche ich dich um Mitteilung ….“
- Brief von Rechtsanwalt B… an Dr. S… vom 15.04.2015 (vgl. D. II. 2.) a) 3.6.):
1583
Alleine im März sind drei langjährige Mitarbeiter gegangen. Ich bin mir sicher, dass noch viele folgen werden, sobald sie eine andere Arbeitsstelle gefunden haben. Es sind ja nahezu alle auf der Suche, weil keiner mehr daran glaubt, dass es die Kanzlei noch lange gibt. Dies war auch der Grund, da ich mit dem geringen Gehalt von nur 3.000 € als Scheinselbstständiger (= 2.500 € als Angestellter), dass du mir seit 5 Jahren gezahlt hast, keine Rücklagen bilden, geschweige denn eine Familie gründen konnte. …. Das offene Gehalt fordere ich mit separatem Schreiben an.
* Derartige Hinweise hat es aber auch bereits vor dem verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum gegeben, wie etwa den Schreiben von Al. G… an den Angeklagten vom 12.10.2010 und 21. 11.2012 zu entnehmen ist, diese lauteten wie folgt (vgl. i.E. D. II. 2.) b) 4.):
Schreiben vom 12.10.2010:
… Ich stelle anheim, die Entscheidung über die Auskunftserteilung nochmals zu überdenken. Es ist bereits erstaunlich genug, dass der Vergütung eines „freien Mitarbeiters“ bereits jede erfolgsbezogene Komponente fehlen soll. Nicht nachvollziehbar ist aber, dass ein freier Mitarbeiter noch nicht einmal erfahren soll, welchen Umsatz er erwirtschaftete. Nach alledem setze ich abschließend Frist zur Auskunftserteilung bis zum 26.10.2010. Nach Fristablauf werde ich der Empfehlung des Herrn Dr. S… folgend die gerichtliche Geltendmachung einleiten. …
1584
Mit einem weiteren Schreiben vom 21.11.2012 kündigte G… arbeitsgerichtliche Schritte an: …. Mit Schreiben vom 03.09.2010 habe ich Sie und Herrn Dr. S… aufgefordert, meinen Umsatz des Jahres 2009 bekanntzugeben, damit sodann meine Prämienansprüche beziffert werden können (25 % des 175.000,- € übersteigenden Nettoumsatzes). Hierauf erfolgte eine Antwort dergestalt, dass für eine Bekanntgabe für ein „vorbehaltlos gewährtes Erfolgshonorar keine vertragliche Grundlage bestehe“ ….
1585
Bevor ich Ansprüche nunmehr im Arbeitsgerichtswege geltend machen muss, bevor Verjährung eintritt, gebe ich eine letzte Gelegenheit, die Ansprüche dem Grunde nach unter Frist bis längstens 02.12.2012 schriftlich anzuerkennen und einen Verjährungsverzicht zu erklären ….
1586
Die Durchführung eines arbeitsgerichtlichen Verfahrens impliziert jedoch, dass nach Ansicht des Zeugen G… der Status der beschäftigten Anwälte der von Arbeitnehmern war, was dem Angeklagten als Volljuristen durchaus bewusst gewesen sein muss. Der Angeklagte hat in der Folgezeit, insbesondere dem Tatzeitraum, weder ein Statusfeststellungsverfahren zur Klärung angestrebt, sondern im Gegenteil wahrheitswidrig behauptet, es sei alles geprüft und in Ordnung, noch hat er etwas an den tatsächlich gelebten Verhältnissen in seiner Kanzlei betreffend die dort tätigen Anwälte geändert.
* St. L… schilderte, dass sich die beiden Sozien, also Frau L… und Dr. S…, nicht einig waren, ob die freie Mitarbeiterschaft der in der Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen nicht kritisch sei. Davon wusste sie vom Hören-Sagen. Ihre „Quelle“ war entweder M. H… oder Frau L…. Sie gab aber glaubhaft und glaubwürdig an, dass es Wunsch von Frau L…, die betr. das Thema freie Mitarbeiterschaft ein „ungutes Gefühl“ hatte, war, das zu klären und „auf saubere Füße zu stellen“. Auch hatte die Zeugin erfahren, dass Frau L… mit ihren Bedenken bei Dr. S… nicht durchdringen konnte (vgl. D. II. 2.) b) 5.). Dies setzt aber voraus, dass es hinsichtlich dieses Themas zwischen L… und dem Angeklagten zu einem Gespräch gekommen war.
* Die Zeugin St.F. berichtete, dass sie sich in etwa Ende 2015/Anfang 2016 an den Angeklagten gewandt habe wegen der Gestaltung des Briefkopfes; sie sah eine Haftung der Rechtsanwälte als möglich an und wollte diesen Zustand geändert haben. Bei diesem Gespräch hat sie auch explizit auf die Problematik der Scheinselbstständigkeit hingewiesen. Der Angeklagte hat daraufhin geäußert, dass alles geprüft worden und alles in Ordnung sei (vgl. D. II. 2.) a) 3.4.), eine Aussage, die bewusst falsch erfolgte, da der Angeklagte wusste, dass der Status der in seiner Kanzlei tätigen Anwälte eben gerade nicht geprüft worden war.
* Ebenso verhielt es sich bei der Einstellung von An. K…, als der Angeklagte selbst den Status der „Freien Mitarbeit“ betreffend betonte, dieser sei seitens der Sozialversicherung und des Finanzamtes ohne jegliche Beanstandung geprüft (vgl. D. II. 2.) a) 3.14.).
* Ein weiterer Hinweis auf die subjektive Seite ist das Verhalten des Angeklagten im Arbeitsrechtsprozess mit der Arbeitnehmerin „S…, vertreten durch Rechtsanwältin Dr. M… (Az. 1 Ca 1384/16, festgestellt durch Zeugeneinvernahme von Rechtsanwältin Dr. M… und Inaugenscheinnahme, sowie auszugsweise Verlesung der Schriftsätze aus dem beigezogenen Arbeitsgerichtsverfahren, s.i.E. D. II. 2.) d) 1. und 2.):
1587
Im Oktober 2016 reichte die Zeugin Cl. S…, Angestellte der Kanzlei, Klage gegen den Angeklagten wegen Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses beim Arbeitsgericht Rosenheim ein und berief sich dabei auf die Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes.
1588
Der Angeklagte wendet mit seiner Klageerwiderung am 14.11.2016 ein, dass das Kündigungsschutzgesetz nicht anwendbar sei.
1589
Am 15.11.2016 fand die öffentliche Sitzung vor dem Arbeitsgericht Rosenheim statt. Anwesend war der Angeklagte, im Arbeitsprozess der Beklagte, und Rechtsanwältin Dr. M… für die Klägerin. In diesem Termin hat der Vorsitzende Richter, Direktor des Arbeitsgerichts Dr. H… vor den Beteiligten seine Einschätzung zu der Anwendung des Kündigungsschutzgesetzes dargelegt. Nach Angaben der Zeugin Dr. M… habe dieser eindeutig darauf hingewiesen, dass sich eine hohe Wahrscheinlichkeit ergäbe, dass die tätigen Rechtsanwälte in der Kanzlei als Arbeitnehmer einzustufen seien. Zu einer gütlichen Einigung kam es in diesem Termin nicht. Der Angeklagte/Beklagte hat mit Schreiben vom 29.11.2016 sodann erneut dargestellt, dass es sich bei den aufgeführten Rechtsanwälten nicht um Arbeitnehmer, sondern um freie Mitarbeiter handle. Der Status der freien Mitarbeiter sei in den letzten 35 Jahren im Rahmen von Lohnsteuerprüfungen, Einkommenssteuerprüfungen bestätigt bzw. niemals in Frage gestellt worden. Nachdem die Vertreterin der Klägerin, Dr. An... M…, hierzu Stellung genommen und weitere Indizien, die für eine Arbeitnehmereigenschaft sprachen, aufgeführt hatte, wurde von ihr im Folgemonat ein Vergleichsvorschlag schriftlich dem Angeklagten unterbreitet, der vom Angeklagten in vollem Umfang im Dezember 2016 akzeptiert wurde.
1590
Dieses Verhalten des Angeklagten ist ebenso ein Indiz dafür, dass ihm der tatsächliche Status der Rechtsanwälte als Arbeitnehmer bekannt war und er deshalb ohne jegliche „Gegenwehr“ den Vergleich nach Hinweis des Arbeitsrichters annahm, um einer gerichtlichen Prüfung zu entgehen. Bei anderer rechtlicher Betrachtung wäre das Kündigungsschutzgesetz nicht anwendbar gewesen, wie er selbst im Vorfeld noch vor dem Hinweis des Arbeitsrichters Dr. H… in seiner Klageerwiderung darstellte.
* Schließlich ist für die Annahme vorsätzlichen Handelns des Angeklagten bedeutsam, dass er im Rahmen seiner persönlichen Stellungnahme vom 22.08.2019 zum Strafverfahren (eingeführt im Selbstleseverfahren „1“ VII.) wesentliche Kriterien zur Einordnung des Status der jeweiligen Rechtsanwälte aufführt und diese mit falschen oder unvollständigen Sachverhalten zu belegen versuchte, um die Abwägung zu seinen Gunsten zu veranlassen. Dies dokumentiert, dass er betr. die relevanten Abgrenzungsfragen genau wusste, „auf was es ankam und ankommt“.
1591
Der Angeklagte hat bis zuletzt, also selbst nach Erhebung der Anklage versucht, durch Manipulationen des Sachverhalts die Behörden/das Gericht zu täuschen, um sein „Modell“ aufrecht zu erhalten.
1592
Hierbei sei angemerkt, dass das Gericht diesen Umstand nicht als belastendes Moment wertet, da es dem Angeklagten gestattet ist, im Rahmen seiner Verteidigung zu lügen. Jedoch zeigt dieser Umstand, dass er sich mit den Kriterien der Statusbestimmung befasst hat und diese weiterhin bewusst falsch darstellte, zur weiteren Aufrechterhaltung/Rechtfertigung „seines Modells“.
1593
Insoweit wird nochmals auf die einzelnen Zeugenaussagen verwiesen; im Rahmen der jeweiligen Zeugeneinvernahme wurden dem betreffenden Zeugen relevante Passagen aus der persönlichen Stellungnahme vom 22.08.2019 vorgelesen und vorgehalten. Wie der Beweiswürdigung i.E. zu entnehmen, bestätigten die Zeugen die für die Abgrenzungsfrage „Freie Mitarbeiterschaft <-> abhängige Beschäftigung“ relevanten Passagen im Kern nicht (vgl. dazu, dass und inwieweit der Vortrag des Angeklagten Unrichtigkeiten enthält, insbesondere nochmals Ziffer D. II. 2.) e) 3.1. und E. I.).
1594
Beispielhaft wird insbesondere etwa auf das vom Angeklagten immer wieder herausgestellte Momentum, dass alle freien Mitarbeiter keineswegs ihre ganze Arbeitskraft in den Dienst der Kanzlei stellten. Alle Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte hatten neben ihrer freien Mitarbeit andere Funktionen bzw. Aufgabenbereiche, eigene Mandate und auch eigene Beratungsverhältnisse. Die meisten Anwälte hatten zusätzliche zusätzlich Auftraggeber und entsprechende Einnahmen hingewiesen, welches nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme eindeutig widerlegt ist (vgl. dazu auch Ziffer E. I. 2.) bb) 3.).
1595
Soweit es in der Stellungnahme vom 22.08.2019 heißt (Bl. 1687), dass alle freien Mitarbeitern Freiräume für sonstige Tätigkeiten ohne wettbewerbsrechtliche oder vertragliche Beschränkungen hatten, entspricht dies weder den vertraglichen Vereinbarungen (… die Bearbeitung von Mandaten außerhalb der Kanzlei bedarf der Zustimmung der Sozietät …) noch den tatsächlich gelebten Verhältnissen (… volle zeitliche Einbindung der Anwälte in den Kanzleibetrieb, „Akten ohne Ende“…).
1596
Ebenso falsch ist die in der Stellungnahme vom 22.08.2019 vorgetragene Behauptung, mit Sicherheit habe keine Weisungsgebundenheit vorgelegen. Es bestand eine zeitliche und örtliche, aber auch inhaltliche Weisungsgebundenheit der in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte, wie sich im Rahmen der Beweiswürdigung ergab, auf die ebenso wie auf die rechtlichen Ausführungen Ziffer E. I. 2.) bb) 1. – Kriterium Weisungsgebundenheit – nochmals vollumfänglich verwiesen wird. Es gab danach im Hinblick auf die tatsächlich gelebten Verhältnisse in der Kanzlei den Kernbereich anwaltschaftlicher Tätigkeit betreffend, die juristische Bearbeitung der anfallenden Mandate, Weisungen des Angeklagten, die deutlich über ein reines „Brainstorming“ (so der Angeklagte in seiner Stellungnahme vom 22.08.2019) hinausgingen.
1597
Darüber hinaus wurde vom Angeklagten unter dem 22.08.2019 falsch vorgetragen, dass der durchschnittliche Jahresumsatz zu Kürzungen des Entgelts bei den Rechtsanwälten führte, was bei keinem der Anwälte zutraf, von keinem der anwaltschaftlichen Zeugen bestätigend vorgetragen wurde, weder den noch verfahrensgegenständlichen noch den zuvor in der Kanzlei tätigen (D. II. 2.) a) 3. und b). Alle Rechtsanwälte gaben vielmehr an, keine Umsatzbeteiligung aber auch keine Risikobeteiligung bei schlechtem Umsatz gehabt zu haben, eine Vergütungsreduzierung stand selbst bei „grauenhaftem Umsatz“ (D. II. 2.) a) 3.13.) nicht zu befürchten. Es wurde eine feste Pauschale bezahlt, die lediglich bei guten Umsätzen über einen längeren Zeitraum erhöht wurde und zwar nach alleinigem Ermessen des Angeklagten (vgl. (D. II. 2.) a) 3.7.; 3.8.). Verhandlungen um das Honorar und seine Höhe gab es nie, weder bei Eintritt in die Kanzlei, noch während der Tätigkeit als solcher.
1598
Hinsichtlich der Eigenhaftung wurde vom Angeklagten in seiner Stellungnahme vom 22.08.2019 vorgetragen, dass die Anwälte selber hafteten, was jedoch ebenfalls nicht zutraf. Insoweit kann vollumfänglich auf das „Kriterium Haftungsrisiko“ im Rahmen von Ziffer E. I. e) Bezug genommen werden.
1599
j) Es gab auch keine Umstände, die den Vorsatz des Angeklagten ausschließen oder entfallen lassen könnten:
1600
Der Angeklagte trug zwar mehrfach, sowohl bei den Einstellungsgesprächen mit den Rechtsanwälten bis hin zum Ermittlungsverfahren, im Strafverfahren über seine Verteidiger, vor, dass der Status der Rechtsanwälte sozialversicherungsrechtlich geprüft wurde.
1601
In seiner Stellungnahme vom 22.08.2019 (eingeführt im Selbstleseverfahren „1“ VII.) trägt der Angeklagte vor: „Offenbar wurde von den Ermittlern nicht zur Kenntnis genommen, dass 2013 in einer sozialversicherungsrechtlichen Prüfung exemplarische Verträge freier Mitarbeiter angefordert und der Prüfung unterzogen wurden, nämlich die Verträge des Mitarbeiters Andre H… und An. D…. Wie auch in der Vergangenheit wurden regelmäßig freie Mitarbeiter besprochen und abgehakt. Die Prüfung der Verträge H… und D… erfolgte ohne systemkritische oder sonstige Beanstandungen. Der Status der freien Mitarbeit in der Kanzlei wurde nicht in Frage gestellt.“ (Selbstleseverfahren „1“ VII., Bl. 1682). Oder: … Alle Elemente der Tätigkeit der freien Mitarbeit in der Kanzlei Dr. S…, L… derer & Kollegen bzw. Dr. S… von 1982 an waren transparent, Gegenstand von Prüfungen, Gesprächen und Beurteilungen, insbesondere hinsichtlich der steuerlichen und sozialversicherungsrechtlichen Gestaltung (Selbstleseverfahren „1“ VII., Bl. 1697).
1602
Dieser Vortrag ist unzutreffend und kann den Vorsatz somit auch nicht ausschließen:
1603
Es wird – unter Hinweis auf D. II. 2.) c) 1.) i.E. – klarstellend wiederholt: Der Betriebsprüfer und Zeuge H… hat 2013 keine freien Mitarbeiterverträge angefordert. Die Zeugen H… und B… von der DRV haben den Status der freien Mitarbeiter mindestens seit 2008 nicht geprüft. Die Prüfungen bezogen sich ausschließlich auf die in der Kanzlei des Angeklagten gemeldeten beschäftigten Arbeitnehmer (Sekretärinnen, Buchhalterinnen usw.). Ansonsten wären insoweit auch Vermerke und Hinweise in den Prüfbescheiden erkennbar gewesen. Es ist ausgeschlossen, dass auch nur ansatzweise Thema der Status der Rechtsanwälte war, auch nicht zwischen Tür und Angel. Die Prüfung erfasste auch nicht die Buchhaltung zu den Ausgaben der Firma/Kanzlei betreffend die Honorare, weil die Prüfung nur die Ausgaben der gemeldeten Arbeitnehmer betraf. Der Angeklagte hat weder ein Statusfeststellungsverfahren durchgeführt, noch erfolgte eine Prüfung des Status der Rechtsanwälte als freie Mitarbeiter im Rahmen einer sozialversicherungsrechtlichen Prüfung. Seine Darstellung in der Stellungnahme vom 22.08.2019 diesbzüglich ist also falsch und verfolgt einzig den Zweck, die Täuschung über sein „Modell“ aufrecht zu erhalten.
1604
Im Übrigen wäre auch eine stichprobenartige Prüfung der Honorare der freien Mitarbeiter, wie seitens der Verteidigung versucht wurde, schlüssig darzulegen, völlig ungeeignet, daraus eine Statusprüfung herzuleiten. Die Honorare waren tatsächlich feste Pauschalzahlungen. Die Rechnungen der Rechtsanwälte wurden so gefasst (s. „2-Blatt-Rechnungs-System“, s. Zeugen D. II. 2.) a) 3. und b) und D. II. 2.) e) 4.), dass dieser Umstand bei Vorlage nur der ersten Seite der Rechnung nicht erkennbar war und im Konto „Fremdleistungen“, das nur die „bloße Zahl“ des (angeblichen) Honorars ausweist, überhaupt nicht hätte erkannt werden können.
1605
Lediglich ergänzend sei erwähnt, dass – da sozialversicherungsrechtliche Prüfungen sich, wie dargelegt, auf Stichproben beschränken können (§ 11 BVV), was der Angeklagte wusste (vgl. auch obig dargelegten Schriftverkehr) –, hinsichtlich der Rechtsverhältnisse nicht geprüfter Personen ohnehin kein Vertrauensschutz besteht (vgl. ErfK/Rolfs, a.a.O., SGB IV, § 7 Rn. 18 a; behauptet hat der Angeklagte, wenn auch falsch, aber ohnehin nur die Prüfung der Verträge „H…“ und „D…“, hinsichtlich derer er zudem die neben dem Mantelvertrag zusätzlich auf einem gesonderten Blatt getroffene Zusatzvereinbarung bewusst wegließ).
3.) Zeitlicher Aspekt – Wandel der Rechtsprechung und Gesetzeslage:
1606
Das Gericht verkennt nicht, dass sich seit der Beschäftigung des Zeugen M… im Jahr 1991 bis zum verfahrensgegenständlich – da noch nicht verjährt – relevanten Zeitraum ab Februar 2013 bis Dezember 2017 auch eine Entwicklung in der Rechtsprechung vollzog, sich die Gesetzeslage veränderte (§ 611 a BGB, ab 01.04.2017) und ggf. in den Anfangszeiten der Kanzleigründung dieses „Thema“ noch nicht in der aktuellen Form brisant war.
1607
Allerdings ergeben sich auch unter Berücksichtigung dieses Aspektes für die Kammer keinerlei Zweifel dahingehend, dass der juristisch sachkundige Angeklagte die damals geltenden Kriterien kannte und bewusst missachtete (im Übrigen hätte es auch der – sowohl im Rahmen der Beweiswürdigung wie im Rahmen der rechtlichen Bewertung mehrfach angesprochenen – Täuschungshandlungen des Angeklagten in der Form, dass er gegenüber Rechtsanwälten/innen, aber auch etwa der Zeugin W… in Bezug auf den Status der Anwälte angab, es sei alles geprüft, die Prüfungen seien ohne Beanstandungen verlaufen, nicht bedurft).
1608
Insoweit sind aus Sicht der Kammer zwei Aspekte nochmals zu betonen:
1609
Zum einen der Umstand, dass der Angeklagte nicht nur eigene Sachkunde besitzt und besaß, sondern etwa durch den Zeugen H… mit Schreiben vom 24.10.2013 auf die, für die im Räume stehende Abgrenzungsfrage relevanten Aspekte/Kriterien nebst deren Änderung hingewiesen wurde (s. D. II. 2.) c) 2.1.). Diesbezüglich ist auch zu sehen, dass die „Hauptkriterien“ – Tätigkeit nach Weisung und Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers – davor bereits Gültigkeit hatten, aber eben auch gültig blieben.
1610
Zum anderen ist insoweit einzustellen, dass die früheren, vor dem noch verbliebenen verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum von der Rechtsprechung aufgestellten Maßstäbe eher starrer waren, „weniger Spielräume“ zuließen, wie sich etwa daraus ergibt, dass früher dann, wenn ein Beschäftigter nicht mindestens für drei unterschiedliche Auftraggeber tätig war, bereits die freie Mitarbeiterschaft/Selbstständigkeit weitgehend ausgeschlossen wurde.
1611
Zweifel daran, dass die 189 Taten des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt durch den Angeklagten auch rechtswidrig verwirklicht wurden, haben sich nicht ergeben.
1612
Die Tatsache, dass die in seiner Kanzlei tätigen Rechtsanwälte/innen freiwillig die vertragliche Regelung akzeptierten (wenngleich einer Vielzahl der Rechtsanwälte die Bedeutung bei Vertragsschluss und zumindest zum Zeitpunkt des Beschäftigungsbeginnes nicht bewusst oder gleichgültig war), lässt eine rechtfertigende Einwilligung nicht begründen (vgl. Fischer, a.a.O., § 266 a Rn. 24; Graf/Jäger/Wittig/Wiedner, a.a.O., § 266 a Rn. 82), – auch wenn im Vertragstext durchgängig folgender Passus enthalten ist: „Der freie Mitarbeiter führt seine Sozialabgaben einschließlich Krankenkasse und Pflegeversicherung sowie seien Steuern selbst ab.“
1613
Die Anwälte hatten zum einen kein Wahlrecht, ihnen wurde das „Modell“ durch vorgefertigte, im Wesentlichen nicht modifizierbare Verträge, aufgedrängt.
1614
Selbst der Angeklagte hat im Rahmen seiner Einlassung zu den persönlichen Verhältnissen erklärt, dass sein „Modell der freien Mitarbeit“ von Anfang an als einzige Beschäftigungsart seine Akzeptanz hatte. Eine andere Form war nach seiner Ansicht nicht möglich, er hätte sie nicht akzeptiert (vgl. bereits Er.F. D. II. 2.) b) 1.): der Angeklagte wollte Anwälte nicht als Arbeitnehmer einstellen; bzw. Zeugin K…, der gegenüber der Angeklagten angab, dass die freie Mitarbeiterschaft für einen Rechtsanwalt üblich sei, da dieser seinen Beruf frei ausübe und damit ein Angestelltenverhältnis nicht vereinbar sei …; oder Dr. St. M…: … es sei für den Angeklagten nicht infrage gekommen, dass sie als Arbeitnehmerin in der Kanzlei tätig sein könne, da alle Anwälte als freie Mitarbeiter tätig gewesen wären …, sowie Zeugen, die bestätigten, dass immer wieder geäußert wurde, dass das ein Standardvertrag der Kanzlei sei (V… H… B… B…, B… D…). Andernfalls wäre ein Vertrag zwischen dem Angeklagten und dem an einer Beschäftigung in seiner Kanzlei interessierten Anwalt nicht geschlossen worden.
1615
Alle Rechtsanwälte haben angegeben, dass es ihnen um die Erlangung der Stelle ging, weil die Kanzlei eine renommierte Kanzlei war oder sie sich als Berufsanfänger dort gut aufgehoben fühlten oder, weil sie einfach nur den Job haben wollten.
1616
Da in erster Linie Schutzgut des § 266 a Abs. 1 und Abs. 2 StGB das „Interesse der Solidargemeinschaft an der Sicherstellung des Aufkommens der Mittel für die Sozialversicherung“ ist, ist zum anderen jede vertragliche Verpflichtung der Arbeitnehmer in Form der Übernahme der Sozialversicherungskosten/-abgaben eine Umgehung des Schutzzwecks, weil natürlich auf dem Arbeitsmarkt der arbeitssuchende Arbeiter in der Regel dem Druck, ansonsten ggf. nicht beschäftigt zu werden, durch Übernahme der Kosten nachgeben würde, um überhaupt die Beschäftigung zu erlangen.
1617
Die Verpflichtung zur Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen steht nicht in der Dispositionsbefugnis des Arbeitnehmers, wenn die Tätigkeit aus Rechtsgründen als Arbeitsverhältnis anzusehen ist (vgl. Graf/Jäger/Wittig/Wiedner, a.a.O., § 266 a Rn. 82).
1618
Davon zu unterscheiden ist der Aspekt, dass die Privatautonomie und die Vertragsfreiheit der Parteien, einen freien Mitarbeitervertrag zu schließen, ihnen (natürlich) nicht verwehrt ist, was jedoch dann die Notwendigkeit/Konsequenz mit sich bringt, dass die für eine selbständige, freie Mitarbeiterschaft charakteristischen und bedeutsamen Aspekte/Gegebenheiten auch tatsächlich zu leben sind, da andernfalls (entsprechen die tatsächlich gelebten Verhältnisse einem Arbeitgeber-/Arbeitnehmerverhältnis) eben die Konsequenzen der Pflicht des Arbeitgebers zur Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen eintritt.
1619
Denn sobald sich eine Tätigkeit nach den tatsächlichen Bedingungen der Beschäftigung als diejenige eines Arbeitnehmers nach § 7 SGB IV darstellt (und wie hier bereits in der vertraglichen Gestaltung begründet ist), ist die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Abführung der Sozialversicherungsbeiträge nach § 266 a StGB nicht abdingbar.
1620
Anhaltspunkte für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 266 a Abs. 6 StGB bestehen nicht. Der Angeklagte hat weder die vorenthaltenen Beiträge gegenüber der Einzugsstelle nachträglich angegeben noch entrichtet.
1621
Ebenso haben sich keine Hinweise dafür ergeben, dass der Angeklagte tatsächlich unfähig gewesen wäre, die Sozialversicherungsbeiträge zu bezahlen.
1622
Denn tatsächliche Unmöglichkeit in diesem Sinne, Zahlungsunfähigkeit besteht nur dann, wenn der Arbeitgeber im Fälligkeitszeitpunkt über keine finanziellen Mittel verfügt und er auch nicht in der Lage ist, sich diese, etwa durch Aufnahme eines Kredites, zu beschaffen. Die tatsächliche Unmöglichkeit der Erfüllung der Abführungspflicht wegen fehlender finanzieller Mittel ist enger als die Zahlungsunfähigkeit im Sinne von § 17 Abs. 2 InsO (vgl. MüKo/Radtke, a.a.O., § 266 a Rn. 66; Graf/Jäger/Wittig/Wiedner, StGB, 2. Aufl. 2017, § 266 a Rn. 43 ff.).
1623
Die Schadensberechnung erfolgte hier konkret, wie im Rahmen der Beweiswürdigung unter Ziffer D. II. 2.) f) 2. dargelegt, und ergibt einen tatsächlichen (strafrechtlichen) Schaden in Höhe von insgesamt 118.850,58 €.
1624
Gemäß § 28 d SGB IV besteht der abzuführende Gesamtsozialversicherungsbeitrag aus den Beiträgen zur Kranken-, Pflege-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung.
1625
Der Gesamtsozialversicherungsbeitrag wird von den Krankenkassen als Einzugsstellen (§ 28 h SGB IV) eingefordert.
1626
Nach § 28 i SGB IV ist zuständige Einzugsstelle für den Gesamtversicherungsbeitrag die Krankenkasse, von der die Krankenversicherung durchgeführt wird, bezüglich der im maßgeblichen Tatzeitraum für den Angeklagten tätigen Rechtsanwälte/innen sind das dementsprechend die AOK ..., TKK, B. und KKH.
1627
Bei der Schadensberechnung ist, wie vom Zeugen An. L… dargelegt wurde, ebenfalls berücksichtigt worden, wenn (und ab wann) betreffend die in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte ein Befreiungsantrag vorlag (vgl. i.E. D. II. 2.) f) 2.).
1.) Beiträge für die Bundesanstalt für Arbeit:
1628
Nach § 341 Abs. 2 SGB III in der vom 01.01.2011 bis 31.12.2018 gültigen Fassung beträgt der Beitragssatz 3 %.
1629
Gemäß § 346 Abs. 1 S. 1 SGB III werden die Beiträge von den Beschäftigten und den Arbeitgebern je zur Hälfte getragen, also jeweils 1,5 %.
2.) Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung:
1630
Die Beiträge richten sich nach § 241 SGB V.
1631
In der Fassung des Gesetzes vom 01.01.2011 bis 31.12.2014 betrug der Beitragssatz 15,5 % der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder, ab 01.01.2015 lag der Beitrag bei 14,6 %.
1632
Gemäß § 249 Abs. 1 SGB V tragen Arbeitgeber und Beschäftigte die Beiträge jeweils zur Hälfte. Im Zeitraum vom 01.01.2009 bis 31.12.2014 betrug nach der Fassung des § 249 Abs. 1 SGB V der Arbeitgeberanteil allerdings 0,9 Prozentpunkte weniger, im Übrigen trugen die Beiträge die Beschäftigten.
3.) Beiträge zur Pflegeversicherung:
1633
Die Beiträge tragen Arbeitgeber und Arbeitnehmer je zur Hälfte gemäß § 58 Abs. 1 SGB XI.
1634
Die Höhe des Beitrages richtet sich nach § 55 Abs. 1 und Abs. 3 SGB XI.
4.) Beiträge zur Rentenversicherung:
1635
Die Beiträge für die gesetzliche Rentenversicherung tragen gemäß § 168 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI Versicherte und Arbeitgeber je zur Hälfte.
1636
Die Höhe der Beiträge richtet sich jeweils nach der gemäß § 160 SGB VI für die jeweiligen Jahre erlassene Verordnung der Bundesregierung.
1637
Danach betrug der Beitragssatz in der Rentenversicherung in den Jahren 2013 und 2014 jeweils 18,9 % (1/2 davon: 9,45 %), in den Jahren 2015, 2016 und 2017 jeweils 18,7 % (1/2 davon: 9,35 %).
1638
Die entsprechenden Beitragssätze wurden der Berechnung zugrunde gelegt.
1639
Jede Nichtzahlung der Sozialversicherungsbeiträge zu verschiedenen Fälligkeitszeitpunkten steht im Verhältnis der Tatmehrheit, sodass jeder einzelne Monat, in dem die Beiträge nicht entrichtet wurden, eine Tat darstellt.
1640
Auch das Vorenthalten für mehrere Arbeitnehmer gegenüber unterschiedlichen Einzugsstellen begründet Tatmehrheit.
1641
Bei gleichzeitiger Unterlassung des Abführens von Beiträgen für mehrere Arbeitnehmer oder mehrere Versicherungszweige an dieselbe Einzugsstelle ist dagegen nur eine einheitliche Tat gegeben.
1642
Zwischen Taten nach § 266 a Abs. 1 StGB und § 266 a Abs. 2 StGB besteht, jedenfalls wenn sie sich auf dieselben Arbeitnehmer beziehen, Tateinheit (vgl. i.E. Fischer, a.a.O., § 266 a Rn. 36).
1643
Soweit im vorliegenden Fall also in den einzelnen Monaten Sozialversicherungsbeiträge für mehrere Arbeitnehmer bei einer Einzugsstelle vorenthalten wurden, handelt es sich nur um eine einheitliche Tat.
1644
Da hier aber, wie der Tabelle 1 Ziffer D. II. 2.) f) 2. zu entnehmen, teilweise pro Monat verschiedene Einzugsstellen beteiligt waren (nämlich AOK ..., TKK, B., KKH), besteht insoweit jeweils Tatmehrheit.
F. Rechtsfolgenausspruch:
1645
§ 266 a Abs. 1 und Abs. 2 StGB sieht für jeden Fall des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt die Verhängung von Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder Geldstrafe vor.
II. Keine Strafrahmenverschiebung:
1646
Für die von dem Angeklagten Dr. S… verwirklichten Fälle des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt sieht das Gesetz keinen Ausnahmestrafrahmen (für minder schwere Fälle) vor.
1647
Eine Strafrahmenverschiebung war nach Überzeugung der Kammer auch weder über §§ 20, 21, 49 Abs. 1 StGB (verminderte oder gar aufgehobene Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit) geboten, noch war vom Vorliegen anderer gesetzlich vertypter Strafmilderungsgründe (§§ 46 a; 46 b StGB) auszugehen.
III. Strafzumessung im engeren Sinne (§ 46 StGB):
1648
Zugunsten des Angeklagten Dr. S… fielen im Rahmen der Strafzumessung im engeren Sinne nach Überzeugung der Kammer folgende Gesichtspunkte ins Gewicht:
- der Angeklagte, bereits 72 Jahre alt, ist nicht vorbestraft,
- die Taten liegen längere Zeit zurück (verbliebener, nicht verjährter Tatzeitraum Februar 2013 bis Dezember 2017),
- die Einzelschäden waren zum Teil nicht gravierend:
Schadenshöhe bis 500,- € = 86 Fälle
- der Angeklagte war „seinen Anwälten“ – solange sie in seiner Kanzlei tätig waren – ein „guter Chef“; sie gaben alle übereinstimmend an, beim Angeklagte eine gute Ausbildung genossen zu haben, von der sie auch in ihrem weiteren Berufsleben profitierten;
- außerdem hat die Kammer die lange Verfahrensdauer, die Dr. S… stark belastet hat, bei Betrachtung der Zugunsten-Aspekte mit eingepreist, wenn auch nicht vom Vorliegen einer rechtsstaatswidrigen Verzögerung gesprochen werden kann, weshalb trotz der langen Verfahrensdauer keine Kompensation durch die sog. Vollstreckungslösung (vgl. BGH, Beschluss vom 17.01.2008, GSSt 1/07) vorzunehmen war:
1649
Insoweit ist nochmals Folgendes zu berücksichtigen:
1650
Die Ermittlungen wurden durch das anonyme Schreiben vom 01.12.2016 initiiert; es folgten Absprachen mit der Staatsanwaltschaft, aufgrund der erkennbaren Brisanz des Falles auch immer wieder Zwischengesprächen über das weitere Vorgehen, sowie zunächst Recherchen bei Finanzamt etc. – insoweit wird nochmals auf die Aussage des Sachbearbeiters Z. M. G… – D. H. 2.) f) 1. – verwiesen.
1651
Zwischen Juli 2017 und 15.10.2017 gerieten die Ermittlungen „ins Stocken“ (Bearbeitung zweier anderer, dringender und vorrangiger Verfahren durch die zuständigen Behörden), wobei zu berücksichtigen ist, dass der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt noch nichts von den gegen ihn geführten Ermittlungen wusste.
1652
Der Angeklagte hat erst mit der Durchsuchung am 05.02.2018 erstmals davon erfahren, dass gegen ihn Ermittlungen geführt werden. In der Folgezeit hat eine äußerst umfangreiche Ermittlungs-/Auswertungsarbeit begonnen. Die Ermittlungen wurden sowohl betreffend den (ursprünglichen) Tatzeitraum als auch treffend die Anzahl der in der Kanzlei des Angeklagten tätigen Anwälte ausgeweitet, Musterfragebögen etc. wurden entwickelt und versandt. Der Schlussbericht wurde unter dem 03.01.2019 fertiggestellt. Am 25.06.2019 erhob die Staatsanwaltschaft Tr. Anklage zum Landgericht Traunstein. Bereits Ende 2019/Anfang 2020 begann in Süddeutschland die Corona-Pandemie, damals gab es keine Impfungen, die Planung des Verfahrens gestaltete sich dadurch bedingt schwierig. Im September 2020 erkrankte der Angeklagte selbst an Corona. Zudem kam es zu einem Wechsel im Kammervorsitz und auch betreffend die Person des/der Berichterstatter/in. Zunächst mussten etliche umfangreiche Haftsachen verhandelt werden. Die ursprüngliche Verteidigung des Angeklagten zeigte sich dann an Rechtsgesprächen interessiert, welche auch am 10.02.2021, 01.03.2021, 19.04.2021 und 04.08.2021 (vgl. A. III.) geführt wurden.
1653
Anschließend vollzog sich ein Verteidigerwechsel; die neuen Verteidiger wollten und mussten sich natürlich zunächst in die umfangreiche Sachmaterie einarbeiten. Am 12.08.2021 erging Eröffnungsbeschluss nebst Terminsbestimmung auf 02.11.2021 einschließlich Folgeterminen.
1654
Ob eine Verfahrensdauer noch angemessen ist, muss nach den Umständen des Einzelfalles beurteilt werden. Dabei ist auf die gesamte Dauer des Verfahrens von dem in Kenntnissetzen des Beschuldigten (hier: 05.02.2018 anlässlich der Durchsuchung) von den gegen ihn gerichteten Ermittlungen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens abzustellen. Es sind Schwere und Art des Tatvorwurfs, Umfang und Schwierigkeit des Verfahrens, Art und Weise der Ermittlungen neben dem eigenen Verhalten des Beschuldigten, sowie das Ausmaß der mit dem andauernden Verfahren verbundenen Belastungen für den Beschuldigten/Angeklagten zu berücksichtigen. Eine gewisse Untätigkeit während eines bestimmten Verfahrensabschnittes führt nicht ohne weiteres zu einem Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK, sofern die angemessene Frist insgesamt nicht überschritten wird (vgl. BGH, Urteil vom 25.10.2005 – 4 StR 139/05).
1655
Unter Berücksichtigung dieser obergerichtlichen Rechtsprechung, des dargelegten Verfahrensganges und des Umfangs des Verfahrens vermag die Kammer keine rechtsstaatswidrige Verzögerung zu erkennen.
- Des Weiteren hat sich zugunsten der Angeklagten ausgewirkt, dass gegen ihn neben der ausgesprochenen Gesamtfreiheitsstrafe auch eine Geldstrafe nach § 41 StGB festgesetzt wurde (vgl. nachfolgend), sowie
- der Umstand, dass er durch die öffentliche Berichterstattung betr. die Hauptverhandlung nicht nur belastet war, sondern nicht ausschließbar dies Grund für einen Mandantenrückgang war und er noch berufsrechtliche Konsequenzen zu befürchten hat.
1656
Zulasten des Angeklagten Dr. S… war demgegenüber nach Überzeugung der Kammer Folgendes zu berücksichtigen:
- betr. die 189 Fälle wurden jeweils § 266 a Abs. 1 StGB und § 266 a Abs. 2 StGB tateinheitlich verwirklicht,
- Tatbegehung über mehrere Jahre (Februar 2013 – Dezember 2017) und
- hoher strafrechtlicher Gesamtschaden (118.850,58 €), wenn die Kammer auch gesehen und berücksichtigt hat, dass, sofern eine Verrechnung mit den freiwillig geleisteten Krankenversicherungs-/Pflegeversicherungsbeiträgen erfolgen könnte, der Schaden im Falle der Verrechnung „nur“ mit 100.284,24 € anzusetzen ist (vgl. i.E,. D. II. 2.) f.) 2.),
- mehrfaches positives Tun des Angeklagten, um sein „Modell der Scheinselbständigkeit“ aufrecht zu erhalten (so gab er etwa gegenüber den in seiner Kanzlei tätigen Anwälten bei Bedenken hinsichtlich des Status der Anwälte wiederholt an, alles sei geprüft, alles sei o.k., sprach sogar von erfolgten sozialversicherungsrechtlichen Prüfungen, die allerdings nie in Bezug auf die Anwälte erfolgt waren, wie der Angeklagte wusste; betreffend die Anwälte „H…“ und „D…“, legte er die jeweilige Zusatzvereinbarung zum Mantelvertrag dem Steuerbüro H… nicht mit vor).
1657
Insbesondere im Zusammenhang mit der sozialversicherungsrechtlichen Prüfung durch Mi. H… von der Deutschen Rentenversicherung 2013 (Ankündigung: 16.08.2013 für 05./06.11.2013; Schreiben Ho. H… vom 24.10.2013 an den Angeklagten, unter Hinweis auf die Abgrenzungskriterien verbunden mit der Bitte um Prüfung der mit den freien Mitarbeitern geschlossenen Verträge nach diesen Kriterien im Hinblick auf ihre sozialversicherungsrechtlichen Auswirkungen sowie dem Schreiben von Ho. H… vom 20.11.2013 an den Angeklagten, mit dem Zusatz „aufgrund unserer Erklärungen und Erläuterungen verzichtete der Prüfer auf eine umfangreiche Einsicht in das Belegwesen (Werbung/Künstler – Sozialkasse, freie Mitarbeiter), beschränkte sich auf Stichproben“), sieht die Kammer eine Zäsur: Der Angeklagte wurde sozusagen nochmals besonders auf die Problematik „freie Mitarbeiterschaft“ der bei ihm tätigen Anwälte hingewiesen, blieb seinem „Modell“ jedoch unbeeindruckt treu und setzte die Taten fort.
1658
Dies rechtfertigt nach Überzeugung der Kammer, dass zwar die 39 Taten bis November 2013 (jeweils 10 Fälle betreffend die Einzugsstellen AOK, TKK, B. und 9 Fälle betreffend die Einzugsstelle KKH) – gestaffelt nach der jeweiligen Schadenshöhe – mit einer Geldstrafe geahndet werden können, für die 150 Taten ab Dezember 2013 jedoch jeweils – ebenfalls gestaffelt nach der jeweiligen Schadenshöhe – die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe (§ 47 StGB) (bzw. einer darüber liegenden) geboten war.
1659
Denn die Norm des § 47 Abs. 1 StGB enthält den Grundsatz, dass kurze Freiheitsstrafen, d.h. Freiheitsstrafen bis 6 Monaten, zwar grundsätzlich vermieden werden sollen, aber dann zu verhängen sind, wenn besondere Umstände, die in der Tat oder der Persönlichkeit des Täters liegen, die Verhängung einer solchen Freiheitsstrafe zur Einwirkung auf den Täter oder zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich machen.
1660
Betreffend die Umstände in der Tat ist darauf abzustellen, dass der Angeklagte das „Modell der Scheinselbständigkeit“ bewusst schuf (vgl. Vereinbarung mit den Anwälten bestehend aus 2 haptisch getrennten Bestandteilen/„2-Blatt-Rechnungs-System“), modifizierte (vgl. Anpassung an geänderte Rspr. … Rechtsanwaltskanzlei beschäftigt keine Angestellten, die eine der Tätigkeit der freien Mitarbeiterin vergleichbare Arbeit verrichten …) und beratungsresistent aufrecht erhielt (vgl. nochmals im Rahmen der Beweisaufnahme eingeführten Schriftverkehr zwischen dem Angeklagten und den Anwälten, aber auch Bedenken im Schreiben vom 24.10.2013 durch Ho. H… bzw. Angaben von Di. W…, Frau F. habe diesbezüglich mit dem Angeklagten das Gespräch gesucht).
1661
Jedenfalls zur Verteidigung der Rechtsordnung d.h. unter generalpräventiven Aspekten, ist nach Überzeugung der Kammer ab Dezember 2013 – s.o. Zäsur – auch die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe unerlässlich. Der Begriff der Verteidigung der Rechtsordnung beinhaltet zwei Aspekte: Zum einen ist darunter zu verstehen, dass die Strafe die Aufgabe hat, die durch die Tat verletzte Ordnung des Rechts gegenüber dem Täter durchzusetzen und künftigen Verletzungen durch ihn und andere vorzubeugen. Zum anderen ist aber auch die Unverbrüchlichkeit der Rechtsordnung vor der Rechtsgemeinschaft zu erweisen, d.h., die Verhängung einer Geldstrafe muss im Hinblick auf schwerwiegende Besonderheiten des Einzelfalles für das allgemeine Rechtsempfinden schlechthin unverständlich erscheinen und das Vertrauen in die Unverbrüchlichkeit des Rechtes erschüttern, erst dann ist die kurze Freiheitsstrafe unter dem Gesichtspunkt der Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich (MüKo/Maier, StGB, 4. Aufl. 2020, § 47 Rn. 39).
1662
Für das allgemeine Rechtsempfinden würde es schlechthin unverständlich erscheinen, würde gegen den Angeklagten, der insbesondere aufgrund seiner fachlichen Kenntnisse und Erfahrungen im Geschäftsverkehr, d.h. v.a. auch der damit verbundenen Kenntnis, bei Zweifeln ein förmliches Statusfeststellungsverfahren durch die Rentenversicherung herbeizuführen, sowie seiner Stellung als Organ der Rechtspflege, die eine besondere Verantwortung auch gegenüber den Sozialversicherungsträgern nach sich zieht und der über Jahrzehnte ein „Modell“ entwickelt, fortentwickelt und etabliert hat, um seiner, aufgrund der gelebten Beschäftigungsverhältnisse der bei ihm tätigen Anwälte obliegenden Abführungspflicht, nicht nachkommen zu müssen, keine Freiheitsstrafe verhängt werden.
1663
Die Verhängung einer kurzen Freiheitsstrafe ist (in Abgrenzung zur Geldstrafe ab Dezember 2013) im Hinblick auf diese Umstände auch „unerlässlich“ im Sinne des § 47 Abs. 1 StGB, wobei insoweit auch der Aspekt der Vielzahl der Einzelfälle (wenn auch mit zum Teil geringen Einzelschäden) mit insgesamt hohem Schaden („Tatserie“) Relevanz erlangt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 23.11.2017 – 1 StR 150/17; BGH, Beschluss vom 24.06.2009 – 2 StR 170/09, Rn. 3; MüKo/Maier, a.a.O., § 47 Rn. 13).
1664
Der Annahme von Unverletzlichkeit steht insbesondere auch nicht eine günstige Prognose hinsichtlich der Strafaussetzung zur Bewährung – vgl. nachfolgend F. IV. – entgegen (vgl. MüKo/Maier, a.a.O., § 47 Rn. 34).
1665
Bei der Bemessung der Höhe der Geldstrafe ist die Kammer davon ausgegangen, dass diese gemäß § 40 Abs. 2 StGB unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters zu bestimmen ist, wobei in der Regel vom Nettoeinkommen auszugehen ist, das der Täter durchschnittlich an einem Tag hat oder haben könnte; ein Tagessatz wird auf mindestens 1,- € und höchstens 30.000,- € festgesetzt. Des Weiteren ist anerkannt, dass auch bestehendes Vermögen (vgl. § 40 Abs. 3 StGB) für die Bemessung des Tagessatzes herangezogen/geschätzt werden kann, ebenso ein zumutbar erzielbares Einkommen und sich eine rein schematische Berechnungsmethode verbietet (vgl. Fischer, a.a.O., § 40 Rn. 11 ff. und Rn. 21), vielmehr wirtschaftliche Belastungen auf die Höhe des Tagessatzes Auswirkung haben können, wobei es ausschließlich Sache des Tatrichters ist, hinsichtlich der Berücksichtigung wirtschaftlicher und persönlicher besonderer Verhältnisse nach pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden (vgl. Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl. 2014, § 40 Rn. 14 b; BGHSt 27, 212 (214/216)).
1666
Die Kammer ist unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Grundsätze der Überzeugung, dass im Rahmen der Ausübung pflichtgemäßen Ermessens die Festsetzung der Tagessatzhöhe auf 200,- € den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Angeklagten (vgl. nochmals Ziffer B. I. dieses Urteils) angemessen ist:
1667
Der Angeklagte hat zunächst über seine Verteidiger mit Schriftsatz vom 03.01.2022 (Anlage 37 zu Protokoll) sein monatliches Gesamtnettoeinkommen auf 2.726,34 € beziffert, welches sich aus Rente, Zusatzrente und seinem Anteil aus Mieteinnahmen abzüglich seiner Ausgaben für Krankenversicherung und Steuervorauszahlungen für das Jahr 2021 ergibt.
1668
Bei Ausgaben für Krankenversicherung und Steuervorauszahlungen für das Jahr 2021 handelt es sich um abziehbare Belastungen (vgl. Fischer, a.a.O., § 40 Rn. 13).
1669
Jedoch ist demgegenüber einzustellen (da die Heranziehung von Vermögen als Bemessungsfaktor der Tagessatzhöhe grundsätzlich zulässig ist, vgl. MüKO/Radtke, a.a.O., § 40 Rn. 110 f.), dass der Angeklagte nicht nur mietfrei in einem abbezahlten Haus in Österreich, R. 8, ... H./Ach, bezüglich welchem er (neben Ehefrau und Tochter) zu 1/3 Eigentümer ist, wohnt, vielmehr ergibt sich aus dem im Selbstleseverfahren „11“ (Anlage 41 zu Protokoll) eingeführten „Bericht zu den Vermögensermittlungen“, dass der Angeklagte auch bzgl. weiterer Immobilien Eigentum besitzt:
1670
So ist er zu 1/2 Eigentümer von 6 Wohnungen im Gebäude Stadtplatz 57/58 in B.. Dieses Gebäude – so der Vortrag seiner Verteidiger im Schriftsatz vom 10.01.2022, Anlage 43 zu Protokoll –, aus dem 14. Jahrhundert wurde in 1999/2000 mit einem Aufwand von gut 1 Millionen € saniert; die Restverbindlichkeit bei der Rbk. B. beträgt 230.000,- €, die monatliche Belastung 2.500,- €. Dem „Bericht zu den Vermögensermittlungen“ ist zu entnehmen, dass entsprechend ermittelter Immobilien-Wertansätze diese Immobilie auf ca. 1,9 Millionen € geschätzt wurde.
1671
Daneben ist der Angeklagte zu 1/3 (neben seiner Ehefrau und seiner Tochter) Eigentümer verschiedener Wohnungen in der Immobilie W.-straße 80 ebenfalls in B.; unter Abzug von 2 Wohnungen, die nach Angaben der Verteidiger verkauft, bezüglich derer aber noch keine Berichtigung im Grundbuch erfolgte (nebst Tiefgaragenstellplatz), handelt es sich insgesamt um 7 Wohnungen nebst 6 Stellplätzen. Dem „Bericht zu den Vermögensermittlungen“ ist zu entnehmen, dass entsprechend ermittelter Immobilien-Wertansätze diese Wohnungen auf ca. 3 Millionen € geschätzt wurden.
1672
Zudem ist den genannten Anlagen zu Protokoll zu entnehmen, dass der Angeklagte zwei eigene Pkw (Audi A6, Baujahr 2015, Finanzierungsrate 534,07 € monatlich und einen Porsche, derzeit stillgelegt, Baujahr 2007) hat.
1673
Die Kammer ist daher im Rahmen des von ihr auszuübenden Ermessens hinsichtlich der Frage der Festsetzung der Höhe der Geldstrafe der Überzeugung, dass die monatlichen Belastungen in Höhe von 2.500,- € (betr. die Immobilie Stadtplatz 57/58 in B.) und ca. 534,- € (bzgl. Pkw Audi A6) nicht komplett von den Einnahmen des Angeklagten in Abzug zu bringen sind, vielmehr wegen der gegenüberstehenden erheblichen Vermögenswerte den von ihm angegebenen monatlichen Nettogesamteinnahmen in Höhe von 2.726,- € hinzuzurechnen sind, weshalb auch unter Berücksichtigung des mietfreien Wohnens von einem monatlichen, in Ansatz zu bringenden Einkommen des Angeklagten in Höhe von (mindestens) 6.000,- € und mithin einer Tagessatzhöhe von 200,- € auszugehen war.
1674
Dabei war sich die Kammer bewusst, dass kein Vermögen herangezogen werden darf, dass Quelle von Einnahmen aus Vermögen ist, die ihrerseits bei der Bestimmung der Höhe des Nettoeinkommens berücksichtigt wurden (MüKO/Radtke, a.a.O., § 40 Rn. 112, 114): Im konkreten Fall ist aber von besonders günstigen wirtschaftlichen Verhältnissen auszugehen (dann Heranziehung möglich), da den monatlichen Mieteinnahmen (ca. 3.500,- €) erhebliche Vermögenswerte der Immobilien (Stadtplatz = ca. 1,9 Millionen € – Angeklagter 1/2 Eigentümer -> knapp 1 Millionen €; Wackerstraße 80 = ca. 3 Millionen € -> Angeklagter 1/3 Eigentümer -> ebenfalls 1 Millionen €) gegenüberstehen.
1675
Unter nochmaliger Berücksichtigung des der jeweiligen Tat zugrunde liegenden Strafrahmens, sowie der für und gegen den Angeklagten Dr. S…sprechenden Gesichtspunkte und der übrigen genannten Aspekte sind nach Überzeugung der Kammer folgende Einzelstrafen als tat- und schuldangemessen festzusetzen gewesen:
Schadenshöhe bis 500,- €
|
- 16 Fälle
|
Geldstrafe von 50
|
Tagessätzen zu je 200,- €
|
Schadenshöhe bis 1.000,ؘ- €
|
- 9 Fälle
|
Geldstrafe von 70
|
Tagessätzen zu je 200,- €
|
Schadenshöhe bis 1.500,- €
|
- 11 Fälle
|
Geldstrafe von 90
|
Tagessätzen zu je 200,- €
|
Schadenshöhe über 1.500,- €
|
- 3 Fälle
|
Geldstrafe von 120
|
Tagessätzen zu je 200,- €
|
150 TATEN AB DEZeMBER 2013:
Schadenshöhe bis 500,- €
|
- 70 Fälle
|
Freiheitsstrafe von
|
4 Monaten
|
Schadenshöhe bis 1.000,- €
|
- 64 Fälle
|
Freiheitsstrafe von
|
5 Monaten
|
Schadenshöhe bis 1.500,- €
|
- 15 Fälle
|
Freiheitsstrafe von
|
6 Monaten
|
Schadenshöte über 1.500,- €
|
- 1 Fall
|
Freiheitsstrafe von
|
7 Monaten
|
1676
Aus diesen Einzelstrafen war gemäß § 54 StGB eine Gesamtstrafe zu bilden.
1677
Dabei war die Einsatzstrafe von 7 Monaten angemessen zu erhöhen. Die Kammer hat neben den für und gegen den Angeklagten Dr. S… sprechenden Gesichtspunkten nochmals abgewogen, dass zwischen den Taten ein motivationaler, zeitlicher und situativer Zusammenhang bestand.
1678
Im Ergebnis hielt die Kammer daher unter Berücksichtigung des Gesamtstrafübels, nochmals der langen Verfahrensdauer, aber auch der gesetzlichen Strafzwecke, sowie der Vollstreckungsfolgen (BGH, Beschluss vom 29.11.2012, 5 StR 522/12, NStZ-RR 2013, 108) eine Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr für tat- und schuldangemessen, erforderlich, aber auch ausreichend, also verhältnismäßig.
VI. Strafaussetzung zur Bewährung:
1679
Nach Überzeugung der Kammer konnte diese Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden (auch unter Berücksichtung der Anwendung von § 41 StGB, vgl. V.).
1680
Gemäß § 56 Abs. 1 und Abs. 3 StGB kann das Gericht nämlich die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, die 1 Jahre nicht übersteigt, zur Bewährung aussetzen, wenn zum einen zu erwarten ist, dass der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzuges keine Straftaten mehr begehen wird und die Verteidigung der Rechtsordnung die Vollstreckung nicht gebietet.
1681
Diese Voraussetzungen liegen betreffend den Angeklagten Dr. S… nach Überzeugung der Kammer aus folgenden Erwägungen vor:
- Nach Auffassung des Gerichts ist die nach § 56 Abs. 1 StGB zu prüfende Sozial- und Legalprognose beim Angeklagten Dr. S… uneingeschränkt als positiv zu beurteilen: Der Angeklagte ist sozial integriert, arbeitet trotz seines Alters noch als Einzelanwalt. Trotz seines Alters und des bereits mehrere Jahre zurückliegenden Tatzeitraums (Datum der letzten Tat: Dezember 2017) ist der Angeklagte nicht vorbestraft.
- Auch gebietet die Verteidigung der Rechtsordnung nicht die Vollstreckung (§ 56 Abs. 3 StGB) der gegen den Angeklagten Dr. S… festgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe.
1682
Die Vollstreckung ist dann geboten, wenn ein Strafausspruch ohne Vollstreckung angesichts der Besonderheiten des Falles für das Rechtsempfinden schlechthin unverständlich erscheinen müsste und das Vertrauen der Bevölkerung in die Unverbrüchlichkeit des Rechtes und den Schutz der Rechtsordnung vor kriminellen Eingriffen erschüttern würde (BGH 24, 40 (46)).
1683
Die Verteidigung der Rechtsordnung gebietet die Vollstreckung der festgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe im konkreten Fall deshalb nicht, da die Taten bereits länger zurückliegen, abgesehen davon der Angeklagte nicht strafrechtlich auffällig wurde. Betreffend die Frage, ob die Voraussetzungen des § 56 Abs. 3 StGB vorliegen, war auch zu berücksichtigen, dass neben der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe gegen den Angeklagten zudem eine Geldstrafe festgesetzt wurde (vgl. nachfolgend). Mit einer Wiederholung des von ihm verfahrensgegenständlich gezeigten, strafrechtlich relevanten Verhaltens ist – da der Angeklagte nur noch als Einzelanwalt tätig ist und aufgrund seines Alters „kürzer treten“ will – nicht mehr zu rechnen.
V. § 41 StGB, Festsetzung einer Geldstrafe neben der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe:
1684
Neben der unter Strafaussetzung zur Bewährung festgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von 1 Jahr war aus Sicht der Kammer gegen den Angeklagten Dr. S… eine Geldstrafe zu verhängen:
1685
§ 41 StGB bestimmt insoweit Folgendes:
1686
Hat der Täter sich durch die Tat bereichert oder zu bereichern versucht, so kann neben einer Freiheitsstrafe eine sonst nicht oder nur wahlweise angedrohte Geldstrafe verhängt werden, wenn dies auch unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters angebracht ist.
1687
Die Kammer verkennt nicht, dass diese Norm wegen des durch die Kumulation ausgelösten Spannungsverhältnis zu § 46 Abs. 1 S. 2 StGB Ausnahmecharakter hat. Die Anwendung dieser Vorschrift zielt nicht auf die Abschöpfung von rechtswidrig Erlangtem, sondern auf eine „kombinierte“ Übelzufügung (MüKO/Radtke, a.a.O., § 41 Rn. 6).
1688
Dabei muss die Frage, ob neben einer Freiheitsstrafe eine Geldstrafe verhängt werden soll, für jede Einzeltat gesondert entschieden werden; aus mehreren Einzelgeldstrafen ist dann eine Gesamtgeldstrafe zu bilden.
1689
1. Voraussetzung ist, dass der Täter sich durch die Tat „bereichert“ oder versucht hat, sich zu bereichern, was bei Erlangung eines Vermögensvorteiles, d.h. jeder günstigeren Gestaltung seiner Vermögenslage, zu bejahen ist, anerkanntermaßen auch bei Steuerhinterziehungen bzw. der Hinterziehung von Sozialversicherungsbeiträgen (MüKO/Radtke, a.a.O., § 41 Rn. 18).
1690
2. Voraussetzung ist, dass es angebracht ist, neben der Freiheitsstrafe auf Geldstrafe zu erkennen, wobei die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters relevant sind, ebenso die allgemeinen Strafzumessungsgrundsätze des § 46 StGB Anwendung finden.
1691
Im Hinblick auf das verfahrensgegenständliche Gesamttatgeschehen, insbesondere dem seit Jahrzehnten (zwischenzeitlich allerdings verjährt) beratungsresistent gelebten tatsächlichen Beschäftigungsverhältnissen und unter Berücksichtigung seiner, im Rahmen der persönlichen Verhältnisse des Angeklagten Dr. S… festgestellten wirtschaftlichen Situation, ist in jedem einzelnen Fall, in dem eine Freiheitsstrafe verhängt wurde (also nicht bzgl. der ersten 39 Fälle bis Dezember 2013, hinsichtlich derer jeweils eine Einzelgeldstrafe verhängt wurde), daneben die Verhängung einer Geldstrafe nach § 41 StGB geboten.
1692
Dabei waren betreffend die Anzahl des jeweiligen Tagessatzes die für und gegen den Angeklagten sprechenden Gesichtspunkte, so wie sie bereits dargelegt wurden, heranzuziehen. Die Höhe des Tagessatzes war, wie ebenfalls dargelegt (s.o.), mit 200,- € zu bemessen.
Schadenshöhe bis 500,- €
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- 70 Fälle
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Geldstrafe in Höhe
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von 50 Tagessätzen zu je 200,- €
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Schadenshöhe bis 1.000,- €
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- 64 Fälle
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Geldstrafe in Höhe
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von 70 Tagessätzen zu je 200,- €
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Schadenshöhe bis 1.500,- €
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- 15 Fälle
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Geldstrafe in Höhe
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von 90 Tagessätzen zu je 200,- €
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Schadenshöhe über 1.500,- €
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- 1 Fall
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Geldstrafe in Höhe
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von 120 Tagessätzen zu je 200,- €
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1693
Diese Einzelgeldstrafen sind auf eine ]Gesamtgeldstrafe von 300 Tagessätzen zu je 200,- € zurückzuführen.
1694
Diese Gesamtgeldstrafe neben der verhängten Gesamtfreiheitsstrafe ist nicht unverhältnismäßig und die Resozialisierung des Angeklagten Dr. S… gefährdend, vielmehr geboten und sinnvoll.
1695
Aspekte, die gegen die Anwendung von § 41 StGB sprechen, etwa ein Tatnachverhalten in Form der Schadenswiedergutmachung oder einer finanziellen Überforderung oder der Gefahr einer Entsozialisierung, fehlen (MüKO/Radtke, a.a.O., § 41 Rn. 27 f.).
G. Einbeziehung von Wertersatz gemäß §§ 73, 73 c StGB:
1696
Die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 118.850,58 € war gemäß §§ 73, 73 c StGB anzuordnen, soweit nicht eine Verrechnung mit den freiwillig geleisteten Krankenversicherungs-/Pflegeversicherungsbeiträgen erfolgt.
1697
Nach Aussage des Zeugen An. L… könnte eine Verrechnung erfolgen, diese Möglichkeit steht jedoch noch nicht fest (vgl. D. II. 2.) f) 2.). Eine solche bedarf der Zustimmung der freiwillig einzahlenden Rechtsanwälte/innen, da diesen grundsätzlich ein Anspruch auf Rückzahlung ihrer ohne Rechtsgrund geleisteten Beiträge zusteht. Soweit sie jedoch ihr Einverständnis mit der Verrechnung erklären würden, wäre der Wertersatz zu reduzieren (auf dem vom Zeugen L… errechneten Betrag von 100.284,24 €; vgl. ebenfalls D. II. 2.) f) 2.).
1698
Von der Einziehung des Wertersatzes an Taterträgen wurde mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft abgesehen, soweit verjährte oder eingestellte Fälle betroffen sind (§ 421 Abs. 1 Nr. 3 StPO), da die Berechung des Wertersatzbetrages der bezeichneten Fälle einen unangemessenen Aufwand erfordert hätte (vgl. Protokoll vom 13.01.2022).
1699
Die Verhängung eines Berufsverbotes (§ 70 StGB) schied jedenfalls deshalb aus, weil dem Angeklagten im Hinblick darauf, dass er nur noch als Einzelanwalt tätig ist und aufgrund seines Alters nach eigenen Angaben auch „kürzer treten“ will, keine negative Gefährlichkeitsprognose zu stellen ist.
1700
Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf §§ 464 Abs. 1; 465 Abs. 1 StPO.