Titel:
Entziehung der Fahrerlaubnis bei bei ärztlich verordneter Einnahme von Medizinalcannabis
Normenketten:
StVG § 3 Abs. 1 S. 1
FeV § 11 Abs. 8 S. 1, § 46 Abs. 1 S. 1
Leitsatz:
Sofern für die Behörde die Möglichkeit bestanden hat, die zur Cannabismedikation führenden Grunderkrankungen mit psychischem Einschlag eines Fahrerlaubnisinhabers durch Einholung weiterer ärztlicher Auskünfte näher einzuordnen und die so erhaltenen Ergebnisse im Hinblick auf die Frage der Fahreignung zu bewerten, ist die Anordnung der Beibringung eines ärztlichen Gutachtens rechtswidrig. (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Fahrerlaubnis, Entziehung, Cannabis, Medizinalcannabis, ärztliches Gutachten, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 02.05.2023 – 11 CS 23.78
Fundstelle:
BeckRS 2022, 47260
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid des Landratsamt Amberg-Sulzbach vom 30. Juni 2022 wird angeordnet bzw. wiederhergestellt.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis durch das Landratsamt … (LRA).
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Der am … 1997 geborene Antragsteller war zuletzt Inhaber einer Fahrerlaubnis der Klasse B.
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Mit Schreiben vom 23. Mai 2014 übersandte die Kriminalpolizeiinspektion … an das LRA die Unterlagen eines Ermittlungsverfahrens gegen den Antragsteller wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Nach dem mitversandten Schlussbericht der Ermittlungen sei der Antragsteller am 7. September 2012 bei einer Wohnungsdurchsuchung wegen Verdachts auf Drogenhandel bei einem anderweitig Verfolgten angetroffen worden. Er sei körperlich durchsucht worden, jedoch mit negativem Ergebnis. Er habe sodann eingeräumt, von einer Rauchbong Marihuana konsumiert zu haben. Zudem habe er bereits zuvor einmalig Marihuana käuflich erworben. Aufgrund dieser Ermittlungsergebnisse wurde der Antragsteller mit Schreiben vom 4. April 2013 von der Staatsanwaltschaft … verwarnt.
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Nach einem mitversandten polizeilichen Schlussvermerk der Kriminalpolizeiinspektion … vom 19. Februar 2014 habe der Antragsteller von Mitte 2013 bis zum Februar 2014 an verschiedene Personen Marihuana abgegeben bzw. vermittelt sowie von weiteren Personen erworben.
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Mit Formblättern vom 27. März 2014 beantragte der Antragsteller beim LRA die Erteilung einer Fahrerlaubnis der Klasse B und stellte einen Zusatzantrag zur Teilnahme am begleiteten Fahren mit 17.
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Mit Urteil des Amtsgerichts – Jugendrichter – … vom 18. Juni 2014 wurde der Antragsteller in diesem Zusammenhang wegen vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit 19 Fällen des vorsätzlichen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit vorsätzlicher unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln in acht Fällen unter Einbeziehung einer Verurteilung des Amtsgerichts Amberg vom 30. Oktober 2013 (Az.: 4 Ds 103 Js 8609/13 jug.) zur Ableistung 100 unentgeltlicher Arbeitsstunden verurteilt. Ferner wurde dem Angeklagten auferlegt, an fünf Suchtberatungsgesprächen bei der Caritas … teilzunehmen.
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Am 13. November 2014 erteilte das LRA dem Antragsteller eine Fahrerlaubnis für die Klassen B, AM und L.
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Mit Schreiben vom 17. März 2017 übersandte das Polizeipräsidium … an das LRA eine polizeiliche Mitteilung wegen Drogenauffälligkeit. Es wurde vermerkt, dass beim Antragsteller ein im Rahmen einer allgemeinen Verkehrskontrolle durchgeführter Drogenvortest positiv im Hinblick auf Amphetamin verlaufen sei. Der Antragsteller sei nach freiwilliger Blutentnahme im Klinikum … entlassen worden. Der ärztliche Befundbericht der … über die dem Antragsteller am 16. März 2017 um 23:03 Uhr entnommene Blutprobe verlief sodann negativ im Hinblick auf Amphetamine und anderweitige Betäubungsmittel.
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Nach einer Unterbringungsmitteilung der Polizeiinspektion … sei der Antragsteller am 14. Mai 2017 durch die Polizei wegen erheblicher Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung infolge psychischer Krankheit ins Bezirkskrankenhaus … eingeliefert worden. Er sei bei einem Polizeieinsatz alkoholisiert und aggressiv in Erscheinung getreten und in Gewahrsam genommen worden. Anschließend habe er massiven Widerstand geleistet und sich offensichtlich in einem psychischen Ausnahmezustand befunden. Eine vorläufige Unterbringung in einer geeigneten Einrichtung erscheine als unerlässlich.
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Mit Schreiben des LRA vom 22. August 2017 wurde der Antragsteller aufgefordert bis spätestens 17. Oktober 2017 ein ärztliches Gutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung unter entsprechender Fragestellung über seine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen beizubringen. Es sei zweifelhaft, ob beim Antragsteller eine schizophrene Psychose vorliege, weswegen die Fahreignung im Hinblick auf Ziffer 7.6 der Anlage 4 zur FeV in Frage stehe.
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Mit Schreiben vom 5. September 2017 teilte das Gesundheitsamt am LRA gegenüber der Abteilung Fahrerlaubniswesen am LRA mit, dass nach einer Vorsprache des Antragstellers im Hause keine weitere Überprüfung der Fahreignung mehr nötig sei. Der Antragsteller habe ausgeführt, dass er sich von den Polizisten provoziert gefühlt und überreagiert habe. Im alltäglichen Leben sei er eher friedlich. Er lebe mit seiner Verlobten und seinem kleinen Sohn im Haus seiner Eltern und trete im September eine neue Arbeitsstelle an. Er führe ein geregeltes Leben. Das Gesundheitsamt führte weiter aus, dass keinerlei Hinweise auf Suizidalität oder psychische Erkrankungen festgestellt hätten werden können. Somit sei die Überprüfung der Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeuges nicht mehr erforderlich.
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Mit Schreiben vom 13. September 2017 teilte das LRA gegenüber dem Antragsteller mit, dass ein ärztliches Gutachten nicht mehr gefordert werde.
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Mit Anklageschrift vom 5. Juni 2019 erhob die Staatsanwaltschaft … Anklage gegen den Antragsteller wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln. Der Antragsteller habe am 18. April 2019 bewusst und gewollt in seiner Wohnung die tatsächliche Gewalt über wenigstens 28,47 g Marihuana ausgeübt.
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Mit Urteil des Amtsgerichts – Jugendrichter – … wurde dem Antragsteller wegen vorsätzlichen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln (Cannabis) in 16 Fällen im Zeitraum ab dem Jahr 2016 die Zahlung eines Geldbetrags von 500,00 EUR zu wohltätigen Zwecken auferlegt.
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Mit Schreiben vom 7. April 2020 übersandte das Polizeipräsidium … an das LRA die Unterlagen eines Ermittlungsverfahrens wegen Drogeneinwirkung im Straßenverkehr (§ 24a StVG) gegen den Antragsteller. Nach der mitversandten Sachverhaltsschilderung sei der Antragsteller am 2. Februar 2020 zur Verkehrskontrolle angehalten worden. Hierbei hätten drogenbedingte Auffälligkeiten festgestellt werden können. Der Antragsteller habe sodann den Konsum von Marihuana eingeräumt. Zudem habe er zwei auf seinen Namen ausgestellte Rezepte für medizinisches Cannabis vorgezeigt. Ein durchgeführter freiwilliger Atemalkoholtest habe ein Ergebnis von 0,31 mg/l ergeben. Anschließend sei eine Blutentnahme auf freiwilliger Basis im Krankenhaus … erfolgt. Mit Gutachten vom 5. Februar 2020 sei sodann eine BAK von 0,71 Promille festgestellt worden. Mit einem weiteren (toxikologischen Gutachten vom 12. Februar 2020 sei sodann ein THC-Gehalt von 10 ng/ml festgestellt worden. Aufgrund der beiden relevanten Ergebnisse stehe dem Antragsteller das Arzneimittelprivileg des § 24a Abs. 2 StVG nicht zur Seite. Eine Ordnungswidrigkeit sei gem. § 24a Abs. 1 StVG ohnehin erfüllt. Den Unterlagen beigefügt sind ärztliche Befundberichte über die Untersuchung einer dem Antragsteller am 2. Februar 2020 um 1:53 Uhr entnommene Blutprobe vom 5. Februar 2020 sowie vom 12. Februar 2020, die im Hinblick auf Cannabinoide auf folgendes Ergebnis kamen: THC – 10 ng/ml; 11-Hydroxy-THC – 3,7 ng/ml; THC-Carbonsäure – 37 ng/ml. Im Hinblick auf Alkohol wurde ein BAK-Mittelwert von 0,71 Promille als Ergebnis festgehalten. Ebenfalls in den Unterlagen enthalten waren zwei Cannabis-Rezepte des Dr. … G* …, Allgemeinarzt, vom 9. September 2019 sowie vom 31. August 2019, in denen dem Antragsteller unverarbeitete Cannabisblüten der Sorte Red. No 2 5 gr, nicht zerkleinert verschrieben wurden. Als Dosierung angegeben war 4 x 0,2 g bei Bedarf.
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Mit Schreiben vom 6. Mai 2020 wandte sich das LRA an den Antragsteller und erklärte unter Bezugnahme auf die oben genannten Ermittlungsergebnisse aus dem Schreiben vom 7. April 2020, dass – sofern eine Dauerbehandlung mit Arzneimitteln vorliege, welche dazu geeignet sei, die Leistungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen unter das erhebliche Maß herabzusetzen – Eignungszweifel hinsichtlich der Fahreignung entstehen könnten. Bei nachgewiesenen Intoxikationen oder anderen Wirkungen von Arzneimitteln, die die Leistungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen beeinträchtigten, seien bis zu deren völligem Abklingen die Voraussetzungen zum Führen eines Kraftfahrzeugs nicht gegeben. Würden Krankheiten und Krankheitssymptome mit höheren Dosen psychoaktiv wirkender Arzneimittel behandelt, so könnten unter Umständen Auswirkungen auf das sichere Führen eines Kraftfahrzeugs erwartet werden und zwar unabhängig davon, ob das Grundleiden sich noch auf die Anpassungs- und Leistungsfähigkeit eines Betroffenen auswirke oder nicht. Vor der Anordnung eines kostenpflichtigen Gutachtens werde dem Antragsteller die Möglichkeit gegeben, bis zum 27. Mai 2020 ein ausführliches aktuelles Attest vorzulegen, in dem insbesondere auf folgende Fragen eingegangen werden solle:
- Welche Diagnosen wurden gestellt bzw. welche Grunderkrankung liegt/lag vor (ICD-10 Diagnose)?
- Seit wann liegen die Erkrankungen vor bzw. sind sie bekannt?
- Kann sich der Zustand bzw. die Erkrankung verschlechtern?
- Welche Medikamente wurden zuvor erfolglos verschrieben?
- Welche Mengen und welche Produkte von medizinischem Cannabis werden/wurden verordnet?
- Wie wird das medizinische Cannabis verordnet (Inhalation usw.)?
- Seit wann sind Sie in Behandlung des Arztes, der das Attest ausstellt?
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Mit Schreiben vom 8. Juni 2020 übersandte der Antragsteller an das LRA ein ärztliches Attest der Praxis Dr. M* …, … (* … M* …, Internist, als ausstellender Arzt), in dem die internistische Versorgung des Antragstellers bestätigt wurde. Es wurde ausgeführt, dass bei diesem ein fachärztlich-neuropsychiatrisch bestätigtes ängstlich-depressives Syndrom mit nichtorganischer Schlafstörung vorliege, ausgelöst durch den Tod seines Bruders. Die neurologisch eingeleiteten Psychopharmaka hätten zu paradoxen Wirkungen sowie typisch bekannten Nebenwirkungen geführt, sodass im letzten Jahr die Therapie mit Cannabinoiden eingeleitet worden sei. Der gewünschte therapeutische Erfolg mit seelischer Stabilisierung habe sich rasch eingestellt und damit auch die Stabilisierung der Arbeitsfähigkeit. Eine Augumentation/Dosissteigerung bzw. Verkürzung der Verordnungsintervalle könne seit diesem Zeitpunkt nicht bestätigt werden. Genauso bestehe kein Hinweis auf Missbrauch anderer Substanzen, wie bspw. Alkohol. Der Alkoholkonsum werde sogar verneint. Anhand des geschilderten therapeutischen Erfolgs, nach frustraner Erprobung von Neuropharmaka/Antidepressiva, sei der Antrag auf Kostenübernahme durch die Krankenkasse begründet.
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Mit Schreiben vom 24. Juni 2020 wandte sich das LRA erneut an den Antragsteller und erklärte, dass das ärztliche Attest nicht auf die Fragen nach der Blütenart des Cannabis, der täglich verabreichten Dosis sowie der Applikationsform (z.B. Inhalieren) Stellung genommen habe. Zudem sei weder beantwortet worden, seit wann genau die Erkrankung vorliege noch, seit wann der Antragsteller in Behandlung des ausstellenden Arztes sei. Die Beantwortung der Fragen sei durch ärztliches Attest bis zum 22. Juli 2020 nachzuholen.
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In der Folge legte der Antragsteller weitere Kopien von Cannabisverordnenden Rezepte der Praxis Dr. M* …, des Dr. med. … G* … sowie des Dr. med. … H* … vor (31. August 2019, 4. September 2019, 27. Januar 2020, 25. Februar 2020, 3. April 2020, 23. Mai 2020 sowie 16. Juni 2020). Sie beinhalteten jeweils die Verschreibung von Cannabis-Blüten der Sorten Red. No 2 sowie Blueberry, 10 g, Dosierung 4 x 0,2 g bei Bedarf.
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Mit Schreiben vom 22. Dezember 2020 forderte das LRA den Antragsteller dazu auf, bis spätestens 2. März 2021 ein ärztliches Gutachten einer Begutachtungsstelle für Fahreignung über seine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen zur Feststellung über Art und Umfang möglicher gesundheitlicher Einschränkungen vorzulegen. Zur Begründung wurde auf den bisherigen Sachverhalt Bezug genommen und ausgeführt, dass nach Ziffer 7.5 der Anlage 4 zur FeV nicht in der Lage zum Führen eines Kraftfahrzeugs sei, wer unter anderem an einer Manie oder sehr schweren Depression leide. Schlafstörungen könnten nach Ziffer 11.2 der Anlage 4 zur FeV zu übermäßiger Tagesschläfrigkeit führen. Die damit verbundenen Aufmerksamkeitsdefizite seien häufig Ursachen von Verkehrsunfällen. Insoweit bestehe bei o.g. Erkrankungen nur unter bestimmten Voraussetzungen Fahreignung. Nach Nr. 9.6 der Anlage 4 zur FeV sei ein Fahrerlaubnisinhaber, der aufgrund einer Dauerbehandlung mit psychoaktiv wirkenden Arzneimitteln Vergiftungen erlitten habe oder Beeinträchtigungen der Leistungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen unter dem erforderlichen Maß aufweise, nicht in der Lage, Kraftfahrzeuge zu führen. Würden Krankheiten oder Krankheitssymptome mit hohen Dosen psychoaktiv wirkender Substanzen behandelt, so könnten unter Umständen Auswirkungen auf das Führen eines Kraftfahrzeugs erwartet werden und zwar unabhängig davon, ob das Grundleiden sich noch auf die Anpassungs- und Leistungsfähigkeit eines Betroffenen auswirke oder nicht. Aufgrund des beschriebenen Sachverhalts liege beim Antragsteller eine Dauerbehandlung mit psychoaktiven Arzneimitteln vor, die Auswirkungen auf den Straßenverkehr und somit auf die Verkehrssicherheit der anderen Verkehrsteilnehmer haben könnte. Zur Ausräumung der Zweifel an der Fahreignung werde auf Grundlage des § 11 Abs. 2 FeV i.V.m. § 46 Abs. 3 FeV und Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV eine fachärztliche Begutachtung angeordnet. Die Anordnung erfolge nach pflichtgemäßem Ermessen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit werde gewahrt. Die Anordnung sei geeignet festzustellen, ob beim Antragsteller die Leistungsfähigkeit zum Führen eines Kraftfahrzeugs ausreichend sei. Im Vergleich zu anderen Maßnahmen (z.B. sofortige Entziehung der Fahrerlaubnis) beeinträchtige die Anordnung die Persönlichkeitsrechte des Antragstellers am wenigsten und sei somit erforderlich. Aufgrund des Risikos, welches von körperlich oder in der Leistungsfähigkeit beeinträchtigten Personen ausgehe, müssten die persönlichen Interessen hinter der öffentlichen Verpflichtung zur Erhaltung der Sicherheit im Straßenverkehr zurückstehen. Die Anordnung sei daher auch angemessen. Zur Klärung der Fahreignung seien insbesondere folgende Fragen zu beantworten:
1. „Liegt bei dem Untersuchten eine Erkrankung vor, die nach Nr. 7 oder Nr. 11.2 der Anlage 4 zur FeV die Fahreignung in Frage stellt.
2. Wenn ja: ist der Untersuchte (wieder) in der Lage, den Anforderungen zum Führen von (fahrerlaubnisfreien) Kraftfahrzeugen vollständig gerecht zu werden?
3. Liegt eine ausreichende Compliance (u.a. Krankheitseinsicht, kein Beigebrauch anderer psychoaktiver Substanzen inklusive Alkohol, regelmäßige überwachte Medikamenten- bzw. Cannabiseinnahme [Hinweise auf – ggf. selbstinduzierte – Über- oder Unterdosierung]) vor und wird diese auch umgesetzt?
4. Sind Beschränkungen und/oder Auflagen erforderlich, um den Anforderungen an das Führen eines Kraftfahrzeugs weiterhin gerecht zu werden? Ist bzw. sind insbesondere (eine) fachärztlich-begründete Auflage(n) nach Anlage 4 (z.B. ärztliche Kontrollen) erforderlich? In welchem zeitlichen Abstand und wie lange? Was soll regelmäßig kontrolliert und attestiert werden? Sind die Ergebnisse der Fahrerlaubnisbehörde vorzulegen? Wenn ja: warum?
5. Ist eine fachliche einzelfallbegründete Nachuntersuchung i.S. einer erneuten Nach-Begutachtung erforderlich? In welchem zeitlichen Abstand?
6. Liegt – vor dem Hintergrund einer Dauerbehandlung mit Cannabis (Nr. 9.6 der Anlage 4 zur FeV) – die erforderliche Leistungsfähigkeit (Belastbarkeit, Orientierungsleistung, Konzentrationsleistung, Aufmerksamkeitsleistung und Reaktionsfähigkeit) zum sicheren Führen von fahrerlaubnisfreien Fahrzeugen vor?
7. Ist andernfalls eine Kompensation zu prüfen oder wird die Möglichkeit einer Kompensation (z.B. wegen Kumulation von Mängeln) ausgeschlossen?
8. Ist unter Berücksichtigung besonderer Umstände (z.B. grenzwertige Prozentränge, gesundheitliche Risikofaktoren) eine fachlich einzelfallbegründete Nachuntersuchung der Leistungsfähigkeit notwendig? Wenn ja, in welchem zeitlichen Abstand?
(Hinweis: Die psycho-physische Leistungstestung und deren Bewertung ist als psychologischer Befund zu erheben und im Rahmen der Erstellung des ärztlichen Gutachtens beizuziehen.)
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Mit Schreiben vom 16. März 2021 hörte das LRA den Antragsteller zum beabsichtigten Fahrerlaubnisentzug an.
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Mit Schreiben vom 2. Mai 2022 erklärte der Bevollmächtigte des Antragstellers, dass der Antragsteller kein Fahreignungsgutachten beibringen werde.
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Mit Bescheid vom 30. Juni 2022 (dem Bevollmächtigten gegen Empfangsbekenntnis zugestellt am 6. Juli 2022) entzog das LRA dem Antragsteller die Fahrerlaubnis aller Klassen (Ziffer 1). Der Antragsteller wurde verpflichtet, seinen Führerschein innerhalb von sieben Tagen ab Zugang des Bescheids beim LRA abzugeben (Ziffer 2). Für den Fall, dass die Verpflichtung aus Ziffer 2 nicht innerhalb von sieben Tagen ab Zugang des Bescheids erfüllt wird, wurde ein Zwangsgeld in Höhe von 800,00 EUR angedroht (Ziffer 3). In Ziffer 4 wurde die sofortige Vollziehbarkeit der Ziffern 1 und 2 des Bescheids angeordnet. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass dem Antragsteller auf der Basis des § 11 Abs. 8 FeV rechtmäßig die Fahrerlaubnis entzogen werden könne. Beim Antragsteller lägen Tatsachen vor, die die Annahme rechtfertigten, dass er zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet sei. Aufgrund der Vorlage der polizeilichen Unterlagen seien Zweifel an der Fahreignung des Antragstellers entstanden. Ein Attest habe sodann die Diagnose eines ängstliche-depressiven Syndroms (Nr. 7.5 der Anlage 4 zur FeV) sowie einer nicht-organischen Schlafstörung (Nr. 11.2 der Anlage 4 zur FeV) gestellt. Zudem liege beim Antragsteller eine Dauerbehandlung mit Cannabis vor, was die vorgelegten Atteste bestätigten. Nach Ziffer 7.5 der Anlage 4 zur FeV sei nicht in der Lage zum Führen eines Kraftfahrzeugs, wer unter anderem an einer Manie oder sehr schweren Depression leide. Schlafstörungen könnten nach Ziffer 11.2 der Anlage 4 zur FeV zu übermäßiger Tagesschläfrigkeit führen. Die damit verbundenen Aufmerksamkeitsdefizite seien häufig Ursachen von Verkehrsunfällen. Insoweit bestehe bei o.g. Erkrankungen nur unter bestimmten Voraussetzungen Fahreignung. Nach Nr. 9.6 der Anlage 4 zur FeV sei ein Fahrerlaubnisinhaber, der aufgrund einer Dauerbehandlung mit psychoaktiv wirkenden Arzneimitteln Vergiftungen erlitten habe oder Beeinträchtigungen der Leistungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen unter dem erforderlichen Maß aufweise, nicht in der Lage, Kraftfahrzeuge zu führen. Würden Krankheiten oder Krankheitssymptome mit hohen Dosen psychoaktiv wirkender Substanzen behandelt, so könnten unter Umständen Auswirkungen auf das Führen eines Kraftfahrzeugs erwartet werden und zwar unabhängig davon, ob das Grundleiden sich noch auf die Anpassungs- und Leistungsfähigkeit eines Betroffenen auswirke oder nicht. Aufgrund des beschriebenen Sachverhalts liege beim Antragsteller eine Dauerbehandlung mit psychoaktiven Arzneimitteln vor, die Auswirkungen auf den Straßenverkehr und somit auf die Verkehrssicherheit der anderen Verkehrsteilnehmer haben könnte. All diese Tatsachen begründeten Bedenken gegen die Fahreignung des Antragstellers. Es sei damit rechtmäßig gem. § 11 Abs. 2 FeV i.V.m. § 46 Abs. 3 FeV und Nr. 7, Nr. 11.2, Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV eine fachärztliche Begutachtung angeordnet worden. Da der Antragsteller kein Gutachten beigebracht habe, werde gem. § 11 Abs. 8 FeV auf die mangelnde Fahreignung geschlossen.
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Mit am 9. August 2022 beim LRA eingegangenem Schreiben seines Bevollmächtigten hat der Antragsteller Widerspruch gegen den Bescheid vom 30. Juni 2022 erheben lassen.
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Mit am 27. September 2022 beim Verwaltungsgericht Regensburg eingegangenem Schriftsatz seiner Bevollmächtigten hat der Antragsteller um einstweiligen Rechtsschutz nachsuchen lassen. Zur Begründung wird ausgeführt, dass die in der Gutachtensanordnung enthaltenen Fragen nicht von der Rechtsgrundlage des § 11 Abs. 2 FeV gedeckt seien. Ein Fahrerlaubnisinhaber sei grundsätzlich nicht gehalten, nach Vorschriften zu suchen, die fehlerhaft begründetes bzw. nicht begründetes Handeln zu seinen Lasten doch noch rechtfertigen könnten, sodass es nicht ausreiche, wenn lediglich eine weitere, in der Gutachtensanordnung nicht genannte Rechtsgrundlage das Vorgehen decken könnte.
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Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung des vom Antragsteller am 8. August 2022 erhobenen Widerspruchs gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 30. Juni 2022, zugegangen am 6. Juli 2022, wiederherzustellen.
27
Der Antragsgegner beantragt,
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Zur Begründung wird ausgeführt, dass die Gutachtensanordnung rechtmäßig gewesen sei. Der Antragsteller leide an Grunderkrankungen, die eine Dauermedikation mit medizinischem Cannabis erforderlich machten. Mit den im Schreiben genannten Fragen Nrn. 1 bis 5 sollte zunächst die Fahreignungsrelevanz der Grunderkrankungen abgeklärt werden. Welche Grunderkrankungen vorlägen, sei durch die Vorlage des ärztlichen Attests bekannt geworden. Diese seien im Rahmen der Anlage 4 zur FeV unter die Nrn. 7.5 (depressives Syndrom) sowie 11.2 (Schlafstörung) einzuordnen. Beide Ziffern seien im Rahmen der Nennung der Rechtsgrundlage in der Gutachtensanordnung genannt worden. Die weiteren Fragen in den Nrn. 6-8 bezögen sich auf (aufgrund der Grunderkrankungen erforderliche) Dauermedikation mit Cannabis. Diese können grundsätzlich die Leistungsfähigkeit derart stark beeinträchtigten, dass die Fahreignung nicht mehr gegeben sei. Daher sei dies ebenfalls in einem ärztlichen Gutachten abzuklären. Die dafür zutreffende Nummer in der Anlage 4 zur FeV (Nr. 9.6.2) sei ebenfalls ausdrücklich in der Gutachtensanordnung genannt worden. Aufgrund der Rechtmäßigkeit der Gutachtensanordnung sei sodann wegen der Nichtvorlage des Gutachtens zulässigerweise gem. § 11 Abs. 8 auf die nicht vorhandene Fahreignung geschlossen worden.
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Für weitere Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
30
Der zulässige Antrag ist begründet.
31
Nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und Nr. 4 VwGO entfällt die aufschiebende Wirkung, soweit dies durch Bundesgesetz oder Landesgesetz vorgeschrieben ist, oder soweit die sofortige Vollziehung durch die den Verwaltungsakt erlassende Behörde besonders angeordnet wird. Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen der behördlichen Anordnung der sofortigen Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise wiederherstellen, in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO anordnen. Nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO kann das Gericht bei einem bereits vollzogenen Verwaltungsakt die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Hinsichtlich der Ziffern 1 und 2 des Bescheids vom 30. Juni 2022 hat die erlassende Behörde die sofortige Vollziehung angeordnet. Hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung in Ziffer 3 des Bescheids ergibt sich der Ausschluss der aufschiebenden Wirkung aus Art. 21a VwZVG. In diesem Sinne ist der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers auszulegen.
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1. Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Ziffern 1 und 2 des Bescheids vom 30. Juni 2022 hat Erfolg.
33
a) Zwar bestehen an der formellen Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 30. Juni 2022 keine Zweifel. Insbesondere hat das LRA die Anordnung der sofortigen Vollziehung in ausreichender Weise gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO hinsichtlich der Ziffern 1 und 2 begründet, in dem sie konkret auf den Antragsteller und die Gefahren, die durch nichtgeeignete Fahrzeugführer ausgehen können, eingegangen ist und dargelegt wurde, dass die Abgabe des Führerscheines notwendig sei, um einem Missbrauch bei Polizeikontrollen vorzubeugen.
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b) Maßgeblich für diese Interessenabwägung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Führt eine im vorläufigen Rechtschutz gebotene summarische Prüfung dazu, dass der Hauptsacherechtsbehelf offensichtlich Erfolg haben wird, so wird regelmäßig das private Interesse an der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs das öffentliche Interesse am Sofortvollzug überwiegen. Wird der Hauptsacherechtsbehelf umgekehrt nach der gebotenen summarischen Prüfung erfolglos bleiben, weil keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids bestehen, kann der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO abgelehnt werden, ohne dass es einer zusätzlichen Interessenabwägung bedarf. Denn der Bürger hat grundsätzlich kein schutzwürdiges privates Interesse daran, von der Vollziehung eines offensichtlich rechtmäßigen Verwaltungsaktes verschont zu bleiben, ohne dass es darauf ankommt, ob der Vollzug dringlich ist oder nicht. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens dagegen offen, so verbleibt es bei einer Interessenabwägung.
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aa) Hinsichtlich des Widerspruchs des Antragstellers gegen Ziffer 1 des Bescheids ergibt vorliegend eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache, dass der Rechtsbehelf insofern aller Voraussicht nach Erfolg haben wird, weil der Bescheid insofern rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Rechtsgrundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis ist § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i.V.m.§ 46 Abs. 1 Satz 1 FeV. Danach hat die Fahrerlaubnisbehörde jemandem, der sich als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist, die Fahrerlaubnis zu entziehen. Dies ist nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere dann der Fall, wenn eine Erkrankung oder ein Mangel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegt und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist.
37
Nach § 11 Abs. 8 Satz 1 FeV darf die Fahrerlaubnisbehörde bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung des Betroffenen schließen, wenn sich dieser weigert, sich (medizinisch oder psychologisch) untersuchen zu lassen, oder wenn er das geforderte Gutachten nicht fristgerecht beibringt. Voraussetzung ist allerdings, dass die Untersuchungsanordnung der Fahrerlaubnisbehörde rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist und die Weigerung ohne hinreichenden Grund erfolgt ist (vgl. BayVGH, B.v. 11.2.2008 – 11 C 08.1030; B.v. 8.10.2009 – 11 CS 09.1891). Die Gutachtensanordnung muss hinreichend bestimmt und aus sich heraus verständlich sein. An die Rechtmäßigkeit der Gutachtensanordnung sind strenge Maßstäbe anzulegen, weil die Gutachtensanordnung mangels Verwaltungsaktqualität nicht isoliert mit Rechtsmitteln angegriffen werden kann. Der Betroffene trägt das Risiko, dass ihm bei einer Weigerung gegebenenfalls die Fahrerlaubnis entzogen wird. Daher kann auf die strikte Einhaltung der vom Verordnungsgeber für die Rechtmäßigkeit einer solchen Anordnung aufgestellten formalen Voraussetzungen nicht verzichtet werden (vgl. BayVGH, B.v. 27.11.2012 – 11 ZB 12.1596 – juris Rn. 10, BayVGH, B.v. 15.5.2008 – 11 CS 08.616 – juris Rn. 50).
38
Nach §§ 46 Abs. 3, 11 Abs. 2 Satz 1 FeV kann die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung von Entscheidungen über Entziehung der Fahrerlaubnis die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens durch den Fahrerlaubnisinhaber anordnen, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Fahreignung des Fahrerlaubnisinhabers begründen. Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit einer Gutachtensanordnung ist insbesondere, dass Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die Fahreignung begründen. Verfassungsrechtlicher Hintergrund dieser Anforderungen für die Verpflichtung zur Beibringung eines Gutachtens ist der Umstand, dass diese Pflicht und die an die Nichtvorlage des Gutachtens anknüpfende Entziehung der Fahrerlaubnis den betreffenden Fahrerlaubnisinhaber in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) beeinträchtigen. Die Maßnahmen sind nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehrrechts nur zulässig, wenn eine konkrete Gefahr für den öffentlichen Straßenverkehr besteht, die nur bei hinreichender Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts in absehbarer Zeit gegeben ist. Nicht erforderlich ist dabei, dass eine Erkrankung bereits feststeht, ebenso wenig, dass eine hierdurch bedingte konkrete Gefährdung des Straßenverkehrs oder eine bestimmte Wahrscheinlichkeit eines absehbaren Schadenseintritts festgestellt wird. Allerdings darf die Beibringung des Gutachtens nur aufgrund konkreter Tatsachen, nicht auf einen bloßen Verdacht „ins Blaue hinein“ bzw. auf Mutmaßungen, Werturteile, Behauptungen oder dergleichen hin verlangt werden (vgl. BayVGH, B. v. 28.4.2020 – 11 CS 19.2189 – juris). Ob die der Behörde vorliegenden Tatsachen ausreichen, ist nach den gesamten Umständen des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen.
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Im Rahmen der Gutachtensanordnung ist zudem stets der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Dieser gebietet bei Erkrankungen, die in einer Mehr- oder Vielzahl der Fälle nicht zu mangelnder Fahreignung führen, dass die Fahrerlaubnisbehörde nicht allein aufgrund der Diagnose sogleich die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens anordnet, sondern sich zuvor Kenntnisse über Tatsachen verschafft, die – insbesondere nach den näheren Vorgaben der Anlage 4 zur FeV – ausreichende Anhaltspunkte für ein Fehlen der Fahreignung begründen können (vgl. BayVGH, B.v. 16.3.2021 a.a.O. Rn. 20; B.v. 3.5.2017 – 11 CS 17.312 – juris Rn. 16 ff.; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 11 FeV Rn. 24). Solche Tatsachen können vom Betroffenen erfragt werden, zumal eine Anhörung vor Erlass der Gutachtensbeibringungsanordnung entsprechend Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG ohnehin geboten ist. Dabei kann auch Gelegenheit gegeben werden, weitere Atteste der behandelnden Ärzte vorzulegen. Einige der benötigten Informationen können ggf. ohnehin nur vom Patienten selbst und von seinen behandelnden Ärzten erfragt und bestätigt werden. Das kann die Fahrerlaubnisbehörde zunächst selbst aufklären. Einer Begutachtung bedarf es hierfür noch nicht (vgl. BayVGH, B.v. 3.5.2017 – 11 CS 17.312 – juris Rn. 19). Wird eine solche Vorabklärung vorgenommen, kann sich ergeben, dass eine weitere ärztliche Untersuchung und ein ärztliches Gutachten nicht erforderlich sind. Es wäre daher unverhältnismäßig, allein auf Grund der diagnostizieren Erkrankungen sogleich die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens anzuordnen. Eine solche Notwendigkeit ergibt sich nur, wenn der Betroffene nicht hinreichend mitwirkt oder wenn aufgrund seiner Auskünfte und der vorgelegten ärztlichen Atteste noch Bedenken bestehen oder Zweifel an der Richtigkeit der vom Betroffenen gegebenen Auskünfte oder der von den behandelnden Ärzten ausgestellten Atteste bestehen (vgl. BayVGH, B.v. 3.5.2017 a.a.O. Rn. 20). Soweit es nur um das Verständnis einer ärztlichen Feststellung oder von medizinischen Fachbegriffen geht, kann die Fahrerlaubnisbehörde im Einzelfall auch gehalten sein, die Amtshilfe bzw. den Sachverstand eines Gesundheitsamts in Anspruch zu nehmen (BayVGH, B.v. 8.6.2021 – 11 CS 20.2342 – juris Rn. 22).
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Beim Antragsteller ergibt sich aus dem Attest der internistischen Praxis Dr. M* … vom 8. Juni 2020, dass beim Antragsteller ein ängstlich-depressives Syndrom mit nicht-organischer Schlafstörung vorliegt, welches durch den Tod eines Familienangehörigen ausgelöst worden sei. Neurologisch eingeleitete Psychopharmaka hätten zu paradoxen Wirkungen sowie typischen Nebenwirkungen geführt. Aus diesem Grund sei eine Therapie mit Cannabis begonnen worden, in deren Verlauf sich der therapeutisch gewünschte Erfolg mit seelischer Stabilisierung eingestellt habe. Dosissteigerungen oder Verkürzungen der Verordnungsintervalle habe es nicht bedurft. Die Medikation mit Cannabis kann zudem durch vom Antragsteller vorgelegte Verordnungen nachvollzogen werden. Im Hinblick auf die – vorwiegend die Grunderkrankungen des Antragstellers betreffenden – Fragen eins bis fünf der Gutachtensanordnung gilt nach Auffassung des Gerichts insoweit Folgendes: Es liegen mit den im Attest vom 8. Juni 2020 getätigten Angaben zwar Anhaltspunkte vor, die im Grundsatz Anlass zu Zweifeln an der Fahreignung des Antragstellers geben können. Jedoch ist vorliegend im Hinblick auf das beim Antragsteller diagnostizierte ängstlich-depressive Syndrom zu berücksichtigen, dass – entsprechend den obigen Ausführungen – auch in den Fällen psychischer (geistiger) Erkrankungen, welche Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV thematisiert und dabei in den einzelnen Unterabschnitten zwischen verschiedenen Formen von Psychosen und Psychosyndromen (Nrn 7.1 bis 7.6) differenziert, Krankheitsbilder vorliegen, die in einer Vielzahl von Fällen möglicherweise nicht zum Verlust der Fahreignung des jeweiligen Betroffenen führen können. Es hätte insoweit nach Auffassung des Gerichts – mit Blick auf die im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit zu prüfende Frage der Erforderlichkeit der Gutachtensanordnung – als milderes Mittel vor der Anordnung der Beibringung eines ärztlichen Gutachtens für die Behörde die Möglichkeit bestanden, die zur Cannabismedikation führenden Grunderkrankungen des Antragstellers mit psychischem Einschlag zunächst durch Einholung weiterer ärztlicher Auskünfte näher einzuordnen und die so erhaltenen Ergebnisse – auch behördenintern (etwa durch Stellungnahmen des Gesundheitsamts) – im Hinblick auf die Frage der Fahreignung zu bewerten. Dies gilt umso mehr, als im Fall des Antragsteller insbesondere auch klärungsbedürftig erscheint, welchen Schweregrad sein ängstlich-depressives Syndrom tatsächlich aufweist, da zu berücksichtigen ist, dass Nr. 7.5 der Anlage 4 zur FeV letztlich nur Manien und sehr schwere Depressionen sowie schizophrene Psychosen als die Fahreignung potentiell ausschließende Erkrankungen erfasst. Für deren Vorliegen bestehen nach der Aktenlage zunächst keine Anhaltspunkte. Die Gutachtensanordnung erscheint nach alledem in dieser Hinsicht bei summarischer Prüfung als nicht verhältnismäßig.
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Ob dies auch für die übrigen – vorwiegend die Dauermedikation des Antragstellers durch die Verschreibung von Cannabis betreffenden – Fragestellungen der Gutachtensanordnung gilt, kann vorliegend dahinstehen, da sich nach Auffassung des Gerichts die sich nach den vorstehenden Ausführungen ergebende Unrechtmäßigkeit der Fragestellung zu den Grunderkrankungen auf den übrigen Teil der Fragestellungen auswirkt. Im Rahmen von Gutachtensanordnungen ist es im Allgemeinen nicht ausreichend, dass nur ein Teil der von der Behörde gewählten Fragestellungen für das beizubringende Gutachten sachbezogen und angemessen war. Die Sanktion des Schlusses auf die nicht vorhandene Fahreignung gem. § 11 Abs. 8 FeV setzt grundsätzlich eine vollständig rechtmäßige Gutachtensanordnung voraus. Besteht die Fragestellung aus mehreren sich inhaltlich überschneidenden Teilen, die sich nicht hinreichend eindeutig differenzieren lassen, so infiziert die Unrechtmäßigkeit eines Teils regelmäßig die Fragestellung insgesamt (vgl. zum Ganzen: Hentschel/König/Dauer § 11 FeV Rn. 55). Eine Ausnahmekonstellation dergestalt, dass der Fragenkatalog in der Gutachtensanordnung mehrere eigenständige Themenkomplexe enthält und die Gutachtensanordnung insofern als teilbar anzusehen ist (vgl. etwa VGH Mannheim, B.v. 30.6.2011 – 10 S 2785/10 – juris), ist vorliegend nicht gegeben. Auch wenn sich die Fragestellungen teilweise auf die Grunderkrankungen des Antragstellers sowie teilweise auf die Dauermedikation mit Cannabis beziehen, so ist doch festzustellen, dass sich die Fragen aufgrund der Relation zwischen Grunderkrankungen und der Medikation mit Cannabis, deren Anlass erstere sind, insgesamt nicht ausreichend klar thematisch voneinander abgrenzen lassen und sich inhaltlich überschneiden.
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Die Entziehung der Fahrerlaubnis des Antragstellers ist nach alledem nach der im einstweiligen Rechtsschutz gebotenen, aber auch ausreichenden Prüfung rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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bb) Auch hinsichtlich Ziffer 2 des Bescheides vom 30. Juni 2022, in der die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins angeordnet wird, spricht nach summarischer Prüfung alles dafür, dass der Bescheid insofern rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt. Die Ermächtigungsgrundlage für die Anordnung ist in § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG i.V.m. § 47 Abs. 1 Satz 1 FeV zu finden. Hiernach sind von einer nationalen Behörde ausgestellte nationale und internationale Führerscheine nach der Entziehung der Fahrerlaubnis unverzüglich der entscheidenden Behörde abzuliefern. Wie dargestellt war die Entziehung der Fahrerlaubnis im vorliegenden Fall bei summarischer Prüfung rechtswidrig. Dies gilt somit auch für die Anordnung zur Abgabe des Führerscheins.
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2. Auch der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen Ziffer 3 des Bescheids vom 30. Juni 2022 hat Erfolg.
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Im Fall der Androhung eines Zwangsgeldes nach Art. 31 VwZVG müssen die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen gem. Art. 19 VwZVG gegeben sein. Nach Art. 19 Abs. 1 VwZVG ist Voraussetzung, dass der zugrundeliegende Grundverwaltungsakt entweder nicht mehr mit einem förmlichen Rechtsbehelf angefochten werden kann oder der Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung hat oder die sofortige Vollziehung angeordnet worden ist. Im vorliegenden Fall ist die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer 2 des Bescheides, auf die sich die Zwangsgeldandrohung bezieht, wie oben dargelegt, wiederherzustellen. Demzufolge mangelt es an den Voraussetzungen des Art. 19 VwZVG, denn ein vollstreckbarer Grundverwaltungsakt liegt nicht mehr vor.
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Dem Antragsgegner sind daher die Kosten des Verfahrens gem. § 154 Abs. 1 VwGO aufzuerlegen.
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Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 GKG.