Titel:
Rumänischer Staatsangehöriger, Verlustfeststellung, Wiederholungsgefahr, Gewaltdelikt
Normenkette:
FreizügG/EU § 6
Schlagworte:
Rumänischer Staatsangehöriger, Verlustfeststellung, Wiederholungsgefahr, Gewaltdelikt
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 08.05.2023 – 10 ZB 22.2234
Fundstelle:
BeckRS 2022, 47256
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der am … in Serbien geborene Kläger mit serbischer und rumänischer Staatsangehörigkeit wendet sich gegen die Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt.
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Der Kläger wuchs die ersten Lebensjahre in Serbien auf, wo er gemeinsam mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester zunächst auf dem Bauernhof des Großvaters lebte. Die Mutter des Klägers zog später zu ihrer Schwester in die Bundesrepublik Deutschland, um dort eine berufliche Grundlage und die Voraussetzungen für den Nachzug der Familie zu schaffen. Der Kläger besuchte in Serbien insgesamt drei Schulklassen. Im Jahr 2009 zog er gemeinsam mit seinem Vater und seiner Schwester zu der Mutter in die Bundesrepublik nach. Dort besuchte er für zwei Jahre eine Übergangsklasse, wo er die deutsche Sprache lernte. Anschließend wechselte er in die 6. Klasse der Hauptschule, welche er nach der 9. Klasse mit dem Mittelschulabschluss abschloss. Eine danach begonnene Ausbildung zum … wurde nach zwei Monaten durch den Ausbildungsbetrieb beendet. In der Folge war der Kläger ein Jahr arbeitslos. Danach nahm der Kläger eine Ausbildung als … auf. Diese wurde nach zwei Jahren aufgrund von Fehlzeiten in der Berufsschule gekündigt. Nach einigen Monaten nahm der Kläger im Herbst 2018 eine Vollzeittätigkeit als (ungelernter) Verkäufer bei der Supermarktkette … auf. Infolge eines Autounfalls im März 2019 war der Kläger während dieser Tätigkeit für sieben Monate krankgeschrieben.
3
Im Rahmen einer polizeilichen Durchsuchung am 28. Dezember 2019 wurden im Zimmer des Klägers verschiedene Gegenstände festgestellt (z.B. eine Lederweste), welche eine Affinität bzw. nach eigenen Angaben des Klägers eine ehemalige Mitgliedschaft beim Motorradclub ..., welcher zu einem Unterstützungsclub der Hells Angels gehört, belegen. Der Kläger trägt auf ... eine Tätowierung mit dem Zeichen 1%, welches als Zeichen von Outlaw-Motorcycle-Gangs genutzt wird.
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Strafrechtlich ist der Kläger im Bundesgebiet wie folgt in Erscheinung getreten:
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1. Entscheidung des Amtsgerichts … vom *. August 2014; Verfahrenseinstellung nach § 47 JGG und richterliche Weisung wegen gemeinschaftlicher Sachbeschädigung.
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2. Urteil des Amtsgerichts … vom … September 2015, rechtskräftig seit 24. September 2015; zwei Wochen Jugendarrest, Wiedergutmachungspflicht sowie richterliche Weisung wegen gefährlicher Körperverletzung.
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Hintergrund war, dass der Kläger am *. Mai 2015 mit weiteren unbekannten Tätern auf dem Frühlingsfest auf der … in … einen Anlass für eine Auseinandersetzung suchte und daher Streit mit einer Gruppe von Personen anfing. Nach einer vorangegangenen Schubserei schlug der Kläger dem Geschädigten mehrfach mit der Faust ins Gesicht.
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3. Urteil des Amtsgerichts … vom … November 2017, rechtskräftig seit 17. November 2017; Geldauflage und richterliche Weisung wegen Beleidigung in drei tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit Beleidigung.
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Hintergrund war, dass am ... Mai 2017 aus einer Gruppe, zu der auch der Kläger gehörte, in der Nähe befindliche Streifenpolizisten als „scheiß Bullen“ bezeichnet wurden. Als sich die Polizeibeamten zur Gruppe bewegten, zeigte sich der Kläger respektlos und pöbelte die Polizeibeamten an. Als der Kläger in das Fahrzeug eines Freundes stieg, zeigte er einem Polizeibeamten den Mittelfinger der rechten Hand. Beim Anfahren des Fahrzeugs zeigte der Kläger erneut den Mittelfinger der rechten Hand. Die Polizeibeamten folgten dem Fahrzeug und brachten es zum Anhalten. Bei einer Durchsuchung des Klägers zur Identitätsfeststellung beleidigte er einen der Polizisten mit den Worten „Missgeburt“.
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4. Urteil des Amtsgerichts … vom … Oktober 2019, rechtskräftig seit 15. Oktober 2019; Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis bis zum 14. April 2020 und richterliche Weisung wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis.
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Hintergrund war, dass der Kläger am … März 2019 mit überhöhter Geschwindigkeit ein Fahrzeug führte, obwohl er infolge vorangegangenen Alkoholgenusses fahruntüchtig war. Der Kläger hatte eine Party besucht, wobei die dort geplante Übernachtungsmöglichkeit aufgrund eines Streits nicht zustande kam. Der Kläger kam mit dem Pkw von der Fahrbahn ab und fuhr in den angrenzenden Grünstreifen. Hierbei wurden Gartenzäune sowie ein Verkehrszeichen und ein Verkehrsleitpfosten beschädigt. Als der Kläger den Pkw wieder auf die Fahrbahn lenken wollte, überschlug dieser sich zweimal und kam auf der Fahrbahn zum Stillstand. Der Kläger erlitt hierbei eine offene Fraktur am linken Arm, eine Fraktur des rechten Unterarms sowie mehrere Platzwunden. Der Beifahrer erlitt Nackenschmerzen. Der Pkw erlitt einen Totalschaden. Die durchgeführte Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 1,26 Promille.
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Der Kläger wurde unter anderem dazu verpflichtet, fünf Beratungsgespräche beim Blauen Kreuz wahrzunehmen.
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5. Urteil des Landgerichts München I vom … Februar 2021, rechtskräftig seit 28. Juli 2021; vier Jahre Jugendstrafe sowie Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wegen gefährlicher Körperverletzung.
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Hintergrund war, dass der Kläger gemeinsam mit einer weiteren Person dem Geschädigten unter Alkoholeinfluss in der Nacht vom … auf den … Dezember 2019 auflauerte, um diesen zusammenzuschlagen. Auslöser war, dass eine Zeugin von einer Beziehung mit dem Kläger Abstand genommen und sich dem Geschädigten zugewendet hat. Der Geschädigte wurde mittels eines weiteren Beteiligten unter einem Vorwand aus seinem Wohnhaus gelockt. Der Kläger und der weitere Beteiligte kamen auf den Geschädigten zu, um ihn zusammenzuschlagen. Aufgrund des bevorstehenden Angriffs schlug der Geschädigte als Erstes dem Kläger mit der Faust in das Gesicht. Danach gingen der Kläger und der weitere Beteiligte auf den Geschädigten los und setzten ihm eine nicht näher bestimmbare Anzahl an Schlägen zu. Während der Auseinandersetzung zog der Kläger ein mit sich geführtes Springmesser mit einer Klingenlänge von etwa 7 cm und versetzte dem Geschädigten mindestens drei Stiche in den Oberkörper. Hierbei erlitt der Geschädigte Verletzungen, welche ohne rechtzeitige ärztliche Hilfe zum Tod des Geschädigten hätten führen können. Dieser Folge war sich der Kläger bewusst und fand sich mit der Möglichkeit ab oder stand ihr zumindest gleichgültig gegenüber. Dem Geschädigten gelang es, sich von dem Kläger und dem weiteren Beteiligten zu entfernen, ohne dass diese ihn verfolgten. Nach Aufforderung des Klägers gab der weitere Beteiligte vier Schüsse aus einer Schreckschusspistole in Richtung des flüchtenden Geschädigten ab, ohne dass dieser hierdurch getroffen werden sollte. Die Verletzungen des Geschädigten wurden unter Vollnarkose im Krankenhaus versorgt, wo dieser für einen Tag auf der Intensiv- und anschließend vier Tage auf der Normalstation verblieb. Der Kläger erlitt hierdurch länger andauernde Schmerzen sowie eine deutlich sichtbare Narbe. Zudem führte der Vorfall zu einer schweren depressiven Episode sowie einer posttraumatischen Belastungsstörung.
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Bei der Strafzumessung wurde zugunsten des Klägers berücksichtigt, dass dieser in der Hauptverhandlung weitgehend geständig gewesen ist und eine Bereitschaft zur Entschuldigung sowie zur Teilnahme an einem Täter-Opfer-Ausgleich signalisierte. Ferner war er bei der Tat alkoholbedingt enthemmt und befand sich bei Abschluss der Hauptverhandlung über ein Jahr in Untersuchungshaft, welche aufgrund der Corona-Pandemie mit zusätzlichen Einschränkungen verbunden war. Zu seinen Lasten wurde gewertet, dass der Kläger mehrere Vorahndungen aufweist, von denen eine auch aufgrund einer gefährlichen Körperverletzung erfolgte und eine lediglich zwei Monate zurücklag. Ferner wurde der Geschädigte durch die Tat erheblich verletzt und es bestand konkrete Lebensgefahr. Auch ein Jahr nach der Tat leidet der Geschädigte unter psychischen Folgen. Die überfallmäßige und gemeinschaftliche Begehungsweise der geplanten Tat lässt auf eine erhebliche kriminelle Energie schließen.
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Nach den Feststellungen des Landgerichts fing der Kläger im Alter von 14/15 Jahren an, regelmäßig Alkohol zu trinken und Marihuana zu konsumieren. Während der …ausbildung begann der Kläger mit zunächst gelegentlichem Konsum von Kokain. Die psychischen Voraussetzungen für ein Abhängigkeitssyndrom wurden durch eine Sachverständige trotz des regelmäßigen und erhöhten Konsums noch nicht als sicher erfüllt angesehen. Allerdings besteht ein Hang im Sinne des § 64 StGB und durch die durch die alkoholbedingte Enthemmung begünstigte Gewaltbereitschaft geht eine soziale Gefährlichkeit von dem Kläger aus. Daher wurde die Gefahr gesehen, dass ohne nachhaltige Entwöhnungsbehandlung auch künftig Aggressionsdelikte nach dem Konsum von Alkohol begangen werden könnten. Daher wurde die Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt angeordnet.
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Der Kläger befindet sich seit dem 28. Dezember 2019 in Haft und seit dem 15. Dezember 2021 in stationär-psychiatrischer Behandlung im …-Klinikum. Während der Haftzeit erhält er regelmäßig Besuche von seiner Familie sowie von Freunden.
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Ausweislich des Führungsberichts der Justizvollzugsanstalt … vom 12. Oktober 2021 ist der Kläger seit dem 15. Januar 2020 mit Ausnahme weniger Tage durchgehend in einem Unternehmerbetrieb beschäftigt. Die Arbeitsleistung sei leicht überdurchschnittlich. Der Kläger trete gegenüber Bediensteten selbstbewusst, höflich und aufgeschlossen, aber auch rechthaberisch auf. Im Umgang mit Mitgefangenen sei sein Verhalten kameradschaftlich, aber auch großspurig und rechthaberisch. Während des Aufenthalts sei es viermal zu disziplinarischen Ahndungen gekommen. Es bestehe seit dem 13. September 2021 Kontakt mit einer externen Suchtberatung.
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Der Kläger wurde mit Schreiben vom 6. Oktober 2021 zu einer möglichen Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt sowie einer Abschiebungsandrohung nach Rumänien angehört. Hierzu nahm der Kläger durch seinen Bevollmächtigten mit Schreiben vom … Oktober 2021 Stellung. Der Kläger habe in Rumänien keinerlei Verwandtschaft. Er verfüge über Grundkenntnisse der rumänischen Sprache, beherrsche diese jedoch weder in Wort noch in Schrift. Sämtliche familiären und sozialen Bindungen befänden sich in Deutschland. Die Straftat des Klägers sei letztlich auf dessen Drogen- und Alkoholproblematik zurückzuführen. Die derzeitige Unterbringung im Maßregelvollzug sei verhängt worden, um künftigen Taten im Sinne einer negativen Kriminalprognose entgegenzuwirken. Der Kläger plane im Rahmen des Maßregelvollzugs und auch nach der Entlassung aus der Haft zahlreiche Maßnahmen, um sich künftig straffrei in die Gesellschaft zu integrieren und zu resozialisieren. Es sei ein Antiaggressionstraining sowie therapeutische Unterstützung geplant. Nach der Haftentlassung erfolge regelmäßig eine Anbindung an die Ambulanz, um die Drogen- und Alkoholabstinenz zu unterstützen und zu kontrollieren. In beruflicher Hinsicht plane er die Ausbildung zum … sowie mittelfristig neben dem Abschluss der Gesellenprüfung den Besuch der Meisterschule. Zur Vermeidung künftiger Straftaten sei eine enge Anbindung an die Familie, die keinerlei Verbindungen zu kriminellen Kreisen habe, sowie der Aufbau eines neuen Freundeskreises geplant.
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Mit Bescheid vom 18. November 2021, dem Kläger zugestellt am 19. November 2021, stellte die Beklagte fest, dass der Kläger das Recht auf Einreise und Aufenthalt verloren hat (Ziff. 1). Weiter wurden die Einreise und der Aufenthalt für 7 Jahre, beginnend mit der Ausreise, untersagt (Ziff. 2). Der Kläger wurde aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb eines Monats nach Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht zu verlassen. Andernfalls wurde die Abschiebung zuvorderst nach Rumänien angedroht (Ziff. 3).
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Verlust der Freizügigkeit nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU aus Gründen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit festgestellt werden könne. Eine solche Feststellung dürfe nur getroffen werden, wenn der Betroffene durch sein persönliches Verhalten hierzu Anlass gebe. Eine strafrechtliche Verurteilung genüge hierfür alleine nicht. Es sei vielmehr erforderlich, dass nach allen wesentlichen Umständen des Einzelfalls eine konkrete Gefahr neuer Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung hinzutrete. Es sei zu berücksichtigen gewesen, dass sich der Kläger bereits mehr als zehn Jahren im Bundesgebiet aufhalte. Nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU dürfe eine Verlustfeststellung bei Unionsbürgern mit einem Aufenthalt von mehr als zehn Jahren nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit erfolgen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sei eine Kontinuität dieses Aufenthalts erforderlich. Eine Inhaftierung sei dabei grundsätzlich geeignet, die notwendige Kontinuität des Aufenthalts zu unterbrechen. Da sich der Kläger bereits seit dem 28. Dezember 2019 in Haft befinde, sei die Kontinuität des Aufenthalts schon beinahe zwei Jahre unterbrochen. Dies führe im vorliegenden Fall zum Wegfall des nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU verstärkten Schutzes vor einer Verlustfeststellung. Dem Kläger sei es während seines langjährigen Aufenthalts nicht gelungen, sich derartig in die Lebensverhältnisse im Bundesgebiet zu integrieren, dass trotz der Inhaftierung von einem Fortbestand der mit der Bundesrepublik geknüpften Integrationsverbindung auszugehen wäre. Für eine solche Verbindung seien neben einer zeitlichen auch qualitative Faktoren maßgeblich. Der Kläger habe zwar einen wesentlichen Teil seiner Kindheit und Jugend in Deutschland verbracht, wo sich auch seine Eltern und die Schwester befänden. Er habe jedoch auch einen nicht unerheblichen Teil seiner Kindheit in Serbien verbracht. Dem Kläger sei es in der Bundesrepublik gelungen, einen Mittelschulabschluss zu erreichen. Eine Ausbildung habe er jedoch nicht abgeschlossen. Zuletzt habe der Kläger als Verkäufer gearbeitet, wobei er aufgrund eines selbst verschuldeten Autounfalls für sieben Monate krankgeschrieben gewesen sei. Er sei aufgrund des Autounfalls hoch verschuldet und habe seinen Lebensunterhalt durch den Verkauf von Drogen aufgebessert. Die Schwere der zuletzt begangenen Straftat lasse erahnen, wie sehr sich der Kläger von der Gesellschaft in Deutschland entfernt habe. Infolge der Freiheitsstrafe von vier Jahren sei daher die Kontinuität des Aufenthalts im Bundesgebiet seit dem 28. Dezember 2019 unterbrochen und es bestehe kein verstärkter Schutz nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU (mehr). Durch seinen Aufenthalt habe der Kläger ein Daueraufenthaltsrecht erworben. Eine Verlustfeststellung dürfe daher nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden. Dies sei vorliegend der Fall. Der Kläger sei bereits kurz nach Eintritt in die Strafmündigkeit erstmals strafrechtlich in Erscheinung getreten. Mit 16 Jahren sei er erstmals wegen Körperverletzung zu einem Jugendarrest verurteilt worden. Hierdurch habe er sich jedoch nicht von der Begehung weiterer Straftaten abbringen lassen. Durch die später begangene Beleidigung habe der Kläger bewiesen, dass er keinerlei Achtung und Respekt vor dem geltenden Recht habe. Die spätere Verurteilung infolge des Führens eines Fahrzeugs unter Alkoholeinfluss zeige, dass zu dem beachtlichen Aggressionspotenzial auch fehlendes Verantwortungsbewusstsein komme. Die zuletzt abgeurteilte Tat zeige, dass sich die Bereitschaft zum bedenkenlosen Einsatz körperlicher Gewalt, welche bereits bei früheren Verurteilungen deutlich geworden sei, mit dem Einsatz eines Messers und der lebensgefährlichen Verletzung des Geschädigten noch deutlich gesteigert habe. Neben der verhängten Jugendstrafe in Höhe von vier Jahren sei zudem die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet worden. Ausgehend von der in der letzten begangenen Tat zum Ausdruck kommenden kriminellen Energie und der durch die alkoholbedingte Enthemmung begünstigten Gewaltbereitschaft sei eine soziale Gefährlichkeit zu bejahen. Es bestehe daher die Gefahr, dass der Kläger ohne nachhaltige Entwöhnungsbehandlung auch künftig Aggressionsdelikte nach dem Konsum von Alkohol begehe und eine alkoholbedingt enthemmte Bereitschaft bestehe, Tatopfer erheblich zu verletzen. Angesichts der massiven kriminellen Energie und langjährigen Abhängigkeit gehe die Beklagte nicht davon aus, dass die jetzige Erfahrung mit dem Strafvollzug den Kläger künftig abschrecken werde. Die Ausländerbehörde sehe eine konkrete Gefahr weiterer schwerer Straftaten durch den Kläger im Bundesgebiet. Es sei zu befürchten, dass bei einem künftigen Aufenthalt im Bundesgebiet durch gleiche oder ähnlich gelagerte Delikte die öffentliche Sicherheit erneut erheblich beeinträchtigt werde. Die bisherigen Konfrontationen mit der Polizei und der Justiz hätten den Kläger nicht davon abgehalten, immer wieder strafrechtlich in Erscheinung zu treten. Selbst der verbüßte Jugendarrest habe keinen Eindruck hinterlassen. In den Akten fänden sich zahlreiche Hinweise darauf, dass es sich beim Kläger um eine impulsive und aggressive Persönlichkeit handele, die nur wenig Achtung vor den Rechten anderer Menschen habe und eigene Interessen regelmäßig über die Interessen Dritter stelle. Hierbei sei insbesondere zu berücksichtigen, dass der Kläger Mitglied einer Rockergruppierung gewesen sei. Er verfüge über eine Tätowierung mit dem 1%-Zeichen, welches von Outlaw-Motorcycle-Gangs genutzt werde. Die Tätowierung zeige deutlich, dass sich der Kläger in der Rolle des „Gangsters“ gefalle. Bei seiner Festnahme habe sich der Kläger ausweislich des polizeilichen Vermerks unkooperativ und aggressiv verhalten. Seine Antworten seien durch Respektlosigkeit geprägt gewesen. Noch in der Haft könne sein Verhalten bestenfalls als durchwachsen bezeichnet werden. So werde der Kläger durch den Führungsbericht unter anderem als rechthaberisch, eigensinnig und großspurig beschrieben. Es seien wiederholt Disziplinarstrafen verhängt worden. Dass nun erstmalig eine stationäre Alkohol- und Drogentherapie absolviert werden solle, ändere an einer bestehenden konkreten Wiederholungsgefahr nichts. Selbst im Falle der Therapiewilligkeit besteht die konkrete Gefahr eines Rückfalls und in der Folge erneuten strafrechtlich relevanten Verhaltens. Nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes könne von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Betroffene nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftigen drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht habe. Hinzu komme, dass das Strafgericht hervorgehoben habe, dass beim Kläger keine psychische Abhängigkeit von Alkohol bestehe. Es sei damit nicht auszuschließen, dass der Konsum mehr Auswuchs der Kriminalität denn die Kriminalität Auswuchs des Konsums sei. Es stehe keineswegs fest, dass der Kläger im Falle einer Abstinenz nicht mehr straffällig werden würde, da es ihm auch in der Haft nicht gelinge, sich an die Regeln zu halten. Hinzu komme, dass der Kläger nach einer Entlassung in dasselbe Umfeld zurückkehren würde, indem er auch zuvor Straftaten begangen habe. Er verfüge über keinerlei tragfähige Perspektiven für seine Zukunft. In der Gesamtwürdigung des Verhaltens sei die Beklagte zum Ergebnis gekommen, dass schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung betroffen seien und der hier lebenden Allgemeinheit nicht die Gefahr weiterer derartiger Straftaten zugemutet werden könne. Die Verlustfeststellung beachte zudem den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die begangene Straftat sei im Bereich der Schwerkriminalität anzusiedeln. In die Strafzumessung fließe auch eine Prognose über die Gefährlichkeit des Täters ein. Eine strafgerichtliche Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren sei daher ein hinreichender Gradmesser des im Rahmen des Verwaltungsrechts bestehenden Bedürfnisses vorbeugender Schutzmaßnahmen. Nur die getroffene Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt sei geeignet und erforderlich zur Gefahrenabwehr. Die persönlichen Interessen des Klägers würden insbesondere durch Art. 8 EMRK, Art. 6 GG und Art. 7 GrCh geschützt. Hinsichtlich einer Abschiebung komme es auf ein ausgewogenes Gleichgewicht der betroffenen Interessen an, namentlich die Rechte des Ausländers auf Achtung seines privaten Familienlebens einerseits und der Verteidigung der Ordnung und Verhinderung strafbarer Handlungen andererseits. Der Kläger halte sich seit Juli 2009 durchgängig im Bundesgebiet auf und habe somit den größten Teil seines Lebens, insbesondere auch einen wesentlichen Teil der prägenden Jahre in Deutschland verbracht. Dem Kläger werde daher der Status des faktischen Inländers zuerkannt. Die Integration in die Bundesrepublik stützte sich allerdings nahezu allein auf die Länge des Aufenthalts. Zwar habe der Kläger einen Schulabschluss erreicht, eine Ausbildung sei jedoch nicht abgeschlossen worden. Er habe nie länger als wenige Monate am Stück beim selben Arbeitgeber gearbeitet. Die beruflichen Möglichkeiten seien im Heimatland des Klägers nicht schlechter einzuschätzen als in Deutschland. Es sei nicht ersichtlich, weshalb dem arbeitsfähigen jungen Kläger die Bestreitung seines Lebensunterhalts in Rumänien mit einfacher Arbeit nicht möglich sein sollte. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger der rumänischen Sprache noch mächtig sei. Entgegen der Einlassung im Rahmen der Anhörung sei der Strafakte zu entnehmen, dass gegenüber der Polizei angegeben worden sei, dass er Rumänisch sprechen könne. Soweit Defizite bestehen sollten, könne die Haftzeit genutzt werden, die Sprachkenntnisse aufzubessern. Es werde nicht verkannt, dass der Kläger in Serbien großgeworden sei und womöglich nur geringe Verbindungen nach Rumänien bestünden. Es stehe dem Kläger frei, sich nach der Abschiebung von Rumänien nach Serbien zu begeben. Darüber hinaus könne verlangt werden, dass der Kläger seinen Lebensunterhalt in Rumänien durch Aufnahme einer Beschäftigung selbst bestreite. Unter Würdigung des langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet sowie der hier bestehenden Bindungen gegenüber einer ungesicherten Situation im Heimatland träfen die Folgen der Aufenthaltsbeendigung den Kläger schwer, seien aber nicht unverhältnismäßig. Aufgrund der schwerwiegenden begangenen Straftaten sei es ihm zumutbar, sich zeitweise in Rumänien zurechtzufinden. In Deutschland habe der Kläger eine Vielzahl von Lebenshilfen angeboten bekommen, welche zu keinen Verhaltensänderungen geführt hätten. Auch strafrechtliche Sanktionen hätten den Kläger nicht beeindruckt. Die im Rahmen der Anhörung formulierten Zukunftspläne seien hingegen zu vage, um auf eine echte Veränderungsbereitschaft zu schließen. Es möge dem Kläger schwierig erscheinen, sich in Rumänien zurechtzufinden, eine außergewöhnliche Härte, welche außer Verhältnis zum beabsichtigten Zweck der Vermeidung weiterer Straftaten im Bundesgebiet stehe, sei jedoch nicht ersichtlich. Der Schutz der in Deutschland lebenden Bevölkerung vor einer künftigen Beeinträchtigung von Leben oder Gesundheit sei daher höher anzusiedeln als das berechtigte Interesse des Klägers am Verbleib im Bundesgebiet. Als volljähriger Mann sei der Kläger zudem nicht mehr auf die Fürsorge und den Beistand seiner in … lebenden Eltern angewiesen. Den bestehenden Bindungen und dem langjährigen Aufenthalt sei durch die Befristung der Ausweisung auf sieben Jahre Rechnung getragen worden. Zur Abmilderung etwaiger Härten bestehe zudem die Möglichkeit, eine Betretenserlaubnis für das Bundesgebiet zu beantragen. Hinsichtlich der Ausreisepflicht und des Wiedereinreiseverbots sei nach § 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU ein Befristungszeitraum von über fünf Jahren möglich. Wegen des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter und der festgestellten hohen Wiederholungsgefahr sei auch im Hinblick auf die bestehenden familiären Bindungen ein Zeitraum von sieben Jahren erforderlich, um dem hohen Gefahrenpotenzial Rechnung tragen zu können.
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Der Kläger hat hiergegen am … November 2021 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben und beantragt,
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Der Bescheid der Beklagten vom 18. November 2021 wird aufgehoben.
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Zur Begründung wurde vorgetragen, dass der Bescheid rechtswidrig sei und den Kläger zumindest in seinen Rechten aus Art. 8 EMRK und Art. 6 GG verletze.
25
Mit Schriftsatz vom 2. Dezember 2021 hat die Beklagte beantragt,
27
Ausweislich der Stellungnahme des …-Klinikums vom 25. Februar 2022 habe der Kläger im Rahmen seiner Suchtanamnese unter anderem angegeben, dass es in der Vergangenheit Abstinenzphasen gegeben habe. Diese betrage während der Haft ein Jahr. Ferner habe der Kläger angegeben, dass er in Haft fast täglich Spice konsumiere sowie Lyrica nehme. Der Kläger nehme an allen Therapieangeboten teil. Es sei zu keinen Regelverstößen oder Rückfällen gekommen. Er erhalte für seine Leistungen gute Rückmeldungen. Er habe sich erfolgreich gegen eine Verlegung nach … ausgesprochen und so den Verbleib im …-Klinikum erreicht.
28
Am 18. Mai 2022 wurde die mündliche Verhandlung durchgeführt. Der Beklagtenvertreter setzte die Frist in Ziff. 2 Satz 1 des Bescheids vom 18. November 2021 auf sechs Jahre fest. Hinsichtlich des Ablaufs und des weiteren Inhalts wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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I. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
31
Der Bescheid der Beklagten vom 18. November 2021 in der Gestalt, die er in der mündlichen Verhandlung vom 18. Mai 2022 gefunden hat, ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).
32
1. Rechtsgrundlage der Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt des Klägers in Ziff. 1 des streitgegenständlichen Bescheids ist § 6 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU – FreizügG/EU).
33
Nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt unbeschadet des § 2 Abs. 7 FreizügG/EU und des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden; die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt gemäß § 6 Abs. 2 FreizügG/EU für sich allein dafür nicht. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU). Nach § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung beeinträchtigen wird (vgl. BayVGH, B.v. 18.3.2015 – 10 C 14.2655 – juris; B.v. 10.10.2013 – 10 ZB 11.607 – juris).
34
Nach dem gestuften Schutzsystem des § 6 FreizügG/EU darf eine Verlustfeststellung nach einem Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts im Sinne des § 4a FreizügG/EU (ständiger rechtmäßiger Aufenthalt im Bundesgebiet seit fünf Jahren) nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden (§ 6 Abs. 4 FreizügG/EU). Bei Unionsbürgern und deren Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, darf eine Verlustfeststellung nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden (§ 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU).
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1.1 Die für den besonderen Schutz nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU erforderlichen Voraussetzungen liegen hier nicht vor.
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Nach dieser Vorschrift darf eine Feststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU bei Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, und bei Minderjährigen nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden.
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Zwar hält sich der Kläger seit dem Jahr 2009 und damit mehr als zehn Jahren rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland auf. Die Vorschrift des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU stellt dabei jedoch nicht auf eine gesamte Aufenthaltsdauer von mindestens zehn Jahren ab, sondern verlangt, dass der Unionsbürger seinen Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatte. Daraus folgt, „dass der für die Gewährung des verstärkten Schutzes gemäß Art. 28 III lit. a der RL 2004/38 erforderliche Aufenthalt von zehn Jahren vom Zeitpunkt der Verfügung der Ausweisung der betreffenden Person an zurückzurechnen ist“ (EuGH, U.v. 17.4.2018 – C-316/16 und C-424/16 – juris Rn. 65). Maßgeblicher Zeitpunkt der Überprüfung der Verfestigung ist damit die Kontinuität des Aufenthalts zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der Verlustfeststellung (EuGH, U.v. 17.4.2018 – C-316/16 und C-424/17 – juris Rn. 88). Im vorliegenden Fall unterbricht die Tatsache, dass sich der Kläger zum Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung bereits seit etwa zwei Jahren in Haft befunden hat, gerade die Kontinuität seines Aufenthalts und führt dazu, dass der verstärkte Schutz des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU für den Kläger nicht greift.
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Zeiträume der Verbüßung einer Haftstrafe als solche unterbrechen grundsätzlich die Kontinuität des Aufenthalts i.S.d. § 6 Abs. 5 FreizügG/EU; dies gilt nach dem oben gesagten auch unabhängig davon, ob der Ausländer sich bereits vor seiner Inhaftierung mehr als zehn Jahre im Bundesgebiet aufgehalten hat oder nicht (vgl. auch VG München, U.v. 24.11.2016 – M 12 K 16.2918 – juris Rn. 56 m.w.N.). Allerdings ist für die Zwecke der Feststellung, ob eine zugleich den Anlass für die Verlustfeststellung bildende Haftstrafe tatsächlich zu einem Abreißen des zuvor geknüpften Bandes der Integration zum Aufnahmemitgliedstaat geführt hat, gleichwohl eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen zu dem Zeitpunkt vorzunehmen, an dem sich die Frage der Verlustfeststellung stellt, da die Voraussetzung des Aufenthalts in den letzten zehn Jahren nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU Ausdruck der gesetzgeberischen Wertung ist, dass der erhöhte Schutz des Absatz 5 (nur) gut integrierten Unionsbürgern zukommen soll, was bei einem Aufenthalt in den letzten zehn Jahren grundsätzlich zu vermuten ist. Im Rahmen einer umfassenden Gesamtbetrachtung sind die Zeiträume der Verbüßung einer Haftstrafe zusammen mit allen anderen Anhaltspunkten zu berücksichtigen, die die Gesamtheit der im Einzelfall relevanten Gesichtspunkte ausmachen, wozu gegebenenfalls der Umstand zählt, dass der Betroffene in den letzten zehn Jahren vor seiner Inhaftierung seinen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat hatte (EuGH, U.v. 17.4.2018 – C-316/16, C-424/16, C-316/16, C-424/16 – juris Rn. 70; U.v. 16.1.2014 – C-400/12 – juris Rn. 33 ff. jeweils zu Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der RL 2004/38 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004). Ein Unionsbürger, der eine Freiheitsstrafe verbüßt und gegen den die Feststellung des Verlusts der Freizügigkeit ergeht, erfüllt somit einen zehnjährigen Aufenthalt, sofern eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen unter Berücksichtigung aller relevanten Gesichtspunkte zu dem Schluss führt, dass die Integrationsbande, die ihn mit dem Aufnahmemitgliedstaat verbinden, trotz der Haft nicht abgerissen sind. Zu diesen Gesichtspunkten gehören insbesondere die Stärke der vor der Inhaftierung des Betroffenen zum Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsbande, die Art der Straftat und die Umstände ihrer Begehung sowie das Verhalten des Betroffenen während des Vollzugs (EuGH, U.v. 17.4.2018 – C-316/16, C-424/16, C-316/16, C-424/16 – juris Rn. 83; zum Ganzen BayVGH, B.v. 22.6.2021 – 19 ZB 18.104 – juris Rn. 13 ff.).
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Gemessen an diesem Maßstab ist das Integrationsband des Klägers, soweit es überhaupt geknüpft wurde, jedenfalls durch die Haft abgerissen. Bereits vor seiner Inhaftierung bestanden allenfalls geringe Integrationsverbindungen zum Bundesgebiet. Allein aus dem langen Aufenthalt (vor der Inhaftierung) kann gerade nicht auf eine Kontinuität und entsprechende starke Verwurzelung geschlossen werden (vgl. BayVGH, B.v. 22.6.2021 – 19 ZB 18.104 – juris Rn. 14; VG München, U.v. 24.11.2016 – M 12 K 16.2918 – juris Rn. 56). Der Kläger ist erst im Alter von zehn Jahren in die Bundesrepublik eingereist. Es ist ihm zwar gelungen, einen Schulabschluss zu erreichen. Er hat jedoch keine Ausbildung abgeschlossen. Die beiden begonnenen Ausbildungen zum … und zum … wurden jeweils durch den Ausbildungsbetrieb vorzeitig beendet. Auch im Anschluss an die erfolglosen Ausbildungen ist es dem Kläger bis zu seiner Inhaftierung nicht gelungen, sich dauerhaft in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Lediglich von Herbst 2018 bis März 2019 war der Kläger für wenige Monate als ungelernter Verkäufer im Lebensmitteleinzelhandel tätig. Der Kläger ist überdies seit seinem 14. Lebensjahr bereits fünfmal strafrechtlich in Erscheinung getreten. Die Verurteilungen inklusive einer Verbüßung eines Jugendarrests von zwei Wochen Dauer konnten den Kläger nicht von der Begehung der letzten Straftat abhalten, welche zu einer Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von vier Jahren geführt hat. Insbesondere die Verhängung von Freiheitsstrafen ohne Bewährung sind hinsichtlich der Bewertung der Integrationsbindungen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs geeignet, deutlich zu machen, dass der Betroffene die von der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats in dessen Strafrecht zum Ausdruck gebrachten Werte nicht beachtet (EuGH, U.v. 16.1.2014 – C-400/12 – juris Rn. 31). So liegt es auch im zu beurteilenden Fall. Aus der vom Kläger begangenen schweren Straftat gegen die körperliche Unversehrtheit sowie die planvolle Vorgehensweise bei der Begehung der anlassgebenden Tat wird deutlich, dass der Kläger gesellschaftliche Grundwerte der Bundesrepublik Deutschland – insbesondere die körperliche Integrität Dritter – zum Zeitpunkt der streitgegenständlichen Verlustfeststellung nicht verinnerlicht und akzeptiert hat. Den geringen Integrationsgrad, den der Kläger möglicherweise bis zur Inhaftierung erreicht hat, und die entsprechenden Verbindungen sind jedenfalls durch die Haft abgerissen. Dies ergibt sich schon aus der nicht unerheblichen Dauer der Haft und – im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung – der Art und Schwere der die Haft begründenden Straftat bei der dem Geschädigten potenziell lebensgefährliche Verletzungen beigebracht wurden. Auch in der Haft musste das Verhalten des Klägers bereits viermal disziplinarisch geahndet werden. Nach eigener Aussage im Rahmen der Anhörung plant der Kläger zudem den Aufbau eines neuen Freundeskreises. Die spätere Entlassung des Klägers stellt sich für diesen damit als Neustart dar.
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1.2 Im vorliegenden Fall hat der Kläger jedoch ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU erworben, nachdem er sich mehr als fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Eine Kontinuität des Aufenthalts in den letzten fünf Jahren vor Erlass der angegriffenen Verfügung ist in diesen Fällen gerade nicht erforderlich. Die Verlustfeststellung kann daher vorliegend nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden (§ 6 Abs. 4 FreizügG/EU).
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1.3 Von dem Kläger geht vorliegend eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung aus, welche ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
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1.3.1 Nach dem genannten Maßstab des § 6 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4 FreizügG/EU kann die Verlustfeststellung grundsätzlich aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Art. 45 Abs. 3, Art. 52 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union) getroffen werden. Soweit – wie hier – die Verlustfeststellung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erfolgt, genügt die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich allein nicht, um diese Maßnahme zu begründen (§ 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU). Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU). Grundsätzlich muss für die Verlustfeststellung eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU). Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende – unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierte – Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung i.S.d. Art. 45 Abs. 3 AEUV beeinträchtigen wird (BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30.02 – juris Rn. 26). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind daher bei der anzustellenden Prognoseentscheidung umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BayVGH, B.v. 24.11.2020 – 19 ZB 20.1460 – juris Rn. 12 m.w.N.). Eine strafrechtliche Verurteilung kann den Verlust des Freizügigkeitsrechts daher nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrundliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Ob die Begehung einer Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, welches ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilen (vgl. EuGH, U.v. 27.10.1977 – C-30/77 – Bouchereau; U.v. 4.10.2007 – C-349/96 – Polat; U.v. 4.10.2012 – C-249/11 – juris Rn. 40 f. – Hristo Byankor; BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30.02 – juris Rn. 14).
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Gemessen an diesen Grundsätzen geht zur Überzeugung des Gerichts zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung von dem Kläger eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung aus (Wiederholungsgefahr), welche ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
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Der Kläger wurde durch das anlassgebende Urteil des Landgerichts München I vom … Februar 2021 wegen gefährlicher Körperverletzung zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Bei Begehung der zugrundeliegenden Tat lauerte er dem Geschädigten gemeinsam mit einem Mittäter auf, um diesem aus einem Hinterhalt heraus Verletzungen zuzufügen. Beim Angriff auf den Geschädigten setzte der Kläger sogar willentlich ein Messer ein und verletzte diesen lebensgefährlich. Anlass der Tat war eine Beziehungsstreitigkeit zwischen dem Kläger und seiner früheren Freundin. Dies zeigt, dass der Kläger aus einem nichtigen Anlass heraus geneigt ist, schwere Gewalt gegen Dritte bis hin zur Beibringung lebensgefährlicher Verletzungen anzuwenden. Die grundsätzliche Bereitschaft, solche schweren Verletzungen herbeizuführen, wird auch dadurch deutlich, dass der Kläger zur Begehung der Tat ein Messer mitgenommen hat. Dies offenbart eine innere Gleichgültigkeit gegenüber der Möglichkeit erheblicher und lebensgefährlicher Verletzungen, welche zudem in einem eklatanten Missverhältnis zum Anlass der Tat steht. Die geplante, überfallartige und gemeinschaftliche Begehungsweise der Tat lässt auf eine erhebliche kriminelle Energie des Klägers schließen. Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass es sich nicht um die erste Verurteilung des Klägers handelt. So wurde der Kläger u.a. bereits zuvor durch Urteil des Amtsgerichts … vom … September 2017 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einem Jugendarrest von zwei Wochen verurteilt. Neben weiteren Straftaten wurde der Kläger vor der anlassgebenden Tat zuletzt am … Oktober 2019 wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis verurteilt. Weder die Verbüßung eines Jugendarrests aufgrund einer einschlägigen Vorverurteilung noch die Verurteilung vom … Oktober 2019, welche nur etwa zwei Monaten vor der Tatbegehung der letzten Verurteilung lag, noch die weiteren Verurteilungen des Klägers konnten diesen nachhaltig zu einer straffreien Lebensführung bewegen und von der Begehung dieser letzten massiven Gewaltstraftat abhalten. Auch im Rahmen der Strafhaft hat der Kläger weiterhin gegen Regeln verstoßen. So musste er mehrfach disziplinarisch geahndet werden. Es wurden gegen ihn Disziplinarmaßnahmen unter anderem aufgrund der Nichtbefolgung von Anordnungen, dem unerlaubten Besitz eines Handy-Akkus sowie der unerlaubten Entgegennahme von Gegenständen im Wartebereich der Besuchsabteilung verhängt. Aus dem gesamten Verhalten des Klägers sowohl im Vorfeld der letzten Verurteilung als auch im Rahmen der Haftverbüßung wird deutlich, dass dieser insgesamt nicht willens oder in der Lage ist, sich an geltende Regeln zu halten. Insbesondere die Bereitschaft zu massiven Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit Dritter bis hin zur Beibringung lebensgefährlicher Verletzungen zeigt, dass der Kläger bereit ist, Grundinteressen der Gesellschaft seinen eigenen Interessen – auch aus nichtigen Anlässen – unterzuordnen. Diese Einstellung des Klägers wird auch dadurch deutlich, dass er auf seiner Brust eine Tätowierung hat, welche seine Affinität, Identifikation und (ehemalige) Mitgliedschaft zu einem sog. „Outlaw“ Motorradclub dokumentiert. Ausweislich der sich im Rahmen der umfassenden Gesamtbetrachtung ergebenden Grundeinstellung des Klägers ist auch künftig jederzeit mit der Begehung weiterer Straftaten zu rechnen.
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Zu berücksichtigen ist ferner, dass der Kläger seine letzten Straftaten unter massivem Einfluss von Alkohol begangen hat. Das Landgericht München I stellte bei dem Kläger einen Hang zum Rauschmittelkonsum im Sinne des § 64 StGB fest und ordnete in der Folge die Unterbringung in einer Entziehungseinrichtung an. Ausweislich der Stellungnahme des …-Klinikums vom 25. Februar 2022 bezeichnete der Kläger als für ihn wichtigste Drogen Alkohol und Kokain. In Fällen, in denen Straftaten aufgrund einer bestehenden Suchtmittelproblematik begangen worden sind, geht die Rechtsprechung regelmäßig davon aus, dass die konkrete Wiederholungsgefahr erst entfällt, sobald der Kläger eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftigen drogen- und straffreien Verhaltens auch nach dem Therapieende glaubhaft gemacht hat (vgl. BayVGH, B.v. 10.4.2014 – 10 ZB 13.71 – juris Rn. 6 m.w.N.; B.v. 17.12.2015 – 10 ZB 15.1394 – juris). Weder hat der Kläger die indizierte Therapie wegen seiner Suchtproblematik bislang abgeschlossen noch hat er sich auf längere Zeit in Freiheit bewährt. Auch insoweit ist in der Gesamtschau weiterhin von einer erheblichen Wiederholungsgefahr auszugehen.
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Die vom Kläger ausgehende tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung berührt ferner ein Grundinteresse der Gesellschaft. Das hier betroffene Schutzgut der körperlichen Unversehrtheit nimmt in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Wertordnung einen sehr hohen Rang ein und löst staatliche Schutzpflichten aus. Die körperliche Unversehrtheit des Menschen ist ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut (BayVGH, U.v. 29.1.2019- 10 B 18.1094 – juris Rn. 34). Insbesondere in der Gesamtschau der Art und Schwere der vom Kläger begangenen Straftat, welche bis hin zu lebensgefährlichen Verletzungen geführt hat, zeigt sich, dass dieser eine massive Gefahr für ein höchstrangiges Rechtsgut darstellt. Der Schutz der Bevölkerung vor solch massiven Rechtsverletzungen stellt ein Grundinteresse der Gesellschaft dar.
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1.3.2 Vorliegend liegen zudem den Verlust des Freizügigkeitsrechts rechtfertigende schwerwiegende Gründe vor.
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Bei Unionsbürgern, welche – wie vorliegend – über ein Daueraufenthaltsrecht verfügen, müssen neben der dargestellten Wiederholungsgefahr zudem schwerwiegende Gründe für eine Verlustfeststellung vorliegen. Ob solche schwerwiegenden Gründe vorliegen, ist im Einzelfall zu entscheiden. Die Gründe für eine Verlustfeststellung müssen gewichtiger sein als bei einem Einschreiten im „Normalfall“ (Dienelt in Bergmann/Dienelt Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 6 FreizügG/EU Rn.51). Nach Nr. 6.4.1. der – das Gericht nicht bindenden, aber dennoch als Anhaltspunkt geeigneten – Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU ist im Einzelfall zu entscheiden, ob schwerwiegende Gründe vorliegen. Dies ist insbesondere bei drohender Wiederholung von Verbrechen und besonders schweren Vergehen gegeben, wenn der Betroffene wegen eines einzelnen Delikts rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt und die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Die Aufzählung ist insofern jedoch nicht abschließend („insbesondere“). Durch das Tatbestandmerkmal „schwerwiegend“ wird an das geschützte Rechtsgut angeknüpft, sodass gesteigerte Anforderungen an das berührte Grundinteresse der Gesellschaft zu stellen sind. Ausreichend ist insoweit eine konkrete Wiederholungsgefahr. Dies ist insbesondere bei drohender Wiederholung von Verbrechen und besonders schweren Vergehen anzunehmen (BayVGH, U.v. 29.1.2019 – 10 B 18.1094 – juris Rn. 32).
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Nach diesen Grundsätzen ist vorliegend eine Verlustfeststellung aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt. Die vom Kläger ausgehende gegenwärtige Gefährdung stellt sich als besonders gewichtig dar. Der Kläger wurde wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von vier Jahren verurteilt. Wie dargestellt besteht eine massive Wiederholungsgefahr hinsichtlich der Begehung weiterer schwerer Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit. Hierbei wiegt das Ausmaß der vom Kläger bei seiner Tatbegehung zutage getretenen Gewaltbereitschaft besonders schwer. Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Kläger versucht, den Geschädigten zu töten, auch wenn er strafbefreiend von diesem Versuch zurückgetreten ist. Vor diesem Hintergrund und dem Rang des gefährdeten Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit (vgl. o.) ist vorliegend ein Grundinteresse der Gesellschaft in besonderem Maße berührt, so dass schwerwiegende Gründe für eine Verlustfeststellung sprechen.
50
1.4 Schließlich ist die von der Beklagten nach § 6 Abs. 1 und Abs. 3 FreizügG/EU zu treffende Ermessensentscheidung (vgl. BayVGH, B.v. 2.8.2012 – 10 ZB 11.2751 – juris Rn. 4) nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat das ihr zustehende Ermessen in rechtlich nicht zu beanstandender Weise ausgeübt. Insoweit ist die gerichtliche Kontrolle nach § 114 VwGO dahingehend eingeschränkt, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde.
51
Dies ist vorliegend nicht der Fall. Die Beklagte hat erkannt, dass die Entscheidung über die Verlustfeststellung in ihrem Ermessen liegt und die tatbezogenen Umstände eingehend gewürdigt. Sie hat auch hinreichend die gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU zu berücksichtigenden Belange abgewogen und dabei insbesondere die Dauer des Aufenthalts, den Integrationsstand und die familiäre Situation bewertet. Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführungen im Bescheid verwiesen, denen das Gericht folgt (§ 117 Abs. 5 VwGO). Eine Fehlgewichtung ist insoweit nicht feststellbar. Insbesondere ist die Beklagte hinreichend auf die familiäre Situation des Klägers eingegangen. Eine Verletzung von Art. 6 GG oder des Rechts auf Achtung des Familienlebens nach Art. 8 EMRK ist nicht gegeben. Dabei war vor allem zu berücksichtigen, dass der Kläger volljährig ist und dem im Verhältnis zwischen den Eltern und einem volljährigen Kind dennoch im Grundsatz bestehenden grundrechtlichen Schutz (vgl. BVerfG, B.v. 5.2.1981 – 2 BvR 646/80 – juris Rn. 22) durch die Möglichkeit von Kontakt mittels Telekommunikationsmitteln und Besuchen der Eltern in Rumänien genügt werden kann.
52
Ebenfalls geht die Beklagte zu Recht davon aus, dass kein Verstoß gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK vorliegt. Ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens aus Art. 8 EMRK ist nach dessen Absatz 2 nur statthaft, soweit er gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Eine Gesamtbetrachtung ergibt unter Berücksichtigung aller bereits oben genannter Umstände, dass der Kläger im Bundesgebiet – wenn überhaupt – nur schwach integriert ist. Zwar hat der Kläger in Deutschland soziale Kontakte aufgebaut, was dadurch deutlich wird, dass er während der Haft neben seiner Familie auch Besuche von Freunden erhält. Nach eigener Aussage möchte der Kläger jedoch nach der Haft gerade einen neuen Freundeskreis aufbauen. Zudem fehlt an einer wirtschaftlichen oder beruflichen Integration (vgl. o.). Demgegenüber besteht ein besonderes öffentliches Interesse an der Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt, da von dem Kläger eine schwerwiegende gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht (vgl. o.). Zur Verhinderung strafbarer Handlungen ist der Eingriff in Art. 8 EMRK gesetzlich vorgesehen und im vorliegenden Fall auch verhältnismäßig.
53
Dem Kläger ist eine Rückkehr nach Rumänien insgesamt möglich und zumutbar. Die Beklagte berücksichtigt dabei auch, dass der Kläger selbst in Serbien geboren und aufgewachsen ist. Gleichwohl geht die Beklagte zu Recht davon aus, dass der Kläger der rumänischen Sprache mächtig ist. Selbst wenn er die rumänische Sprache derzeit in Wort und/oder Schrift nicht ausreichend beherrschen sollte, ist es ihm zuzumuten, seine Sprachkenntnisse aufzubessern. An dem Ergebnis dieser Gesamtabwägung ändert es auch nichts, wenn der Kläger vorträgt, derzeit keinen Kontakt zu in Rumänien lebenden Verwandten zu haben. Es ist ihm zuzumuten, sich in Rumänien ein neues Leben aufzubauen, neue Kontakte zu knüpfen und insbesondere seinen Lebensunterhalt zukünftig auf legalem Wege zu bestreiten. Die in Deutschland erworbene Arbeitserfahrung dürfte hierbei auch in Rumänien hilfreich sein. Im Ergebnis ist es rechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Beklagte feststellt, dass im Falle des Klägers das dringende öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthaltes vor allem wegen der erheblichen kriminellen Energie und der besonderen Wiederholungsgefahr das private Bleibeinteresse überwiegt. Ferner weist die Beklagte zu Recht darauf hin, dass sich der Kläger auch freiwillig nach Serbien begeben könnte, wo er geboren und die ersten Lebensjahre sozialisiert wurde.
54
2. Auch die Befristungsentscheidung der Beklagten in Ziff. 2 des angegriffenen Bescheids in der Gestalt, die sie in der mündlichen Verhandlung vom 18. Mai 2022 gefunden hat, begegnet nach § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU keinen rechtlichen Bedenken.
55
Die Länge der Frist durfte nach § 7 Abs. 2 Satz 6 Halbs. 2 FreizügG/EU fünf Jahre überschreiten, da eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU vorliegt. Ausgehend von der Strafbiographie des Klägers und der Einschätzung und Beurteilung der Wiederholungsgefahr erscheint ein an dem mit der Verlustfeststellung verfolgten spezialpräventiven Zweck orientierter langfristiger – auch über den Fünfjahreszeitraum nach § 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU hinausgehender – Ausschluss der Wiedereinreise unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls (§ 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU) angemessen und sachgerecht.
56
Die Befristungsentscheidung ist auf der Grundlage der aktuellen Tatsachen und unter Würdigung des Verhaltens des Betroffenen nach der Verlustfeststellung zu treffen (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18.14 – juris Rn. 31 m.w.N.). Dabei ist in einem ersten Schritt eine an dem Gewicht des Grundes für die Verlustfeststellung sowie dem mit der Maßnahme verfolgten spezialpräventiven Zweck orientierte äußerste Frist zu bestimmen. Hierzu bedarf es der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Verlustfeststellung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr mit Blick auf die im vorliegenden Fall bedeutsame Gefahrenschwelle des § 6 FreizügG/EU zu tragen vermag (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18.14 – juris Rn. 35; VGH BW, U.v. 15.2.2017 – 11 S 983/16 – juris Rn. 36). Die im Hinblick auf die zur Gefahrenabwehr als erforderlich angesehene Sperrfrist ist einem zweiten Schritt unter Berücksichtigung schützenswerter Interessen des Klägers zu ermitteln und zu gewichten (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 – 1 C 18.14 – juris Rn. 37). Maßgebend ist die aktuelle Situation des Betroffenen (vgl. BayVGH, B.v. 23.7.2020 – 10 ZB 20.1171 – juris Rn. 19; U.v. 29.1.2019 – 10 B 18.1094 – juris Rn. 51; B.v. 21.4.2016 – 10 ZB 14.2448 – juris Rn. 5 m.w.N.).
57
Gemessen daran erweist sich die vorliegende Befristung auf sechs Jahre vor dem Hintergrund der vom Kläger ausgehenden Gefahr u.a. für das besonders schützenswerte Rechtsgut des Lebens und der Gesundheit auch vor dem Hintergrund, dass die Eltern und die Schwester des Klägers im Bundesgebiet leben, als angemessen. Im Falle des Klägers fehlt es – wie dargelegt – an einer nachhaltigen wirtschaftlichen und beruflichen Integration. Zudem sind die bestehenden Integrationsbande durch die Haft bzw. den Maßregelvollzug weitestgehend durchbrochen (vgl. o.). Dem steht das besondere öffentliche Interesse an der Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt entgegen, das sich aus der von dem Kläger ausgehenden erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit ergibt. Vor allem mit Blick auf die Schwere der von dem Kläger zuletzt begangenen Straftat sowie die dargestellte erhebliche Wiederholungsgefahr vermag das Verhalten des Klägers bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr auch unter Berücksichtigung des gegensätzlichen privaten Bleibe- bzw. Rückkehrinteresses des Klägers für sechs Jahre zu tragen. Die vorgenommene Befristung ist daher nach Auffassung des Gerichts auch im Hinblick auf die zu berücksichtigenden Rechte aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK verhältnismäßig und daher rechtmäßig.
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3. Schließlich stellt sich auch die Abschiebungsandrohung sowie die Fristsetzung zur freiwilligen Ausreise in Ziff. 3 des streitgegenständlichen Bescheids als rechtmäßig dar. Die gesetzte Ausreisefrist von einem Monat ab Vollziehbarkeit des Bescheids bewegt sich in den Grenzen des § 7 Abs. 1 Satz 2 und 3 FreizügG/EU. Die Abschiebung wurde zutreffend auf der Grundlage von § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU angedroht.
59
II. Der Kläger trägt als unterliegender Teil die Kosten des Verfahrens, § 154 Abs. 1 VwGO.
60
III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.