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LG Landshut, Endurteil v. 08.07.2022 – 13 S 3467/21
Titel:

Haftung des Luftfahrtunternehmens für sämtliche, einheitlich gebuchte Flüge bei Annullierung des ersten Fluges

Normenkette:
Fluggastrechte-VO Art. 5 Abs. 1 lit. a, Art. 8 Abs. 1 lit. a
Leitsatz:
Der aufgrund einer Annullierung bestehende Anspruch auf Erstattung der Flugscheinkosten nach Art. 5 Abs. 1 lit. a und Art. 8 Abs. 1 lit. a Fluggastrechte-VO umfasst sowohl die Kosten sämtlicher in Kette gebuchter Hinflüge, die der Fluggast aufgrund der Annullierung nicht wahrnehmen konnte, als auch die Kosten sämtlicher Rückflüge, wenn Hin- und Rückflug Gegenstand einer einheitlichen Buchung sind, über die ein einziger Flugschein ausgestellt worden ist. (Rn. 17 – 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Fluggast, Luftfahrtunternehmen, Haftung, Rückflug, Annullierung, Kette, Flugsegmente, Flugscheinkosten, einheitliche Buchung, Reiseabschnitte, VO (EG) 261/2004
Vorinstanz:
AG Erding, Urteil vom 10.11.2021 – 114 C 1671/21
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Urteil vom 18.04.2023 – X ZR 91/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 47134

Tenor

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Amtsgerichts Erding vom 10.11.2021, Az. 114 C 1671/21, wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages leistet.
4. Die Revision zum Bundesgerichtshof gegen dieses Urteil wird zugelassen.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 4.881,00 EUR festgesetzt.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Klägerin macht Rückerstattung von Flugscheinkosten nach Art. 5 Abs. 1 lit. a), Art. 8 Abs. 1 lit. A) VO(EG) 261/200 aus abgetretenem Recht gegen die Beklagte geltend.
2
Die Zedenten verfügten über eine bestätigte Buchung für (Hin-)Flüge vom 30./31.05.2020 von München über Madrid über Bogota nach Quito und (Rück-)Flüge vom 13./14.06.2020 von Quito über Bogota nach München. Die Buchung erfolgte über das Reisebüro „… Reisen“.
3
Die Beklagte war ausführendes Luftfahrtunternehmen für die erste Teilstrecke des Hinfluges, von München nach Madrid. Diesen Flug annullierte die Beklagte.
4
Die Beklagte beruft sich darauf, dass sie nicht Vertragspartner gewesen sei und hinsichtlich der Rückflüge nicht einmal Teil der Beförderungskette gewesen sei.
5
Hinsichtlich des weiteren Parteivortrags, der tatsächlichen Feststellungen erster Instanz sowie der Anträge der Parteien in erster Instanz wird gem. § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf das angefochtene Urteil Bezug genommen.
6
Das Amtsgericht gab der Klage vollumfänglich statt.
7
Der Anspruch auf Erstattung nach Art. 8 VO (EG) 261/2004 sei ein gesetzlicher Anspruch, der sich gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen des annullierten Fluges richtet, unabhängig davon, ob das Luftfahrtunternehmen Vertragspartner sei oder eine Zahlung erhalten habe. Bei einer einheitlichen Buchung sei unerheblich, dass die Beklagte nicht bezüglich sämtlicher Flugsegmente bzw. des Rückfluges ausführendes Luftfahrtunternehmen gewesen sei.
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Dagegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung. Es bestehe weder für die Hin- noch für die Rückflüge eine Zahlungspflicht der Beklagten. Für die Hinflüge sei die Beklagte nicht passivlegitimiert. Sie habe die Hinflüge nicht verkauft, sondern nur den ersten der Flüge im Codesharing für die Airline Avianca ausgeführt. Sie habe weiterhin nur eines von drei Hinflugsegmenten ausgeführt. Es sei unbillig die Beklagte mit den Gesamtkosten der Hinflüge zu belasten. An den Rückflügen sei die Beklagte überhaupt nicht beteiligt gewesen. Sie sei weder Vertragspartner noch ausführende Airline auf dem ersten Rückflugsegment gewesen. Auch habe sie für diese keine Zahlung erhalten.
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Die Beklagte und Berufungsklägerin beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin und Berufungsbeklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
11
Mit Beschluss vom 16.05.2022 wies die Kammer auf ihre Rechtsauffassung hin, wonach der Erstattungsanspruch aus Art. 5 Abs. 1 lit. a), Art. 8 Abs. 1 lit. A) VO(EG) 261/200 sowohl die Kosten aller Teilstrecken der Hinflüge als auch die Kosten der Rückflüge umfasse. Wegen der Einzelheiten wird auf den Hinweis Bl. 90/96 d.A. Bezug genommen.
12
Weitergehender Vortrag auf den Hinweis hin erfolgte durch die Beklagte und Berufungsklägerin nicht.
II.
13
Die Klägerin hat Anspruch auf Erstattung der vollständigen Flugscheinkosten in Höhe von 4.881,00 EUR aus Art. 5 Abs. 1 lit. a), 8 Abs. 1 lit. a) VO (EG) 261/2004, § 398 BGB.
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1. Der Anwendungsbereich der Fluggastrechte-Verordnung ist gemäß Art. 3 Abs. 1 lit a), Abs. 2 lit a) VO (EG) 261/2004 eröffnet. Der von der Beklagten durchzuführende Flug war Teil einer bestätigten Flugbuchung der Zedenten und sollte am Flughafen München angetreten werden.
15
2. Die Beklagte ist gemäß Art. 5 Abs. 1 lit a) VO (EG) 261/2004 passivlegitimiert, da sie ausführendes Luftfahrtunternehmen auf der ersten Teilstrecke des streitgegenständlchen Hinfluges war. Auf das Bestehen eines Vertragsverhältnisses zu den Zedenten kommt es nicht an.
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3. Die Beklagte annullierte den Flug.
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4. Der Erstattungsanspruch nach Art. 8 Abs. 1 lit. a) VO (EG) 261/2004 umfasst die vollständigen Flugscheinkosten für nicht zurückgelegte Reiseabschnitte zu dem Preis, zu dem der Flugschein erworben wurde. Die vollständigen Flugscheinkosten beinhalten sowohl die Kosten für alle Teilstrecken des Hinfluges als auch die Kosten des Rückfluges.
18
4.1. Der Wortlaut des Art. 8 Abs. 1 lit. a) VO (EG) 261/2004 differenziert zwar nicht ausdrücklich zwischen etwaigen Hin- und Rückflügen, jedoch lässt er den gesetzgeberischen Willen entnehmen, wonach die (ursprünglichen) Reisepläne des Fluggastes maßgebend sein sollen und eine vollständige Erstattung für – aus Sicht des Fluggastes – zwecklose Reiseabschnitte erfolgen soll.
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Dies steht in Einklang mit den der Verordnung zugrundeliegenden grundsätzlichen Erwägungen. Unannehmlichkeiten sollen für den Fluggast gering gehalten und ein hohes Schutzniveau erreicht werden. Sämtliche Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen sollen dem ausführenden Luftfahrtunternehmen auferlegt werden, da dieses aufgrund seiner Präsenz auf den Flughäfen in der Regel am besten in der Lage ist, die Verpflichtungen zu erfüllen (BGH, Beschluss vom 11.03.2008 – X ZR 49/07, RRa 2008, 175, 176).
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4.2. Dies muss erst recht dann gelten, wenn Hin- und Rückflüge – wie vorliegend – Teil einer einheitlichen Buchung waren.
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Andernfalls drohte die Aufspaltung eines einheitlichen Anspruchs. Die Fluggäste wären gezwungen, sich mit mehren Luftfahrtunternehmen auseinanderzusetzen, wobei ihnen sowohl die (internen) Vertragsverhältnisse als auch die interne Kostenaufteilung für die einzelnen Flüge im Regelfall unbekannt sind.
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4.3. Unter Berücksichtigung bestehender Regressmöglichkeiten ist es nicht unbillig, der Beklagten die Erstattung sämtlicher Flugscheinkosten aufzuerlegen. Art.13 VO (EG) 261/2004 stellt klar, dass das Recht, Regress bei Dritten zu nehmen, nicht beschränkt wird. Das ausführende Luftfahrtunternehmen wird also nicht schutzlos stellt.
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Auf die Ausführungen des Hinweises der Kammer vom 16.05.2022 wird ergänzend Bezug genommen.
III.
24
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.
25
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit erging gem. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
26
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde gem. § 47 GKG festgesetzt.
27
Die Revision zum Bundesgerichtshof wurde gem. § 543 Abs. 2 Nr. 1 ZPO zugelassen, da angesichts der unbestimmten Vielzahl vergleichbarer Fälle ein Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen Handhabung des Rechts besteht.