Titel:
Asyl (Somalia) – kein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots
Normenkette:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
Leitsätze:
1. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage ist zumindest in Mogadischu nicht derart, dass eine Abschiebung ohne Weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG anzunehmen wäre. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Situation in Mogadischu stellt sich bei wertender Gesamtbetrachtung nicht so dar, dass jede Zivilperson aufgrund ihrer bloßen Anwesenheit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen müsste, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
4. Zumindest für nicht vulnerable Gruppen kann insbes. im städtischen Raum, wo humanitäre Hilfe grundsätzlich erreichbar ist, derzeit nicht ohne Weiteres angenommen werden, dass diese bei einer Rückkehr ins Heimatland stets einer Art. 3 EMRK widersprechenden Situation ausgesetzt wären. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asyl (Somalia), Rückkehrort Mog..., psychische Probleme, Intelligenzminderung, gesetzliche Betreuung, Nichterscheinen zur mündlichen Verhandlung, Abschiebungsverbot (verneint), Rückkehrort Mogadischu, Existenzminimum
Fundstelle:
BeckRS 2022, 47018
Tenor
I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger, nach eigenen Angaben somalischer Staatsangehöriger, reiste nach seinen Angaben am 8. Juni 2017 auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein und stellte durch seinen Vormund am 5. September 2018 einen beschränkten Asylantrag auf Zuerkennung internationalen Schutzes.
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Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am ... 2018 gab der Kläger an, in Mog... geboren und aufgewachsen zu sein. Nach der Scheidung seiner Eltern im Jahr 2010, habe seine Mutter mit seinen beiden Schwestern die Familie verlassen. Im Mai 2011 sei sein Vater getötet worden, weil Männer dessen Posten als Gärtner in einem S..-Kinderdorf gewollt hätten. Der Kläger habe dann bis 2017 bei Nachbarn gelebt. Diese hätten nach 5 Monaten gefordert, dass er als Schuhputzer arbeite und ihm entsprechendes Material gestellt. Er habe bei der Familie in einer Kammer schlafen dürfen, sonst sei er aber nicht unterstützt worden. Die Einnahmen des Schuhputzens hätten nur gereicht, um ihn zu ernähren. Weitere Verwandte im Heimatland habe er nicht. Für die Reise nach Europa habe er nichts zahlen müssen; den Lkw-Fahrern habe er für die Fahrt nach Bosasso angeboten, für diese zu arbeiten. Zu seinem Verfolgungsschicksal trug der Kläger im Wesentlichen vor, junge Männer aus dem Viertel hätten im April 2017 versucht, ihn für die Al Shabaab anzuwerben. Er habe nicht gewusst, was er antworten solle und sie auf den nächsten Tag vertröstet. Als er seiner Hausmutter davon erzählt habe, hätte diese gesagt, es handele sich um Verwandte und er solle es nicht so ernst nehmen, da alle von der Al Shabaab seien. Da er befürchtet habe, erschossen zu werden, sei er zunächst zum Viehmarkt und – nachdem er einige der Männer dort gesehen habe – in ein weiteres Viertel geflohen. Dann habe er sich entschlossen, Somalia zu verlassen. Der Kläger gab weiter an, an psychischen Problemen zu leiden, weshalb er Schlafmittel nehme. Hierzu reichte er ein Attest vom 2. November 2018 und einen Entlassungsbericht des Bezirksklinikums R. vom 30. Oktober 2018 nach. 3
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Mit Bescheid vom 21. August 2019, der Klagepartei zugestellt am 21. August 2019, lehnte das Bundesamt die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziff. 1) sowie auf subsidiären Schutz (Ziff. 2) ab und verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (Ziff. 3). Der Kläger wurde aufgefordert, innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, anderenfalls wurde ihm die Abschiebung zuvorderst nach Somalia angedroht (Ziff. 4). Das gesetzliche Einreiseverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 5). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Der Kläger hat durch seine Vormundin am 10. September 2019 Klage erhoben. In der mündlichen Verhandlung beantragte die Klagepartei zuletzt,
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festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.
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Zur Klagebegründung trug die Bevollmächtigte des Klägers mit Schreiben vom 4. November 2020 vor, dass das Betreuungsgericht München für den zwischenzeitlich volljährigen Kläger aufgrund einer psychiatrischen Erkrankung die gesetzliche Betreuung angeordnet habe. Der Kläger leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer mittelgradigen depressiven Episode mit Suizidversuchen. Seine intellektuelle Leistungsfähigkeit liege im Bereich leichter intellektueller Behinderung. Zudem sei seine psychosoziale Anpassung deutlich und schwer beeinträchtigt. Auf einem beigefügten vorläufigen Entlassungsbericht der KbO … vom 20. Dezember 2019 und ein Gutachten der Fachärztin Dr. … vom 28. April 2020 wurde Bezug genommen. Wie dem Gutachten zu entnehmen sei, sei zusammen mit der schweren PTBS und der sehr labilen Stimmungslage mit mehreren ernsthaften Suizidversuchen von einer Mehrfachbehinderung (geistig und seelisch) auszugehen. Der Kläger sei daher nach Auffassung der Fachärztin mit überwiegender Wahrscheinlichkeit noch über einen längeren Zeitraum nicht in der Lage, volle Verantwortung für sich selbst im Alltag zu übernehmen.
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Das Bundesamt hat mit Schriftsatz vom 4. Mai 2021 beantragt,
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Soweit die Klage (ursprünglich) auf Zuerkennung von Asyl gerichtet sei, fehle es bereits am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis, da der Asylantrag auf die Zuerkennung internationalen Schutzes beschränkt worden sei. Im Übrigen sei die Klage unbegründet. Insbesondere wurde ausgeführt, dass sämtliche vorgelegten ärztlichen Unterlagen zu alt und daher ungeeignet seien, den aktuellen Gesundheitszustand des Klägers wiederzugeben oder eine relevante Einschränkung der Erwerbsfähigkeit des Klägers begründen zu können. Im Übrigen seien die ärztlichen Unterlagen inhaltlich unzureichend, da sie nicht den gesetzlichen Anforderungen an qualifizierte ärztliche Bescheinigungen genügen würden. Dies wurde hinsichtlich des Attests vom 20. Dezember 2019 und dem Gutachten vom 28. April 2020 näher ausgeführt. Im Einzelfall des Klägers seien auch keine besonderen individuellen Umstände gegeben, die ausnahmsweise zum Vorliegen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz hinsichtlich Somalias führen würden. Der hinreichenden Arbeitsfähigkeit des Klägers würden die vorgelegten Dokumente nicht entgegenstehen.
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Mit Schriftsatz vom 13. Dezember 2022, bei Gericht eingegangen am Vorabend des Verhandlungstermins, trug die Betreuerin des Klägers vor, dass der Kläger nach wie vor schwer psychisch krank sei. In einem beigefügten Gutachten vom 31. Juli 2021 (gemeint: 22. Januar 2021) anlässlich einer Strafverhandlung im Jahre 2021 und einem beigefügten Gutachten nach § 53 XII SGB XII vom 28. April 2020 im Rahmen der damaligen Jugendhilfe würden die Lebens- und Fluchtumstände des Klägers detailliert aufgeführt. Aufgrund der Art und Weise der Erkrankungen und deren Nichtbehandlung seit 2020, lägen diese weiterhin vor, ohne dass es der Vorlage eines aktuellen Attests bedürfe. Der Kläger sei im Juni 2018 als unbegleiteter Minderjähriger nach Deutschland eingereist und habe seitdem in unterschiedlichen Wohnformen der Jugendhilfe gewohnt. Die Unterzeichnerin sei seit Mai 2020 als rechtliche Betreuerin des Klägers bestellt. Seit 1. Februar 2021 sei der Kläger auf seinen Wunsch nicht mehr an die Unterstützung der Jugendhilfe angebunden. Der Kläger sei mit der Bewältigung seines Alltags überfordert, beispielsweise habe er seiner Betreuerin telefonisch versichert, dass er sich am 13. Dezember 2022 beim KVR … ummelden werde und danach zu ihr ins Büro komme. Dies sei nicht geschehen. Auch seine Leistungen nach dem AsylbLG könne er nicht allein beantragen. Des Weiteren fange er immer wieder über Leiharbeitsfirmen mit einfachen Jobs an, ihm werde jedoch regelmäßig nach 3 bis 4 Tagen gekündigt, da er die einfachsten Handlungsabläufe nicht umsetzen könne. Er habe panische Angst vor Polizei und Gerichtsverhandlungen. Bei einer zwangsweisen Rückführung in seinem Heimatland sei daher mit höchster Wahrscheinlichkeit mit einer erheblichen Verschlechterung seines Gesundheitszustands zu rechnen.
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Zur der mündlichen Verhandlung am 15. Dezember 2022 erschien der Kläger nicht. Die in der Verhandlung anwesende Betreuerin und die Bevollmächtigte des Klägers erhielten Gelegenheit zur Vorlage weiterer ärztlicher Unterlagen. In der Folge legte die Betreuerin des Klägers ärztliche Unterlagen datierend aus dem Jahr 2020 vor.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die Behördenakte sowie auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung verwiesen.
Entscheidungsgründe
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I. Das Gericht konnte den Rechtsstreit trotz Ausbleibens der Beklagtenseite verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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II. Das Verfahren war einzustellen, soweit der Kläger mit der Klage ursprünglich auch seine Anerkennung als Asylberechtigter bzw. Flüchtling sowie die Zuerkennung subsidiären Schutzes erstrebt hat. Insoweit wurde die Klage in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen. Die Verfahrenseinstellung und Kostenentscheidung musste nicht gesondert durch Beschluss erfolgen. Vielmehr kann darüber gemeinsam im Urteil über den anhängig gebliebenen Streitgegenstand entschieden werden (vgl. BVerwG vom 6.2.1963 – V C 24/61 – juris).
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III. Die Klage ist im verbliebenen Umfang zulässig, aber unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, weil er zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf die begehrte Feststellung eines Abschiebungsverbots hat (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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1. Zunächst liegen die Voraussetzungen eines krankheitsbedingten Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vor.
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Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Regelung erfasst nur solche Gefahren, die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind, während Gefahren, die sich aus der Abschiebung als solcher ergeben, von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden. Ein zielstaatbezogenes Abschiebungshindernis kann gegeben sein, wenn die Gefahr besteht, dass sich eine vorhandene Erkrankung aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib und Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht. Dies kann etwa der Fall sein, wenn sich die Krankheit im Heimatstaat aufgrund unzureichender Behandlungsmöglichkeiten verschlimmert oder wenn der betroffene Ausländer die medizinische Versorgung aus sonstigen Umständen tatsächlich nicht erlangen kann (vgl. BVerwG, B.v. 17.8.2011 – 10 B 13/11 u.a. – juris; BayVGH, U.v. 3.7.2012 – 13a B 11.30064 – juris Rn. 34). Diese Rechtsprechung hat in § 60 Abs. 7 Satz 2 bis 4 AufenthG Niederschlag gefunden, wonach eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen nur vorliegt bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG). Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (§ 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG). Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten (§ 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG).
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Die in den Akten befindlichen bzw. im Klageverfahren vorgelegten ärztlichen Unterlagen datieren aus dem Zeitraum von Oktober 2018 bis Januar 2021, wobei auch das (aktuellste) forensisch-psychiatrische Gutachten vom 22. Januar 2021 auf einer Untersuchung des Klägers vom 26. November 2020 beruht – welche mithin etwa 2 Jahre zurückliegt. Aufgrund des zwischenzeitlich verstrichenen Zeitraums kann diesen Unterlagen kein aktueller Aussagewert beigemessen werden. Aktuellere Unterlagen zum gesundheitlichen Zustand des Klägers wurden nicht vorgelegt, ebenso ist der Kläger – wie bereits zu einem Termin vor dem Strafgericht – nicht persönlich erschienen, sodass sich das Gericht auch keinen persönlichen Eindruck von ihm machen konnte.
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Die Betreuerin des Klägers hat in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass sie damals mit dem Strafgericht verhandelt habe, dass dieses ein ärztliches Gutachten erstellen lasse; dieser Untersuchung habe sich der Kläger auch gestellt. In der Folge sei das Strafverfahren gegen Zahlung einer Geldauflage eingestellt worden. Die Betreuerin des Klägers erklärte auf entsprechende Fragen des Gerichts in der mündlichen Verhandlung weiter, dass der Kläger aktuell in einer normalen Gemeinschaftsunterkunft untergebracht sei und von Asylbewerberleistungen lebe. Er versuche immer wieder zu arbeiten, was aber bislang nicht auf Dauer geklappt habe. Es scheine so zu sein, dass der Kläger häufig nicht zur Arbeit komme oder es sonstige Unstimmigkeiten gebe. Das Nichterscheinen des Klägers zur Arbeit liege dabei nicht daran, dass dieser keine Lust zur Arbeit habe, sondern sei in Zusammenhang mit dessen krankheitsbedingter Überforderung zu sehen. Der Kontakt mit dem Kläger sei schwierig, da dieser nicht mehr an die Jugendhilfe angebunden sei und auch nicht proaktiv mit ihr kommuniziere. Ihr sei nicht bekannt, dass der Kläger aktuell eine Therapie verfolge oder Medikamente nehme; zudem seien ihr weder weitere Strafverfahren noch erneute Selbst- oder Fremdgefährdungen bekannt.
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Auch in einer Gesamtschau der medizinischen Unterlagen und unter Berücksichtigung des Vortrags der Klagepartei in der mündlichen Verhandlung kann damit gemessen an den obigen Ausführungen keine schwerwiegende bzw. lebensbedrohliche Erkrankung des Klägers i.S.v. § 60 Abs. 7 AsylG angenommen werden. Ebenso wenig drängt sich danach für das Gericht eine weitere Amtsermittlung zur Feststellung des aktuellen gesundheitlichen Zustands des nicht erschienen Klägers auf.
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Angemerkt sei zunächst, dass es im ureigensten Interesse des Klägers liegt, zur mündlichen Verhandlung der von ihm angestrengten Klage vor Gericht zu erscheinen, sodass sich das Gericht einen persönlichen Eindruck von dem Kläger verschaffen kann. Für die Person des Klägers gilt dabei nichts anderes als für andere Asylkläger, die teils ebenfalls psychische Probleme geltend machen und sich dennoch den Fragen des Gerichts in der mündlichen Verhandlung stellen. Die offenbar im Rahmen des Strafverfahrens praktizierte Vorgehensweise erscheint im Rahmen von Asylklageverfahren wie dem vorliegenden nicht praktikabel, weil es mangels sonstiger Beweismittel zur Überprüfung der Fluchtgeschichte in besonderem Maße auf die Glaubwürdigkeit des Klägers und damit auch dessen persönlichen Eindruck vor Gericht ankommt. Entsprechendes gilt für psychische Erkrankungen, welche aus der Vorgeschichte des Klägers resultieren sollen. Das forensisch-psychiatrische Gutachten vom 22. Januar 2021 benennt insoweit auf S. 34 erhebliche Widersprüche bei den Schilderungen des Klägers zu dessen Vorgeschichte, etwa betreffend die Todesumstände des Vaters (Variante 1: früher Tod des Vaters, an den sich der Kläger nicht mehr erinnern könne; Variante 2: Ermordung des Vaters im Mai 2011, wobei der Kläger dessen Leiche gefunden habe; Variante 3: Der Kläger habe die Ermordung des Vaters selbst miterlebt), die Schulbildung des Klägers (kein Schulbesuch/ Besuch einer Koranschule für einige Jahre) sowie die Unterkunft des Klägers nach dem Tod des Vaters (Verwandte/ Bekannte/ Nachbarn).
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Eine Intelligenzminderung des Klägers wird in dem Gutachten vom 22. Januar 2021 (S. 44) ausgeschlossen. Demnach liege die intellektuelle Ausstattung des Klägers basierend auf der klinischen Untersuchung vom 26. November 2020 zumindest im Normbereich. Weiter heißt es in dem Gutachten vom 22. Januar 2021 ausdrücklich, dass für eine in der Vergangenheit einmal festgestellte, leichte Intelligenzminderung keine klinischen Hinweise festzustellen gewesen seien, weder während der aktuellen Untersuchung noch während früherer stationärer psychiatrischer Behandlungen. Das Gutachten vom 28. April 2020, welches dem Kläger eine Mehrfachbehinderung (geistig und seelisch) attestierte und das wohl Basis für die Bestellung eines gesetzlichen Betreuers gewesen ist, darf damit jedenfalls insoweit als überholt gelten.
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Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass der Kläger im Zeitraum 2018 bis 2020 psychisch wiederholt auffällig geworden ist und sich deshalb teils auch in stationärer Behandlung befunden hat. Nach den Feststellungen des Berichts des I.-A.-Kl. vom 4. November 2020 und des Gutachtens vom 22. Januar 2021 zur fehlenden Behandlungsbereitschaft des Klägers wie auch den Angaben seiner Betreuerin in der mündlichen Verhandlung, verfolgt der Kläger jedoch zumindest seit Ende 2020 weder eine Therapie, noch nimmt er Medikamente, noch ist er offenbar sonst wegen gesundheitlicher Probleme in ärztlicher Behandlung. Dennoch kam es zwischenzeitlich offenbar nicht zu weiteren Selbst- oder Fremdgefährdungen. Vielmehr lebt der Kläger bereits seit einiger Zeit in einer (normalen) Gemeinschaftsunterkunft und ist – trotz etwaiger Probleme den Alltag zu meistern – auf seinen Wunsch hin nicht mehr an die Jugendhilfe angebunden; zu seiner Betreuerin besteht allenfalls sporadischer Kontakt. Hinreichende Anhaltspunkte für das (Fort-)Bestehen einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG, die sich durch die Abschiebung alsbald wesentlich verschlechtern würde, sind damit weder dargetan noch ersichtlich.
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2. Ferner liegen die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht vor.
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Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Einschlägig ist das Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Art. 3 EMRK, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle einer Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer dieser Schutznorm widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Der Prognosemaßstab entspricht dem der beachtlichen Wahrscheinlichkeit („real risk“). Art. 3 EMRK erfasst auch Gefahren, die nicht vom Staat oder staatsähnlichen Organisationen ausgehen. Aus der Menschenrechtskonvention leitet sich aber kein Recht auf Verbleib in einem Konventionsstaat ab, um dort weiter medizinische, soziale oder andere Hilfe und Unterstützung zu erhalten. Für eine Verletzung des Art. 3 EMRK reicht der Umstand, dass im Fall einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, allein nicht aus. Denn die EMRK zielt hauptsächlich darauf ab, bürgerliche und politische Rechte zu schützen (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 23; U.v. 20.5.2020 – 1 C 11/19 – juris Rn. 10). Schlechte sozio-ökonomische und humanitäre Bedingungen im Herkunftsland allein können nur in „äußersten Ausnahmefällen“ (EGMR, U.v. 10.9.2015 – Nr. 4601/14 [R.H./Schweden] – NVwZ 2016, 1785 ff., Rn. 60 a.E.) Art. 3 EMRK verletzen, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (BVerwG, U.v. 31.1.2013, a.a.O., Rn. 25; U.v. 20.5.2020, a.a.O., Rn. 10 a.E.). In Bezug auf Somalia geht der EGMR in nunmehr gefestigter Rechtsprechung – und in Abkehr zu seiner früheren Rechtsprechung – nicht (mehr) davon aus, dass die allgemeine Lage dort so ernst wäre, dass eine Abschiebung ohne Weiteres eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt (EGMR, U.v. 10.9.2015 – Nr. 4601/14 [R.H./Schweden] – NVwZ 2016, 1785; BayVGH, U.v. 12.7.2018 – 20 B 17.31292 – juris Rn. 32; VGH BaWü, U.v. 17.7.2019 – A 9 S 1566/18 – juris Rn. 33 ff. jew. m.w.N.). Demnach sind die vorhersehbaren Folgen der Rückführung nunmehr im Einzelfall zu beurteilen und zu prüfen, ob die Abschiebung ins Heimatland Art. 3 EMRK unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Betroffenen verletzen würde (vgl. EGMR, U.v. 10.9.2015, a.a.O. – Rn. 60 und 68 a.E.). Gerade im Falle Somalias ist dabei von besonderer Bedeutung, inwieweit Rückkehrer auf die Unterstützung von im Herkunftsland verbliebenen Familien- bzw. Clanmitgliedern zurückgreifen können (vgl. BayVGH, U.v. 12.7.2018 – 20 B 17.31292 – juris Rn. 34, VGH BaWü, U.v. 17.7.2019 – A 9 S 1566/18 – juris Rn. 30).
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Bezugspunkt für die Gefahrenprognose ist der tatsächliche Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr, in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird (BVerwG, U.v. 31.01.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn 13; U.v. 14.7.2009 – 10 C 9.08 – juris Rn. 17). Dies ist vorliegend Mog..., wo der Kläger nach seinen Angaben geboren ist und bis zu seiner Ausreise aus Somalia im Jahr 2017 gelebt hat.
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2.1 Die allgemeine Sicherheits- und Versorgungslage ist zumindest in Mog... nicht derart, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG anzunehmen wäre (vgl. ausführlich BayVGH, U.v. 12.7.2018 – 20 B 17.31292 – juris Rn. 31 ff; VGH BaWü, U.v. 17.7.2019 – A 9 S 1566/18 – juris, SächsOVG, U.v. 12.10.2022 – 5 A 78/19.A – juris). Dies gilt auch unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnismittel (vgl. insbesondere: Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia vom 28.6.2022 – im Folgenden: Lagebericht; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation – Somalia, Stand 27.7.2022 – im Folgenden: BFA-Länderinformation).
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2.1.1 Demnach stellt sich die Sicherheitslage in Somalia und insbesondere in Mog... wie folgt dar:
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Somalia gilt zwar nicht mehr als „failed state“, bleibt aber ein sehr fragiler Staat. Nach Schätzungen sind im somalischen Bürgerkrieg zwischen 2007 und 2011 über 20.000 Zivilisten zu Tode gekommen sind, davon der größte Teil in Süd- und Zentralsomalia. Nach wie vor herrscht in weiten Teilen Süd- und Zentralsomalias Bürgerkrieg. Die aktuelle Lage in Süd- und Zentralsomalia (außerhalb von Mog...) ist nach wie vor unübersichtlich und uneinheitlich – von einer wesentlichen und ausreichend dauerhaften Verbesserung der Sicherheitslage kann trotz einer gewissen Stabilisierung nicht ausgegangen werden. Es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. Relativ sichere Zufluchtsgebiete sind schwierig zu bestimmen und von Ausweichgrund sowie den persönlichen Umständen abhängig. Das Clansystem hat weiterhin eine hohe Bedeutung und auch in den von der Regierung kontrollierten Gebieten kommt es zu Diskriminierungen aufgrund der Clanzugehörigkeit. Rückkehrer sind auf Unterstützung durch Clanmitglieder bzw. Mitglieder der Kernfamilie angewiesen, andernfalls besteht die Gefahr, dass sie unter prekären Verhältnissen in Lagern für Binnenvertriebene unterkommen müssen. Die somalischen Sicherheitskräfte kämpfen mit Unterstützung der Mission der Afrikanischen Union in Somalia (AMISOM) weiterhin gegen die radikalislamistische Al Shabaab-Miliz. Die Gebiete sind teilweise unter der Kontrolle der Regierung, teilweise unter der Kontrolle der Al Shabaab oder anderer Milizen. Al Shabaab führt Angriffe auf Stellungen der AMISOM und der somalischen Armee sowie auf zivile Ziele durch. Zivilisten kommen im Kreuzfeuer, durch Sprengsätze oder Handgranaten ums Leben oder werden verwundet. Die Al Shabaab wurde zwar aus vielen Städten vertrieben, es ist aber nicht möglich zu definieren, wie weit der Einfluss oder die Kontrolle von AMISOM und somalischer Armee von einer Stadt hinausreicht. Der Übergang zum Gebiet der Miliz ist fließend und unübersichtlich. Im Umfeld (Vororte, Randbezirke) der meisten Städte unter Kontrolle von AMISOM und Regierung in Süd-/ Zentralsomalia verfügt Al Shabaab über eine verdeckte Präsenz, in den meisten Städten selbst über Schläfer. Manche Städte unter Kontrolle von AMISOM und Regierung können als „Inseln“ im Gebiet der Al Shabaab beschrieben werden. Jedenfalls verfügt Al Shabaab über ausreichend Kapazitäten, um auch in Städten unter Kontrolle von AMISOM und Regierung Anschläge zu verüben. Es gibt in allen Regionen in Süd-/ Zentralsomalia Gebiete, wo Al Shabaab Präsenz und Einfluss hat und die lokale Bevölkerung insbesondere zu Steuerzahlungen zwingt. Grundsätzlich finden in fast allen Regionen Somalias südlich von Puntland regelmäßig örtlich begrenzte Kampfhandlungen zwischen AMISOM bzw. somalischen Sicherheitskräften und Al Shabaab statt.
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Während die Hälfte der Hauptstadt Mog... noch vor zehn Jahren durch die Al Shabaab kontrolliert wurde, steht die Stadt heute unter Kontrolle von Regierung und AMISOM. Es gilt als höchst unwahrscheinlich, dass Al Shabaab die Kontrolle über Mog... zurückerlangt. In Mog... besteht kein Risiko, von Al Shabaab zwangsrekrutiert zu werden. Aus einigen Gegenden flüchten junge Männer sogar nach Mog..., um sich einer möglichen (Zwangs-)Rekrutierung zu entziehen. Generell hat sich die Lage für die Zivilbevölkerung in den vergangenen Jahren verbessert. Die Regierung unternimmt einiges, um die Sicherheit in der Stadt zu erhöhen. Al Shabaab kann weniger Material und Operateure nach Mog... schleusen. Allerdings werden Sicherheitsmaßnahmen nicht permanent aufrechterhalten; werden sie vernachlässigt, steigt auch die Zahl der Anschläge durch Al Shabaab. Die in Mog... gegebene Stärke der unterschiedlichen Sicherheitskräfte reicht weiterhin nicht aus, um eine flächendeckende Präsenz sicherzustellen. Zugleich bietet die Stadt für Al Shabaab aufgrund der dichten Präsenz von Behörden und internationalen Organisationen viele attraktive Ziele. Es kommt täglich zu Zwischenfällen in Zusammenhang mit der Miliz. Mog... bleibt ein Hotspot terroristischer Gewalt, wobei nicht alle Teile der Stadt gleich unsicher sind. Im Visier von Al Shabaab stehen v.a. Regierungseinrichtungen, Restaurants und Hotels, die von nationalen und internationalen Offiziellen frequentiert werden. Ausschließlich von der Durchschnittsbevölkerung frequentierte Orte sind dagegen kein Ziel von Al Shabaab. Die Miliz ist im gesamten Stadtgebiet verdeckt präsent, das Ausmaß ist aber sehr unterschiedlich. Al Shabaab kann weiterhin das Stadtgebiet infiltrieren und ist in der Lage, nahezu im gesamten Stadtgebiet auch größere Anschläge zu verüben und verdeckte Operationen durchzuführen bzw. Steuern und Abgaben einzuheben. Hauptziele von Al Shabaab sind die Regierung und die internationale Gemeinde. Dabei hat sich die Miliz in erster Linie auf die Durchführung von Sprengstoffanschlägen und gezielten Attentaten verlegt, wobei sie sowohl gegen harte (militärische) als auch weiche Ziele (z.B. Restaurants, Hotels und Märkte) vorgeht. Üblicherweise verfolgt Al Shabaab zielgerichtet jene Personen, derer sie hab-haft werden will. Unklar ist, für welche Ziele die Miliz bereit ist, ihre Kapazitäten tat-sächlich einzusetzen. Einem erhöhten Risiko sind v.a. solche Personen ausgesetzt, die in Verbindung mit der Regierung stehen oder von der Miliz als Unterstützer der Regierung wahrgenommen werden (zu den einzelnen Risikogruppen vgl. BFA-Länderinformation, S. 172 f.). „Normale“ Zivilisten greift Al Shabaab nicht spezifisch an. Für die Zivilbevölkerung besteht das größte Risiko darin, zur falschen Zeit am falschen Ort“ zu sein und so zum „Kollateralschaden“ von Sprengstoffanschlägen und anderer Gewalt zu werden. Die Menschen wissen dabei um die Gefahr bestimmter Örtlichkeiten und versuchen daher, diese zu meiden. Ungeachtet der Konflikte mit Al Shabaab ist jedoch auch die allgemeine Gewaltkriminalität in Mog... hoch. Insgesamt bleibt die Sicherheitslage in Mog... volatil. Infolge der wiederholt verschobenen Wahlen kam es zuletzt zu einer politischen Krise im Land, welche sich Al Shabaab zu Nutze gemacht und ihre Angriffe seit Anfang 2021 verstärkt hat. Die Regierungsarbeit wurde durch die verschobenen Wahlen gelähmt, teils kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Bundesregierung loyalen Kräften einerseits und oppositionellen Kräften andererseits (zum Ganzen vgl. BFA-Länderinformation, S. 5 ff., 42 ff. und 172 ff.).
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Eine quantitative Bewertung der Gefahrendichte erscheint mangels belastbarer aktueller Zahlen zu den Einwohnerzahlen einerseits und den Opferzahlen in Hinblick auf das Tötungs- und Verletzungsrisiko andererseits kaum verlässlich möglich (vgl. etwa auch VGH BaWü, U.v. 16.12.2021 – A 13 S 3196/19 – juris Rn. 48). Allgemein ist die Datenlage zu Zahlen ziviler Opfer weiterhin unklar und heterogen. Für Gesamtsomalia wird die Gefahrendichte im Rahmen einer Hochrechnung bei einer Gesamtbevölkerungszahl von rund 15,4 Mio. seitens des BFA zuletzt auf 1:19367 geschätzt (vgl. BFA-Länderinformation, S. 30). Speziell für Mog... ergibt sich bei einer geschätzten Einwohnerzahl von 1,65 Mio. Einwohnern (vgl. BFA-Länderinformation, S. 45) und Ansatz der im Jahr 2021 in der gesamten Region Benadir verzeichneten 535 Vorfälle mit insgesamt 549 Todesopfern (vgl. ACCORD – Somalia, Jahr 2021: Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project – ACLED, Stand 30.5.22, im Folgenden: ACCORD-Kurzübersichten, abrufbar unter www.ecoi.net) eine Gefahrendichte von 0,033%. Gegenüber den für das Jahr 2020 erfassten Zahlen (530 Vorfälle mit insgesamt 438 Todesopfern, vgl. ACCORD-Kurzübersicht, Stand 23.3.2021) ist die Anzahl der erfassten Vorfälle damit nahezu gleich geblieben, während die Zahl der Todesopfer im Jahr 2021 gestiegen ist. Für das erste Quartal 2022 wurden für die gesamte Region Benadir 150 Vorfälle mit insgesamt 142 Todesopfern erfasst (vgl. ACCORD-Kurzübersichten, Stand 30.5.2022). Für das zweite Quartal 2022 werden 198 Vorfälle mit 126 Todesopfern ausgewiesen (vgl. ACCORD-Kurzübersichten, Stand 21.11.2022). Nicht erfasst wird hierbei h die Anzahl der Verletzten, daneben differenziert ACLED nicht zwischen getöteten Zivilpersonen und getöteten Bewaffneten. Schließlich weist ACLED selbst darauf hin, dass ein Großteil der gesammelten Daten auf öffentlich zugänglichen Sekundärquellen basiert und die Daten daher das Ausmaß an Vorfällen untererfassen können. Es existiert also eine nicht genau abschätzbare Dunkelziffer, sodass die Zahlen insgesamt wenig belastbar erscheinen.
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Dessen ungeachtet stellt sich die Situation in Mog... bei wertender Gesamtbetrachtung nicht so dar, dass jede Zivilperson aufgrund ihrer bloßen Anwesenheit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen müsste, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden (vgl. dazu auch BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11/19; BayVGH, U.v. 12.7.2018 – 20 B 17.31292; U.v. 27.3.2018 – 20 B 17.31663; VGH Baden-Württemberg, U.v. 16.12.2021 – A 13 S 3196/19; U.v. 17.7.2019 – A 9 S 1566/18; VGH Hessen, U.v. 1.8.2019 – 4 A 2334/18.A, SächsOVG, U.v. 12.10.2022 – 5 A 78/19.A – jew. juris m.w.N). Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Gesamtzahl der zivilen Opfer zu einem nicht unerheblichen Teil Personen mit erhöhtem Gefährdungspotential betroffen haben dürfte. Bedingt durch die von Al Shabaab verfolgte Strategie der asymmetrischen Kriegsführung und der strategischen Auswahl der Anschlagsziele waren und sind bestimmte Berufsgruppen wie Regierungsmitarbeiter, Angehörige von AMISOM, Mitarbeiter internationaler Organisationen, Angehörige der Sicherheitskräfte bzw. generell mit der Regierung zusammenarbeitende Personen, Politiker, Deserteure mutmaßliche Spione und Kollaborateure in besonderer Weise betroffen. Auch wenn die Al Shabaab einige Menschen in Somalia als „legitime Ziele“ erachtet, gilt dies für die meisten Zivilisten nicht (vgl. hierzu etwa die Entschuldigung und Beileidsbekundung der Miliz gegenüber zivilen Opfern eines verheerenden Sprengstoffanschlags in Mog... Ende 2019, www. tageschau.de/ausland/anschlag-somalia-al-shabaab-101.html). Hierin sieht das Gericht einen ganz wesentlichen Aspekt (so auch: VGH BaWü, U.v. 16.12.2021 – A 13 S 3196/19 – juris Rn. 52). Zwar besteht für Zivilisten immer das Risiko, „zur falschen Zeit am falschen Ort“ zu sein, Opfer nimmt die Al Shabaab insoweit in Kauf. Einfache Zivilisten können ihr Risiko, zufällig Opfer eines Anschlags zu werden, zwar nicht vollständig ausschließen, zumindest aber minimieren, indem sie Gebiete oder Einrichtungen meiden, die von Al Shabaab bevorzugt angegriffen werden. Dazu gehören v.a. Hotels und Restaurants, in denen Angehörige der Streitkräfte, Mitglieder oder Mitarbeiter der Regierung oder Mitarbeiter internationaler Organisationen verkehren, Regierungseinrichtungen sowie Stellungen und Stützpunkte von Regierungskräften und AMISOM. Generell ist ein „normaler Zivilist“ (ohne Verbindung zur Regierung, zu Sicherheitskräften, zu Behörden, zu NGOs oder internationalen Organisationen) damit keinem Risiko im Sinne des Art. 3 EMRK ausgesetzt (vgl. zum Ganzen auch: BFA-Länderinformation, S. 172 ff. m.w.N.).
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Zusammengefasst ergibt sich bei wertender Gesamtbetrachtung damit, dass in Mog... weiterhin eine ausgesprochen fragile Sicherheitslage herrscht, wobei die Gefährdungssituation der Stadtteile differiert. Insbesondere der Umstand, dass Al Shabaab Angriffe nicht primär gegen die Zivilbevölkerung richtet, unterscheidet die Methoden der Miliz aber von jenen anderer Terrorgruppen. Auch unter Berücksichtigung aktueller Erkenntnismittel und Presseberichte ist das Niveau willkürlicher Gewalt nicht so hoch, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgesetzt wäre (vgl. BVerwG, U.v. 20.5.2020 – 1 C 11/19 – juris Rn. 23; BayVGH, U.v. 27.3.2018, a.a.O, juris Rn. 36; VGH Hessen U.v. 1.8.2019, a.a.O., juris Rn. 47; SächsOVG, U.v. 12.10.2022 – a.a.O.; EGMR, U.v. 10.9.2015 – Nr. 4601/14 [R.H./Schweden] – NVwZ 2016, 1785).
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Individuell gefahrerhöhende Umstände sind nicht ersichtlich. Solche ergeben sich insbesondere nicht aus der vorgetragenen Fluchtgeschichte, da diese bereits unglaubhaft ist (s.a Rn. 21 und 41). Ebenso stellt die Rückkehr des Klägers nach einem (längeren) Auslandsaufenthalt im Westen keinen gefahrerhöhenden Umstand dar (vgl. BayVGH, 10.7.2018 – 20 B 17.31595 – juris Rn. 29; VGH Hessen, U.v. 1.8.2019 – 4 A 2334/18.A – juris Rn. 49; OVG Niedersachsen, U.v. 5.12.2017 – 4 LB 50/16 – juris Rn. 51; VG Minden, U.v. 4.11.2020 – 1 K 2163/18.A – juris Rn. 142 ff.). Insgesamt ist das Risiko des Klägers, in Mog... Opfer bürgerkriegsbedingter Gewaltakte zu werden, daher nicht ungleich höher zu bewerten, als für die dort ansässige Zivilbevölkerung.
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2.1.2 Die humanitäre Lage in Süd-/ Zentralsomalia und insbesondere in Mog... stellt sich wie folgt dar:
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Somalia gehört weiterhin zu den ärmsten Ländern der Erde. Seit Jahren befindet sich das Land in einer anhaltenden humanitären Krise, die Grundversorgung der Bevölkerung ist in weiten Landesteilen nicht gewährleistet. Seit dem Frühjahr 2020 sieht sich Somalia einer dreifachen Bedrohung („Triple Threat“) aus Wüstenheuschrecken, Naturkatastrophen sowie den Folgen der Covid-19-Pandemie ausgesetzt (vgl. im Einzelnen: Lagebericht, S. 23; BFA-Länderinformation, S. 204 ff.). Die Betroffenheit der Gebiete und Bevölkerungsgruppen ist nach der Erkenntnislage allerdings durchaus unterschiedlich (vgl. die regelmäßig aktualisierten Übersichten und Berichte der FSNAU, jew. abrufbar unter https://reliefweb.int/country/som sowie BFA-Länderinformation, S. 207 f). Wenngleich zuverlässige Daten kaum zu erhalten sind, stellt sich die wirtschaftliche und humanitäre Situation in Mog... dabei weiterhin günstiger dar, als in anderen Regionen Somalias.
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Gegenüber den Folgen der Covid 19-Pandemie hat sich die somalische Wirtschaft als unerwartet widerstandsfähig erwiesen, sodass zuletzt keine erheblichen negativen Auswirkungen mehr berichtet wurden. Seit Ende 2020 ist es jedoch aufeinanderfolgend zu unterdurchschnittlichen Niederschlagsperioden gekommen. Dies hat in größeren Landesteilen zu Ernteausfällen, dem Tod von Nutztieren und verringerten Einkommen in der Landwirtschaft geführt. Die Dürre und zuletzt die Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine haben Nahrungsmittel knapp und teuer werden lassen, was die Ernährungsunsicherheit vor allem für Binnenvertriebene in Mog... und die Bevölkerung bestimmter ländlicher Gebiete Somalias verschärft. Diese Lage hat sich zuletzt weiter zugespitzt. Somalia steht vor einer der schlimmsten Dürren der vergangenen Jahrzehnte, während die Bewältigungsstrategien der Menschen in den vorangehenden Jahren durch Nahrungsmittelengpässe, Klimaschocks, Krankheiten, Heuschrecken und die Covid-19-Pandemie weitgehend erodiert sind. Mindestens 7,7 Mio. Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen bzw. von schwerem Hunger oder einer Hungersnot bedroht. Zwar wird über verschiedene Hilfsorganisationen humanitäre Hilfe geleistet, Sicherheitsprobleme stellen jedoch ein Hindernis bei der Versorgung von Menschen dar. In den Gebieten unter Kontrolle der Al Shabaab ist der Zugang zu humanitärer Hilfe eingeschränkt (vgl. zum Ganzen: BFA-Länderinformation, S. 204 ff.). Auch die UN warnte Anfang September 2022, dass Somalia am Rande einer Hungersnot stehe und die humanitäre Hilfe erheblich aufgestockt werden müsse; besonders betroffen seien die Distrikte Baidoa und Burhaba in Süd-/Zentralsomalia.
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Für Juni 2022 wurde die landesweite Versorgungslage in Erhebungen der FSNAU überwiegend mit der IPC-Kategorie 4 („Emergency“) bewertet, die Situation in Mog... stellte sich demgegenüber besser dar (IPC 3- „crisis“). An der Bewertung für Mog... änderte sich auch in den Vorhersagen bis Januar 2023 nichts (vgl. FSNAU, Somalia Food Security Outlook, June 2022 to January 2023, S. 18). In einer Update-Veröffentlichung (vgl. FSNAU, Nutrition Update, Stand Oktober 2022) werden die einzelnen Regionen und Bevölkerungsgruppen differenziert ausgewiesen. Für die städtische Bevölkerung in Mog.../ Banadir ergeben sich danach Werte im Bereich „serious“ (IPC 3), während sich die Lage der Binnenflüchtlinge in und um Mog... deutlich schlechter darstellt (Werte im Bereich IPC 4 und teils auch IPC 5).
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Insgesamt stellt sich die humanitäre Situation in Somalia damit zweifellos als prekär und äußerst besorgniserregend dar. Zumindest für nicht vulnerable Gruppen kann jedoch insbesondere im städtischen Raum, wo humanitäre Hilfe grundsätzlich erreichbar ist, derzeit nicht ohne Weiteres angenommen werden, dass diese bei einer Rückkehr ins Heimatland stets einer Art. 3 EMRK widersprechenden Situation ausgesetzt wären; maßgeblich sind vielmehr insbesondere die jeweiligen familiären und wirtschaftlichen Verhältnisse.
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2.1.3 Dies zugrunde gelegt konnte das Gericht nicht die Überzeugung gewinnen, dass die humanitären Bedingungen in Somalia und insbesondere Mog... für den Kläger unter Berücksichtigung seiner persönlichen Lebensumstände derart widrig sind, dass eine Rückführung eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellt.
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Der Kläger zählt weder zu einer gesundheitlich noch wirtschaftlich besonders vul-nerablen Personengruppe. Er ist jung, gesund und arbeitsfähig; auch den vorgelegten (veralteten) ärztlichen Unterlagen lässt sich insoweit keine Arbeitsunfähigkeit des Klägers entnehmen. Angesichts der unglaubhaften Angaben des Klägers zu seiner Vorgeschichte, geht das Gericht zudem nicht davon aus, dass dieser bei einer Rückkehr nach Mog... auf sich allein gestellt wäre. Insbesondere lassen bereits die aktenkundigen Angaben des Klägers darauf schließen, dass der Kläger versuchte, über seine familiäre und wirtschaftliche Situation im Heimatland zu täuschen. Neben den widersprüchlichen Angaben zur Vorgeschichte des Kläger (s. Rn. 21) erscheint es schlicht nicht nachvollziehbar, dass sich der damals ca. 15-jährige Kläger aufgrund einer bloßen erstmaligen Ansprache durch junge Al ShabaabMitglieder ohne jegliche finanzielle Mittel und Unterstützung zur Flucht nach Europa entschlossen haben will. Sein Vortrag, wonach er für die gesamte Reise bis nach Europa nichts habe zahlen müssen, entspricht nicht den aus anderen Verfahren mit ähnlichem Reiseweg in der gleichen Zeit gerichtsbekannten Schleusungskosten von in der Regel mehr als 5.000,- USD; der Umstand, dass der Kläger für die Fahrt bis Bosasso Arbeitsleistungen angeboten haben will, fällt schon deshalb kaum ins Gewicht, weil dies nur einen völlig untergeordneten Teil der Reise betrifft. Mangels Erscheinens des Klägers zur mündlichen Verhandlung war dem Gericht eine weitere Aufklärung der familiären und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers einschließlich der Fluchtfinanzierung nicht möglich. Dies geht zu Lasten des Klägers. Schließlich könnte der Kläger in der ersten Zeit in Mog... auch auf Übergangshilfen zurückgreifen (vgl. zur Berücksichtigung von Rückkehrhilfen grundlegend: BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10/21 – juris; ausführlich zur Situation von Rückkehrern nach Somalia: ThürOVG, U.v. 12.10.2022 – 5 A 78/19.A – juris Rn. 54 f.).
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3. Nach alledem ist die vom Bundesamt nach Maßgabe des § 34 AsylG i.V. m. § 59 AufenthG erlassene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung rechtmäßig. Die Ausreisefrist von 30 Tagen ergibt sich aus § 38 Abs. 1 AsylG.
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4. Ebenso ist das auf 30 Monate begrenzte Einreise- und Aufenthaltsverbot nicht zu beanstanden. Der Umstand, dass das Bundesamt nach § 11 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 AufenthG in der bis zum 20. August 2019 geltenden Fassung das Einreise- und Aufenthaltsverbot nur befristet und nicht auch angeordnet hat, obwohl § 11 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 3 AufenthG in der seit dem 21. August 2019 geltenden und hier nach § 77 Abs. 1 AsylG zu Grunde zu legenden Fassung den Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots und dessen Befristung fordert, lässt die Rechtmäßigkeit dieser Regelung unberührt. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist eine auf Grund der bis zum 20. August 2019 geltenden Rechtslage ausgesprochene Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots unionsrechtskonform als Anordnung eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots auszulegen (vgl. BVerwG, U.v. 25. Juli 2017 – 1 C 13/17 – juris Rn. 23). Die vorgenommene Befristung auf 30 Monate begegnet keinen Bedenken. Das Bundesamt hat das ihm insoweit zustehende Ermessen (§ 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG) fehlerfrei (§ 114 Satz 1 VwGO) ausgeübt. Schutzwürdige Belange des Klägers, die bei der Bemessung der Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots zu berücksichtigen wären, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
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IV. Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.