Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 18.11.2022 – Au 9 K 22.30989
Titel:

keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Irak) 

Normenketten:
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsatz:
Eine Gruppenverfolgung von Jesiden durch den irakischen Staat oder den sog. IS ist gegenwärtig und in absehbarer Zukunft nicht beachtlich wahrscheinlich. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Irak, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (verneint), jesidischer Volks- und Glaubensangehöriger, keine Gruppenverfolgung jesidischer Volks- und Glaubensangehöriger, subsidiärer Schutz (verneint), Abschiebungsverbote (verneint), Rückkehr für volljährigen erwerbsfähigen Mann zumutbar, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz, Jesiden, Abschiebungsverbot
Fundstelle:
BeckRS 2022, 46967

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die Gewährung subsidiären Schutzes bzw. hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten in den Irak bzw. einen anderen aufnahmebereiten Staat.
2
Der am … in … (Irak) geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger mit jesidischer Volks- und Religionszugehörigkeit.
3
Seinen Angaben zufolge reiste der Kläger am 19.August 2021 erstmalig auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er unter dem 14. Oktober 2021 Asylantrag stellte. Eine Beschränkung des Asylantrags gemäß § 13 Abs. 2 Asylgesetz (AsylG) auf die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) erfolgte im Verfahren nicht.
4
Die persönliche Anhörung des Klägers beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) erfolgte am 10. August 2022. Zur Begründung seines Asylantrages trug der Kläger hierbei vor, er sei mit seinen Eltern und seiner Schwester ausgereist. Er habe mit den irakischen Behörden oder der Polizei keine Probleme. Er sei weder politisch aktiv, noch sei er Mitglied einer staatlichen bzw. nichtstaatlichen oder einer sonstigen politischen Organisation im Irak gewesen. Er habe mit seiner Familie versucht, ein menschenwürdiges Leben im Irak zu führen. Dies sei für Jesiden nicht möglich. Ihnen sei es finanziell sehr schlecht gegangen. Er habe auch nicht die Schule besuchen können. Für Jesiden gebe es keine Sicherheit im Irak. Jesiden würden in ständiger Gefahr leben. Die Situation sei für ihn und seine Familie unsicher gewesen. Die Jesiden seien von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) überfallen und ermordet worden. Persönlich sei er weder verfolgt noch bedroht worden. Er sei im Irak keinem persönlichen Übergriff ausgesetzt gewesen. Die allgemeine Situation im Irak sei der Grund für seine Ausreise. Es habe keine Arbeit oder Schule gegeben. Er sei mit seiner Familie aus Armut und wegen fehlender Sicherheit im Lande geflohen. Grund für die Ausreise sei die Perspektivlosigkeit im Irak. Er habe im Irak stets arbeiten müssen, da die Familie sehr arm gewesen sei. Er habe bei der Tomatenernte ausgeholfen. Er habe die geernteten Tomaten auf der Straße verkauft. So habe er etwa drei Jahre lang gearbeitet. Des Lesens und Schreibens sei er nur geringfügig mächtig.
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Für den weiteren Vortrag des Klägers wird auf die über die persönliche Anhörung gefertigte Niederschrift des Bundesamts verwiesen.
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Mit Bescheid des Bundesamts vom 19. September 2022 (Gz.: …) wurden die Anträge des Klägers auf Asylanerkennung bzw. auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt (Nrn. 1 und 2 des Bescheids). In Nr. 3 des Bescheids wird dem Kläger der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) liegen nicht vor (Nr. 4). In Nr. 5 wird der Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde dem Kläger die Abschiebung in den Irak bzw. einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht. Nr. 6 des Bescheids ordnet das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristet es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
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Auf die Gründe des Bescheids des Bundesamts vom 19. September 2022 wird verwiesen.
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Der vorbezeichnete Bescheid wurde dem Kläger mit Postzustellungsurkunde am 24. September 2022 bekanntgegeben.
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Der Kläger hat gegen den vorbezeichneten Bescheid mit Schriftsatz vom 29. September 2022 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben und beantragt,
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1. Die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass der Kläger die Voraussetzungen des subsidiären Schutzstatus erfüllt, hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen, hilfsweise das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben bzw. kürzer zu befristen.
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2. Den angefochtenen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 14. September 2022, Gz.: … aufzuheben, soweit er der o.g. Verpflichtung entgegensteht.
12
Zur Begründung der Klage ist mit Schriftsatz vom 20. Oktober 2022 ausgeführt, dass die Beklagte fälschlicherweise davon ausgehe, dass der IS seit 2017 im Irak zurückgedrängt worden sei und eine Verfolgung bzw. die Fortsetzung des ausgeübten Genozides unwahrscheinlich erscheint. Die jahrelange Stigmatisierung der Jesiden durch extremistische Strömungen sei im Irak so weit fortgeschritten, dass sich diese nunmehr in der irakischen Gesellschaft verfestigt haben und die Remigration geflüchteter Jesiden stark behindere bzw. eine Re-Traumatisierung ehemals Verfolgter zu befürchten sei. Tatsächlich sei die Lage um die Terrororganisation IS ernster als die Beklagte dies zu argumentieren versuche. Der IS stelle weiterhin eine erhebliche Bedrohung für die Menschen im Irak dar. Die Terrororganisation agiere aus dem Untergrund und sei nach wie vor in der Lage, im Irak und Syrien auch komplexere Anschläge zu verüben. Alle Angehörigen des Klägers, mit Ausnahme einer verheirateten Tochter, lebten in Deutschland. Die Großeltern seien mittlerweile verstorben. Die Wohnung des Klägers und dessen Familie im Irak sei verkauft worden, um die Schleusung nach Europa zu finanzieren. Auch sonst verfüge die Familie über keinerlei Eigentum mehr im Irak.
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Auf den weiteren Vortrag im Klagebegründungsschriftsatz vom 20. Oktober 2022 wird ergänzend verwiesen.
14
Das Bundesamt ist für die Beklagte der Klage mit Schriftsatz vom 10. Oktober 2022 entgegengetreten und beantragt,
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die Klage abzuweisen.
16
Zur Begründung wurde auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.
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Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 21. Oktober 2022 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
18
Am 17. November 2022 fand die mündliche Verhandlung statt. Für den Hergang der Sitzung, in der der Kläger informatorisch angehört wurde, wird auf das hierüber gefertigte Protokoll verwiesen.
19
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die von der Beklagten vorgelegte Verfahrensakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage des Klägers verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 17. November 2022 teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten ausweislich der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Die Beklagte ist zur mündlichen Verhandlung vom 17. November 2022 form- und fristgerecht geladen worden.
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Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Der mit der Klage angegriffene Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 19. September 2022 (Gz.: …) ist rechtmäßig und nicht geeignet, den Kläger in seinen Rechten zu verletzen. Der Kläger besitzt keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG), auf Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) bzw. auf Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zur Begründung wird auf die umfassenden und zutreffenden Gründe des Bescheids des Bundesamts Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt.
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1. Der Kläger besitzt keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §§ 3 ff. AsylG.
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Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
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Die Tatsache, dass der Ausländer bereits verfolgt oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war, ist dabei ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, wenn nicht stichhaltige Gründe dagegensprechen, dass er neuerlich von derartiger Verfolgung bedroht ist. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dabei ist es Sache des Ausländers, die Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei genügt für diesen Tatsachenvortrag auf Grund der typischerweise schwierigen Beweislage in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
25
Wer bereits Verfolgung erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei der Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (kausal-) Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus (vgl. BVerfG, B.v. 12.2.2008 – 2 BvR 2141/06 – juris Rn. 20; VG Köln, U.v. 26.2.2014 – 23 K 5187/11.A – juris Rn. 26).
26
In Anwendung dieser rechtlichen Vorgaben ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen. Der Kläger ist kein Flüchtling i.S.v. § 3 Asyl.
27
Eine begründete Furcht des Klägers vor Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zur jesidischen Religion kann das erkennende Gericht nicht feststellen.
28
Dem Kläger ist zunächst nicht in Folge der allgemeinen Lage für Jesiden die Flüchtlingseigenschaft einzuräumen (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Die Auswertung der aktuellen Erkenntnismittel bestätigt die der aktuellen obergerichtlichen Rechtsprechung zugrundeliegende Einschätzung der gegenwärtigen Lage im Irak. Auf Grundlage dieses Lagebilds besteht gegenwärtig keine Gruppenverfolgung von Jesiden. Auch eine individuelle Verfolgung des Klägers liegt nicht vor bzw. ist bereits nicht vorgetragen.
29
Der Einzelrichter geht in Einklang mit der obergerichtlichen Rechtsprechung davon aus, dass eine Verfolgung der Gruppe der Jesiden im Irak nicht erfolgt (vgl. zu den Anforderungen der Annahme einer Gruppenverfolgung VGH BW, U.v. 5.3.2020 – A 10 S 1272/17 – juris Rn. 23 ff.).
30
Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hat in seinen Urteilen vom 10.05.2021 (9 A 570.20.A und 9 A 1489/20.A, beide juris) im Einzelnen dargelegt, warum eine Gruppenverfolgung von Jesiden durch den irakischen Staat nicht anzunehmen ist (vgl. auch NdsOVG, B. v. 11.3.2021 – 9 LB 129/19 – sowie U. v. 22.10.2019 – 9 LB 130/19 –, vom 24.9.2019 – 9 LB 136/19 –, vom 7.8.2019 – 9 LB 154/19 – und vom 30.7.2019 – 9 LB 133/17 –; OVG Saarland, B. v. 8.11.2021 – 2 A 255/21 –; VGH BW, U. v. 7.12.2021 – A 10 S 2189/21 –; jeweils juris). Es hat dabei insbesondere auf die verfassungsrechtliche Gleichberechtigung der Jesiden sowie Bestrebungen des irakischen Staates verwiesen, die (insbesondere als Nachwirkung der Verfolgung durch den sog. IS) in vielfacher Hinsicht sehr schwierige Lage der großen Mehrheit der Jesiden im Irak, vor allem in der Herkunftsregion des Klägers, zu verbessern (vgl. OVG NW, U. v. 10.5.2021 a. a. O. Rn. 50 ff.). Die von dem erkennenden Einzelrichter im vorliegenden Verfahren ausgewerteten Erkenntnismittel bestätigen diese Einschätzung. Insbesondere hat der irakische Staat am 1.3.2021 ein Gesetz verabschiedet, das die Gräueltaten des sog. IS an der Minderheit der Jesiden als Völkermord anerkennt und ihnen Schutz zuspricht. Überlebende von „IS“-Angriffen werden außerdem bei der Einstellung von 2% aller Stellen im öffentlichen Sektor bevorzugt. Im Mai 2021 hat der Ministerrat zudem eine Generaldirektion für die Angelegenheiten der jesidischen Überlebenden eingerichtet, die dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales untersteht, und der Ministerrat ernannte eine jesidische Juristin zur Generaldirektorin (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Irak, 15.10.2021, S. 103 ff.). Zuletzt hat das irakische Parlament im September 2021 weitere Regelungen zugunsten jesidischer Überlebender der Gewalttaten des sog. IS erlassen, die von Menschenrechtsorganisationen als wesentlichen Schritt hin zur Leistung von Reparationen angesehen werden (vgl. Amnesty International, Bericht vom 02.11.2021, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/latest/news/2021/11/iraq-yezidi-reparations-lawprogresswelcome-but-more-must-be-done-to-assist-survivors/). Auch in der Kurdischen Region im Irak (RKI) ist das Jesidentum als Religionsgemeinschaft anerkannt. Das Ministerium für Stiftungen und religiöse Angelegenheiten (MERA) der Kurdischen Regionalregierung (KRG) bezahlt zudem die Gehälter der Geistlichen der jesidischen Gemeinschaft und kommt für die Instandhaltung ihrer religiösen Stätten auf (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl a. a. O.).
31
Auch eine Gruppenverfolgung von Jesiden im Irak durch den sog. IS ist gegenwärtig und in absehbarer Zukunft nicht zu verzeichnen.
32
Der sog. IS hat in der Jahren 2014 bis 2017 in Teilen des irakischen Staatsgebiets die Gebietshoheit ausgeübt und in den von ihm beherrschten Gebieten Jesiden aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit systematisch in einer Art und Weise verfolgt, die u. a. vom UN-Menschenrechtsrat (und im März 2021 auch durch den irakischen Staat) als Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen qualifiziert wurden. Seitdem es im Dezember 2017 landesweit gelungen ist, dem sog. IS die Gebietshoheit wieder zu entziehen, fehlen diesem die militärischen Fähigkeiten zu einer Fortsetzung der genannten Gruppenverfolgung. Seitdem agiert der sog. IS aus dem Untergrund und versucht, vor allem durch gezielte Terroranschläge regional oder lokal Einflusssphären zu erhalten oder wiederzugewinnen („asymmetrische Kriegsführung“, vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 25.10.2021, S. 16), wobei der Erfolg dieser Bemühungen abhängig von den jeweiligen örtlichen Verhältnissen sehr unterschiedlich und hochvolatil ist. Insbesondere in Landesteilen, in denen das Gewaltmonopol des irakischen Staats in Konkurrenz mit anderen Akteuren, sei es mit örtlichen Milizen oder auch der RKI, tritt, besteht teilweise ein örtliches oder in sehr dünn besiedelten Bereichen auch regionales Sicherheitsvakuum, das Aktivitäten des sog. IS Raum gibt (vgl. hierzu auch die Karte in Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Irak, 15.10.2021, S. 20).
33
Auch eine Gruppenverfolgung von Jesiden durch andere nicht-staatliche Akteure wie insbesondere durch die zahlreichen im Irak aktiven Milizen besteht nicht (vgl. im Einzelnen OVG NW, U. v. 10.5.2021 a. a. O. Rn. 202-220). Insbesondere in den Diensten der kurdischen Peschmerga finden sich außerdem in größerer Zahl auch Jesiden (vgl. VGH BW, U. v. 7.12.2021 – A 10 S 2189/21 –, Rn. 27, juris).
34
Auch eine individuelle Verfolgung des Klägers lässt sich nicht feststellen. Die vom Kläger sowohl gegenüber dem Bundesamt bei seiner persönlichen Anhörung als auch in der mündlichen Verhandlung vom 17. November 2022 glaubhaft dargestellten Alltagsdiskriminierungen für jesidische Volks- und Glaubensangehörige erreichen nicht die für die Gewährung von Flüchtlingsschutz erforderliche Schwelle. Im Übrigen fehlt es an einer individuell gegen den Kläger gerichteten Verfolgung aus Gründen des § 3d AsylG.
35
2. Der Kläger hat aber auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung eines subsidiären Schutzstatus i.S.v. § 4 AsylG. Ein solcher kommt insbesondere nicht im Hinblick auf die schlechte humanitäre Lage des Klägers bei einer Rückkehr in seine Herkunftsregion in Betracht. Insoweit fehlt es jedenfalls an einer Zurechnung der den Kläger drohenden Gefahren zu einem Verfolgungsakteur i.S.v. § 4 Abs. 3 Satz 1 i.S.v. 3c AsylG.
36
Für eine mögliche Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte und hat der Kläger auch nichts dargetan (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
37
Des Weiteren begründet die allgemeine humanitäre Situation im Irak nicht die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Es fehlt vorliegend bereits an dem erforderlichen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur, von dem insoweit eine zielgerichtete unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ausgehen müsste. Für die Zuerkennung subsidiären Schutzes infolge einer allgemein schlechten humanitären Lage bedarf es einer direkten oder indirekten Aktion eines staatlichen oder nichtstaatlichen Akteurs i.S.d. § 3c i.V.m. § 4 Abs. 3 AsylG – die ein auf die bewirkten Effekte gerichtetes Handeln oder gar Absicht jenseits nicht intendierter Nebenfolgen erfordert –, auf deren Basis der (nicht-)staatliche Akteur die unmenschliche Lebenssituation im Sinne einer Zurechenbarkeit zu verantworten hat (vgl. BVerwG, U. v. 20.5.2020 – 1 C 11.19 – juris, Rn. 13 m.w.N.). Die im Irak vorherrschende insgesamt schwierige humanitäre Lage wird durch die langanhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen, die Sicherheitslage, die fragliche Staatlichkeit, die innerstaatlichen Territorialkonflikte, die fortbestehenden konfessionellen bzw. ethnischen Auseinandersetzungen, die weiterhin unbefriedigende wirtschaftliche Entwicklung und die herrschenden Umweltbedingungen beeinflusst und bestimmt. Es ist aber nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden staatlichen oder nichtstaatlichen Akteure im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung ein solcher Beitrag hieran anzulasten wäre, der nach den dargestellten Maßstäben zur Zurechenbarkeit im Rahmen der Gewährung subsidiären Schutzes führte. Es liegt fern, dass die die humanitäre Situation bestimmenden Umstände von einem solchen Akteur gezielt herbeigeführt worden wären bzw. aufrechterhalten würden.
38
Es ist ferner auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger eine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG). Dabei kann die Qualifizierung der fortbestehenden Auseinandersetzungen im Irak als ein solcher Konflikt dahinstehen, da jedenfalls keine beachtliche Schadenswahrscheinlichkeit für die Kläger besteht. Gefahrerhöhende Umstände sind für den Kläger nicht ersichtlich. Das quantifizierbare Risiko, allein durch die Anwesenheit im Nordirak Opfer eines Konflikts zu werden, ist daher so gering, dass nicht von einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgegangen werden kann. Auch eine wertende Gesamtbetrachtung der aktuellen Situation unter umfassender Berücksichtigung der weiteren, die Situation des Iraks bzw. der betroffenen Region kennzeichnenden Umstände, rechtfertigt keine abweichende Einschätzung im Vergleich zu dieser quantitativen Ermittlung des Tötungs- oder Verletzungsrisikos (vgl. zu diesen Kriterien EuGH, U.v. 10.6.2021 – C-901/19 – juris, Rn. 43.).
39
3. Abschiebungsverbote bestehen ebenfalls nicht.
40
Gründe für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG sind nicht erkennbar. Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) – EMRK – ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Eine Verletzung des Art. 3 EMRK kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei „nichtstaatlichen“ Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein „verfolgungsmächtiger Akteur“ (§ 3c AsylG) fehlt, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Situation und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung sind (BVerwG, U. v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris, Rn. 12). Das für Art. 3 EMRK erforderliche „Mindestmaß an Schwere“ (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris, Rn. 13) kann erreicht sein, wenn die Personen ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen (vgl. BVerwG, B. v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris, Rn.11). In seiner jüngeren Rechtsprechung stellt der Gerichtshof der Europäischen Union darauf ab, ob sich die betroffene Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, „die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“ (EuGH, U. v. 19.3.2019 – C-297/17 – juris, Rn. 90). Im Ergebnis kommt es auf eine Würdigung aller konkreten Umstände des Einzelfalls an (EGMR, U. v. 5.11.2019 – 32218/17-, NVwZ 2020, 538 Rn. 40; BVerwG, B. v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris, Rn. 11), wobei neben der Bewertung der tatsächlichen Lage in der Heimatregion des Rückkehrers zahlreiche weitere Faktoren zu berücksichtigen sind, etwa dessen Alter, Geschlecht, Bildungsstand, Gesundheitszustand, Familienanschluss und mögliche beziehungsweise zu erwartende Unterstützungsleistungen.
41
Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger in extreme materielle Not geraten könnte. Die Versorgungslage im Irak ist grundsätzlich angespannt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 25.10.2021, S. 24). Die Erkenntnismittel beschreiben einen deutlichen Hilfsbedarf, aber keine flächendeckende Extremsituation in dem Sinne, dass die Menschen ihre elementarsten Bedürfnisse nicht mehr befriedigen könnten. Dies gilt bereits unabhängig von dem Lebensmittelsubventionsprogramm des irakischen Staates für Familien mit geringem Einkommen und den internationalen Unterstützungsleistungen an Rückkehrer (vgl. hierzu VG Berlin, U. v. 13.1.2022 – 29 K 120.17 A –, UA S. 10 f.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 25.10.2021, S. 25). Obwohl die Sicherheitslage im Irak prekär ist, liegt keine allgemeine Situation einer solchen extremen allgemeinen Gewalt vor, die es rechtfertigt, Rückkehrern generell Abschiebungsschutz gem. § 60 Abs. 5 AufenthG i.S.v. Art. 3 EMRK zu gewähren (vgl. NdsOVG, U.v. 24.9.2019 – 9 LB 136/19 – juris Rn. 128 ff).
42
Dem Kläger ist es als volljährigem, erwerbsfähigem und gesundem Mann durchaus zumutbar, in sein Heimatland zurückzukehren. Dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Kläger sich auch im Irak bereits beruflichen im Bereich von Hilfstätigkeiten betätigt hat und er insoweit Alleinverdiener der übrigen Familie war. Darüber hinaus ist der Kläger auf die Inanspruchnahme staatlicher Rückkehrhilfen zu verweisen. Damit liegt ein außergewöhnlicher Fall, in dem die humanitären Gründe gegen eine Abschiebung „zwingend“ sind, nicht vor. Der Kläger dürfte aufgrund seiner persönlichen Situation in der Lage sein, seine elementaren Bedürfnisse trotz der im Allgemeinen schwierigen Bedingungen sicherstellen zu können.
43
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist ebenso nicht feststellbar.
44
Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Dieser Vorschrift setzt eine individuelle und konkrete zielstaatsbezogene Gefahr voraus (BVerwG, U.v. 25.11.1997 – 9 C 58.96 – juris Rn. 3 ff.). Die befürchtete Verschlechterung muss zu einer erheblichen Gesundheitsgefahr führen, also eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besondere Intensität erwarten lassen (vgl. BVerwG, B.v. 24.5.2006 – 1 B 118.05 – juris Rn. 4). Solange diese Grenzen nicht überschritten sind, ist es wiederum unerheblich, sofern die medizinische Versorgung im Zielstaat nicht mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG).
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Anhand dieser Maßstäbe lässt sich aus dem klägerischen Vortrag nicht auf ein Abschiebungsverbot schließen. Der Kläger hat im Verfahren keinerlei gesundheitliche Einschränkungen geltend gemacht. Er hat sich selbst als gesund und erwerbsfähig bezeichnet.
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Damit liegen im Ergebnis keine Gründe vor, welche die hilfsweise beantragte Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Irak rechtfertigen.
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4. Die Ausreiseaufforderung und die gleichzeitig erfolgte Abschiebungsandrohung gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG, § 38 Abs. 1 AsylG begegnen keinen rechtlichen Bedenken. Gleiches gilt für die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf der Grundlage des § 11 Abs. 1, 2 AufenthG. Das Bundesamt hat insoweit das ihm zukommende Ermessen erkannt und dieses im Rahmen der eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung nach § 114 VwGO ordnungsgemäß ausgeübt.
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5. Nach allem war die Klage daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Als im Verfahren unterlegen hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.