Inhalt

LG Würzburg, Beschluss v. 20.10.2022 – 3 T 1755/19
Titel:

Rechtswidrigkeit der Entscheidung über Abschiebungshaft ohne Behördenakte

Normenketten:
FamFG § 62 Abs. 1
AufenthG § 62
Leitsatz:
Da dem Amtsgericht bei seiner Entscheidung die Ausländerakten nicht vollständig vorlagen, war festzustellen, dass die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung gegen den Betroffenen diesen in seinen Rechten verletzt hat. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Abschiebungshaft, Behördenakten
Vorinstanz:
AG Würzburg vom -- – XIV 139/19 (B)
Rechtsmittelinstanz:
BVerfG Karlsruhe, Beschluss vom 05.04.2023 – 2 BvR 2250/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 46733

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung in dem genannten Beschluss den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.
2. Von der Erhebung der Kosten wird abgesehen.
3. Der Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Betroffene ist afghanischer Staatsangehöriger.
2
Am 10.10.2019. beantragte die Regierung von Unterfranken – Zentrale Ausländerbehörde, gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung der Abschiebung gemäß § 62 AufenthG für die Dauer von zwei Monaten anzuordnen. Beigefügt waren dem Antrag ein Aufnahmeersuchen für die Abschiebungshafteinrichtung Eichstätt, der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 03.05.2016 sowie weitere insgesamt 50 Seiten Auszüge aus der Ausländerakte des Betroffenen.
3
Durch Beschluss des Amtsgerichts Würzburg vom 11.10.2019 wurde gegen den Betroffenen die Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zu deren Vollzug, längstens jedoch bis zum 10.12.2019 angeordnet. Gleichzeitig wurde die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung angeordnet.
4
Im Rahmen der Anhörung vor dem Ermittlungsrichter legte der Betroffene Beschwerde gegen den Beschluss vom 11.10.2019 ein.
5
Das Amtsgericht half der Beschwerde nicht ab und legte die Akten dem Landgericht Würzburg als zuständigem Beschwerdegericht vor.
6
Mit Schriftsatz vom 29.10.2019, bei Gericht eingegangen am gleichen Tage, beantragte der Bevollmächtigte des Betroffenen festzustellen, dass der angefochtene Beschluss den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.
7
Durch Beschluss des Landgerichts Würzburg vom 06.11.2019 wurde der Beschluss des Amtsgerichts Würzburg vom 11.10.2019 wegen der zuvor erfolgten Rücknahme des Antrags der Ausländerbehörde auf Anordnung der Abschiebehaft aufgehoben. Der Betroffene wurde am 06.11.2019 aus der Haft entlassen.
8
Mit Schriftsatz vom 01.08.2022 begründete der Bevollmächtigte des Betroffenen den Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit.
9
Das Beschwerdegericht hat die Ausländerakte beigezogen. Diese umfasst fünf Bände mit insgesamt 866 Seiten (Stand April 2022).
10
Der Ausländerbehörde wurde rechtliches Gehör gewährt. Eine Stellungnahme zu dem Schriftsatz des Bevollmächtigten des Betroffenen vom 01.08.2022 ging allerdings nicht ein.
II.
11
Die Beschwerde des Betroffenen mit dem Antrag festzustellen, dass die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung ihn in seinen Rechten verletzt hat, erweist sich als zulässig und begründet.
12
1. Mit der Entlassung des Betroffenen aus der Haft hat sich die Hauptsache erledigt. Gemäß § 62 Abs. 1 FamFG spricht das Beschwerdegericht in diesen Fällen auf Antrag aus, dass die Entscheidung des Gerichts des ersten Rechtszuges den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt hat, wenn der Beschwerdeführer ein berechtigtes. Interesse an der Feststellung hat. Ein derartiges Interesse ist im Fall des Ausreisegewahrsams anzuerkennen (BGH, Beschluss vom 10. November 2020 – XIII ZB 25/20 –, juris).
13
2. Die Beschwerde ist auch begründet. Da dem Amtsgericht bei seiner Entscheidung die Ausländerakten nicht vollständig vorlagen, war festzustellen, dass die Anordnung der Haft zur Sicherung dar Abschiebung gegen den Betroffenen diesen in seinen Rechten verletzt hat.
14
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem – nach dem angefochtenen Beschluss ergangenen – Beschluss vom 14.05.2020, Aktenzeichen 2 BvR 2345/16, hierzu folgendes ausgeführt (Rn. 50-54):
15
Das gerichtliche Verfahren muss deshalb darauf angelegt sein, den Betroffenen vor dem Freiheitsentzug all diejenigen rechtsstaatlichen Sicherungen zu gewähren, die mit einem justizförmigen Verfahren verbunden sind. Die Eilbedürftigkeit einer solchen Entscheidung kann eine Vereinfachung und Verkürzung des gerichtlichen Verfahrens rechtfertigen, darf aber die unabhängige, aufgrund der Justizförmigkeit des Verfahrens besonders verlässliche Entscheidungsfindung nicht gefährden (BVerfGK 7, 87 <99>; vgl. auch BVerfGE 83, 24 <32>).
16
Die freiheitssichernde Funktion des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt damit auch Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und für Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. BVerfGE 70, 297 <308>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 23. März 1998 – 2 BvR 2270/96 –, juris). Angesichts des hohen Ranges des Freiheitsgrundrechts gilt dies in gleichem Maße, wenn die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme in Rede steht (vgl. BVerfGK 7, 87 <100>).
17
Die Akten der Ausländerbehörde sind als Bestandteil der richterlichen Amtsermittlung bei einer Entscheidung über eine Haftanordnung in aller Regel beizuziehen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Dezember 2007 – 2 BvR 1033/06 –, juris, Rn. 30; Beichel-Benedetti/Gutmann, NJW 2004, S. 3015 <3017 f.>); sind die Akten nicht erreichbar, muss das Gericht seiner Pflicht zur eigenständigen, aktuellen und erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts auf andere Weise genügen (vgl. zur entsprechenden Problematik im Auslieferungsrecht BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 13. November 2017 – 2 BvR 1381/17 –, Rn. 23 ff. <30>).
18
Aus der Ausländerakte können sich Tatsachen ergeben, die für die Rechtmäßigkeit der Haftanordnung von Bedeutung sind, insbesondere Tatsachen, aus denen sich das Vorliegen von Abschiebungshindernissen zugunsten des Betroffenen ergibt, denn Sicherungshaft darf grundsätzlich nur angeordnet werden, wenn die Abschiebung konkret möglich erscheint (vgl. Beichel-Benedetti/Gutmann, NJW 2004, S. 3015 <3018 f.>; Beschlussempfehlung zum FamFG, BTDrucks 16/9733, S. 299). Auch wenn es in Einzelfällen denkbar ist, dass die Ausländerakte keine Informationen enthält, die über den Inhalt des Haftantrags nebst Anlagen hinausgehen, so muss das Haftgericht in einem solchen Einzelfall doch zumindest ausdrücklich im Haftbeschluss feststellen und plausibel begründen, warum ausnahmsweise von der Beiziehung der Ausländerakte abgesehen werden konnte.
19
Die Nichtbeiziehung der Ausländerakte – jedenfalls ohne jegliche Begründung – belastet die gleichwohl angeordnete Abschiebungshaft mit dem Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung, der durch die Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (vgl. BVerfGE 58, 208 <223>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Januar 1990 – 2 BvR 1592/88 –, Juris, Rn. 15; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. März 1996 – 2 BvR 927/95 – juris, Rn. 18) und hinsichtlich dessen es sich verbietet zu untersuchen, ob die Haftanordnung auf der Nichtbeiziehung der Ausländerakte beruht (so zur unterlassenen Anhörung: BVerfGK 9, 132 <138>).
20
Die Kammer folgt dieser Entscheidung.
21
Da somit die Anordnung der Haft zur Sicherung der Abschiebung mangels Vorliegens der Ausländerakte rechtswidrig war, war auszusprechen, dass der angefochtene Beschluss den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.
III.
22
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 S. 2 FamFG, die Festsetzung des Gegenstandswertes für das Beschwerdeverfahren auf § 36 Abs. 3 GNotKG.