Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 03.11.2022 – W 4 K 22.169
Titel:

Fehlendes Rechtsschutzinteresse für Klage nach Nachbarunterschrift

Normenketten:
BauGB § 34
BGB § 119, § 121, § 123
BayBO Art. 6 Abs. 7, Art. 66
Leitsätze:
1. Die vorbehaltlose Unterschriftsleistung bedeutet einen Verzicht des Nachbarn auf materielle Abwehrrechte, der zur Unzulässigkeit der Klage führt. Die Klage ist aufgrund der Zustimmungsfiktion des Art. 66 Abs. 1 BayBO mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nachbarn haben keinen materiellen Anspruch darauf, dass der Bauantragsteller einwandfreie Bauvorlagen einreicht. Können wegen Fehlens oder Unvollständigkeit der Bauvorlagen Gegenstand und Umfang der Baugenehmigung jedoch nicht eindeutig festgestellt werden und erscheint aus diesem Grund eine Verletzung von Nachbarrechten nicht ausgeschlossen, kann sich auch ein Nachbar erfolgreich auf diese Unbestimmtheit der Baugenehmigung berufen. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
3. Balkon und Terrassen gehören zum üblichen Standard und zu den Wohn- und Lebensgewohnheiten, die im Rahmen der gegenseitigen Rücksichtnahme von den Nachbarn hinzunehmen sind. Einschränkungen sind allenfalls dort geboten, wo unmittelbare Einsichtsmöglichkeiten in private Schlafräume bestehen, die auch nicht durch entsprechende Maßnahmen zur Errichtung eines ausreichenden Sichtschutzes abgemildert werden können. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ob eine Stützmauer das natürliche Gelände oder eine künstliche Aufschüttung sichert, kann für die Privilegierung der Stützmauer keinen Unterschied machen. Art. 6 Abs. 7 S. 1 Nr. 2 BayBO differenziert insoweit nicht. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarunterschrift, Anfechtung, Irrtum, Gebot der Rücksichtnahme, Stützmauer (privilegiert), Rechtsschutzinteresse, Unbestimmtheit, Einsichtsmöglichkeiten, Abstandsfläche, natürliches Gelände
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 08.01.2024 – 9 ZB 23.1
Fundstelle:
BeckRS 2022, 46115

Tenor

I.    Die Klage wird abgewiesen.
II.    Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.    Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich mit ihrer Klage gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Errichtung eines Zweifamilienwohnhauses mit Stellplätzen auf den Grundstücken Fl.Nr. …5 und Fl.Nr. …6 der Gemarkung S.Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstücks … 91 in … … (Fl.Nr. …4 der Gemarkung S.). Dieses Grundstück ist mit einem Wohnhaus bebaut. Nordöstlich an das klägerische Grundstück grenzt das Baugrundstück … 11 (Fl.Nr. …5 und Fl.Nr. …6) an. Ein Bebauungsplan existiert für das Gebiet nicht.
2
Mit Bescheid vom 3. Februar 2021 erteilte das Landratsamt Sch. dem Beigeladenen die Genehmigung zur Errichtung eines Zweifamilienwohnhauses mit Stellplätzen.
3
Unter dem 1. Februar 2022 ließ die Klägerin Klage erheben und beantragen,
den Bescheid des Landratsamts Sch.vom 3. Februar 2021 aufzuheben,
hilfsweise, den Beklagten zu verpflichten, im Wege des bauaufsichtlichen Einschreitens sicherzustellen, dass die Stützmauer auf dem Grundstück Fl.Nr. …5 der Gemarkung S.im Bereich der Grenze zum Grundstück Fl.Nr. …4 der Gemarkung S.den Anforderungen des Bescheids des Landratsamts Sch.vom 3. Februar 2021 entspricht und insbesondere nicht eine sichtbare Höhe von 1,70 m und eine tatsächliche Höhe von 1,80 m ab der Oberkante der Stützmauer auf dem Grundstück Fl.Nr. …4 der Gemarkung S.überschreitet.
4
Zur Begründung wurde dargelegt, dass das natürliche Gelände in den Bauantragsunterlagen unzutreffend dargestellt sei. Die Höhe der Stützmauer auf dem Baugrundstück betrage deshalb ausgehend vom natürlichen Gelände auf dem Baugrundstück nicht lediglich ca. 1,70 m, sondern über 2,00 m. Es werde deshalb gegen Art. 6 BayBO und das Rücksichtnahmegebot verstoßen.
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Der Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 25. Februar 2022,
die Klage abzuweisen.
6
Die Klage sei bereits unzulässig. Die Klägerin habe die eingereichten Eingabepläne wie auch die anschließend vorgenommene Umplanung jeweils unterschrieben. Die Klage sei aber auch unbegründet. Die Stützmauer bleibe deutlich unter der in Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 3 BayBO angeführten Höhe von 2,00 m. Sie entspreche auch dem mit Bescheid vom 3. Februar 2021 genehmigten Plänen. Dies sei bei mehreren Ortseinsichten festgestellt worden. Zu erwähnen sei auch noch, dass die Klägerin bei der Errichtung ihres Wohngebäudes erhebliche Geländeveränderungen vorgenommen habe.
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Am 9. August 2022 hat das Gericht einen Augenschein auf dem Baugrundstück durchgeführt und Vergleichsmöglichkeiten mit den Beteiligten erörtert.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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1. Über die Klage konnte vorliegend ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Beteiligten im Rahmen des Augenscheintermins hierauf verzichtet haben (vgl. § 101 Abs. 2 VwGO).
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2. Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist der Bescheid des Landratsamtes Schweinfurt vom 3. Februar 2021, mit dem dem Beigeladenen die Baugenehmigung erteilt wurde für die Errichtung eines Zweifamilienhauses mit Stellplätzen auf den Grundstücken Fl.Nrn. …5 und …6 der Gemarkung S.Die Klägerin begehrt die Aufhebung dieser Genehmigung. Ihre aus diesem Grund erhobene Klage ist bereits unzulässig, jedenfalls unbegründet, denn der angefochtene Bescheid des Landratsamtes Schweinfurt vom 3. Februar 2021 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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3. Die Klage ist unzulässig, der Klägerin fehlt das Rechtsschutzinteresse. Die Klägerin hat durch ihre Nachbarunterschrift sowohl auf den ursprünglichenen Planunterlagen vom 9. Oktober 2020 wie auch auf den geänderten Planunterlagen vom 14. Dezember 2020 ihre Zustimmung zu dem streitgegenständlichen Vorhaben erklärt. Gemäß Art. 66 Abs. 1 Satz 1 und 2 BayBO sind den Eigentümern der benachbarten Grundstücke der Lageplan und die Bauzeichnungen zur Unterschrift vorzulegen. Die Unterschrift gilt als Zustimmung und ist nur bis zu ihrem Zugang bei der Baugenehmigungsbehörde frei widerruflich. Die vorbehaltlose Unterschriftsleistung bedeutet einen Verzicht des Nachbarn auf materielle Abwehrrechte, der zur Unzulässigkeit der Klage führt (vgl. BayVGH, B.v. 31.1.2005 – 20 CE 05.68 – juris Rn. 10). Die Klage ist aufgrund der Zustimmungsfiktion des Art. 66 Abs. 1 BayBO somit mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig (vgl. Busse/Kraus, Werkstand: 147, EL August 2022, Art. 66 Rn. 160 m.w.N. zur Rechtsprechung; nach anderer Ansicht fehlende Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO).
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Etwas anderes ergibt sich auch nicht aufgrund des Vortrags der Klägervertreterin, die vorgelegten und unterzeichneten Pläne seien für die Klägerin mangels Bemaßung und aufgrund unklarer Darstellung nicht prüfbar gewesen. Wäre der Klägerin wahrheitsgetreu mitgeteilt worden, dass die Mauer in einer Entfernung von lediglich 1 m errichtet werde, hätte die Klägerin nicht unterzeichnet. Die Zustimmung der Klägerin sei vor diesem Hintergrund durch eine arglistige Täuschung erwirkt worden. Ungeachtet dessen habe die Klägerin insoweit jedenfalls einem beachtlichen Inhaltsirrtum unterlegen.
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Für die Kammer ist dieser Vortrag nicht nachvollziehbar, widerspricht er doch offensichtlich den von der Klägerin unterschriebenen Planunterlagen. Dort ist eindeutig erkennbar, dass die Beigeladene in 1 m Entfernung von der bestehenden Mauer eine weitere Stützmauer mit L-Steinen errichten wollte (vgl. Schnitt A-A). Von einem Irrtum der Klägerin kann daher nicht die Rede sein. Im Übrigen ist der Bauherr Nachbarn gegenüber im Rahmen der Nachbarbeteiligung nicht verpflichtet, zusätzliche Angaben erläuternder Art zu machen. Insofern ist der Nachbar ausreichend durch die textlichen und zeichnerischen Darstellungen der Bauzeichnungen und des Lageplans über das geplante Bauvorhaben geschützt und in der Lage, die Art und Weise der geplanten baulichen Anlagen zu erkennen.
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Überdies kommt eine Anfechtung der Zustimmungserklärung der Klägerin schon deshalb nicht in Betracht, da die Anfechtungsfrist nach § 121 BGB offensichtlich abgelaufen ist. Die Klägervertreterin hat erstmals mit Schreiben vom 16. Juni 2021 die Anfechtung der erteilten nachbarlichen Zustimmung erklärt. Tatsächlich stand die Stützmauer aber schon jedenfalls seit März 2021, denn laut Aktenvermerk des Landratsamts Sch.vom 11. März 2021 beschwerte sich die Klägerin im Rahmen eines Telefonats mit dem Landratsamt, dass ihr ehemaliger Mieter eine grenznahe Stützmauer in Höhe von ca. 4 m errichtet habe. Von einer unverzüglichen Anfechtungserklärung, wie der § 121 BGB dies erfordert, kann am 16. Juni 2021 daher keine Rede sein.
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Entgegen der Annahme der Klägervertreterin liegt auch kein Sachverhalt vor, der die Annahme einer arglistigen Täuschung nach § 123 Abs. 1 BGB analog rechtfertigen könnte. Wie vorstehend erläutert, wurden der Klägerin korrekte Eingabepläne vorgelegt. Schon für eine Täuschungshandlung ist daher nichts ersichtlich.
16
Die Klage war daher schon als unzulässig abzuweisen.
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4. Doch selbst für den Fall, dass die Klage zulässig war, wäre sie jedenfalls als unbegründet abzuweisen gewesen, denn der Bescheid des Beklagten vom 3. Februar 2021 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Dritte können sich gegen eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn die angefochtene Baugenehmigung rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von Normen beruht, die dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20). Es genügt daher nicht, wenn die Baugenehmigung gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz des Nachbarn zu dienen bestimmt sind.
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Dabei ist zu beachten, dass ein Nachbar einer Baugenehmigung zudem nur dann mit Erfolg anfechten kann, wenn sich eine Rechtswidrigkeit der Genehmigung aus einer Verletzung von Vorschriften ergibt, die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20 ff.). Verstößt ein Vorhaben gegen eine drittschützende Vorschrift, die im Baugenehmigungsverfahren nicht zu prüfen war, trifft die Baugenehmigung insoweit keine Regelung und ist der Nachbar darauf zu verweisen, Rechtschutz gegen das Vorhaben über einen Antrag auf bauaufsichtliches Einschreiten gegen die Ausführung dieses Vorhabens zu suchen (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.1997 – 4 B 244/96, NVwZ 1989, 58 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 14.10.2008 – 2 CS 08.2132 – juris Rn. 3; VG Würzburg, U.v. 8.11.2016 – W 4 K 16.418 – juris Rn. 17).
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5. Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben sowie der örtlichen und baulichen Verhältnisse vor Ort, von denen sich das Gericht im Rahmen des durchgeführten Augenscheins überzeugen konnte, verletzt die streitgegenständliche Baugenehmigung des Landratsamts Sch.vom 3. Februar 2021 die Klägerin nicht in ihren subjektiven Rechten.
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6. Im Wesentlichen werden von der Klägervertreterin drei Einwendungen geltend gemacht: Die Bauunterlagen seien zu unbestimmt gewesen, das Vorhaben verstoße gegen das Gebot der Rücksichtnahme und schließlich sei ein Verstoß der Stützmauer gegen das Abstandsflächenrecht gegeben. Mit all diesen Einwendungen vermag die Klägerin allerdings nicht durchzudringen.
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7. Soweit die Klägervertreterin zunächst meint, die Baugenehmigung sei zu unbestimmt, kann die Kammer eine nachbarrechtsrelevante Verletzung des Bestimmtheitsgrundsatzes nicht erkennen.
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Eine Baugenehmigung verletzt Rechte des Nachbarn, wenn sie hinsichtlich nachbarrechtsrelevanter Fragen unter Missachtung von Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG zu unbestimmt ist und infolge dessen im Falle der Umsetzung des Bauvorhabens eine Verletzung von Nachbarrechten nicht auszuschließen ist. Eine Baugenehmigung muss Inhalt, Reichweite und Umfang der genehmigten Nutzung eindeutig erkennen lassen, damit die mit dem Bescheid getroffene Regelung für die Beteiligten des Verfahrens nachvollziehbar und eindeutig ist. Nachbarn müssen zweifelsfrei feststellen können, ob und in welchem Umfang sie betroffen sind (vgl. BayVGH, B.v. 31.10.2016 – 15 B 16.1001 – juris Rn. 4 m.w.N.). Hiervon ist vorliegend auszugehen, da sich die für die Nachbarn wesentlichen Informationen zweifellos aus den Planunterlagen ergeben. So werden Art und Maß der baulichen Nutzung, die genehmigte Einstellung des Gebäudes auf dem Baugrundstück sowie die Belassung der Außengestaltung im Rahmen der Baugenehmigung näher bezeichnet.
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Eine andere Beurteilung ist mit Blick auf die Anforderungen an die Bestimmtheit auch nicht unter dem Gesichtspunkt angezeigt, dass die Klägervertreterin meint, die Planunterlagen enthielten zum Teil nicht klare Bemaßungen.
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Allgemein gilt im Rahmen der Nachbaranfechtung, dass Nachbarn keinen materiellen Anspruch darauf haben, dass der Bauantragsteller einwandfreie Bauvorlagen einreicht. Können wegen Fehlens oder Unvollständigkeit der Bauvorlagen Gegenstand und Umfang der Baugenehmigung jedoch nicht eindeutig festgestellt werden und erscheint aus diesem Grund eine Verletzung von Nachbarrechten nicht ausgeschlossen, kann sich auch ein Nachbar erfolgreich auf diese Unbestimmtheit der Baugenehmigung berufen (vgl. BayVGH, B.v. 5.10.2011 – 15 CS 11.1858 – juris Rn. 14 m.w.N.).
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Wenn die Baugenehmigung selbst oder die der Baugenehmigung zugrundeliegenden Bauvorlagen wegen Ungenauigkeiten bzw. wegen ihres Fehlens keine Entscheidung zulassen, ob die Anforderungen derjenigen Vorschriften gewährleistet sind, die zum Prüfprogramm des konkreten bauaufsichtlichen Verfahrens gehören und die Nachbarschutz vermitteln, kann eine Nachbarrechtsverletzung zur Aufhebung einer Baugenehmigung führen (vgl. BayVGH, U.v. 28.6.1999 – 1 B 97.3174 – juris Rn. 16). Betrifft die Unbestimmtheit oder die Unrichtigkeit der Bauvorlagen solche Vorschriften, deren Verletzung im konkreten Fall subjektiv-öffentliche Abwehrrechte der Kläger begründen können, ist eine mögliche Rechtsverletzung der Kläger hierdurch zu bejahen (vgl. BayVGH, U.v. 28.6.1999 – 1 B 97.3174 – juris Rn. 16).
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Wie oben bereits dargestellt, kann die Kammer Ungenauigkeiten oder Fehler bezüglich der Verhältnisse im Außengelände des Baugrundstücks nicht erkennen. Insbesondere ergibt sich aus den Unterlagen eindeutig, dass der Beigeladene in 1 m Entfernung von der bestehenden Mauer eine weitere Stützmauer mit L-Steinen errichten wollte. Die streitgegenständliche Baugenehmigung verletzt daher nicht den Bestimmtheitsgrundsatz.
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8. Auch soweit § 34 Abs. 1 BauGB nach ständiger Rechtsprechung mit dem Begriff des „Einfügens“ einen Verweis auf das Gebot der Rücksichtnahme enthält, ist entgegen der Behauptung der Klägervertreterin keine Verletzung des Rücksichtnahmegebots durch die streitgegenständliche Baugenehmigung zu erkennen.
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Hierbei ist zudem zu beachten, dass nur das im Begriff des „Einfügens“ im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB enthaltene Gebot der Rücksichtnahme drittschützend ist, nicht hingegen die in § 34 Abs. 1 BauGB genannten weiteren Einfügensvoraussetzungen, wie das Maß der baulichen Nutzung, die Bauweise und die überbaubare Grundstücksfläche. Sie vermitteln grundsätzlich keinen Nachbarschutz, weil sie in aller Regel den Gebietscharakter unberührt lassen und – anders als die Bestimmungen über die Art der baulichen Nutzung – kein nachbarliches Austauschverhältnis begründen (vgl. BVerwG, U.v. 28.4.2004 – 4 C 10.03 – NVwZ 2004, 1244 ff.; BayVGH, B.v. 13.3.2014 – 15 ZB 13.1017 – juris Rn. 7). Selbst wenn ein Vorhaben nach dem Maß der baulichen Nutzung hinsichtlich der Größe der Grund- und Geschossfläche (vgl. § 16 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 BauNVO) sowie auch hinsichtlich seiner Höhe (vgl. § 16 Abs. 2 Nr. 4 BauNVO) den aus der näheren Umgebung hervorgehenden Rahmen überschreitet, so bedeutet das nicht automatisch, dass der Nachbar hierdurch in seinen Rechten verletzt ist (BayVGH, B.v. 4.7.2016 – 15 ZB 14.891 – juris Rn. 8). Für eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots reicht es nicht bereits aus, dass ein Vorhaben sich nicht in jeder Hinsicht innerhalb des Rahmens hält, der durch die Bebauung der Umgebung gebildet wird. Hinzukommen muss objektiv-rechtlich, dass es im Verhältnis zu seiner Umgebung bewältigungsbedürftige Spannungen erzeugt, die potentiell ein Planungsbedürfnis nach sich ziehen und subjektiv-rechtlich, dass es die gebotene Rücksichtnahme speziell auch auf die in seiner Nähe vorhandene Bebauung vermissen lässt (vgl. BVerwG, B.v. 13.11.1997 – 4 B 195.97 – NVwZ-RR 1998, 540).
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Das Rücksichtnahmegebot gibt dem Nachbarn insbesondere nicht das Recht, vor Beeinträchtigungen jeglicher Art, wie beispielsweise hinsichtlich Belichtung und Belüftung seines Grundstücks, verschont zu bleiben. Eine Rechtsverletzung ist erst zu bejahen, wenn von dem Vorhaben eine unzumutbare Beeinträchtigung ausgeht. Dies kann insbesondere der Fall sein, wenn ein Nachbaranwesen durch die Außenmaße eines Bauvorhabens geradezu „erdrückt“, „eingemauert“ oder „abgeriegelt“ wird oder weitgehende Einsichtsmöglichkeiten in ein Gebäude geschaffen würden, die den sozialen Wohnfrieden erheblich stören. Eine Gesamtbetrachtung der Umstände des konkreten Einzelfalles ist maßgeblich dafür, ob einem Vorhaben „abriegelnde“ oder „erdrückende“ Wirkung zukommt (vgl. BayVGH, B.v. 25.1.2013 – 15 ZB 13.68 – juris Rn. 5; B.v. 23.4.2014 – 9 CS 14.222 – juris Rn. 12). Eine solche Wirkung kommt nach der Rechtsprechung vor allem bei nach Höhe und Volumen „übergroßen Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden“ in Betracht (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – BauR 1981, 354: 12-geschossiges Gebäude in Entfernung von 15 m zu 2-geschossigem Nachbarwohnhaus; BVerwG, U.v. 23.5.1986 – 4 C 34.85 – NVwZ 1987, 34: 11,50 m hohe und über 13 m lange Siloanlage in einem Abstand von 6 m zu einem 2-geschossigen Wohnhaus). Die Zahl der in einem Gebäude vorhandenen Wohnungen ist dagegen weder ein Kriterium des in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltenen Begriff des Einfügens (vgl. BVerwG, B.v. 24.4.1989 – 4 B 72/89 – NVwZ 1989, 1060) noch in §§ 4 ff. BauNVO enthalten. Im Rahmen des § 34 Abs. 1 BauGB ist in erster Linie auf solche Maßfaktoren abzustellen, die nach außen hin wahrnehmbar in Erscheinung treten und anhand derer sich die vorhandenen Gebäude in der näheren Umgebung in Beziehung zueinander setzen lassen (vgl. BVerwG, U. v. 23.3.1994 – 4 C 18/92 – NVwZ 1994, 1006 – juris; B. v. 14.3.2013 – 4 B 49/12 – juris; B. v. 3.4.2014 – 4 B 12/14 – juris).
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Nach diesen Maßstäben und unter Berücksichtigung des Eindrucks, den die Kammer im Rahmen des Augenscheinstermins gewonnen hat, ist vorliegend ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme aufgrund einer erdrückenden oder gar abriegelnden Wirkung des Vorhabens eindeutig zu verneinen.
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Etwas anderes ergibt sich auch nicht unter Berücksichtigung des weiteren Vortrags der Klägervertreterin, nunmehr sei eine Einsicht auf die Terrasse der Klägerin möglich. Balkon und Terrassen gehören zum üblichen Standard und zu den Wohn- und Lebensgewohnheiten, die im Rahmen der gegenseitigen Rücksichtnahme von den Nachbarn hinzunehmen sind (vgl. OVG LSA, B.v. 20.3.2006, 2 M 83/06 – juris). Einschränkungen sind allenfalls dort geboten, wo unmittelbare Einsichtsmöglichkeiten in private Schlafräume bestehen, die auch nicht durch entsprechende Maßnahmen zur Errichtung eines ausreichenden Sichtschutzes abgemildert werden können (vgl. OVG LSA, B.v. 20.3.2006, 2 M 83/06 – juris). Derartige Umstände sind hier weder ersichtlich noch vorgetragen.
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9. Entgegen der Auffassung der Klägervertreterin verstößt das Vorhaben und insbesondere auch die Stützmauer zum Grundstück der Klägerin hin nicht gegen die Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO.
34
Nach Art. 6 Abs. 7 Nr. 3 BayBO sind Stützmauern und geschlossene Einfriedungen in Gewerbe- und Industriegebieten ohne Höhenbegrenzung, außerhalb dieser Baugebiete mit einer Höhe bis zu 2 m abstandsflächenrechtlich privilegiert. Auch die vom Beigeladenen errichtete Stützmauer mit L-Steinen aus Beton wird von dieser Privilegierung des Art. 6 Abs. 7 Nr. 3 BayBO umfasst, denn als Stützmauern privilegiert sind alle baulichen Anlagen, die erforderlich sind, um eine angemessene und zulässige Grundstücksnutzung zu ermöglichen (OVG Münster, U.v. 27.11.1989 – 11 A 195/88 – juris). So liegt der Fall hier. Die vom Beigeladenen errichtete Stützmauer soll verhindern, dass Erdreich aus einem höheren zu einem niedrigeren Geländeteil abrutscht. Ob die Stützmauer, wie die Klägervertreterin meint, das natürliche Gelände oder eine künstliche Aufschüttung sichert, kann für die Privilegierung der Stützmauer keinen Unterschied machen. Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 2 BayBO differenziert insoweit nicht. Im Übrigen ist einer Stützmauer bereits von ihrer bestimmungsgemäßen Verwendung her immanent, dass sie funktionell der Sicherung des natürlichen Geländes oder aber einer Aufschüttung dient. Der Klägervertreterin kann daher nicht gefolgt werden, wenn sie meint, dass eine Stützmauer nur das natürliche Gelände gegen ein Abrutschen absichern darf, nicht dagegen Aufschüttungen. Es gilt festzuhalten, dass der bayer. Gesetzgeber eine solche Einschränkung eindeutig nicht vorsieht (ähnlich auch Molodovsky/Farmers/Waldmann, BayBO, Stand Mai 2022, Art. 6 Rn. 310).
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Die Privilegierung entfällt auch nicht aufgrund der Höhe, denn nach Auffassung der Kammer bleibt die Stützmauer deutlich unter der in Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 3 BayBO angeführten Höhe von 2 m, die als abstandsflächenrechtlich irrelevant anzusehen ist.
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Der Vortrag der Klägervertreterin in diesem Zusammenhang, tatsächlich habe sich das natürliche Gelände des Baugrundstücks ca. 30cm bis 40cm unterhalb der Darstellungen in den Eingabeplänen befunden, vermag nicht zu einem anderen Ergebnis zu führen, handelt es sich doch hierbei lediglich um eine Behauptung, die von der Klägerin in keiner Weise nachgewiesen wurde. Den im Verfahren vorgelegten Bildern des Beigeladenen, aber auch dem vom Entwurfsverfassers erstellten Nivellement des Bestandsgeländes vom 11. Februar 2020 ist eindeutig zu entnehmen, dass das natürliche Gelände des Baugrundstücks vor Beginn der Maßnahme nur wenige Zentimeter unterhalb der Oberkante der schon vorhandenen Stützmauer auf dem Grundstück der Klägerin anstand. So ergibt sich im Bereich des höchsten Punkts der Stützmauer eine Höhendifferenz von 9 cm. Für die Kammer ist auch nicht erkennbar, dass das vom Entwurfsverfasser erstellte Nivellement Messfehler enthält, zumal bei einer Ortsansicht am 22. Dezember 2021 durch das Landratsamt auf der Innenseite der Stützmauer der Klägerin die zum Baugrundstück zeigt, offenbar eine Mooskante vorhanden war, wie die vorgelegten Bilder zeigen, die sich wohl oberhalb des vor Maßnahmenbeginns anstehenden Geländes gebildet hat. Für die Kammer ist nicht erkennbar, dass die Höhe der Mooskante 30 cm bis 40 cm unterhalb der Stützmauer der Klägerin lag.
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10. Nach alldem ist der Bescheid des Landratsamts Sch.vom 3. Februar 2021 rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klage war daher im Hauptantrag mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
38
11. Nichts anderes gilt im Hinblick auf den von der Klägervertreterin gestellten Hilfsantrag, den Beklagten zu verpflichten, im Wege des bauaufsichtlichen Einschreitens sicherzustellen, dass die Stützmauer auf dem Grundstück Fl.Nr. …5 der Gemarkung S.im Bereich der Grenze zum Grundstück Fl.Nr. …4 der Gemarkung S.den Anforderungen des Bescheids des Landratsamts Sch.vom 3. Februar 2021 entspricht und insbesondere nicht eine sichtbare Höhe von 1,70 m und eine tatsächliche Höhe von 1,80 m ab der Oberkante der Stützmauer auf dem Grundstück Fl.Nr. …4 der Gemarkung S.überschreitet.
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Wie ausgeführt, geht die Kammer von einer Privilegierung der vom Beigeladenen errichteten Stützmauer nach Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 3 BayBO aus. Der Vortrag der Klägervertreterin, das natürliche Gelände des Baugrundstücks habe sich ca. 30 cm bis 40 cm unterhalb der Darstellung in den Eingabeplänen befunden, stellt lediglich eine Behauptung ins Blaue hinein dar, die klägerseits durch nichts belegt wurde.
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12. Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO auch im Hilfsantrag abzuweisen. Da der Beigeladene keinen Antrag gestellt und sich damit auch nicht dem Kostenrisiko aus § 154 Abs. 3 Halbsatz 1 VwGO ausgesetzt hat, entspricht es der Billigkeit, dass dieser seine außergerichtlichen Kosten selbst trägt (vgl. § 162 Abs. 3 VwGO).
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.