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BayObLG, Urteil v. 11.07.2022 – 203 StRR 159/22
Titel:

Anforderungen an ein freisprechendes Urteil vom Vorwurf des unterlaubten Aufenthalts ohne Pass

Normenketten:
AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 1
StPO § 261
Leitsätze:
Will der Tatrichter vom Vorwurf des unerlaubten Aufenthaltes ohne Pass oder Passersatz nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG freisprechen, bedarf es dazu Feststellungen zu den im konkreten Fall von der zuständigen Auslandsvertretung geforderten Erklärungen sowie einzelfallbezogener Ausführungen zu einer etwaigen Unzumutbarkeit eines Antrags auf Ausstellung eines Reisepasses oder Passersatzes. (Rn. 10 – 11)
Will der Tatrichter vom Vorwurf des unerlaubten Aufenthaltes ohne Pass oder Passersatz nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG freisprechen, bedarf es dazu Feststellungen zu den im konkreten Fall von der zuständigen Auslandsvertretung geforderten Erklärungen sowie einzelfallbezogener Ausführungen zu einer etwaigen Unzumutbarkeit eines Antrags auf Ausstellung eines Reisepasses oder Passersatzes. (Rn. 10 – 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
unerlaubter Aufenthalt, Pass, Passersatz, Ersatzbeschaffung, Zumutbarkeit, Auslandsvertretung, Freispruch, Einlassung, objektives Tatgeschehen
Vorinstanz:
LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 26.10.2021 – 8 Ns 455 Js 55695/18
Fundstellen:
LSK 2022, 45998
StV 2023, 677
BeckRS 2022, 45998

Tenor

I. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 26. Oktober 2021 samt den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
II. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – an eine andere Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth zurückverwiesen.

Entscheidungsgründe

I.
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Das Landgericht Nürnberg-Fürth hat mit Urteil vom 26. Oktober 2021 die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Amtsgerichts Nürnberg als unbegründet verworfen. Das Amtsgericht hatte den Angeklagten mit Urteil vom 31. Mai 2021 vom Vorwurf eines Vergehens nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG freigesprochen. Dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe sind folgende Feststellungen der Strafkammer zu dem Freispruch zu entnehmen:
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Der Angeklagte besitzt die i… Staatsangehörigkeit. Er reiste im Oktober 2015 in das Bundesgebiet ein und hielt sich seitdem in Deutschland auf. Seit 5. September 2017 ist er nach rechtskräftiger Ablehnung seines Asylantrags vollziehbar ausreisepflichtig. Er ist nicht im Besitz eines Reisepasses. Ab dem 2. November 2017 wurde er mehrmals von der zuständigen Ausländerbehörde aufgefordert, an der Passbeschaffung mitzuwirken, nahm jedoch bislang keinen Kontakt zu seiner Auslandsvertretung auf. Aufgrund unterschiedlicher in das Verfahren eingeführter Auskünfte ist offen, welche etwaigen Erklärungen die für die Beantragung des Reisepasses zuständige Auslandsvertretung im Rahmen der Antragstellung von dem Antragsteller im verfahrensgegenständlichen Zeitraum einfordert.
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Das Landgericht ist zu dem Ergebnis gekommen, dass der Angeklagte aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen freizusprechen wäre. Die Berufungskammer habe nach der durchgeführten Beweisaufnahme nicht feststellen können, dass der Angeklagte einen Pass oder Passersatz in zumutbarer Weise hätte erlangen können.
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Hiergegen wendet sich die Revision der Staatsanwaltschaft mit der ausgeführten Sachrüge, die von der Generalstaatsanwaltschaft München vertreten wird.
II.
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Die nach §§ 333, 337, § 341 Abs. 1, §§ 344, 345 Abs. 1 StPO zulässige Revision ist begründet. Der Freispruch des Angeklagten vom Vorwurf des illegalen Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
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1. Wegen illegalen Aufenthalts nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG wird bestraft, wer sich entgegen § 3 Abs. 1 AufenthG in Verbindung mit § 48 Abs. 2 AufenthG im Bundesgebiet aufhält. § 3 Abs. 1 AufenthG sieht vor, dass sich von der Passpflicht nicht befreite Ausländer im Bundesgebiet grundsätzlich nur aufhalten dürfen, wenn sie einen anerkannten und gültigen Pass, Passersatz oder Ausweisersatz nach § 48 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes besitzen. Nach § 48 Abs. 2 AufenthG genügt ein Ausländer, der einen Pass weder besitzt noch in zumutbarer Weise erlangen kann, der Ausweispflicht mit bestimmten Ausweisersatzpapieren. Allerdings hat der Ausländer, der keinen gültigen Pass oder Passersatz besitzt, nach Abs. 3 Satz 1 der Vorschrift an der Beschaffung des Identitätspapiers mitzuwirken. Nach § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer, der keinen gültigen Pass besitzt, seit dem Inkrafttreten der Vorschrift am 21. August 2019 verpflichtet, alle ihm unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zumutbaren Handlungen zur Beschaffung eines Passes oder Passersatzes selbst vorzunehmen. In § 60b Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist beschrieben, was dem Ausländer in diesem Sinn regelmäßig zumutbar ist.
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2. Nach diesen gesetzlichen Regelungen ist ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer gefordert, nicht nur an allen zumutbaren Handlungen mitzuwirken, die die Behörden von ihm verlangen, sondern darüber hinaus auch eigeninitiativ ihm mögliche und bekannte Schritte in die Wege zu leiten, die geeignet sind, die Passlosigkeit zu beseitigen. Zu den denkbaren Schritten kann auch die Einschaltung von Dritten (beispielsweise beauftragte Rechtsanwälte) im Herkunftsland gehören (so bereits OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 24. Juni 2014 – 2 L 192/10 –, juris Rn. 33). Nur falls die Bemühungen im Einzelfall unzumutbar sind oder nicht zum Erfolg führen, genügt es, wenn der Ausländer einen Anspruch auf einen deutschen Ausweisersatz (vgl. § 55 AufenthV) besitzt (vgl. Winkelmann/Stephan, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 95 AufenthG Rn. 23; Hailbronner, Ausländerrecht, März 2022, III. § 95 Abs. 1 Nr. 1 Rn. 24; zur Unzumutbarkeit OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25. Mai 2020 – III-2 RVs 35/20 –, juris Rn. 7; BayObLG Urteil vom 8. März 2005 – 4 StRR 211/04 –, juris Rn. 30). Hat ein Ausländer keine zumutbaren Anstrengungen unternommen, sich einen Pass oder Ausweisersatz zu beschaffen, macht er sich auch dann strafbar, wenn bei entsprechenden Bemühungen ein Passersatz ausgestellt werden müsste (Hailbronner a.a.O.).
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3. Gemessen an diesen Vorgaben lassen die unzureichenden Feststellungen des Landgerichts die Entscheidung, ob der Angeklagte freizusprechen ist, nicht zu. Zwar ist das Landgericht zutreffend davon ausgegangen, dass die Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG unter dem Vorbehalt der Zumutbarkeit normgerechten Verhaltens steht (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O. Rn. 7 m.w.N.). Ein grundlegender Mangel des Urteils liegt jedoch bereits darin, dass sich den Ausführungen des Urteils nicht entnehmen lässt, ob und wie sich der Angeklagte eingelassen hat (vgl. BGH NStZ 2012, 227).
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Desweiteren fehlen nähere Feststellungen zur Person des Angeklagten. Auch bei freisprechenden Urteilen ist der Tatrichter aus sachlich-rechtlichen Gründen zumindest dann zu solchen Feststellungen verpflichtet, wenn diese zur Überprüfung des Freispruchs durch das Revisionsgericht auf Rechtsfehler hin notwendig sind (BGH NStZ-RR 2017, 38 f.; BGH NStZ-RR 2017, 223). So liegt der Fall hier. Für die Bestimmung des Umfangs der Mitwirkungspflicht des Angeklagten und für die Frage der Zumutbarkeit war es unerlässlich, Feststellungen dazu zu treffen, unter welchen Umständen er den Iran verlassen hatte und welche Angaben er der Ausländerbehörde gegenüber im Zusammenhang mit der ihm obliegenden Beschaffung eines Reisepasses getätigt hatte.
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Schließlich hat der Tatrichter bei einem Freispruch im Urteil in der Regel nach dem Tatvorwurf zunächst in einer geschlossenen Darstellung diejenigen Tatsachen zum objektiven Tatgeschehen festzustellen, die er für erwiesen hält, bevor er in der Beweiswürdigung darlegt, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen ‒ zusätzlichen ‒ Feststellungen zur objektiven und subjektiven Tatseite nicht getroffen werden konnten (st. Rspr., vgl. BGH NStZ 2021, 121 f. m.w.N.). Auch insoweit erweist sich das angefochtene Urteil als rechtsfehlerhaft. Denn das Landgericht durfte hier nicht offen lassen (vgl. Urteil S. 5 „spricht viel dafür“), ob und welche konkrete Erklärung der Angeklagte während des gesamten verfahrensgegenständlichen Zeitraums obligatorisch zur Erlangung eines Reisepasses bei seiner Auslandsvertretung hätte abgeben müssen. Das Berufungsgericht hätte feststellen müssen, welche Zusatzerklärungen oder Auflagen die für den Angeklagten zuständige iranische Auslandsvertretung ab November 2017 von dem Angeklagten für die Ausstellung des Reisepasses forderte. Das Landgericht hätte insoweit zwischen den Anforderungen für die Erlangung eines Reisepasses nach der rechtskräftigen Ablehnung eines Asylantrags und den – hier nicht relevanten – Anforderungen an eine Einreiseerlaubnis in den I… differenzieren müssen. Die Berufungskammer hätte zudem erörtern müssen, weshalb sie den Auskünften des Generalkonsulats der Islamischen Republik I… in M… vom 5. November 2018 sowie vom 6. Mai 2021 keinen Glauben geschenkt hat.
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In einem zweiten Schritt hätte das Landgericht erörtern müssen, ob diese Erklärungen dem Angeklagten in seiner konkreten Situation unzumutbar waren und ob der Angeklagte irgendwelche Anstrengungen unternahm, stattdessen einen Ausweisersatz zu erhalten (vgl. dazu Winkelmann/Stephan a.a.O.). Das Landgericht hätte insoweit auch die Kenntnislage des Angeklagten bezüglich der Praxis der diplomatischen Vertretung seines Heimatstaates darlegen müssen. Zudem hätte es die gesetzlichen Vorgaben nach § 60b AufenthG ab dem Inkrafttreten der Vorschrift in seine Erörterung mit einstellen müssen. Denn der Gesetzgeber hat in dieser gesetzlichen Neuregelung, die der vom Landgericht zitierten Rechtsprechung ersichtlich noch nicht zugrunde gelegen hat, nunmehr ausdrücklich näher bestimmt, welche Handlungen und Erklärungen einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer zumutbar sind. Gemessen daran gibt es den vom Landgericht aufgestellten Grundsatz, wonach ein vollziehbar ausreisepflichtiger i… Staatsangehöriger ausnahmslos von sämtlichen Mitwirkungspflichten bei der Passbeschaffung befreit wäre, nicht; vielmehr ist die Zumutbarkeit der Mitwirkungshandlung auch bei einem iranischen Staatsangehörigen jeweils einzelfallbezogen zu prüfen (vgl. OLG Nürnberg, Urteil vom 16. Januar 2007 – 2 St OLG Ss 242/06 –, juris; OLG München, Urteil vom 9. März 2010 – 4 StRR 102/09 –, juris; OLG Celle StraFo 2005, 434; OLG Frankfurt, Beschluss vom 22. August 2012 – 1 Ss 210/12 –, juris). Der Umstand, dass ein ausreisepflichtiger Ausländer durch die Passbeschaffung seine Abschiebung unterstützt, stünde der Passpflicht und der Zumutbarkeit normgerechten Verhaltens nicht entgegen (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O. Rn. 8).
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4. Im übrigen ist dem Landgericht auch aus dem Blick geraten, zu prüfen, inwieweit eine Ahndung des passiven Verhaltens des Angeklagten nach § 98 Abs. 3 Nr. 5b i.V.m. § 60b Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1 Nr. 2 und 3 AufenthG als Ordnungswidrigkeit in Betracht kommt.
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Das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth war daher auf die Revision der Staatsanwaltschaft samt den zugrunde liegenden Feststellungen gemäß § 353 StPO aufzuheben; die Sache war zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO).