Titel:
Dublin-Verfahren (Ungarn)
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 12 Abs. 2
GRCh Art. 4
Leitsatz:
Es liegen wesentliche Anhaltspunkte für die Annahme vor, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn systemische Mängel aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung mit sich bringen. Diese werden durch eine Erklärung Ungarns, die weder einzelfallspezifische Angaben zum Kläger noch sonstige Merkmale, wie etwa eine Unterschrift der die Erklärung verantwortenden Person oder eine Datumsangabe enthält und ihrem Inhalt nach allgemein gehalten („in each independent case“) und nicht konkret auf den Kläger bezogen ist, nicht entkräftet. (Rn. 22 und 33) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin III-VO, Abschiebungsanordnung nach Ungarn, Gültiges Visum, Systemische Mängel (bejaht), Keine individuelle Zusicherung, unzulässiger Asylantrag, Abschiebungsanordnung, gültiges Visum, systemische Mängel, Zusicherung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 27.02.2023 – 24 ZB 22.50056
Fundstelle:
BeckRS 2022, 45628
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 9. September 2022 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen die Ablehnung seines Asylantrags als unzulässig sowie gegen die Abschiebungsanordnung nach Ungarn im Rahmen des sogenannten „Dublin-Verfahrens“.
2
Der Kläger ist jemenitischer Staatsangehöriger. Er reiste am 7. März 2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem die Beklagte am 17. März 2022 Kenntnis erhielt. Der förmliche Asylantrag datiert vom 21. April 2022.
3
Nach der in der Behördenakte befindlichen Kopie des Reisepasses des Klägers (Bl. 42 der am 19.9.2022 vorgelegten Behördenakte) war der Kläger im Besitz eines Visums, das am 8. Februar 2022 von den ungarischen Behörden im Oman ausgestellt worden war und das vom Ausstellungstag bis 7. Februar 2023 gültig ist. Mit diesem Visum reiste der Kläger am 14. Februar 2022 in Ungarn ein und nach einem 15-tägigen Aufenthalt direkt nach Deutschland weiter.
4
Daher richtete die Beklagte am 25. April 2022 ein Aufnahmegesuch an die ungarischen Behörden, das am folgenden Tag dort einging. Gleichzeitig forderte die Beklagte eine individuelle Zusicherung dahingehend an, dass die ungarischen Behörden den Kläger bei Rücküberstellung gemäß europäischen Asylstandards behandeln. Nachdem die ungarischen Behörden ihre Zustimmung zur Aufnahme zunächst verweigerten und die Beklagte hiergegen remonstrierte, erklärten die ungarischen Behörden mit Schreiben vom 10. Juni 2022, das die Beklagte am 15. Juni 2022 erhielt, die Übernahme des Klägers. Nachdem die Beklagte die ungarischen Behörden im Anschluss noch dreimal aufforderte, eine individuelle Zusicherung für den Kläger abzugeben, übermittelte das ungarische Dublin-Unit mit E-Mail vom 10. August 2022, die keinen Text enthält, eine undatierte Anlage mit folgendem Inhalt: „We hereby inform you that in each independent case the application for international protection is processed in accordance with Directive 2013/32/EU and accomodation is appointed in accordance with the standards of Directive 2013/33/EU.“
5
Mit Bescheid der Beklagten vom 9. September 2022 wurde der Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt (Nr. 1), festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 2), die Abschiebung nach Ungarn angeordnet (Nr. 3) und ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von 11 Monaten ab dem Tag der Abschiebung angeordnet (Nr. 4). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
6
Der Kläger hat mit Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten vom … September 2022, der am gleichen Tag bei dem Verwaltungsgericht München eingegangen ist, Klage gegen diesen Bescheid erhoben. Er beantragt,
7
1. Der Bescheid der Beklagten vom 9. September 2022, zugestellt am 13. September 2022, wird aufgehoben.
8
2. Die Beklagte wird verpflichtet, zugunsten des Klägers Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
9
Zur Begründung wird vorgetragen, dass in Ungarn systemische Mängel des Asylverfahrens bestünden, so dass Deutschland für die Bearbeitung des Asylantrags zuständig geworden sei. Hierzu wird auf die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte, auch der Obergerichte, aus den Jahren 2016 bis 2019 verwiesen. Hintergrund der Annahme systemischer Mängel sei die gesetzliche und tatsächliche Entwicklung in Ungarn seit dem Jahr 2013, insbesondere die Gefahr für Asylbewerber, in Asylhaft genommen zu werden, der fehlende effektive Rechtsschutz sowie die Gefahr von Verstößen gegen das Refoulement-Verbot. Zwar seien nach der grundlegenden Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 14. Mai 2020 mit Wirkung ab 21. Mai 2020 die sogenannten Transit-Zonen geschlossen worden. Im Hinblick auf die Inhaftierung von Asylbewerbern habe dies jedoch keine grundlegende Änderung bewirkt. Überdies dürften seit dem 26. Mai 2020 nur noch solche Asylbewerber in Ungarn einen Asylantrag stellen, die zuvor bei den ungarischen Botschaften in Kiew oder Belgrad eine sogenannte Absichtserklärung abgegeben hätten und dann eine Einreisegewährung erhalten hätten. Für Dublin-Rückkehrer seien insoweit keine Ausnahmen vorgesehen. Die Europäische Kommission habe deswegen ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Vor diesem Hintergrund sei bei einer Überstellung nach Ungarn nicht gesichert, dass der Kläger dort Flüchtlingsschutz beantragen könne.
10
Die Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 20. September 2022,
12
Zur Begründung wird auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.
13
Mit Beschluss vom 20. September 2022 hat das Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nummer 3 des Bescheids der Beklagten vom 9. September 2022 angeordnet (M 10 S 22.50494).
14
Mit Schriftsätzen von 4. Oktober und 5. Oktober 2022 haben die Parteien auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
15
Mit Beschluss vom 19. Oktober 2022 hat das Gericht den Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen.
16
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtssowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
17
Über die Klage kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
18
Die Klage hat Erfolg, soweit sie auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 9. September 2022 gerichtet ist (Nr. 1 der Klageanträge). Die Klage bleibt erfolglos, soweit die Verpflichtung der Beklagten, Abschiebungsverbote festzustellen, erstrebt wird (Nr. 2 der Klageanträge), da sie insofern bereits unzulässig ist.
19
1. Die zulässige Klage auf Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 9. September 2022 ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 9. September 2022 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 HS. 2 AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
20
a) Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig in Nummer 1 des angefochtenen Bescheids ist rechtswidrig und daher aufzuheben.
21
Zwar ist die Beklagte im Ausgangspunkt zutreffend von einer Zuständigkeit Ungarns in Bezug auf den in der Bundesrepublik Deutschland gestellten Asylantrag des Klägers ausgegangen, da dieser im Besitz eines gültigen ungarischen Visums ist (Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO).
22
Aber vorliegend ist die Zuständigkeit gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen, weil eine Überstellung an Ungarn als den zuständigen Mitgliedstaat an Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO scheitern würde. Denn es liegen wesentliche Anhaltspunkte für die Annahme vor, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn systemische Schwachstellen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) mit sich bringen.
23
Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Kläger führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011, a.a.O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris).
24
Gemessen an diesen Maßstäben ist diese Vermutung im konkreten Fall widerlegt.
25
Bereits der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat in den Jahren 2017 und 2018 festgestellt, dass eine Abschiebung nach Ungarn unzulässig ist, weil das Asylverfahren für Dublin-Rückkehrer an systemischen Mängeln leidet (vgl. BayVGH, U.v. 31.1.2018 – 9 B 17.50039; B.v. 29.1.2018 – 20 B 16.50000; B.v. 23.1.2018 – 20 B 16.50073; U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.50003 – jew. juris). Auch die wohl überwiegende derzeitige verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, der sich das Gericht anschließt, hält an der Annahme des Bestehens von systemischen Mängeln im ungarischen Asylverfahren weiterhin fest (vgl. VG München, B.v. 26.9.2022 – M 10 S 22.50491 n.v.; Gerichtsbescheide v. 5.9.2022 – M 30 K 22.50353 und M 30 K 22.50407 n.v.; B.v. 18.7.2022 – M 10 S 22.50218 – juris; VG Aachen, B.v. 1.9.2022 – 5 L 613/22.A – juris; U.v. 21.7.2022 – 5 K 644/22.A – juris; VG Würzburg, B.v. 9.2.2022 – W 1 S 22.50035 – BeckRS 2022, 2913; dem Vorliegen systemischer Mängel – unter Vorbehalt von Zusicherungen – grundsätzlich zustimmend: VG Regensburg, B.v. 7.3.2022 – RN 13 S 22.50079 – juris; a.A. VG Hamburg, B.v. 18.3.2022 – 7 AE 3979/21 – juris; für anerkannt Schutzberechtigte die ernsthafte Gefahr einer gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK verstoßenden erniedrigenden Behandlung in Ungarn bejahend: VG Bremen, B.v. 6.4.2022 – 3 K 491/18 – juris; a.A.: BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris). Denn die Situation in Ungarn hat sich seitdem nicht grundlegend zugunsten der Asylbewerber und Dublin-Rückkehrer geändert:
26
aa) Der EuGH stellte mit Urteilen vom 14. Mai 2020 (C-924/19 PPU und C-925/19 PPU – juris) und 17. Dezember 2020 (C-808/18 – juris) fest, dass Ungarn mehrfach gegen geltendes Europarecht, insbesondere die EU-Richtlinien 2008/115/EG, 2013/32/EU sowie 2013/33/EU, verstoßen hat.
27
bb) Daraufhin schloss Ungarn zwar die sogenannten Transit-Zonen mit Wirkung ab dem 21. Mai 2020; hinsichtlich der Inhaftierung von Asylbewerbern hat dies aber keine grundlegende Änderung der Rechtspraxis mit sich gebracht (VG Würzburg, a.a.O., Rn. 19). Im Anschluss an die Schließung der Transit-Zonen führte Ungarn zudem zum 26. Mai 2020 ein neues System ein, wonach Asylanträge grundsätzlich, mit wenigen Ausnahmen etwa für bereits anerkannt Schutzberechtigte und ihre Familien, nur noch gestellt werden können, wenn die Schutzsuchenden zuvor bei den ungarischen Botschaften in Kiew oder Belgrad eine „Absichtserklärung“ abgegeben haben und sodann eine Einreisegewährung erhalten haben (AIDA, Country Report: Hungary – Update 2021, April 2021, https://asylumineurope.org/wp-content/uploads/2022/04/AIDAHU_2021update.pdf S. 13 – abgerufen am 20.10.2022). Auch für Dublin-Rückkehrer finden sich hinsichtlich dieser Voraussetzung für die Stellung eines Asylantrages keine Ausnahmen (AIDA, a.a.O., S. 48). Es ist folglich bei einer Überstellung nach Ungarn weder sichergestellt, dass die Antragsteller dort einen Asylantrag stellen können noch dass rechtsstaatliche Verfahrensbedingungen eingehalten werden (vgl. VG Würzburg, a.a.O., Rn. 19).
28
cc) Wegen dieser aus Sicht der Europäischen Kommission rechtswidrigen Beschränkung des Zugangs zum Asylverfahren leitete diese bereits ein Vertragsverletzungsverfahren ein (vgl. Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 15.7.2021, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_3424 – abgerufen am 20.10.2022).
29
dd) Am 12. November 2021 verklagte die Europäische Kommission Ungarn erneut, weil die ungarische Regierung aus Sicht der Europäischen Kommission das Urteil des EuGH vom 17. Dezember 2020 in mehreren Punkten nicht befolgt und es dem ungarischen Verfassungsgericht zur Überprüfung vorgelegt hat. Damit wird nach Auffassung der Europäischen Kommission gegen den Vorrang des Europarechts verstoßen (vgl. Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 12.11.2021, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_5801 – abgerufen am 20.10.2022). Das ungarische Verfassungsgericht wies den Einspruch der Regierung am 7. Dezember 2021 zurück (Az.: X/477/2021 – englische Version am 20.10.2022 abgerufen unter https://hunconcourt.hu/uploads/sites/3/2021/12/x_477_2021_eng.pdf).
30
ee) In einem offenen Brief vom 10. Juni 2022 wandte sich die Menschenrechtskommissarin des Europarats an den ungarischen Innenminister und kritisierte den faktischen Ausschluss der Möglichkeit für Drittstaatsangehörige (ausgenommen Geflüchtete aus der Ukraine), in Ungarn einen Asylantrag zu stellen. Zudem hätte es in Ungarn allein zwischen Januar und März 2022 fast 19.300 Fälle von Pushbacks nach Serbien gegeben. Die anhaltende Rhetorik seitens der Regierung, die Geflüchtete aus der Ukraine als „wahre Flüchtlinge“ und solche, die andernorts vor Grausamkeiten oder Krieg fliehen würden, als „Wirtschaftsmigranten“ bezeichne, sei vor dem Hintergrund des fehlenden fairen und effizienten Asylsystems ausgesprochen problematisch (Commissioner for Human Rights, Letter to the Minister of the Interior of Hungary, 10.6.2022, CommHR/DM/sf 019-2022, abgerufen am 20.10.2022 unter https://www.ecoi.net/en/document/2074499.html).
31
ff) Eine andere Beurteilung des Einzelfalls ergibt sich auch nicht aus der mit E-Mail vom 10. August 2022 auf Bitten der Beklagten übersandten Erklärung Ungarns, dass das ungarische Asylverfahren und die Unterbringung in jedem Fall im Einklang mit den Vorgaben der Richtlinien 2013/32/EU und 2013/33/EU stünden. Diese Erklärung kann nicht als geeignete Zusicherung Ungarns für den Einzelfall zur Einhaltung rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien sowie des europäischen Asylrechts angesehen werden (vgl. hierzu: VG München, B.v. 26.9.2022, a.a.O., Rn. 22; Gerichtsbescheide vom 5.9.2022, a.a.O.; VG Würzburg, a.a.O., Rn. 20; a.A. VG Regensburg, a.a.O., S. 8 f.).
32
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie des Bundesverfassungsgerichts ist anerkannt, dass solche für den zwischenstaatlichen Rechtsverkehr abgegebenen Erklärungen hinreichend belastbar sein müssen. Geprüft werden muss daher insbesondere, ob eine solche Erklärung eine ausreichende Garantie für den Schutz der individuellen Person vor Rechtsverletzungen bietet. Weiter ist zu prüfen, ob die allgemeine Menschenrechtslage im Bestimmungsland es allgemein ausschließt, Zusagen jeglicher Art zu berücksichtigen. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die tatsächlichen Gegebenheiten im Zielstaat erheblich von dem zugesicherten Verhalten abweichen (vgl. EGMR, U.v. 17.1.2012 – Othman/Vereinigtes Königreich, Nr. 8139/09 – HUDOC Rn. 187 ff. = NVwZ 2013, 487 [488 f.]; BVerfG, B.v. 4.12.2019 – 2 BvR 1832/19 – juris Rn. 45 m.w.N.).
33
Die im konkreten Fall übermittelte Erklärung Ungarns genügt diesen Anforderungen nicht; sie ist nicht hinreichend belastbar. Zwar ist sie gezielt im Verfahren des Klägers von der Beklagten angefordert und von den ungarischen Behörden übersandt worden. Aber hieraus lässt sich angesichts der allgemein gehaltenen Erklärung kein hinreichender persönlicher Bezug auf den Kläger herleiten. Die Erklärung selbst enthält weder einzelfallspezifische Angaben zum Kläger noch sonstige Merkmale, wie etwa eine Unterschrift der die Erklärung verantwortenden Person oder eine Datumsangabe. Hinzu kommt, dass die Erklärung ihrem Inhalt nach allgemein gehalten („in each independent case“) und nicht konkret auf den Kläger bezogen ist. Angesichts der aufgezeigten Mängel des ungarischen Asylsystems, insbesondere mit Blick auf die in den Entscheidungen des EuGH gerade festgestellten Verstöße gegen die Richtlinien 2013/32/EU und 2013/33/EU, erscheint die Verlässlichkeit der Zusage im Übrigen mindestens fragwürdig. Auch die die Erklärung übermittelnde E-Mail vom 10. August 2022 enthält keine konkretisierenden Erläuterungen. Insgesamt kann aus der Erklärung daher nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit hergeleitet werden, dass Ungarn tatsächlich eine individuelle Zusicherung im Einzelfall für den Kläger ausstellen wollte und sich an diese auch tatsächlich gebunden fühlt.
34
b) Aufgrund der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung in Nummer 1 des angefochtenen Bescheids sind alle weiteren Entscheidungen im Bescheid (Nrn. 2 bis 4) ebenso aufzuheben, da diesen durch die Aufhebung von Nummer 1 die Grundlage entzogen wird.
35
2. Soweit die Klage in einem weiteren Hauptantrag (Nr. 2 der Klageanträge) auf Verpflichtung der Beklagten, Abschiebungsverbote festzustellen, gerichtet ist, ist sie unzulässig. Die Verpflichtungsklage ist in der vorliegenden Konstellation nicht statthaft. Die Anfechtungsklage ist die allein statthafte Klageart, wenn ein Asylbewerber die Aufhebung einer Entscheidung über die Unzuständigkeit Deutschlands für die Prüfung seines Asylantrags nach der Dublin III-Verordnung begehrt (vgl. BVerwG, U.v. 27.10.2015 – 1 C 32/14 – NVwZ 2016, 154 [155]).
36
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, da die Beklagte nur zu einem geringen Teil obsiegt. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
37
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung fußt auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.