Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 03.11.2022 – W 4 K 20.786
Titel:

Vorbescheid für Wohnhaus - Unwirksamkeit der Festsetzung von Baugrenzen durch Änderungsbebauungsplan

Normenketten:
BayBO Art. 71
BauGB § 29, § 30, § 31 Abs. 2
GG Art. 14 Abs. 1
Leitsätze:
1. Bei einer Änderungsplanung ist auch die durch die Erstplanung vorgegebene rechtliche Situation der überplanten Grundstücke in die Abwägung mit einzubeziehen, einschließlich des Interesses des Planbetroffenen an der Beibehaltung des bisherigen Zustands. Festsetzungen, die ein bestehendes Baurecht einschränken, sind nur zulässig, wenn gewichtige Belange für diese Beschränkung sprechen. (Rn. 50 – 52) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Fehler ist nur dann stets beachtlich, wenn es sich um einen solchen im Abwägungsergebnis handelt. Eine Fehlerhaftigkeit des Abwägungsergebnisses besteht nicht schon bei der Annahme der Möglichkeit, dass die Planung nach erforderlicher Abwägung anders ausgefallen wäre, sondern nur dann, wenn eine fehlerfreie Nachholung der erforderlichen Abwägung schlechterdings nicht zum gleichen Ergebnis führen würde. (Rn. 71 – 72) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Sicherung der wegemäßigen Erschließung als Voraussetzung für die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit baulicher Anlagen setzt die Erreichbarkeit des Baugrundstücks für Kraftfahrzeuge voraus und ist gesichert, wenn damit gerechnet werden kann‚ dass sie bis zur Herstellung des Bauwerks funktionsfähig angelegt sowie zu erwarten ist‚ dass sie auf Dauer zur Verfügung stehen wird. (Rn. 86) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Klage auf Erteilung eines Vorbescheids für Errichtung eines Wohnhauses, Bebauungsplanänderung, Inzidentkontrolle, Unwirksamkeit der Festsetzung von Baugrenzen auf Vorhabengrundstück, beachtlicher Fehler im Abwägungsergebnis, gesicherte Erschließung trotz Nichtwidmung einer im gemeindlichen Eigentum stehenden Straße, Anspruch auf Befreiungserteilung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 23.02.2023 – 9 ZB 22.2606
Fundstelle:
BeckRS 2022, 45623

Tenor

I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des ablehnenden Vorbescheides vom 6. Mai 2020 verpflichtet, dem Kläger einen positiven Vorbescheid bezüglich der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens entsprechend seinem Antrag vom 5. Dezember 2019 zu erteilen.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt mit der vorliegenden Klage die Erteilung eines positiven Vorbescheids für die Errichtung eines Wohnhauses.
2
1. Der Kläger ist der Vater des Eigentümers des Grundstücks Fl.Nr. …2 der Gemarkung H…, S… …, … H… (Vorhabengrundstück), welches in der vorderen Hälfte mit einem Wohnhaus bebaut ist.
3
Das Vorhabengrundstück befindet sich im Geltungsbereich des Bebauungsplans „B… W.“ der Gemeinde H… in der Fassung der … Änderung vom … … 2018.
4
Der Ursprungsbebauungsplan vom 17. März 1965 sah im rückwärtigen, dem Grundstück Fl.Nr. …1 zugewandten Teil des Vorhabengrundstücks ein Baufenster vor.
5
In seiner aktuellen Fassung setzt der Bebauungsplan für den hier maßgeblichen Bereich ein allgemeines Wohngebiet und ein durch die Festlegung von sich am Bestandsgebäude orientierenden Baugrenzen geschaffenes Baufenster im vorderen Bereich des Vorhabengrundstücks fest. Hinsichtlich der weiteren zeichnerischen und textlichen Festsetzungen wird auf den vorgenannten Bebauungsplan in seiner ursprünglichen sowie in der geänderten Fassung Bezug genommen.
6
Mit Antrag vom 5. Dezember 2019 beantragte der Kläger beim Landratsamt Aschaffenburg die Erteilung eines baurechtlichen Vorbescheids über die Genehmigungsfähigkeit eines Wohnhausneubaus auf dem vorgenannten Grundstück im rückwärtigen Grundstücksbereich sowie die Erteilung der Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans aufgrund der Überschreitung der festgesetzten Baugrenzen.
7
Mit Beschluss vom 15. Januar 2020 versagte die Beigeladene das gemeindliche Einvernehmen.
8
2. Mit Bescheid des Landratsamtes Aschaffenburg vom 6. Mai 2020, befand dieses, dass für das Bauvorhaben eine Baugenehmigung nicht in Aussicht gestellt werden könne.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich das geplante Bauvorhaben vollständig außerhalb der durch die 4. Änderung des Bebauungsplans „B… W.“ vom 9. Januar 2018 festgesetzten Baugrenzen befinde. Die erforderliche Befreiung von dieser Festsetzung könne nicht erteilt werden, da hierdurch die Grundzüge der Planung berührt würden. Die Errichtung des Wohnhauses außerhalb des vorgesehenen Baufensters widerspreche dem planerischen Konzept. Im Falle einer Befreiungserteilung müssten auch für künftige, ähnliche Vorhaben außerhalb der Baugrenzen entsprechende Befreiungen erteilt werden, wodurch eine planerische Situation entstünde, die die ursprüngliche planerische Festsetzung der Baugrenzen und die damit beabsichtigte Freiflächengestaltung faktisch beseitigen würde. Zudem sei die notwendige Erschließung nicht gesichert, da die Verlängerung der M … S … (Fl.Nr. …2 der Gemarkung Ha …) nicht gewidmet und deshalb diese Verkehrsfläche nicht als offizielle Erschließung anzusehen sei.
10
Im Weiteren wird auf den Inhalt des streitgegenständlichen Bescheides vom 6. Mai 2020, welcher dem Klägerbevollmächtigten ausweislich des in den Behördenakten befindlichen Empfangsbekenntnisses am 15. Mai 2020 zugestellt wurde, Bezug genommen.
11
3. Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 15. Juni 2020, eingegangen bei Gericht am selben Tag, ließ der Kläger Klage erheben und beantragen,
Der Bescheid des Landratsamtes Aschaffenburg vom 6. Mai 2020 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, den beantragten Vorbescheid zu erteilen.
12
Klagebegründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Bebauungsplan sei in seiner geänderten Form rechtswidrig, da durch dessen Änderung das Baufenster auf dem Vorhabengrundstück rechtswidrig verkleinert worden sei. Die Ausgestaltung der Baugrenzen auf dem Vorhabengrundstück stehe im Widerspruch zur Begründung der ... Änderung des Bebauungsplans, die insgesamt von dem Willen getragen sei, durch eine angemessene Nachverdichtung eine städtebauliche Entwicklung voranzutreiben.
13
Darüber hinaus seien die privaten Belange des Klägers im Abwägungsprozess unberücksichtigt geblieben, sodass die Reduzierung der bebaubaren Fläche einen rechtswidrigen Eingriff in das Eigentumsrecht des Klägers darstelle.
14
Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung seien im vorliegenden Fall gegeben. Insbesondere würden die Grundzüge der Planung durch die Abweichung nicht berührt, da dem Bebauungsplan ausweislich seiner Begründung die Grundkonzeption der Nachverdichtung zugrunde liege. Der beabsichtigte Wohnhausneubau stehe diesem Konzept daher nicht entgegen.
15
4. Mit Schriftsatz vom 18. September 2020 beantragte das Landratsamt Aschaffenburg für den Beklagten,
die Klage abzuweisen.
16
Zur Begründung bezog sich das Landratsamt Aschaffenburg auf den angefochtenen Bescheid und führte ergänzend im Wesentlichen aus, eine Unwirksamkeit des Bebauungsplans sei nicht erkennbar. Im Zuge der Beteiligung der Öffentlichkeit sei eine öffentliche Unterrichtung der Bürger zu den geplanten Änderungen erfolgt und Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden. Die Neuordnung der Baugrenzen und die Versagung der Erteilung einer Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes schränke die Baufreiheit und das Eigentumsrecht des Klägers nicht unzumutbar ein, da eine angemessene Nachverdichtung auf dem betroffenen Grundstück weiterhin möglich sei. Aus der Begründung zur Änderung des Bebauungsplans gehe hervor, dass eine über die neuen Baugrenzen hinausgehende, bauliche Entwicklung städtebaulich nicht erwünscht sei. Die Verweigerung des gemeindlichen Einvernehmens durch die Beigeladene sei aufgrund der fehlenden Genehmigungsfähigkeit des Bauvorhabens deshalb nicht zu beanstanden.
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5. Mit Beschluss vom 7. Juli 2020 wurde die Gemeinde H… zum Verfahren beigeladen.
18
Die Beigeladene stellte keinen Antrag, äußerte sich jedoch mit Schriftsatz vom 8. September 2020 zur Sache. Sie führte im Wesentlichen aus, dass trotz öffentlicher Auslage des Bebauungsplans seitens der Familie des Klägers keine Änderungswünsche vorgetragen worden seien. Daraufhin habe die Beigeladene die Zustimmung zu der nun rechtskräftigen Planung angenommen. Ferner sei die Familie des Klägers zu Geltungszeiten des alten Bebauungsplans durch großzügige Befreiungen in den Genuss einer Wertsteigerung ihres Anwesens gekommen.
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6. Mit Beschluss vom 11. Mai 2022 hat das Gericht Beweis erhoben durch die Einnahme eines Augenscheins über die örtlichen und baulichen Verhältnisse im Bereich des Vorhabengrundstücks, welcher am 26. Juli 2022 durchgeführt worden ist. Diesbezüglich wird auf das Protokoll über den Augenschein und die dort gefertigten Lichtbilder Bezug genommen.
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7. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte im vorliegenden Verfahren sowie auf die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

21
Die Klage, über die ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, da die Beteiligten auf deren Durchführung im Rahmen des gerichtlichen Augenscheins verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO), hat Erfolg.
22
Die auf die Erteilung eines positiven Vorbescheids gerichtete Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage ist zulässig und begründet.
23
Der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung des beantragten Bauvorbescheids. Der negative Vorbescheid des Landratsamtes Aschaffenburg vom 6. Mai 2020 ist rechtswidrig ist und verletzt den Kläger daher in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
24
1. Die Klage ist zulässig; insbesondere weist der Kläger die nach § 42 Abs. 2 VwGO erforderliche Klagebefugnis auf.
25
Obgleich der Kläger nicht der Eigentümer des Vorhabengrundstücks ist, kann er die Möglichkeit des Bestehens eines Anspruchs auf Vorbescheidserteilung geltend machen. Unter Berücksichtigung des eindeutigen Wortlauts der Vorschrift des Art. 71 Satz 1 BayBO, die nicht auf die Eigentümer-, sondern auf die Bauherreneigenschaft abstellt, sowie des Umstands, dass das Recht zu bauen nicht nur aus Art. 14 Abs. 1 GG, sondern auch aus der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) folgt, kann auch ein Nichteigentümer die Erteilung eines Vorbescheids beantragen.
26
Daher ist der Kläger klagebefugt im Sinne des § 42 Abs. 2 VwGO (vgl. OVG NW, B.v. 3.12.2008 – 10 A 2741/07 – juris Rn. 7).
27
Ferner ist die am 15. Juni 2020 bei Gericht eingegangene Klage fristgerecht erhoben worden (§ 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO).
28
2. Die zulässige Klage ist in der Sache auch begründet.
29
Der negative Vorbescheid des Landratsamtes Aschaffenburg vom 6. Mai 2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
30
Dem Kläger steht ein Anspruch auf Erteilung des beantragten Bauvorbescheids hinsichtlich der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit seines Vorhabens zu.
31
Nach der den rechtlichen Ausgangspunkt bildenden Vorschrift des Art. 71 Satz 1 BayBO ist vor der Einreichung eines Bauantrags auf Antrag des Bauherrn zu einzelnen Fragen des Bauvorhabens ein Vorbescheid zu erteilen. Gemäß Art. 71 Satz 4 i.V.m. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO dürfen dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren (Art. 59 BayBO) zu prüfen sind.
32
2.1. Vorliegend ergibt die Auslegung (§§ 133, 157 BGB) des klägerischen Vorbescheidsantrags, dass dieser die Erteilung eines Bauvorbescheids hinsichtlich der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit seines Vorhabens begehrt.
33
Zwar beinhaltet der Antrag, der ausgehend von seinem Wortlaut auf die „Prüfung der Genehmigungsfähigkeit des Vorhabens im Rahmen einer Bauvoranfrage“ gerichtet ist (vgl. Bl. 8 der Behördenakte), keine im Vorbescheidsverfahren prüffähige Einzelfrage im Sinne des Art. 71 Satz 1 BayBO, da hiermit der gesamte Umfang der Baugenehmigung zur Prüfung gestellt wurde (vgl. Laser in Schwarzer/König, 5. Aufl. 2022, Art. 71 Rn. 10).
34
Die durch die fehlende Stellung einer Einzelfrage ausgelöste grundsätzliche Unbestimmtheit des Antrags, kann sich jedoch im Einzelfall durch dessen Auslegung beseitigen lassen (vgl. BayVGH, U.v. 22.5.2006 – 1 B 04.3531 – juris Rn. 23). Hierbei ist nach den im öffentlichen Recht entsprechend anwendbaren Vorschriften der §§ 133, 157 BGB der wahre Wille zu erforschen und nicht am konkreten Wortlaut zu haften. Maßgebend ist, wie die Erklärung aus Sicht des Empfängers bei objektiver Würdigung unter Berücksichtigung der Antragsunterlagen und der Ausführungen des Antragstellers zu verstehen ist (vgl. BayVGH, B.v. 30.11.2009 – 2 CS 09.1979 – juris Rn. 24).
35
Bei einem pauschalen Antrag – wie vorliegend der Fall – spricht zudem das Sicherungsinteresse des Bauherrn dafür, den Antrag im Zweifel dahingehend auszulegen, dass dieser eine Antwort auf die Frage der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit begehrt (vgl. BayVGH, U.v. 2.7.2004 – 1 B 02.1006 – juris Rn. 28; Michl in BeckOK, BayBO, 23. Ed. Stand: 1.9.2022, Art. 71 Rn. 23).
36
Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs, der eingereichten Antragsunterlagen (vgl. Bl. 34 ff. der Behördenakte) sowie des erkennbar zum Ausdruck gebrachten Interesses des Klägers am Erhalt einer sicheren Rechtsstellung, war der Antrag für das Landratsamt Aschaffenburg daher so zu verstehen, dass der Kläger die Erteilung eines Vorbescheids hinsichtlich der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit seines Vorhabens begehrt.
37
2.2. Dem Kläger kommt ein Anspruch auf Erteilung des beantragten Vorbescheids zu, da dessen Vorhaben bauplanungsrechtlich zulässig ist (Art. 71 Satz 4 i.V.m. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1, Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a) BayBO i.V.m. §§ 29 ff. BauGB).
38
Die Festsetzung des Bebauungsplans „B… W.“ in der Fassung der … Änderung vom … … 2018 über überbaubare Grundstücksflächen auf dem Vorhabengrundstück steht dem Vorhaben nicht entgegen, da diese rechtswidrig und damit unwirksam ist (2.3.). Im Übrigen entspricht das klägerische Vorhaben den Festsetzungen des geänderten Bebauungsplans (2.4). Überdies ist auch die Erschließung gesichert (2.5.).
39
2.3. Das Vorhaben in Gestalt der Errichtung eines Wohnhauses widerspricht nicht den Festsetzungen des Bebauungsplans „B… W.“ in seiner aktuellen Fassung (§ 30 Abs. 1 BauGB).
40
Insbesondere steht dem Vorhaben nicht die Festsetzung über überbaubare Grundstücksflächen in Form der festgelegten Baugrenzen auf dem Vorhabengrundstück entgegen (§ 30 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 23 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 BauNVO).
41
Denn der Bebauungsplan „B… W.“ in der Fassung der ... Änderung vom … … 2018 ist insoweit unwirksam.
42
Es kann vorliegend dahinstehen, ob die Rechtswidrigkeit der Bebauungsplanänderung aus einem seitens des Klägerbevollmächtigten angeführten Verstoß gegen § 1 Abs. 4, Abs. 5 oder § 1a Abs. 2 Satz 1 BauGB folgt.
43
Denn jedenfalls leidet die streitgegenständliche Festsetzung an einem sich aus einem Widerspruch zu höherrangigem Recht (§ 1 Abs. 7 BauGB) ergebenden Fehler (2.3.1.), der auch beachtlich ist (2.3.2.).
44
Der Kläger kann vorliegend auch als Nichteigentümer des Vorhabengrundstücks die Rechtswidrigkeit der Bebauungsplanänderung infolge der Nichtbeachtung privater Belange des Grundstückseigentümers im Rahmen einer inzidenten Kontrolle geltend machen.
45
Denn auch er ist durch die aus der konkreten Ausgestaltung der Baugrenzen resultierende Nutzungseinschränkung des Vorhabengrundstücks als Bauherr (Art. 2 Abs. 1 GG) nachteilig betroffen. Orientierend an den Anforderungen an die Annahme einer Antragsbefugnis im Normenkontrollverfahren (§ 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO), die auch ein Nichteigentümer aufweisen kann (vgl. BVerwG, B. v. 18.05.1994 – 4 NB 27/93 – juris Rn. 10), muss einem durch eine Festsetzung nachteilig betroffenen Bauherrn auch unabhängig von dessen Eigentümerstellung die Möglichkeit der Geltendmachung der Rechtswidrigkeit des Bebauungsplans im Rahmen einer Inzidentkontrolle offenstehen.
2.3.1.
46
Der Bebauungsplan „B… W.“ in der Fassung der ... Änderung vom … … 2018 leidet an einem materiell-rechtlichen Fehler dergestalt, als die privaten Belange des Grundstückseigentümers bei der Neuordnung der Baugrenzen auf dem Vorhabengrundstück nicht in einer den Anforderungen des Abwägungsgebots (§ 1 Abs. 7 BauGB) genügenden Weise abgewogen worden sind.
47
Nach § 1 Abs. 7 BauGB sind bei der Aufstellung von Bauleitplänen die öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander abzuwägen. Dies gilt auch, wenn – wie vorliegend – ein Bebauungsplan geändert wird (§ 1 Abs. 8 BauGB).
48
Beim Erlass von Festsetzungen über überbaubare Grundstücksflächen, bei denen es sich um Inhalts- und Schrankenbestimmungen nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG handelt, besteht für den Satzungsgeber das Erfordernis, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den von der Planung berührten, schutzwürdigen Eigentümerinteressen und den Belangen des Allgemeinwohls zu schaffen (vgl. BVerfG, B.v. 19.12.2002 – 1 BvR 1402/01 – juris Rn. 13).
49
Die widerstreitenden Belange müssen daher unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und des Gleichheitssatzes in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden (vgl. BayVGH, U.v. 27.10.2014 – 1 N 13.586 – juris Rn. 34; NdsOVG, B.v. 15.7.2022 – 1 MN 132/21 – juris Rn. 23).
50
Bei einer Änderungsplanung ist daher auch die durch die Erstplanung vorgegebene rechtliche Situation der überplanten Grundstücke in die Abwägung mit einzubeziehen, einschließlich des Interesses des Planbetroffenen an der Beibehaltung des bisherigen Zustands (vgl. BVerwG, B.v. 18.10.2006 – 4 BN 20/06 – juris Rn. 10; BayVGH, U.v. 26.4.2017 – 1 N 14.2107 – juris Rn. 13).
51
Zwar gibt es keinen Planungsgrundsatz, wonach nicht ausgenutztes Baurecht bei einer Überplanung des Gebiets erhalten werden muss (vgl. BVerwG, B.v. 26.8.2009 – 4 BN 35/09 – BauR 2010/54; BayVGH, U.v. 7.3.2018 – 1 N 15.625 – juris Rn. 12; U.v. 27.10.2014 – 1 N 13.586 – juris Rn. 34).
52
Allerdings sind Festsetzungen, die ein bestehendes Baurecht einschränken nur zulässig, wenn gewichtige Belange für diese Beschränkung sprechen (vgl. BayVGH, U.v. 27.10.2014 – 1 N 13.586 – juris Rn. 31; OVG SH, U.v. 27.8.2020 – 1 LB 17/17 – juris Rn. 104; Söfker in Ernst/Zinkhahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, 145. EL Stand: 02/2022, § 1 Rn. 197).
53
Die einen Eingriff in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG darstellende Minderung bestehenden Baurechts setzt zudem voraus, dass das der Planung zugrundeliegende Konzept möglichst widerspruchsfrei umgesetzt und durch die Festsetzungen des Bebauungsplans nicht konterkariert wird (vgl. BayVGH, U.v. 27.10.2014 – 1 N 13.586 – juris Rn. 34).
54
Gemessen hieran geht die erkennende Kammer davon aus, dass die Neuordnung der Baugrenzen auf dem Vorhabengrundstück im maßgeblichen Zeitpunkt der Beschlussfassung über die Änderung des Bebauungsplans „B… W.“ außer Verhältnis zu den von der Planänderung berührten Interessen des Grundstückseigentümers steht.
55
Die im Zuge der Bebauungsplanänderung erfolgte Neugestaltung der Baugrenzen auf dem Vorhabengrundstück führt zu einer deutlichen Einschränkung dessen Bebaubarkeit und damit einhergehend zu einer Nutzungsbeschränkung.
56
Denn das im ursprünglichen Bebauungsplan vom 17. März 1965 vorgesehene Baufenster im rückwärtigen, dem Grundstück Fl.Nr. …1 zugewandten Bereich (vgl. zeichnerische Festsetzungen des Bebauungsplans vom 17.3.1965) ist infolge der Planänderung weggefallen (vgl. zeichnerische Festsetzungen des Bebauungsplans in der Fassung der ... Änderung vom …2018).
57
Die in der aktuellen Fassung des Bebauungsplans festgelegten Baugrenzen orientieren sich an dem auf dem Vorhabengrundstück befindlichen Bestandsgebäude. Die Planänderung führt demnach zu einer Minderung ursprünglich bestehenden Baurechts. Obgleich einer flächenmäßigen Vergrößerung des Baufensters ist die Möglichkeit der Bebauung des rückwärtigen Grundstücksteils in den Grenzen des ehemals vorgesehenen Baufensters komplett entfallen. Ferner ist die Bebaubarkeit infolge der Orientierung der Baugrenzen an der Bestandsbebauung in tatsächlicher Hinsicht eingeschränkt.
58
Dem insoweit bestehenden Eingriff in die Eigentümerrechte (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG) in Gestalt des Ausschlusses einer materiell legalen Bebauung des rückwärtigen Grundstücksteils stehen keine hinreichend gewichtigen und mit der Planänderung verfolgten Belange des Gemeinwohls gegenüber, die den Eingriff rechtfertigen könnten.
59
Weder aus dem Bebauungsplan „B… W.“ in der Fassung der … Änderung vom … … 2018 noch aus dessen Begründung oder sonstigen Planungsunterlagen der Beigeladenen geht hervor, dass städtebauliche Gründe vorliegen, die zur Rechtfertigung dieses Eingriffs geeignet sind. Die Beigeladenenvertreter konnten solche auch im Rahmen des Augenscheinstermins – darauf angesprochen – nicht nennen.
60
In Abkehr von einem durch die Festlegung einzelner kleiner Baufenster im Ursprungsbebauungsplan vom 17. März 1965 geschaffenen engen Rahmen für die Lage der beabsichtigten Bebauung und einer geringen Nutzungsmöglichkeit der Grundstücke bezweckt die Beigeladene mit der Planänderung, „baurechtliche Rahmenbedingungen für zukünftige Maßnahmen im Gebäudebestand, Erweiterungen oder Nachverdichtungen zu schaffen“, wobei eine Erweiterung der Baugrenzen „dem Ziel der Nachverdichtung“ dienen soll (vgl. S. 3 und 13 der Begründung zur Bebauungsplanänderung).
61
Zur Verwirklichung dieses Ziels sollen die „Baufenster so großzügig dimensioniert werden, dass sie ausreichend Varianten zur Realisierung von Erweiterungen und Umbauten bzw. Neubauten zulassen“ (vgl. S. 8 der Begründung zur Bebauungsplanänderung).
62
Ausweislich der Planungsunterlagen der Beigeladenen sowie der Begründung der Bebauungsplanänderung liegt dieser das Ziel zugrunde, die engen Vorgaben des ursprünglichen Bebauungsplans zu lockern, damit Nachverdichtungsmöglichkeiten zu schaffen und die Flexibilität für die Realisierung von Bauprojekten zu steigern.
63
Die konkrete Ausgestaltung der Baugrenzen auf dem Vorhabengrundstück steht damit im Widerspruch zu dem mit der Planänderung verfolgten Ziel. Der Umstand, dass die im Ursprungsbebauungsplan vorhandenen, einzelnen Baufenster überwiegend zu einem „durchgängigen“ Baufenster, gerade im Bereich der benachbarten Grundstücke (vgl. Fl.Nrn. …8 und …2) erweitert wurden, verdeutlicht die vorbezeichnete Differenz zwischen dem der Bebauungsplanänderung zugrundeliegenden Zweck und der durch die Streichung des ursprünglichen Baufensters geprägten Neugestaltung der Baugrenzen auf dem Vorhabengrundstück. Das der hier vorliegenden Planung zugrundeliegende Konzept wird durch die konkrete Gestaltung der Baugrenzen auf dem Vorhabengrundstück gerade konterkariert.
64
Soweit die Beigeladene darauf verweist, dass die Festsetzung der Baugrenzen auf dem Grundstück Fl.Nr. …2 unter Berücksichtigung des Entwicklungsspielraums am S… erfolgt ist, gilt es zu berücksichtigen, dass es sich hierbei um ein anderes Grundstück handelt (Fl.Nr…5) und eine Verweisung auf die Inanspruchnahme eines anderen Grundstücks unter Berücksichtigung des Umfangs des Schutzbereichs des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG nicht zu einer Rechtfertigung dieses Eingriffs führen kann.
65
Ferner stellt die pauschale Angabe, dass eine über die festgelegten Baugrenzen „hinausgehende bauliche Entwicklung städtebaulich nicht gewünscht ist“ (vgl. S. 8 der Begründung zur Bebauungsplanänderung), keinen, einen Eingriff in Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG rechtfertigenden, gewichtigen städtebaulichen Belang dar. Die Beigeladene hat gerade nicht dargelegt, welche städtebaulichen Gründe für die Schaffung einer Freifläche im betroffenen Grundstücksbereich sprechen. Vielmehr hat sie lediglich unspezifisch und unsubstanziiert, ohne jegliche Angabe von Gründen erklärt, dass eine solche Entwicklung „nicht erwünscht“ sei.
66
Der Vortrag der Beigeladenen im Rahmen der Durchführung des gerichtlichen Augenscheins rechtfertigt keine hiervon abweichende Beurteilung.
67
Soweit diese angeführt hat, dass die Entfernung des ursprünglich vorhandenen Baufensters aufgrund einer ehemals geplanten Verlängerung der M… S… (Fl.Nr. …2) erfolgt ist, gilt zu berücksichtigen, dass dieser Aspekt im maßgeblichen Zeitpunkt der Beschlussfassung der Änderung des Bebauungsplans nicht angeführt worden ist (vgl. hierzu BVerwG, B.v. 10.11.1998 – 4 BN 45/98 – juris Rn. 4). Weder der geänderte Bebauungsplan noch dessen Begründung oder sonstige Planungsunterlagen der Beigeladenen enthalten Hinweise auf die Planung eines solchen Vorgehens.
68
Anderweitige Rechtfertigungsgründe hat die Beigeladene im Rahmen des Augenscheins nicht vorgetragen.
69
Aus diesen Gründen erweist sich die Planänderung im Hinblick auf die Neuordnung der Baugrenzen auf dem Vorhabengrundstück als abwägungsfehlerhaft.
2.3.2.
70
Dieser Abwägungsfehler ist auch beachtlich, da es sich hierbei um einen stets beachtlichen Fehler im Abwägungsergebnis handelt.
71
Unter Berücksichtigung der Vorschriften über die Planerhaltung §§ 214 ff. BauGB und der Rechtsprechung zur Beschränkung der Inzidentprüfung eines Bebauungsplans nach Ablauf der Jahresfrist des § 215 Abs. 1 Satz 1 BauGB auf die von dieser Vorschrift nicht erfassten Mängel (sog. „Ewigkeitsmängel“), ist ein Fehler nur dann stets beachtlich, wenn es sich um einen solchen im Abwägungsergebnis handelt (vgl. BayVGH, U.v. 22.9.2015 – 1 B 14.1652 – juris Rn. 20; B. v. 28.8.2009 – 1 CS 09.914 – juris Rn. 22).
72
Diesbezüglich gilt es zu beachten, dass eine Fehlerhaftigkeit des Abwägungsergebnisses nicht schon bei der Annahme der Möglichkeit besteht, dass die Planung nach erforderlicher Abwägung anders ausgefallen wäre, sondern nur dann, wenn eine fehlerfreie Nachholung der erforderlichen Abwägung schlechterdings nicht zum gleichen Ergebnis führen würde, weil der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten Belangen in einer Weise vorgenommen wurde, die zur objektiven Gewichtung der Belange außer Verhältnis steht (vgl. BVerwG, U.v. 22.9.2010 – 4 CN 2/10 – BVerwGE 138, Rn. 22; OVG NW, U.v. 1.4.2022 – 10 D 3/20.NE – juris Rn. 88).
73
Gemessen hieran geht das Gericht von der Fehlerhaftigkeit des Abwägungsergebnisses aus.
74
Das Ergebnis der Abwägung, d.h. die konkrete Ausgestaltung der Baugrenzen auf dem streitgegenständlichen Grundstück ist im Hinblick auf die Belange des von der Planänderung betroffenen Eigentümers schlechthin nicht zu rechtfertigen.
75
Die Entfernung des ursprünglich vorhandenen Baufensters im rückwärtigen Grundstücksbereich steht im eindeutigen Widerspruch zu dem mit der Bebauungsplanänderung verfolgten Ziel. Mangels Bestehens gewichtiger Belange des Allgemeinwohls in Gestalt städtebaulicher Gründe, die das Freihalten des rückwärtigen Teils des Vorhabengrundstücks von einer Bebauung rechtfertigen könnten, würde eine fehlerfreie Nachholung der Abwägung nicht zum gleichen Ergebnis führen.
2.3.3.
76
Folglich führt der festgestellte Abwägungsfehler zur Rechtswidrigkeit und mithin zur Unwirksamkeit der Festsetzung zur überbaubaren Grundstücksfläche für das Vorhabengrundstück (vgl. BayVGH, U.v. 26.2.2008 – 15 B 06.325 – juris Rn. 33).
77
2.4. Es kann vorliegend dahinstehen, ob die Unwirksamkeit dieser Festsetzung zur Gesamtunwirksamkeit des Bebauungsplans führt, denn in jedem Fall steht das Vorhaben nicht im Widerspruch zu bauplanungsrechtlichen Vorschriften.
2.4.1.
78
Die Wirksamkeit der übrigen Festsetzungen des geänderten Bebauungsplans unterstellt, stimmt das klägerische Vorhaben mit diesen überein.
79
Es entspricht der Festsetzung über die Art der baulichen Nutzung, da der Bebauungsplan ein allgemeines Wohngebiet ausweist und das Vorhaben der Wohnnutzung dient (§ 30 Abs. 1 BauGB i.V.m. §§ 1 Abs. 2 und 3 Satz 1, 4 Abs. 2 Nr. 1 BauNVO).
80
Ferner entspricht das Bauvorhaben den Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung. Insbesondere werden die festgesetzte Grundflächenzahl von 0,4 und die Geschossflächenzahl von 1,2 bei einer Grundstücksgröße von etwa 2.085 m² eingehalten. Widersprüche zu den übrigen Festsetzungen des Bebauungsplans sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
81
Da es vorliegend nicht entscheidungserheblich darauf ankommt, kann dahinstehen, ob die Unwirksamkeit der Festsetzung über überbaubare Grundstücksflächen auf dem Vorhabengrundstück dazu führt, dass für die Annahme der Zulässigkeit des Vorhabens diesbezüglich keine weiteren Kriterien erfüllt werden müssen oder sich die Zulässigkeit im Hinblick hierauf nach §§ 30 Abs. 3 i.V.m. 34 Abs. 1 BauGB richtet.
82
Denn unter Berücksichtigung der örtlichen und baulichen Verhältnisse vor Ort, von denen sich das Gericht im Rahmen des am 26. Juli 2022 durchgeführten Augenscheins überzeugen konnte, fügt sich das Vorhaben nach der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Insoweit kommt es auf die konkrete Größe der Grundstücksfläche sowie auf seine räumliche Lage innerhalb der vorhandenen Bebauung und damit auf den konkreten Standort des Vorhabens an (vgl. BVerwG, B.v. 22.9.2016 – 4 B 23/16 – juris Rn. 6; B.v. 12.8.2019 – 4 B 1/19 – juris Rn. 6).
83
Der Standort des geplanten Wohnhauses befindet sich im rückwärtigen, dem Grundstück Fl.Nr. …1 zugewandten Bereich des Vorhabengrundstücks und damit in einer Linie zu den Gebäuden auf den Grundstücken Fl.Nrn…2, …6, …27 und …7 (vgl. Luftbilder BayernAtlas). Ferner gilt zu berücksichtigen, dass das großflächige Vorhabengrundstück auch bei Realisierung des Vorhabens im südwestlichen Bereich von einer Bebauung frei bleibt. Zudem streitet für die Annahme des Einfügens, dass die umliegenden Grundstücke eine großflächige und intensive Bebauung aufweisen (insbesondere die Grundstücke Fl.Nrn. …6, …27 und …7, …8, 4254/2 im Bereich der F… und das Grundstück Fl.Nr. …2).
2.4.2.
84
Auch wenn sämtliche Festsetzungen bezüglich des Vorhabengrundstücks oder der Bebauungsplan in seiner Gesamtheit unwirksam sein sollte, ist unter Berücksichtigung der örtlichen und baulichen Verhältnisse vor Ort, von denen sich das Gericht im Rahmen des am 26. Juli 2022 durchgeführten Augenscheins überzeugen konnte, anzunehmen, dass sich das klägerische Vorhaben, das innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteil liegt (vgl. Luftbilder BayernAtlas) nach § 34 Abs. 1, 2 BauGB i.V.m. § 4 BauNVO nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt.
85
2.5. Entgegen der Ansicht des Landratsamtes Aschaffenburg und der Beigeladenen ist auch die Erschließung gesichert (§§ 30 Abs. 1, 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB).
86
Die Sicherung der wegemäßigen Erschließung als Voraussetzung für die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit baulicher Anlagen setzt die Erreichbarkeit des Baugrundstücks für Kraftfahrzeuge voraus und ist gesichert, wenn damit gerechnet werden kann‚ dass sie bis zur Herstellung des Bauwerks funktionsfähig angelegt sowie zu erwarten ist‚ dass sie auf Dauer zur Verfügung stehen wird (vgl. BayVGH, U.v. 18.1.2022 – 1 B 19.1616 – juris Rn. 26; B.v. 14.2.2018 – 1 ZB 15.1897 – juris Rn. 8). Dies schließt die dauerhafte rechtliche Sicherung der Zugänglichkeit mit ein (vgl. BVerwG, U.v. 3.5.1988 – 4 C 54.85 – NVwZ 1989‚ 353-354).
87
Da das Bauplanungsrecht keine ausdrücklichen Regelungen hinsichtlich der Art und Weise für die Sicherung der Verbindung des Baugrundstücks zum öffentlichen Wegenetz vorsieht, ist die Erschließung im Ausnahmefall auch dann als gesichert anzusehen, wenn die vorhandene, im gemeindlichen Eigentum stehende Zuwegung, die zwar weder durch öffentliche Widmung noch durch beschränkt dingliches Recht gesichert ist, dem allgemeinen Verkehr tatsächlich zur Verfügung steht und die Gemeinde auf Dauer rechtlich gehindert ist, den Anliegerverkehr zu dem Baugrundstück zu untersagen (vgl. BVerwG, U.v. 31.10.1990 – 4 C 45/88 – juris Rn. 19; Stüer in ders., Bau- und Fachplanungsrecht, C. Planungsrechtliche Zulässigkeit von Vorhaben, 5. Aufl. 2015, Rn. 2666).
88
In Betracht kommen kann insoweit etwa der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG), wenn der Weg z.B. auch dem Zugang zu anderen ähnlich bebauten und genutzten Grundstücken dient (vgl. BVerwG, U.v. 31.10.1990 – 4 C 45/88 – juris Rn. 19).
89
Unter Berücksichtigung dieser rechtlichen Vorgaben sowie der im Rahmen des Augenscheins gewonnenen Eindrücke über die örtlichen und baulichen Verhältnisse vor Ort geht die erkennende Kammer davon aus, dass die wegemäßige Erschließung gesichert ist.
90
Den vorstehenden rechtlichen Maßstab angelegt, kann dieser Beurteilung auch nicht entgegengehalten werden, dass das Teilstück der M… S… (Fl.Nr. …2) nicht gewidmet ist.
91
Denn das im Eigentum der Beigeladenen stehende Teilstück der M… S… (vgl. Protokoll über den Augenschein, S. 2), dient der Erschließung des zu Wohnzwecken genutzten Gebäudes auf dem Grundstück Fl.Nr. …3 (vgl. Protokoll über den Augenschein, Lichtbilder S. 2; Luftbilder BayernAtlas).
92
Die Beigeladene hat demnach den Anliegerverkehr zu einem vergleichbar bebauten und genutzten Grundstück über einen nicht gewidmeten Weg zugelassen.
93
Unter Berücksichtigung des allgemeinen Gleichheitsgebots (Art. 3 Abs. 1 GG) und des Aspekts, dass das nicht gewidmete Teilstück dem allgemeinen Verkehr tatsächlich zur Verfügung steht und das Vorhabengrundstück direkt an die in Rede stehende Zuwegung angrenzt, ist eine Sicherung der Erschließung im vorliegenden Fall zu bejahen.
94
2.6. Aus alldem folgt, dass das klägerische Vorhaben in Gestalt der Errichtung eines Wohnhauses bauplanungsrechtlich zulässig ist (Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a) BayBO i.V.m. §§ 29 ff. BauGB) und dem Kläger daher ein Anspruch auf Erteilung des beantragten Vorbescheids nach Art. 71 Satz 1 BayBO zusteht.
95
3. Lediglich ergänzend weist das Gericht darauf hin, dass dem Kläger auch bei Annahme der Wirksamkeit der Festsetzung über die überbaubaren Grundstücksflächen auf dem Vorhabengrundstück ein Anspruch auf Erteilung des begehrten Vorbescheids zukäme.
96
Denn dem Kläger stünde in diesem Falle ein Anspruch auf Erteilung der insoweit erforderlichen und beantragten Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB zu.
97
3.1. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB lägen vor.
98
Durch die Befreiungserteilung würden die Grundzüge der Planung nicht berührt, da die Errichtung des Vorhabens außerhalb der Baugrenzen der planerischen Grundkonzeption der Beigeladenen in Gestalt der Schaffung von Nachverdichtungsmöglichkeiten sowie der Steigerung baulicher Flexibilität gerade nicht zuwiderläuft.
99
Zudem wäre die Abweichung städtebaulich vertretbar. Der geplante Standort des Vorhabens befindet sich in der gedachten Verbindung des Baufensters auf dem Vorhabengrundstück und des Baufensters auf dem Grundstück Fl.Nr. …1, sodass diese Abweichung auch Gegenstand einer mit § 1 BauGB in Einklang stehenden Planung sein könnte. Denn städtebauliche Gründe für eine Freiflächengestaltung in diesem Bereich bestehen nicht (vgl. hierzu die Ausführungen unter 2.3.1). Die für die Annahme des Tatbestandsmerkmals der städtebaulichen Vertretbarkeit erforderliche Atypik bestünde in Form des ungewöhnlichen Grundstückszuschnitts (vgl. Protokoll über den Augenschein, S. 2) und führe dazu, dass die Gründe, die für die erstrebte Befreiung streiten, nicht für andere Grundstücke im Baugebiet gegeben sind.
100
Die Abweichung wäre zudem unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit öffentlichen Belangen vereinbar. Zu einer Unvereinbarkeit führende bodenrechtliche Besonderheiten oder sonstige Belange, die im Zusammenhang mit den städtebaulichen Anforderungen an die Bauleitplanung heranzuziehen sind, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
101
3.2. Das durch die Vorschrift des § 31 Abs. 2 BauGB eingeräumte Ermessen wäre im vorliegenden Fall auf Null reduziert, sodass dem Kläger ein Anspruch auf Erteilung der Befreiung zustünde.
102
Obgleich der Ausgestaltung der Regelung des § 31 Abs. 2 BauGB als Ermessensvorschrift, verbleibt bei Vorliegen dessen engen Tatbestandsvoraussetzungen für eine Ausübung des Ermessens nur wenig Spielraum. In der Regel ist daher eine Ermessensreduktion auf Null anzunehmen, wenn dem Vorhaben nicht zumindest gleichgewichtige städtebauliche Belange entgegenstehen (vgl. BayVGH, U. v. 24.3.2011 – 2 B 11.59 – juris Rn. 48).
103
Städtebauliche Gründe, die hier eine ermessensgerechte Versagung der Befreiung rechtfertigen würden, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
104
Die vorstehende Einschätzung ergibt sich gerade auch bei Berücksichtigung des klägerischen Interesses an einer Nutzung des vorhandenen Grundstücks und des mit der Bebauungsplanänderung verfolgten Ziels in Form der Gewährung von Nachverdichtungsmöglichkeiten.
105
4. Nach alledem steht dem Kläger der geltend gemachte Anspruch auf Erteilung des beantragten Vorbescheids hinsichtlich der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit der Errichtung des Wohnhauses zu (Art. 71 Satz 1, 4 i.V.m. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO), sodass der Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 6. Mai 2020 zur Erteilung des beantragten Vorbescheids zu verpflichten war.
106
5. Der Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Da sich die Beigeladene nicht durch die Stellung eines eigenen Sachantrags in das Kostenrisiko aus § 154 Abs. 3 VwGO begeben hat, entspricht es vorliegend der Billigkeit, dass diese ihre außergerichtlichen Kosten selbst trägt (vgl. § 162 Abs. 3 VwGO).
107
6. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit fußt auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.