Titel:
zumutbare Anstrengungen zur Erlangung eines Identitätsnachweises im Herkunftsland
Normenkette:
AufenthV § 5 Abs. 1
Leitsatz:
Einem subsidiär Schutzberechtigten ist es nicht von vornherein und per se unzumutbar, bei den nationalen Behörden zwecks Erlangung eines nationalen Passes vorzusprechen. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer, Zumutbarkeit der Erlangung eines Nationalpasses, Nachweis der eritreischen Identität, Beauftragung eines Vertrauensanwalts zur Einholung einer Geburtsurkunde, Bewilligung von Leistungen zur Lebensunterhaltssicherung, Eritrea, Reiseausweis für Ausländer, Zumutbarkeit, Identitätsnachweis, Vertrauensanwalt
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 21.03.2023 – 10 ZB 22.2351
Fundstelle:
BeckRS 2022, 45617
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Die Klägerin begehrt die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer.
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Die … in … (Eritrea) geborene Klägerin ist eritreische Staatsangehörige und war im Oktober 2015 in das Bundesgebiet eingereist. Auf ihren Asylantrag von November 2015 hin erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) ihr mit Bescheid vom 3. September 2016 den subsidiären Schutzstatus zu. Daraufhin erteilte ihr die Beklagte am 4. Oktober 2016 eine zunächst bis Oktober 2019 gültige Aufenthaltserlaubnis aus, die letztmals am 2. August 2021 bis zum 14. Juni 2023 verlängert worden war.
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Mit Schreiben vom … November 2017 beantragte die Bevollmächtigte der Klägerin für diese die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer, da sie keinen nationalen Pass besitze und verreisen wolle.
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Mit Schreiben vom 10. Januar und 12. Juni 2018 lehnte die Beklagte die Ausstellung des beantragten Reiseausweises für Ausländer mit dem Hinweis ab, die Klägerin sei ihrer Pflicht nicht nachgekommen, sich um die Erlangung eines Nationalpasses zu bemühen. Eine Nachfrage bei der zentralen Passbeschaffung habe ergeben, dass es Personen aus Eritrea möglich sei, sich einen nationalen Pass zu besorgen. Eine mündliche ablehnende Aussage des Konsulats reiche nicht aus, um eine Einzelfallprüfung vornehmen zu können. Mit Schreiben vom 6. Juli 2018 bestätigte die Beklagte unter Hinweis auf ihr vorausgegangenes Schreiben vom 12. Juni 2018 ihrer Auffassung.
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Die Klägerin ließ durch ihre Bevollmächtigte mit Schriftsatz vom … Oktober 2018 am 15. Oktober 2018 Klage zum Verwaltungsgericht München mit den Anträgen erheben:
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„I. Die Bescheide der Beklagten vom 12.06.2018 und vom 06.07.2018 (…) werden aufgehoben.
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II. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin auf deren Antrag vom 29.11.2017 hin einen Reiseausweis für Ausländer auszustellen und zu erteilen.“
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Zur Begründung lässt sie im Wesentlichen vortragen, sie habe bei einer persönlichen Vorsprache beim eritreischen Konsulat in Frankfurt/Main (im Folgenden: Frankfurt) die Ausstellung eines Nationalpasses beantragt, doch sei dies dort ohne Angabe von Gründen abgelehnt worden. Daraufhin habe ihre Bevollmächtigte mit Schreiben vom 12. März 2018 dort nochmals die Ausstellung eines eritreischen Nationalpasses beantragt, jedoch ebenfalls ohne Erfolg. Im Alter von fünf Jahren habe sie gemeinsam mit ihrer zwischenzeitlich verstorbenen Mutter Eritrea verlassen und sei in den Sudan gezogen, wo sie sich mehrere Jahre lang aufgehalten habe. In Eritrea würden keine Geschwister und auch keine sonstigen Angehörigen leben. Vor ihrer Flucht nach Deutschland habe sie sich ca. sechs Jahre lang in Syrien aufgehalten. Die vom Konsulat geforderten Unterlagen aus Eritrea (z.B. Geburtsurkunde) könne sie deshalb nicht vorlegen. Sie habe hinreichend dargetan, dass sie keinen Nationalpass erhalten könne, weshalb die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Reiseausweises vorlägen. Mit Schreiben vom *. November 2019 führte die Bevollmächtigte der Klägerin ergänzend aus, diese habe erneut beim eritreischen Konsulat die Ausstellung eines Nationalpasses beantragt, sei jedoch ohne eine schriftliche Bestätigung über ihre Vorsprache zurückgewiesen worden. Nach Recherchen auf der Homepage des Generalkonsulats müsse für die Beantragung eines Reisepasses eine Kopie des Personalausweises vorgelegt werden, welchen die Klägerin jedoch ebenso wenig besitze wie Identitätspapiere ihrer Eltern. Sie könne auch nicht drei über 40 Jahre alte Zeugen eritreischer Nationalität benennen, welche ihre Staatsangehörigkeit bezeugen könnten. Auch die zuletzt angeführte Möglichkeit, eine in Eritrea lebende Personen zu bevollmächtigen, für die Klägerin einen Nachweis über ihre eritreische Identität zu beschaffen, könne sie mangels Beziehungen in Eritrea nicht erfüllen.
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Die Beklagte beantragt,
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Zur Begründung führt sie aus, die Ausstellung des beantragten Reiseausweises erfolge nach § 5 Abs. 1 AufenthV im Rahmen einer Einzelfallprüfung. Die Klägerin habe keine ausreichenden Nachweise über die Vorsprache beim eritreischen Konsulat bzw. Bemühungen zur Passbeschaffung erbracht. Üblicherweise würden die Auslandsvertretungen für die Ausstellung von Nationalpässen die Vorlage von Geburtsurkunden fordern. Die Klägerin habe bisher nichts unternommen, um in den Besitz eine Geburtsurkunde zu gelangen. Es wäre zumutbar gewesen, im Heimatland einen Rechtsanwalt mit der Beschaffung von Identitätsnachweisen zu bevollmächtigen.
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Mit gerichtlichem Beschluss vom 10. Februar 2021 war der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen worden.
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Das Gericht hatte mit Beschluss vom 25. Februar 2021 auf Antrag der Klägerin ihr Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Bevollmächtigten bewilligt, da die Erfolgsaussichten ihrer Klage derzeit zumindest als offen anzusehen seien. Ob die Klägerin tatsächlich, wie vorgebracht, wiederholt beim eritreischen Konsulat in Frankfurt vorgesprochen habe und dort zurückgewiesen worden sei, sei offen, ebenfalls, ob die Klägerin den Nachweis ihrer eritreischen Staatsangehörigkeit in zumutbarer Weise erlangen könne.
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In der mündlichen Verhandlung am 11. August 2022 beschrieben die Klägerin und ihr Lebenspartner Einzelheiten ihrer insgesamt dreimaligen Versuche zwischen 2018 und 2021, beim eritreischen Konsulat in Frankfurt eine Nationalpasses zu erhalten. Ihr Lebenspartner habe sie hierbei jeweils begleitet, zweimal im Zug und einmal im Auto. Man habe sie jedoch jeweils unverrichteter Dinge wieder weggeschickt. Einen Vertrauensanwalt zu Erlangung eine Geburtsurkunde in Eritrea habe sie bislang nicht beauftragt. Schon aus finanziellen Gründen sei ihr das bislang nicht möglich gewesen. Sie beziehe derzeit Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts von ca. 300 EUR monatlich, im November 2020 habe sie ihre Tochter zur Welt gebracht. Der Vertreter der Beklagten führt aus, nach seinen Kenntnissen sei zumindest ab 1991 in Eritrea – zumindest in den größeren Orten, zu denen auch der Geburtsort der Klägerin … gehöre – eine lückenlose Registrierung der dort geborenen Personen erfolgt, sodass er die Beauftragung eines Vertrauensanwalts zur Erlangung einer Geburtsurkunde in dieser Hinsicht nicht als völlig aussichtslos ansehe. Die bevollmächtigte der Klägerin entgegnet hierauf, schon allein aufgrund der Existenz ihres im November 2020 geborenen Kindes sowie aufgrund ihres geringen Einkommens sei es der Klägerin nicht möglich, einen solchen Vertrauensanwalt zu finanzieren, und ihr deshalb diese Beauftragung auch nicht zumutbar.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsund Behördenakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Ablehnung des Antrags der Klägerin auf Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer seitens der Beklagten mit Schreiben vom 12. Juni und 6. Juli 2018 ist rechtmäßig und verletzt diese nicht in ihren Rechten, da sie gegenüber der Beklagten keinen Anspruch auf Ausstellung eines solchen Dokuments hat (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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Nach § 5 Abs. 1 AufenthV kann einem Ausländer, der nachweislich keinen Pass oder Passersatz besitzt und ihn nicht auf zumutbare Weise erlangen kann, nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt werden. Die Klägerin besitzt zwar unstreitig weder einen Pass noch einen Passersatz, doch fehlt es in ihrem Fall an der Voraussetzung, dass sie einen Pass nicht auf zumutbare Weise erlangen kann.
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Bei der Unzumutbarkeit der Passbeschaffung handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Die Ausländerbehörde verfügt insoweit über keinen Einschätzungsspielraum. Auslegung und Anwendung dieses Begriffs unterliegen der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle (VGH BW, B.v. 16.1.2020 – 11 S 3282/19 – juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 17.10.2018 – 19 ZB 15.428 – juris Rn. 9). Eine Unzumutbarkeit, sich zunächst um die Ausstellung eines Nationalpasses des Heimatstaats zu bemühen, kommt nur in Ausnahmefällen in Betracht. Die einen solchen Ausnahmefall begründenden Umstände sind grundsätzlich vom Ausländer darzulegen und nachzuweisen (BayVGH, B.v. 28.12.2020 – 10 ZB 20.2157 – juris Rn. 6).
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Die Unzumutbarkeit der Erlangung eines Reisepasses ergibt sich zunächst nicht pauschal aus der Stellung der Klägerin als subsidiär Schutzberechtigten (BayVGH, B.v. 17.10.2018 a.a.O. Rn. 4). Welche konkreten Anforderungen an das Vorliegen der Unzumutbarkeit zu stellen sind, beurteilt sich vielmehr nach den Umständen des Einzelfalls. Dabei ist im Hinblick auf den mit der Ausstellung eines Passes regelmäßig verbundenen Eingriff in die Personalhoheit eines anderen Staates grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn die Ausländerbehörde den Ausländer zunächst auf die Möglichkeit der Ausstellung eines Passes durch seinen Heimatstaat verweist und die Erteilung eines Reiseausweises erst dann in Betracht zieht, wenn diese Bemühungen nachweislich ohne Erfolg geblieben sind (BayVGH, B.v. 17.10.2018 a.a.O. Rn. 5; OVG NRW, B.v. 17.5.2016 – 18 A 951/15 – juris Rn. 3). In diesem Zusammenhang ist es einem subsidiär Schutzberechtigten auch unter Berücksichtigung von Art. 25 der RL 2011/95/EU und der intendierten Angleichung des subsidiären Schutzstatus an die Flüchtlingseigenschaft nicht von vornherein und per se unzumutbar, bei den nationalen Behörden zwecks Erlangung eines nationalen Passes vorzusprechen. Im Unterschied zu anerkannten Flüchtlingen stellt Art. 25 Abs. 2 der RL 2011/95/EU für subsidiär Schutzberechtigte ausdrücklich darauf ab, dass die Ausstellung von Reisedokumenten nur dann zu erfolgen hat, wenn diese Personen keinen nationalen Pass erhalten können. Die Frage, ob die Vorsprache bei der Heimatvertretung einem Ausländer zugemutet werden darf, lässt sich dabei nicht allgemeingültig, sondern nur nach Maßgabe der besonderen Umstände des Einzelfalls beurteilen. Im Grundsatz können aber nachweislich erfolglose Bemühungen zur Erlangung eines Nationalpasses gefordert werden (BayVGH, B.v. 17.10.2018 – 19 ZB 15.428 – juris Rn. 9).
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Dies zugrunde gelegt, kann bei der Klägerin derzeit nicht angenommen werden, dass sie nicht auf zumutbare Weise einen Pass erlangen kann. Jedenfalls hat sie die für einen entsprechenden Ausnahmefall sprechenden Umstände weder dargelegt noch nachgewiesen. Zunächst ist festzustellen, dass die Klägerin – wie sie in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich erklärt hat – abgesehen einer dreimaligen Vorsprache beim eritreischen Konsulat in Frankfurt keine sonstigen Bemühungen oder Erkundigungen vorgenommen hat, um durch Vorlage insbesondere einer Geburtsurkunde gegenüber der eritreischen Auslandsvertretung ihre eritreische Identität nachzuweisen und dadurch die Voraussetzung zu schaffen, einen eritreischen Nationalpass zu erlangen. Insbesondere hat sie nach ihrem eigenen Vorbringen bislang keinen Vertrauensanwalt in Eritrea beauftragt, eine solche Geburtsurkunde zu beschaffen. Sie hat auch nicht vorgetragen, Erkundigungen über die Kosten einer solchen Beauftragung eingeholt zu haben. Schon im Hinblick darauf, dass bei ihren dreimaligen Vorsprachen ihr Lebensgefährte sie bei den Fahrten nach Frankfurt begleitet hat, wie er in der mündlichen Verhandlung selbst angegeben hat, ist es der Klägerin u.a. zumutbar, ihn hinsichtlich einer solchen Beauftragung um Unterstützung auch finanzieller Art zu bitten. Die Klägerin kann zum Beleg eines finanziellen Unvermögens nicht allein auf den Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und die Geburt ihrer Tochter im Jahr 2019 verweisen, da jedenfalls die erste Vorsprache nach ihrem eigenen Vorbringen bereits 2018 und damit vor dieser Geburt stattgefunden hatte. Hiervon ausgehend kann im Einzelfall der Klägerin nicht angenommen werden, dass sie einen eritreischen Pass nicht in zumutbarer Weise erlangen kann. Welche weiteren konkreten Bemühungen die Klägerin hätte erfolglos unternehmen müssen, um von einer Unzumutbarkeit ausgehen zu können, kann vorliegend offenbleiben. Ihr Untätigbleiben hinsichtlich zumindest des Versuchs der Kontaktierung eines von der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in … als zuverlässig bekannten Rechtsanwalts (siehe hierzu Botschaft der Bundesrepublik Deutschland …, Rechtsanwälte in Eritrea – Rk 521.01 – Stand: Februar 2010) und auch ihr fehlender Vortrag über die Einholung von Auskünften zu den Kosten einer solchen Beauftragung sprechen dafür, dass eine Unzumutbarkeit einer Passerlangung gemäß § 5 Abs. 1 AufenthV nicht angenommen werden kann. Denn nach den aktuellen Erkenntnissen des Auswärtigen Amts können Personenstandsurkunden in Eritrea auch durch bevollmächtigte Personen (Verwandte, Bekannte, Rechtsanwälte) beschafft werden (VG Augsburg, U.v. 11.8.2020 – Au 1 K 20.124 – juris Rn. 26 m.w.N.). Hinzu kommt, dass nach Einschätzung des Auswärtigen Amts Familienangehörige eines eritreischen Staatsangehörigen, die für ihn Personenstandsurkunden oder andere Unterlagen beschaffen, allein aufgrund dieser Tatsache nicht mit Repressalien zu rechnen haben und die Beauftragung eines Vertrauensanwalts in Eritrea zur Beschaffung von Dokumenten möglich und erfolgversprechend ist (VG Augsburg a.a.O. Rn. 26).
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Aus diesen Gründen ist die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
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Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.