Titel:
Rechtmäßige Kindergeldfestsetzung
Normenketten:
EStG § 31 S. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3, § 62, § 63 Abs. 1, § 65, § 70 Abs. 2
EGV 883/2004 Art. 1 Buchst. z, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j, Art, 11 Abs. 1, Abs. 3, Art. 68 Abs. 1, Abs. 2
AO § 37 Abs. 2
VO Nr. 883/2004 Art. 67
Leitsätze:
1. Bei der Anwendung der §§ 62 ff. EStG sind im Streitfall die Regeln des europäischen Sozialrechts zu beachten sind, weil der Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist. Im Streitfall ist der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet, da die Klägerin als deutsche Staatsangehörige und der Kindesvater als griechischer Staatsangehörige nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 von diesem erfasst werden. Zudem fällt das deutsche Kindergeld nach Art. 3 Buchst. j i.V.m. Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004 unter den sachlichen Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 (BFH-Urteil vom 18. Februar 2021 III R 71/18, BeckRS 2023, 5644). (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Anders als im Falle der Anwendbarkeit der Konkurrenzregelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG (dazu BFH-Urteile vom 13. Juni 2013 III R 63/11, BeckRS 2013, 96106) bedarf es im Anwendungsbereich des Art. 68 der VO Nr. 883/2004 regelmäßig keiner eigenen Feststellungen des Finanzgerichts zum Inhalt des ausländischen Rechts. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Arbeitslosengeld, Leistung, Krankenkasse, Zusammenarbeit, Koordinierung, Scheidung, Kindesvater, Kinderarbeit, Konkurrenzklausel, Österreich, Familienleistung, Erstattung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 45390
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Entscheidungsgründe
1
Streitig ist die Aufhebung und Änderung von Kindergeldfestsetzungen in einem Sachverhalt mit Bezug zu einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU).
2
Die Klägerin ist die Mutter des Kindes A […] (geboren am […] 2007). Die Klägerin ist seit 2010 vom Vater des Kindes, dem griechischen Staatsangehörigen F […], geschieden. A lebt im Haushalt seiner Mutter in Deutschland. Der Kindesvater lebt und arbeitet seit Jahren in Österreich. Der Kindesvater leistet den gesetzlichen Unterhalt für A.
3
Die Klägerin erhielt seit […] 2007 laufend Kindergeld für A. Mit Schreiben vom 28. Juli 2020 wandte sich der Kindesvater wegen seiner Einkommensteuererklärung 2019 in Österreich an die Beklagte – die Familienkasse […] – und bat um die Übersendung einer Bestätigung, dass für sein Kind eine ausländische Familienleistung bezogen worden sei. Mit Schreiben vom 11. September 2020 teilte die Beklagte dem Kindesvater mit, dass die Kindesmutter im Jahr 2019 Kindergeld in Deutschland für A bezogen hat.
4
Daraufhin forderte die Beklagte die Klägerin auf, durch Bescheinigungen von ihren Arbeitgebern die Beschäftigungszeiten ab Januar 2015 bis November 2018 nachzuweisen; die Beschäftigungszeiten ab Dezember 2018 seien bereits von der Klägerin nachgewiesen. Die Klägerin teilte u.a. mit, dass sie in der Zeit von Juni 2016 bis November 2016 sowie im November und Dezember 2018 arbeitslos gewesen sei, sowie dass sie in der Zeit vom 29. Juni 2016 bis 15. Juli 2016, vom 9. November 2018 bis 31. Dezember 2018 Arbeitslosengeld bezogen habe. Die Beschäftigungszeiten sowie den Bezug von Arbeitslosengeld wies die Klägerin durch die entsprechenden Bescheinigungen der Arbeitgeber sowie der Bundesagentur für Arbeit nach. Außerdem teilte die Klägerin der Beklagten mit, dass im Rahmen der Scheidung vom Kindesvater vor elf Jahren das alleinige Sorgerecht für A ihr zugesprochen worden sei. A lebe bei ihr; zwischen Vater und Sohn bestehe nur telefonischer Kontakt. Im Scheidungsverfahren sei der Kindesunterhalt unter Berücksichtigung der Tatsache geregelt worden, dass das Kindergeld an die Klägerin ausbezahlt werde. Für die beanstandeten Monate August 2016 bis November 2016 und November 2018 habe sie sich zu spät bei der Agentur für Arbeit gemeldet und die Krankenkasse selbst bezahlt, da sie nicht in Harzt IV habe fallen wollen.
5
Das für den Kindesvater zuständige österreichische Finanzamt teilte der Beklagten mit, dass der Kindesvater von 6. Juni 2016 bis 28. Juli 2019 und seit 29. September 2019 bis laufend in Österreich erwerbstätig ist oder für ihn ein gleichgestellter Tatbestand erfüllt ist.
6
Die Beklagte vertrat nun die Auffassung, dass es sich vorliegend um einen überstaatlichen Sachverhalt handle, der nach den Koordinierungsregeln der Europäischen Gemeinschaft zur Lösung von Anspruchskonkurrenz zu behandeln sei; maßgeblich seien die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union <ABlEU> 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 883/2004 <Grundverordnung>) und die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 987/2009 <Durchführungsverordnung>). Die Beklagte war der Auffassung, dass in den Monaten August 2016, September 2016, Oktober 2016 und November 2016 sowie November 2018 gemäß Art. 68 der VO Nr. 883/2004 das deutsche Kindergeld nachrangig gegenüber dem Anspruch auf Familienleistungen aus Österreich sei. In den Monaten August 2016, Oktober 2016 und November 2016 ergebe sich nur ein Anspruch in Deutschland auf Differenzkindergeld in Höhe von monatlich 12,00 € und in den Monaten September 2016 und November 2018 bestehe kein Anspruch.
7
Mit Bescheid vom 8. Februar 2021 änderte deshalb die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für drei Monate, August 2016, Oktober 2016 und November 2016, auf monatlich 12,00 € und forderte nach § 37 Abs. 2 Abgabenordnung (AO) die Erstattung des überbezahlten Betrages in Höhe von 534,00 € (Ausländische Familienleistung 178,00 €; 190 – 178 = 12; 3 * 178 = 534) von der Klägerin. Die Festsetzung des Kindergeldes in Höhe von monatlich 12,00 € erfolgte vorläufig gemäß § 165 Abs. 1 AO. Zusätzlich brachte die Beklagte die Rückzahlungsinformation aus, dass eine Einzahlung des überbezahlten Betrages vorerst nicht erforderlich sei, da der ausländische Träger um die Erstattung des zu Unrecht gewährten Kindergeldes aus dem dortigen Anspruch auf Familienleistungen gebeten wurde. Außerdem hob die Beklagte mit weiterem Bescheid vom 8. Februar 2021 die Kindergeldfestsetzung für die zwei Monate September 2016 sowie November 2018 auf. Denn in diesen beiden Monaten erreiche der Betrag des österreichischen Kindergeldes die Höhe des deutschen Kindergeldes (ausländische Familienleistungen im September 2016 mit 280,30 € und im November 2018 mit 199,90 €). Außerdem forderte sie in diesem Bescheid die Erstattung des überbezahlten Betrags in Höhe von 384,00 € (190 + 194 = 384) gemäß § 37 Abs. 2 AO und sprach dieselbe Rückzahlungsinformation wie in dem anderen Bescheid vom 8. Februar 2021 aus.
8
Die dagegen gerichteten Einsprüche der Klägerin blieben ohne Erfolg. Mit Einspruchsentscheidung vom 29. März 2021 wurde der Einspruch wegen Kindergeld für die Monate August 2016, Oktober 2016 und November 2016 als unbegründet zurückgewiesen. Mit weiterer Einspruchsentscheidung vom 31. März 2021 wurde der Einspruch wegen Kindergeld für die Monate September 2016 und November 2018 als unbegründet zurückgewiesen.
9
Dagegen richtet sich die Klage. Zur Begründung der Klage trägt die Klägerin vor, dass es nicht sein könne, dass sie sich in Österreich um Kindergeld für diese fünf Monate bemühen müsse. Der A lebe seit der Geburt bei ihr, sie seien nie umgezogen, sie hätten nie im Ausland gelebt und sie lebe auch in keiner neuen Partnerschaft. Der Kindesvater habe sich sehr schnell nach der Frühgeburt des Sohnes von ihr getrennt und lebe mit seiner Freundin in Österreich. Der Kindesvater leiste den gesetzlichen Unterhalt.
10
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Bescheid vom 8. Februar 2021 über die Änderung der Kindergeldfestsetzung für August 2016, Oktober 2016 und November 2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29. März 2021 sowie den Bescheid vom 8. Februar 2021 über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für September 2016 und November 2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 31. März 2021 aufzuheben.
11
Die Beklagte beantragt,
12
Zur Begründung verweist die Familienkasse auf die beiden Einspruchsentscheidungen. Ergänzend trägt sie vor, dass die Klägerin die vom österreichischen Finanzamt verlangten Unterlagen nicht vorgelegt habe. Deshalb könne der Klägerin in Österreich keine Familienbeihilfe gewährt werden und somit dem Erstattungsanspruch nicht entsprochen werden. Da keine Erstattung aus Österreich erfolge, sei nun die Klägerin erstattungspflichtig.
13
Am 8. Februar 2021 hat die Beklagte den österreichischen Träger der Familienleistungen gemäß Art. 58 ff. der VO Nr. 987/2009 um Erstattung des überbezahlten Betrages von 918,00 € (534 + 384 = 918) ersucht (Vordruck SED F001; KG-Akte Bl 105 – 117). Das in Österreich für die Familienleistungen zuständige Finanzamt […] hat der Beklagten am 17. Februar 2022 mit SED F002 mitgeteilt, dass der Anspruch der Klägerin auf Familienbeihilfe in Österreich grundsätzlich besteht (Kindergeldakte eAkte – Eingang 29.06.2022, Dokument Nr. 2; Ausdruck in FG-Akte). Am 30. April 2022 hat das Finanzamt […] der Beklagten mit SED 002 mitgeteilt, dass die Klägerin nicht auf die Anforderungen, Unterlagen nachzureichen reagiert und deshalb dem Erstattungsersuchen der Beklagten nicht entsprochen werden kann (Kindergeldakte eAkte – Eingang 29.06.2022, Dokument Nr. 4; Ausdruck in FG-Akte).
14
Der Berichterstatter hat die Klägerin mit Schreiben vom 15. März 2022 aufgefordert, dem österreichischen Finanzamt unverzüglich die verlangten Unterlagen zu übersenden. Mit Schreiben vom 10. Mai 2022 hat der Berichterstatter die Klägerin aufgefordert, dem Gericht mitzuteilen, welche Hinderungsgründe gegen eine Übersendung der Unterlagen an das österreichische Finanzamt bestehen; die Klägerin hat auf dieses Schreiben nicht geantwortet.
15
Mit Beschluss vom 22. Juni 2022 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen (§ 6 Finanzgerichtsordnung <FGO>).
16
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung, die ausgetauschten Schriftsätze und die vorgelegten Akten verwiesen.
17
Die Klage ist unbegründet.
18
Der Bescheid vom 8. Februar 2021 über die Änderung der Kindergeldfestsetzung für August 2016, Oktober 2016 und November 2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29. März 2021 und der Bescheid vom 8. Februar 2021 über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für September 2016 und November 2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 31. März 2021 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Der Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Kindergeld ist für Augst 2016, Oktober 2016 und November 2016 nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 der VO Nr. 883/2004 auf den Unterschiedsbetrag in Höhe von 12,00 € monatlich begrenzt und im September 2016 und November 2018 gemäß Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 ausgeschlossen.
19
1. a) Die Klägerin hatte im Streitzeitraum einen Wohnsitz im Inland (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 Einkommensteuergesetz in der im Streitzeitraum geltenden Fassung <EStG>). A ist als leibliches Kind der Klägerin nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG berücksichtigungsfähig und hatte ebenfalls im Streitzeitraum einen Wohnsitz im Inland.
20
b) Bei der Anwendung der §§ 62 ff. EStG sind im Streitfall die Regeln des europäischen Sozialrechts zu beachten sind, weil der Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist. Im Streitfall ist der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet, da die Klägerin als deutsche Staatsangehörige und der Kindesvater als griechischer Staatsangehörige nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 von diesem erfasst werden. Zudem fällt das deutsche Kindergeld nach Art. 3 Buchst. j i.V.m. Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004 unter den sachlichen Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 (BFH-Urteil vom 18. Februar 2021 III R 71/18, BFHE 272, 53, BStBl II 2022, 180, Rn. 20).
21
c) Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 bestimmt als Grundsatz, dass Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen. Die Klägerin unterliegt gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004 den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats Bundesrepublik Deutschland (Deutschland). Die Klägerin hat im Streitzeitraum August 2016, September 2016, Oktober 2016 und November 2016, sowie November 2018 keine Erwerbstätigkeit ausgeübt (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a und b der VO Nr. 883/ 2004) . Außerdem hat sie auch keine Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß Art. 65 der VO Nr. 883/2004 erhalten (Art. 11 Abs. 3 Buchst. c der VO Nr. 883/2004). Die Klägerin erfüllt nur die Voraussetzungen des Auffangtatbestandes des Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004 (vgl. Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, vor §§ 62- 78 EStG Rz. 20 [Feb. 2020]; BFH-Urteil vom 26. Juli 2017 III R 18/16, BFHE 259, 98, BStBl II 2017, 1237).
22
d) Die Klägerin unterliegt auch im November 2018 nicht gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004, sondern gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004 den Rechtsvorschriften Deutschlands. Zwar hat die Klägerin ab 9. November 2018 Arbeitslosengeld erhalten und bei dem Bezug von Einkommensersatzleistungen in Fällen wie Krankheit, Mutterschaft, Arbeitsunfall, Berufskrankheit, Arbeitslosigkeit ist grundsätzlich der Tatbestand des Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004 eröffnet (Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, vor §§ 62 -78 EStG Rz. 20 [Feb. 2020]; ebenso die Verwaltungsanweisung Rz. 213.22 und 213.23 Durchführungsanweisung zum über- und zwischenstaatlichen Recht, Stand Juni 2015, <DAüzV>: Arbeitslosengeld I). Da aber das Arbeitslosengeld aber erst während des Monats bezogen wurde, bleibt die Erwerbstätigkeit des Kindesvaters zu Beginn dieses Monats vorrangig; der Wechsel ist – wie grundsätzlich ein Wechsel der Anspruchsberechtigung im Kindergeldrecht – erst im Folgemonat zu berücksichtigen (BFH-Urteile vom 19. April 2012 III R 42/10, BFHE 238, 24, BStBl II 2013, 21, Rn. 15; vom 16. Dezember 2003 VIII R 76/99, BFH/NV 2004, 933; Schmidt/Weber-Grellet, EStG, 41. Aufl. 2022, § 64 Rz. 2).
23
e) Der Kindesvater unterliegt den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats Österreich, da er im Streitzeitraum in Österreich einer Beschäftigung (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a VO Nr. 883/2004) nachging.
24
f) Für den Bereich der Familienleistungen gilt außerdem die Sonderregelung des Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004. Danach hat (abweichend von Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004) eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden.
25
2. Ist – wie im Streitfall – der persönliche und sachliche Geltungsbereich der VO Nr. 883/2004 eröffnet und liegen konkurrierende Ansprüche im Sinne der Verordnung vor, dann sind die Ansprüche ausschließlich nach Art. 68 der VO Nr. 883/2004 zu koordinieren. Diese Prioritätsregelung ist gegenüber § 65 EStG grundsätzlich vorrangig (BFH-Urteil vom 18. Februar 2021 III R 27/19, BFHE 272, 60, BStBl II 2022, 183 m.w.N.).
26
a) Damit gilt im Streitfall für die Monate August 2016 bis November 2016 und November 2018: Sind die Leistungen von beiden Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen zu gewähren, so gilt nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 883/2004 folgende Rangfolge: an erster Stelle stehen die durch eine Beschäftigung ausgelösten Ansprüche – wie im Streitfall Österreich – darauf folgen die durch den Bezug einer Rente ausgelösten Ansprüche und schließlich die durch den Wohnort ausgelösten Ansprüche – wie im Streitfall Deutschland. Nach dieser Maßgabe ist die Auffassung der Beklagten zutreffend, dass die Ansprüche aus Österreich vorrangig vor den Ansprüchen der Klägerin aus Deutschland für die streitigen fünf Monate sind.
27
b) Die Beklagte hat auch zu Recht nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 der VO Nr. 883/2004 für drei Monate, August 2016, Oktober 2016 und November 2016 das Differenzkindergeld von monatlich 12,00 € gewährt (BFH-Urteil vom 22. Februar 2018 III R 10/17, BFHE 261, 214, BStBl II 2018, 717, Rn. 28). Im Übrigen hat die Beklagte für die Monate September 2016 und November 2018 die Kindergeldfestsetzung zu Recht aufgehoben, da in diesen Monaten die Familienleistungen in Österreich höher sind als das Kindergeld in Deutschland.
28
c) Demgemäß fordert die Beklagte von der Klägerin zu Recht die zu Unrecht gewährten Beträge in Höhe von 534,00 € und 384,00 € zurück. Diesem Erstattungsanspruch der Beklagten stand zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Bescheide ein Anspruch auf Familienleistungen der Klägerin in Österreich von 1.014,20 € (3 * 178,00 + 280,30 + 199,90 = 1014,20) gegenüber, den die Klägerin allein durch fehlende Mitwirkung im Verwaltungsverfahren in Österreich nicht realisiert hat.
29
d) Anders als im Falle der Anwendbarkeit der Konkurrenzregelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG (dazu BFH-Urteile vom 13. Juni 2013 III R 63/11, BFHE 242, 34, BStBl II 2014, 711, Rz 17 ff., und vom 13. Juni 2013 III R 10/11, BFHE 241, 562, BStBl II 2014, 706, Rz 22 ff.) bedarf es im Anwendungsbereich des Art. 68 der VO Nr. 883/2004 regelmäßig keiner eigenen Feststellungen des Finanzgerichts zum Inhalt des ausländischen Rechts. Denn insoweit ist vorrangig das auf dem Prinzip der vertrauensvollen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten basierende Koordinierungsverfahren gemäß Art. 60 Abs. 3 der VO Nr. 883/2004 und Art. 59 f. der VO Nr. 987/2009 zwischen den jeweils zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten – im Streitfall der Beklagten und dem Finanzamt […] – durchzuführen (BFH-Urteil vom 26. Juli 2017 III R 18/16, BFHE 259, 98, BStBl II 2017, 1237, Rz 18 ff.). Dies bedeutet, dass mittels eines Auskunftsersuchens gegenüber der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats Österreich zu klären ist, ob und in welchem Umfang dort ein Anspruch auf Familienleistungen für die Kinder des Klägers bestand (BFH-Urteil vom 22. Februar 2018 III R 10/17, BFHE 261, 214, BStBl II 2018, 717, Rn. 25).
30
Dies ist im Streitfall geschehen. Damit steht für das Gericht fest, dass die Klägerin in den streitigen Monaten über einen entsprechenden (vorrangigen) Anspruch in Österreich verfügt. Das in Österreich für die Familienleistungen zuständige Finanzamt […] hat der Beklagten am 17. Februar 2022 mit SED F002 (Seite 1/14) mitgeteilt, dass der Anspruch der Klägerin auf Familienbeihilfe in Österreich grundsätzlich besteht. Dass die Klägerin die Familienbeihilfe aus Österreich (die in den streitigen Monaten in der Summe höher ist als das deutsche Kindergeld) bisher nicht erhalten hat, liegt allein daran, dass sie ihre Mitwirkungspflichten gegenüber dem Finanzamt […] nicht erfüllt hat. Denn am 30. April 2022 wurde mit SED 002 (Seite 14/14) außerdem vom Finanzamt […] mitgeteilt, dass mangels Mitwirkung der Klägerin keine Familienbeihilfe gewährt werden kann und deshalb dem Erstattungsersuchen nicht entsprochen werden kann (so auch Schriftsatz der Beklagten an das Gericht vom 5. Mai 2022).
31
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.