Inhalt

FG München, Urteil v. 11.10.2022 – 12 K 2061/21
Titel:

Wohnsitz von Kindern bei Aufenhalten im In- und Ausland

Normenketten:
EStG § 31, § 62 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 S. 6, § 70 Abs. 2, Abs. 3
AO § 8
Leitsätze:
1. Minderjährige Kinder teilen grundsätzlich den Wohnsitz ihrer Eltern, weil sie über ihre Haushaltszugehörigkeit eine abgeleitete Nutzungsmöglichkeit besitzen und damit zugleich die elterliche Wohnung i.S. des § 8 AO innehaben. (Rn. 26)
2. Lebt ein minderjähriges Kind im Ausland, kann davon ausgegangen werden, dass über das Rechtsinstitut des Familienwohnsitzes das „Innehaben einer Wohnung“ durch einen Familienangehörigen vermittelt wird, wenn es um das „Beibehalten“ eines bereits vorhandenen Wohnsitzes geht. (Rn. 26)
3. Dagegen kann ein im Ausland lebendes Kind im Inland grundsätzlich keinen Wohnsitz „begründen“, ohne sich zuvor hier aufgehalten zu haben. (Rn. 26)
4. Kinder, die sich zum Zwecke des Studiums für mehrere Jahre ins Ausland begeben, behalten ihren Wohnsitz in der inländischen elterlichen Wohnung nur dann bei, wenn sie diese in ausbildungsfreien Zeiten zum überwiegenden Teil nutzen. Dabei kommt der Dauer der Inlandsaufenthalte erhebliche Bedeutung zu. (Rn. 27)
Schlagwort:
Kindergeld
Fundstellen:
DStRE 2023, 1515
LSK 2022, 45386
BeckRS 2022, 45386

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Entscheidungsgründe

I.
1
Im November 2016 verkauften die Klägerin und der Kindesvater ([…] ET; der damalige Ehemann der Klägerin) ihr Haus in […] T-City (Australien, New South Wales) und zogen in die Eigentumswohnung der Klägerin in […] A-Stadt, H-Straße 124. In dem Kindergeldantrag vom 4. Januar 2017 für die gemeinsamen Kinder […] SU (geb. […] 2000), TU (geb. […] 2003), TA (geb. […] 2008) und CA (geb. […] 1998) gab die Klägerin an, die Kinder TU und TA würden Schulen in Australien besuchen und CA würde in Australien studieren. Als Wohnort der drei Kinder TU, TA und CA war L-Town (Australien, New South Wales) angegeben (TU, Kindergeldakte II Arbeitsversion, Blatt 2; <in der Folge zitiert, IIBlatt/Gesamtzahl Blätter, also: II2/112>; TA II7/112; CA II11/112). Für SU war angegeben, dass sie bei den Eltern in A-Stadt wohne (II5/112).
2
Mit Bescheid vom 16. Januar 2017 (II17/112) setzte die Beklagte, die Familienkasse […] für SU Kindergeld ab November 2016 bis Juli 2018 fest. Mit Schreiben vom 16. Januar 2017 forderte die Beklagte die Klägerin auf, mitzuteilen, in welchem Haushalt die Kinder TU und TA leben (II20/112) und stellte Fragen zum Auslandsaufenthalt von CA (II22/112). Darauf teilte die Klägerin mit, dass die Kinder TU und TA in Australien zur Schule gehen würden und deshalb dort eine Wohnung angemietet und ein Haushalt eingerichtet worden sei; auch der Sohn CA wohne regelmäßig dort. Die Betreuung der minderjährigen Kinder TU und TA sei so organisiert, dass sie die großen Ferien (Dezember und Januar) mit den Eltern in Deutschland verbrächten. Die Klägerin verbringe drei bis vier Monate im Jahr in Australien und der Kindesvater verbringe aus beruflichen Gründen viel Zeit in Australien. Gelegentlich würden auch die Eltern der Klägerin nach Australien reisen, um Zeit mit den Enkeln zu verbringen. Im Übrigen seien auch Freunde und Verwandte des Kindesvaters für die Kinder da (II24/112). Für das Kind CA teilte die Klägerin mit, dass er sich hauptsächlich in Australien aufhalten werde und in den Sommerferien (Dezember und Januar) die beiden minderjährigen Kinder nach Deutschland begleiten werde und dann in der Familienwohnung in der H-Straße 124 wohne (II35/112). Mit Bescheid vom 20. Februar 2017 lehnte die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für CA ab (II46/112). Mit weiterem Bescheid vom 20. Februar 2017 lehnte die Beklagte die Kindergeldfestsetzung für TU und TA ab Januar 2017 ab (II73/112), da beide Kinder weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hätten.
3
In dem weiteren, auf den 12. Juni 2017 datierten Kindergeldantrag (der am 3. Juli 2017 bei der Familienkasse einging) gab die Klägerin an, dass die Kinder TU und TA seit Juni 2017 über einen Wohnsitz in Deutschland verfügen würden und in ihrem Haushalt untergebracht seien (II76/112; II78/112, II 80/112). Dem Antrag waren Anmeldebestätigungen in A-Stadt für TU und TA vom 26. Juni 2017 mit dem Einzugsdatum […] Juni 2017 beigefügt (II82+83/112). Mit Bescheid vom 7. Juli 2017 setzte die Beklagte Kindergeld für TU und TA ab Juni 2017 (befristet bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres) fest (II90/112). Aufgrund dieser Festsetzung wurde der Klägerin für TU und TA laufend Kindergeld gewährt. Mit Bescheid vom 29. Juni 2018 änderte die Familienkasse ab August 2018 die Höhe der Kindergeldfestsetzung für TU und TA (wegen des Wegfalls des Kindergeldes für SU) da sich die Ordnungszahl verändert hatte (II94/112). Nachdem die Familienkasse mit Bescheid vom 13. Juli 2018 ab August 2018 Kindergeld für SU festsetzte, änderte sie ab August 2018 auch die Höhe der Kindergeldfestsetzung vor TU und TA, da sich die Ordnungszahl verändert hatte (II108/112).
4
Mit Schreiben vom 12. Mai 2021 forderte die Familienkasse die Klägerin auf, ihr mitzuteilen wo und gegebenenfalls in wessen Haushalt ihre Kinder TU und TA leben. Auf die Mitteilung der Klägerin, dass sich die Kinder vorübergehend zum Zweck der Ausbildung außerhalb des Haushaltes aufhielten, hob die Familienkasse mit Verwaltungsakt von 8. Juni 2021 die Kindergeldfestsetzungen für TU und TA ab dem Juli 2021 auf (Kindergeldakte Arbeitsversion, Blatt 15; <in der Folge zitiert: Blatt/Gesamtzahl Blätter, also 15/150). Außerdem forderte die Familienkasse mit Schreiben vom 8. Juni 2021 von der Klägerin Nachweise über den Schulbesuch der Kinder ab Juni 2017 in Deutschland an; weiter wurden Angaben dazu gefordert, seit wann die Kinder wieder in Australien leben würden und ob sie auch dort eine Schule besuchen würden (18/150).
5
Gegen den Aufhebungsbescheid vom 8. Juni 2021 legte die Klägerin Einspruch ein (21/150). Den Einspruch begründete sie damit, dass die Kinder seit 26. Juni 2017 ihren Wohnsitz in ihrem Haushalt in Deutschland hätten. Zur Beantwortung des Schreibens der Familienkasse vom 8. Juni 2021 führte die Klägerin aus, TU habe seit 26. Juni 2017 die High School in L-Town (Australien) besucht. Sie halte sich vorübergehend in Australien auf, um im November 2021 dort den High School Abschluss zu machen. TA habe im Zeitraum vom 26. Juni 2017 bis Dezember 2020 die Public School in T-City (Australien), eine Primary School mit sechs Jahrgängen, besucht. Eine Rückführung von TA in das deutsche Schulsystem sei für September 2020 bereits organisiert gewesen. Leider habe er aufgrund der widrigen Umstände durch die Corona Pandemie nicht rechtzeitig nach Deutschland zurückkehren können. Deshalb habe ihn die Sprengelschule zum 30. September 2020 in A-Stadt abgemeldet. Im Augenblick besuche TA die High School in L-Town. Sein Schuljahr in der High School habe im Januar 2021 begonnen (23+24/150).
6
Mit Schreiben vom 9. Juli 2021 gab die Familienkasse der Klägerin Gelegenheit zur Stellungnahme, da die Familienkasse der Auffassung war, dass für TU und TA das Kindergeld seit Juni 2017 sowie der Kinderbonus für 2020 und 2021 zu Unrecht gewährt worden sei (37/150) und die zu Unrecht gewährte Steuervergütung in Höhe von 28.038 € zu erstatten sei.
7
Am 3. August 2021 ging bei der Familienkasse die Stellungnahme der Klägerin mit diversen Unterlagen ein. Nach den Unterlagen hat TA vom 26. Juni 2017 bis 17. Dezember 2020 die T-City Public School besucht und war während seiner Schulzeit mehrfach vom Unterricht befreit, um zurück nach Deutschland zu reisen (Bestätigung vom 22. Juli 2021, 56/150). Für TU wird bestätigt, dass sie seit dem 29. Januar 2016 in der L-Town High School eingeschrieben ist und die Schule auch noch im Jahr 2021 besucht (Bestätigung vom 15. Juli 2021, 58/150). Außerdem legte die Klägerin am 10. August 2021 eine Bestätigung darüber vor, dass TA seit 2. Februar 2021 die L-Town High School besucht (Bestätigung vom 15. Juli 2021, 63/150).
8
Der Einspruch gegen den Aufhebungsbescheid vom 8. Juni 2021 hatte keinen Erfolg und wurde mit Einspruchsentscheidung vom 18. August 2021 als unbegründet zurückgewiesen (68/150).
9
Mit Schreiben vom 23. August 2021 führte die Klägerin aus, dass die Kinder TU und TA den Wohnsitz bei ihr in A-Stadt hätten. Der Kindesvater […] und sie hätten 2016 das Familienhaus in Australien verkauft und ihren Wohnsitz nach Deutschland verlegt. Das Umzugsgut sei nach Deutschland verschifft worden und sie habe 2016 ihrer Mieterin wegen Eigenbedarf den Mietvertrag über die Wohnung in der H-Straße 124 gekündigt. Die Familienkasse habe den Wohnsitz anerkannt und das Kindergeld für TU und TA sowie für das weitere Kind SU gewährt. 2019 habe sie zusätzlich einer weiteren Mieterin im selben Haus (H-Straße 124) wegen Eigenbedarf gekündigt, damit die Tochter SU künftig diese Wohnung bewohnen könne und sie zusammen mit TU und TA mehr Platz in der alten Wohnung habe. TU und TA hätten sowohl die australische als auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Ihre Bindungen in sprachlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht beständen seit ihrer Geburt an den deutschen Kulturkreis. Der Lockdown und die Reisebeschränkungen würden zurzeit verhindern, dass TU und TA ihre ausbildungsfreien Zeiten überwiegend in Deutschland verbringen (88/150). Im April 2020 sei die Rückholung von TU und TA geplant gewesen. Es seien auch schon die Plätze auf dem Rückholflug für die Kinder gebucht gewesen. Wegen ihrer doppelten Staatsbürgerschaft sei eine Ausreisebestätigung der australischen Behörden erforderlich gewesen; diese hätten sie aber so kurzfristig nicht bekommen können. Wegen der Reisebeschränkungen sei es ihr nicht möglich, nach Australien zu fliegen und die Kinder zurück nach Deutschland zu holen (89/150). Auch der bayerische Ministerpräsident bestätige, dass TU im Freistaat Bayern lebe (91/150). Als Nachweise legte die Klägerin u.a. eine Bestätigung über den Rückholflug des Auswärtigen Amtes am […] April 2020 (94/150), diverse Flugtickets, Anmeldebestätigungen des Einwohnermeldeamtes, ein Schreiben des bayerischen Ministerpräsidenten vom […] August 2021 an TU mit Glückwünschen zum 18. Geburtstag und einen Abdruck ihres Schreibens über die Eigenbedarfskündigung zum 30. November 2019 (120/150) vor.
10
Gegen den Aufhebungsbescheid vom 8. Juni 2021 und die Einspruchsentscheidung vom 18. August 2021 richtet sich die Klage. Zur Begründung trägt die Klägerin vor, dass die Kinder TU und TA ihren Wohnsitz in Deutschland hätten. Im November 2016 sei der Familienhaushalt in der H-Straße 124 in A-Stadt – für sie, den Kindesvater, sowie für SU, TU und TA begründet worden (Anlage der Klägerin zum Schriftsatz vom 1. August 2022). Der Wohnsitz von TU und TA seit mit der Kindergeldfestsetzung 2017 auch anerkannt worden. TU und TA hätten ihren Wohnsitz dauerhaft in der Wohnung der Mutter in A-Stadt belassen und seien auch in Deutschland melderechtlich angemeldet geblieben. Es sei von der Klägerin beabsichtigt gewesen, dass sich daran langfristig grundsätzlich nichts ändern solle. Die Kinder hätten die Schulen in Australien besucht, seien in den vergangenen Jahren allerdings auch immer für mehrere Monate in Deutschland gewesen. Aufgrund der Trennung der Klägerin vom leiblichen Vater der Kinder, der Ehescheidung im Mai 2017 und der Tatsache, dass der Vater sich 2018 entschlossen habe, dauerhaft in Australien verbleiben wollte, habe ein Wechselmodell gefunden werden müssen. Die Kinder hätten eine doppelte Staatsbürgerschaft. Zu Beginn der Pandemie Anfang des Jahres 2020 hätten die Kinder auch wie geplant nach Deutschland einreisen wollen. Dies sei jedoch aufgrund der pandemiebedingten Reisebeschränkungen nicht möglich gewesen. Die Kinder hätten aber aufgrund der australischen Staatsbürgerschaft keine Ausreisegenehmigungen erhalten. Deshalb hätten die Kinder auch die Rückholaktion der Bundesregierung nicht in Anspruch nehmen können. Die Klägerin habe ihren Kindern in den gesamten Jahren stets das eigene Kinderzimmer in der Wohnung in A-Stadt beibehalten. Sie habe sogar 2019 einer Mieterin in ihrer Eigentumswohnung im gleichen Wohnhaus wegen Eigenbedarf gekündigt, um dem dritten Kind SU eine eigene Wohnung mit eigenem Hausstand zu ermöglichen und die Kinderzimmer für TU und TA in der Wohnung freizuhalten. Erst als die Reisebeschränkungen gelockert worden seien, hätten die Kinder im Dezember 2021 nach A-Stadt zu Klägerin zurückkehren können. Sie würden nun bei der Klägerin in deren Wohnung in ihren Kinderzimmern wohnen. Es sei nie beabsichtigt gewesen, dass die Kinder diese Zimmer endgültig aufgeben. Die Klägerin habe sich auch an den Ausgaben für die Kinder in der Zeit, als es sich in Australien aufhielt, durch entsprechende Überweisungen beteiligt. Die Klägerin habe stets beabsichtigt, dass sich die Kinder sowohl im Jahr 2020 als auch im Jahr 2021 in Deutschland aufhalten und hier die Schule besuchen würden. Die Beklagte sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der Schwerpunkt der Lebensverhältnisse der Kinder nach Australien verlagert worden sei. Die Auffassung der Beklagten, dass die Kinder TU und TA ihren Wohnsitz im Inland seit Juni 2017 aufgegeben hätten, sei unzutreffend. Die Entscheidung der Klägerin und des Kindesvaters im Jahr 2017 sei gewesen, dass es sich nur um einen kurzfristigen Aufenthalt in Australien handeln solle. Die Kinder seien in Australien ausschließlich von der Klägerin und dem Kindesvater betreut worden; vom Kindesvater in W-City und von der Klägerin in L-Town. Erst 2018 habe sich der Kindesvater entschlossen, dauerhaft in Australien aufzuhalten. Diese Entscheidung sei für die Klägerin nicht vorhersehbar gewesen, nachdem er zuvor 13 Jahre in Deutschland gelebt habe. Dass der Kindesvater seinen Wohnsitz nach Australien verlegt habe, habe keine Auswirkungen auf den Wohnsitz der Kinder der Klägerin. Der Aufenthalt der Kinder in Australien und der Schulbesuch in Australien hätten keinen dauerhaften Charakter gehabt. Die Kinder hätten sich nicht nur für kurzfristige Aufenthalt von zwei bis drei Wochen im Jahr in A-Stadt aufgehalten. Die Kinder seien über mehrere Monate in Deutschland gewesen und hätten sich in der Wohnung der Klägerin in ihren Kinderzimmern aufgehalten. Selbst wenn man nicht zu einem Wohnsitz der Kinder in Deutschland gelange, hätten die Kinder zu mindestens ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt.
11
Ergänzend weist die Klägerin darauf hin, dass die Beklagte mit dem Bescheid vom 7. Juli 2017 das Kindergeld für TU und TA ab Juni 2017 festgesetzt habe. Mit den späteren Bescheiden vom 29. Juni 2018 und 13. Juli 2018 habe die Beklagte den jeweiligen Anspruch auf Kindergeld nach Prüfung aller Unterlagen auch anerkannt. Zu diesem Zeitpunkt seien der Beklagten alle Umstände der jeweiligen Aufenthalte der Kinder bekannt gegeben gewesen. Nach diesen Bescheiden habe die Klägerin darauf vertrauen dürfen, dass der Anspruch auf Kindergeld geprüft und berechtigt gewesen sei und dass eine Änderung der Beurteilung der identischen Verhältnisse drei Jahre später nicht mehr erfolgen würde.
12
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 8. Juni 2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 18. August 2021 aufzuheben, soweit darin das Kindergeld für TU und TA ab Juli 2021 aufgehoben wurde.
13
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
14
Zur Begründung verweist die Beklagte auf ihre Einspruchsentscheidung. Ergänzend trägt sie vor, dass der Wohnsitz der Kinder TU und TA eigenständig zu beurteilen sei, also unabhängig davon, ob der Kindergeldberechtigte in Deutschland als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig eingestuft werde. Die Kinder hätten keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland. Die Inlandsaufenthalte in den ausbildungsfreien Zeiten hätten nur Besuchs- und keinen tatsächlichen Wohncharakter gehabt. Im Übrigen würden Auslandsbesuche von Kindern in jüngeren Jahren für eine Verlegung des Wohnsitzes ins Ausland sprechen. Je länger der Auslandsaufenthalt andauere, desto länger müssten die Inhaltsaufenthalte angelegt sein, um von einem Wohnsitz im Inland ausgehen zu können. Da die Kinder bereits seit Juni 2017 im Ausland die Schule besuchten und der Aufenthalt auf Dauer geplant gewesen sei, sei von einem Wohnsitz in Australien auszugehen. In Deutschland hätten die Kinder tatsächlich keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt mehr.
15
Mit Bescheid vom 23. August 2021 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für die Kinder TU und TA für den Zeitraum von Juni 2017 bis einschließlich Juni 2021 zusammen mit dem Kindergeldbonus für 2020 und 2021 auf (82/150) und forderte die Steuervergütungen in Höhe von 20.838 € zurück. Das gegen diesen Bescheid geführte Einspruchsverfahren ruht.
16
Im Dezember 2021 flogen TU und TA von Australien zurück nach Deutschland. TA setzt in A-Stadt seine schulische Ausbildung fort; TU kehrte im Februar 2022 nach Australien zurück.
17
Auf die Aufklärungsanordnung des Berichterstatters vom 22. Juni 2022 zu den Anwesenheitszeiten der Kinder im Inland hat die Klägerin mit Schreiben vom 1. August 2022 geantwortet (wegen des Inhalts wird auf diese Anordnung und dieses Schreiben verwiesen).
18
Mit Beschluss vom 29. August wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen (§ 6 Finanzgerichtsordnung <FGO>).
19
Auf die Aufklärungsanordnung des Einzelrichters vom 1. September 2022 zu den Anwesenheitszeiten der Klägerin im Inland und in Australien hat die Klägerin mit Schreiben vom 4. Oktober 2022 geantwortet (wegen des Inhalts wird auf diese Anordnung und dieses Schreiben verwiesen).
20
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die ausgetauschten Schriftsätze und das Protokoll über die mündliche Verhandlung verwiesen.
II.
21
Die Klage ist unbegründet.
22
1. Die gegen die Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung und auf Weitergewährung des Kindergeldes gerichtete Klage ist eine Anfechtungsklage (BFH-Urteil vom 3. Juli 2014 III R 53/13, BFHE 246, 437, BStBl II 2015, 282). Im Falle des Einspruchs gegen einen Aufhebungsbescheid reicht die Regelungswirkung in zeitlicher Hinsicht bis zum Ende des Monats der Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung (BFH-Urteil vom 4. August 2011 III R 71/10, BFHE 235, 203, BStBl II 2013, 380). Streitig ist im vorliegenden Klageverfahren demgemäß der Zeitraum Juli 2021 und August 2021.
23
2. Im Streitzeitraum Juli und August 2021 verfügten die Kinder TU und TA weder über einen Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland.
24
a) Für Kinder, die weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat haben, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet, und die auch nicht im Haushalt eines Berechtigten i.S. des § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a Einkommensteuergesetz in der Fassung für den Streitzeitraum (EStG) leben, wird nach § 63 Abs. 1 Satz 6 EStG kein Kindergeld gewährt. Das Existenzminimum dieser Kinder wird nur durch die Freibeträge nach § 32 Abs. 6 EStG von der Besteuerung freigestellt, die keine unbeschränkte Steuerpflicht des Kindes voraussetzen (BFH-Urteil vom 28. April 2022 III R 12/20, BFHE nn, BFH/NV 2022, 1138).
25
b) Die Grundsätze, nach denen sich bestimmt, ob jemand einen Wohnsitz gemäß § 8 Abgabenordnung (§ 8 AO) oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO) im Inland hat, sind durch langjährige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) geklärt.
26
Minderjährige Kinder teilen grundsätzlich den Wohnsitz ihrer Eltern, weil sie über ihre Haushaltszugehörigkeit eine abgeleitete Nutzungsmöglichkeit besitzen und damit zugleich die elterliche Wohnung i.S. des § 8 AO innehaben. Dies ist jedoch nicht zwingend der Fall, sondern hängt maßgeblich von den objektiven Umständen des Einzelfalls ab (BFH-Urteil vom 7. April 2011 III R 77/09, BFH/NV 2011, 1351). Lebt ein minderjähriges Kind im Ausland, kann zwar davon ausgegangen werden, dass über das Rechtsinstitut des Familienwohnsitzes das „Innehaben einer Wohnung“ durch einen Familienangehörigen vermittelt wird, wenn es um das „Beibehalten“ eines bereits vorhandenen Wohnsitzes geht. Dagegen kann ein im Ausland lebendes Kind im Inland grundsätzlich keinen Wohnsitz „begründen“, ohne sich zuvor hier aufgehalten zu haben (BFH-Urteile vom 7. April 2011 III R 77/09, BFH/NV 2011, 1351; vom 3. März 1978 VI R 195/75, BFHE 124, 530, BStBl II 1978, 372; Avvento in Gosch, AO/FGO, § 8 AO Rz. 31 [Okt. 2019] zu Ehegatten).
27
Kinder, die sich zum Zwecke des Studiums für mehrere Jahre ins Ausland begeben, behalten ihren Wohnsitz in der inländischen elterlichen Wohnung nur dann bei, wenn sie diese in ausbildungsfreien Zeiten zum überwiegenden Teil nutzen. Dabei kommt der Dauer der Inlandsaufenthalte erhebliche Bedeutung zu (BFH-Urteil vom 28. April 2022 III R 12/20, BFHE nn, BFH/NV 2022, 1138; Musil in Hübschmann/Hepp/Spitaler: AO/FGO, § 8 AO Rz. 42 [April 2021]). Bei Kindern, die zum Zwecke der Schul-, Hochschul- oder Berufsausbildung auswärtig untergebracht sind, reicht es für einen Inlandswohnsitz daher nicht aus, wenn die elterliche Wohnung dem Kind weiterhin zur Verfügung steht (BFH-Urteil vom 25. September 2014 III R 10/14, BFHE 247, 239, BStBl II 2015, 655).
28
c) Welche Faktoren für und gegen ein Innehaben der Wohnung und die Absicht der weiteren Benutzung sprechen und welche Umstände des Einzelfalls durch das FG insbesondere zu berücksichtigen sind, ergeben sich aus der ständigen BFH-Rechtsprechung (vgl. BFH-Urteile vom 25. September 2014 III R 10/14, BFHE 247, 239, BStBl II 2015, 655 und vom 25. Juli 2019 III R 46/18, BFH/NV 2020, 208): Neben der voraussichtlichen Dauer der auswärtigen Unterbringung, der Art der Unterbringung am Ausbildungsort auf der einen und im Elternhaus auf der anderen Seite, dem Zweck des Auslandsaufenthalts, den persönlichen Beziehungen des Kindes am Wohnort der Eltern einerseits und am Ausbildungsort andererseits, kommt auch der Dauer und Häufigkeit der Inlandsaufenthalte Bedeutung zu.
29
Dient ein Auslandsaufenthalt ausschließlich der Durchführung einer bestimmten Maßnahme (wie z.B. der Schul- oder Berufsausbildung), ist er deshalb von vornherein zeitlich beschränkt, und hat der Betroffene die Absicht, nach dem Abschluss der Maßnahme wieder an den bisherigen Wohnort oder gar in die elterliche Wohnung zurückzukehren, reicht dies allein jedoch nicht dafür aus, um vom Fortbestand des bisherigen Wohnsitzes während des Auslandsaufenthalts auszugehen. Die Feststellung der Rückkehrabsicht besagt grundsätzlich nichts darüber, ob der Inlandswohnsitz während des vorübergehenden Auslandsaufenthaltes beibehalten oder aber aufgegeben und nach der Rückkehr neu begründet wird. Während eines mehrjährigen Auslandsaufenthalts zum Zwecke einer Berufsausbildung behält ein Kind seinen Wohnsitz in der Wohnung der Eltern im Inland im Regelfall nur dann bei, wenn es diese Wohnung zumindest überwiegend in den ausbildungsfreien Zeiten nutzt. Nicht erforderlich ist hingegen, dass das Kind den weit überwiegenden Teil der ausbildungsfreien Zeit im Inland verbringt. (BFH-Urteil vom 23. Juni 2015 III R 38/14, BFHE 250, 381, BStBl II 2016, 102). Ein nur gelegentliches Verweilen während unregelmäßig aufeinander folgender kurzer Zeiträume zu Urlaubszwecken, Besuchszwecken oder familiären Zwecken, die nicht einem Aufenthalt mit Wohncharakter gleichkommen, reicht nicht aus, um zwischenzeitliches Wohnen und damit einen inländischen Wohnsitz anzunehmen. Da die ausbildungsfreien Zeiten von der Art bzw. der Gestaltung des Studiums, von länderspezifisch unterschiedlich ausgestalteten Semesterferien und auch von Anwesenheitsobliegenheiten (Seminar-/Hausarbeiten in der unterrichtsfreien Zeit, Examens-/Prüfungsvorbereitungen) abhängen können, kann eine Mindestdauer der Inlandsaufenthalte nicht verlangt werden. Erforderlich ist jedoch im Regelfall, dass die ausbildungsfreien Zeiten zumindest überwiegend im Inland verbracht werden und es sich um Inlandsaufenthalte handelt, die Rückschlüsse auf ein zwischenzeitliches Wohnen zulassen (BFH-Urteil vom 25. September 2014 III R 10/14, BFHE 247, 239, BStBl II 2015, 655).
30
3. Werden diese Maßstäbe zugrunde gelegt, haben die Kinder TU und TA im streitigen Zeitraum keinen Wohnsitz im Inland.
31
a) Das Gericht ist im Streitfall der Auffassung, dass die Kinder TU und TA keinen Wohnsitz in Deutschland im Juni 2017 begründet haben. Die Angaben der Klägerin im Kindergeldantrag vom 12. Juni 2017 treffen nicht zu.
32
aa) Nach den objektiven Umständen des Streitfalles konnten TU und TA im Juni 2017 oder Juli 2017 gar keinen Wohnsitz im Inland begründen, da sie sich zu dieser Zeit nicht im Inland aufgehalten haben. Die Kinder haben bereits mit dem Umzug der ganzen Familie nach Australien im Jahr 2013 ihren damaligen inländischen Wohnsitz verloren und konnten ihn nicht wieder begründen, ohne sich zuvor hier aufgehalten zu haben (vgl. BFH-Urteil vom 7. April 2011 III R 77/09, BFH/NV 2011, 1351).
33
Denn nach den Angaben der Klägerin im finanzgerichtlichen Verfahren ist die Klägerin mit ihrem Mann und den Kindern im Jahr 2013 nach Australien gezogen. Nachdem die Klägerin und ihr Ehemann im November 2016 das Haus in Australien verkauft haben und zurück nach Deutschland gezogen sind, blieben die Kinder TU und TA für ihre schulische Ausbildung weiter in Australien. Nach den Angaben der Klägerin waren TU und TA nur von Anfang Dezember 2016 bis Ende Januar 2017 in A-Stadt. TA war darüber hinaus noch einmal im Juli 2019 in A-Stadt (3. Juli bis 31. Juli). Außerdem war TU von Mitte Dezember 2019 bis Ende Januar 2020 (15. Dezember 2019 bis 28. Januar 2020) und TA von Mitte Dezember 2019 bis Mitte Februar 2020 (15. Dezember 2019 bis 15. Februar 2020) in A-Stadt. Danach waren TU und TA erst wieder ab Mitte Dezember 2021 in A-Stadt (Flug […] am 19. Dezember 2021).
34
Zum Zeitpunkt Juni / Juli 2017, als nach den Angaben der Klägerin die Kinder TU und TA ihren Wohnsitz in Deutschland begründet haben sollen, waren die Kinder also gar nicht in Deutschland. Damit scheidet eine Wohnsitzbegründung von TU und TA im Juni / Juli 2017 aus.
35
bb) Nicht entscheidend ist im Streitfall nach der ständigen BFH-Rechtsprechung (BFH-Urteile vom 17. Mai 1995 I R 8/94, BFHE 178, 294, BStBl II 1996, 2; vom 12. September 2013 III R 16/11, BFH/NV 2014, 320; vom 27. Februar 2014 V R 15/13, BFH/NV 2014, 1030) die Anmeldung des Wohnsitzes der Kinder TU (II83/112) und TA (II82/112) am 26. Juni 2017 (zum Einzugsdatum 12. Juni 2017) beim inländischen Einwohnermeldeamt. Auch die bloße Absicht, einen Wohnsitz begründen zu wollen, reicht nicht aus (Klein/Gersch, AO, 15. Aufl. 2020, § 8 Rz. 5 m.w.N.).
36
b) Zu dem Zeitpunkt, als TU und TA in Deutschland waren, im Dezember 2016 und Januar 2017 hat die Klägerin im Verwaltungsverfahren – zu Recht – noch gar nicht behauptet, dass diese beiden Kinder einen Wohnsitz in Deutschland begründet hätten.
37
aa) Das Gericht ist der Überzeugung, dass die Klägerin selbst und der Kindesvater im November 2016 zusammen mit dem Kind SU einen Wohnsitz im Inland (konkret: in A-Stadt in der H-Straße 124) begründet haben.
38
Dies ergibt sich für das Gericht aus den folgenden Umständen. Die Klägerin ist nach ihrem eigenen – glaubhaften – Vorbringen im November 2016 in diese Wohnung eingezogen und hat als Einzugstermin für sich, den Kindesvater und für SU auch den […] November 2016 beim Einwohnermeldeamt angegeben (II9/112).
39
Nach ihren – glaubhaften – Angaben im finanzgerichtlichen Verfahren (Anlage zum Schriftsatz vom 4. Oktober 2022) war die Klägerin auch ab November 2016 bis zum 3. Mai 2017 in A-Stadt, um die Wohnung in der H-Straße 124 (die sie zuvor einer Mieterin wegen Eigenbedarf gekündigt hatte) auszustatten.
40
Sie kehrte dann wegen ihrer Scheidung für die Zeit vom 3. Mai 2017 bis 18. Juni 2017 nach Australien zurück. Weitere Aufenthalte in A-Stadt gibt die Klägerin – glaubhaft – für die Zeiträume vom 18. Juni 2017 bis 25. Juli 2017, Januar 2018 und Februar 2018, für Juni 2018 bis September 2018, sowie für die Zeiträume vom 3. Juli bis zum 31. Juli 2019, vom 15. Dezember 2019 bis zum 15. Februar 2020 an. Nach der Aufgabe der Wohnung im März 2020 in L-Town kehrte die Klägerin nach A-Stadt bis zum 11. November 2021 zurück. Danach schloss sich nur noch ein weiterer Aufenthalt der Klägerin in Australien vom 11. November 2021 bis zum 20. Dezember 2021 an und danach kehrte sie wieder nach A-Stadt zurück.
41
Diese Umstände führen nach Auffassung des Gerichts dazu, dass die Klägerin ab November 2016 in der H-Straße 124 eine Wohnung inne, die darauf schließen lässt, dass sie die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Das Bestehen einer jederzeitigen Nutzungsmöglichkeit und die tatsächliche Benutzung dieser Wohnung als Familienwohnung durch die Klägerin, den Kindesvater und SU ist damit nach Auffassung des Gerichts belegt. Und dieser Inlandswohnsitz der Klägerin bestand auch danach noch über den Streitzeitraum hinaus.
42
bb) Neben dem inländischen Wohnsitz hat die Kläger auch nach dem Verkauf der Familienwohnung im November 2016 noch einen Wohnsitz in Australien unterhalten.
43
Im Verwaltungsverfahren hatte die Klägerin noch vorgetragen, dass sie sich nur ca. drei bis vier Monate pro Jahr in Australien aufgehalten hat und dass sie zusammen mit CA im Januar 2017 einen Mietvertrag über die Wohnung in L-Town abgeschlossen hat (II42/112+II32/112). Im Klageverfahren hat die Klägerin auf die richterliche Anordnung nun – glaubhaft – vorgetragen, dass sie bis November 2016 durchgängig in Australien war; danach von Mai 2017 bis Mitte Juni 2017, von März 2018 bis Mai 2018 und Mitte September 2018 bis Juni 2019, von August 2019 bis Mitte Dezember 2019 und von Mitte Februar 2020 bis Mitte März 2020. Und im März 2020 wurde dann die Wohnung in L-Town aufgegeben. Danach schloss sich nur noch ein weiterer Aufenthalt der Klägerin in Australien vom 11. November 2021 bis zum 20. Dezember 2021 an; im November 2021 erfolgte – nach den glaubhaften Angaben der Klägerin – eine neue Anmietung einer Wohnung für TU und TA.
44
Aufgrund dieser Angaben im Klageverfahren ist das Gericht der Auffassung, dass die Klägerin in der Zeit ab Januar 2017 über einen Wohnsitz in Australien (mit der Wohnung in L-Town; Adresse […] Street L-TOWN, NSW […]) neben dem Wohnsitz in Deutschland verfügt hat. Während der Zeit der Abwesenheit der Klägerin von Australien war in der Wohnung nur CA, der älteste Sohn der Klägerin, in L-Town anwesend und hat sich um die beiden jüngeren Geschwister TU und TA gekümmert, sofern die Kinder nicht beim Kindesvater gelebt hatten. Die Datumsangabe in der Anlage der Klägerin zum Schriftsatz vom 4. Oktober 2022 mit dem Abschluss des Mietvertrages für die Wohnung in L-Town zum „13.01.2016“ hält das Gericht für einen Schreibfehler; aufgrund der im Verwaltungsverfahren vorgelegten Unterlagen steht für das Gericht fest, dass der Mietvertrag über die Wohnung in L-Town zwischen der Klägerin und CA als Mieter und dem Vermieter am 11. Januar 2017 (mit Wirkung zum 9. Januar 2017) in L-Town geschlossen wurde (II42, 43, 40/112).
45
cc) TU und TA haben nach Auffassung des Gerichts weiter nur ihren Wohnsitz in Australien beibehalten. Zu dem Zeitpunkt im Dezember 2016 / Januar 2017, als die beiden Kinder im Inland waren und die Klägerin bereits den Familienwohnsitz im Inland begründet hatte (vgl. oben Tz. II.3.b.aa), liegt noch keine Begründung eines Wohnsitzes der Kinder TU und TA im Inland vor.
46
Das Gericht hat dabei die Frage, ob für TU und TA im Inland in der H-Straße 124 ein Wohnsitz besteht oder nicht, entsprechend den Grundsätzen der BFH-Rechtsprechung, für jede Person – insbesondere auch im Verhältnis zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern – gesondert geprüft (vgl. Avvento in Gosch, AO/FGO, § 8 AO Rz. 12 [Okt. 2019] m.w.N.). Deshalb ist auch die Frage, ob ein Kind einen Wohnsitz begründet hat, ausschließlich nach den tatsächlichen Gesichtspunkten zu beurteilen. Auch ein Kind begründet deshalb erst dann einen Wohnsitz, wenn es eine Wohnung unter Umständen innehat, die auf das Beibehalten und Benutzen schließen lassen (BFH-Urteil vom 7. April 2011 III R 77/09, BFH/NV 2011, 1351).
47
TU und TA haben auch nicht – gleichsam automatisch – die beiden Wohnsitze der Klägerin (in A-Stadt und in L-Town) geteilt. Für einen Wohnsitz von TU und TA im Inland ist nicht ausreichend, dass für jedes der beiden Kinder in der Wohnung in der H-Straße 124 ein Kinderzimmer zur Verfügung stand.
48
Aufgrund der Dauer des Aufenthalts von TU und TA zu diesem Zeitpunkt in Deutschland mit knapp zwei Monaten im Dezember 2016 und Januar 2017 ist das Gericht der Auffassung, dass sie sich hier nur um einen Aufenthalt zu Besuchszwecken gehalten hat. Zu diesem Zeitpunkt war auch aufgrund der Angaben der Klägerin im Verwaltungsverfahren klar, dass die beiden Kinder wieder nach Australien zum Schulbesuch zurückkehren werden. Die Klägerin hatte mit Schreiben vom 6. Februar 2017 nämlich der Familienkasse mitgeteilt, dass TU und TA weiter in Australien zur Schule gehen werden und hierfür eine Mietwohnung in Australien angemietet worden sei. Außerdem ist in diesem Schreiben auch ausgeführt, dass TU und TA nur die großen Ferien im Dezember und Januar in Deutschland verbringen werden. Konkret hat die Klägerin dort ausgeführt: „Auf Grund der großen Distanz kommen sie nur einmal im Jahr nach Deutschland. […] Seit 2012 waren die beiden Kinder jedes Jahr in Deutschland zu Besuch und treffen sich sogar noch mit ihren Kindergartenfreunden von ihrer Zeit in Deutschland.“ (II24/112; Hervorhebung kursiv nur im Urteil). Das Gericht ist der Auffassung, dass die Klägerin mit diesen Ausführungen beim Wort genommen werden kann. Der Aufenthalt im Dezember 2016 und Januar 2017 von TU und TA hatte nur Besuchscharakter und auch alle späteren Aufenthalte der beiden Kinder in Deutschland bis zum Zeitpunkt Dezember2021 hatten ebenfalls nur Besuchscharakter.
49
dd) Auch nachdem die Klägerin die Wohnung in L-Town ([…] Street, L-TOWN NSW […]) im März 2020 aufgegeben hatte, haben die Kinder TU und TA weiter einen Wohnsitz in Australien beibehalten. Einen Wohnsitz in Deutschland haben die Kinder im März 2020 nicht in Deutschland begründet; sie waren zu diesem Zeitpunkt nicht in Deutschland anwesend. Seit dem […] März 2020 waren die Kinder bei ihrem Vater in dessen Wohnung (Adresse: […] Way, W-CITY NZW […]) untergebracht. Dies hat auch die Klägerin in ihrem Schreiben vom 23. August 2021 im Einspruchsverfahren gegenüber der Familienkasse so vorgetragen (91/150): „Nachweislich halten sich TU und TA erst seit Februar 2020 pandemiebedingt ununterbrochen beim Kindesvater auf.“ Dass auch die elterliche Sorge ab diesem Zeitpunkt beim Vater lag, steht nach Auffassung des Gerichts durch die im Verwaltungsverfahren vom Kindesvater vorgelegten Unterlagen fest (Bescheid der australischen Kindergeldbehörde vom […] 2020 über die Veränderung des Prozentsatzes der elterlichen Sorge; 7/150).
50
c) Aber selbst, wenn die Kinder TU und TA im November 2016 oder Juni 2017 einen Wohnsitz im Inland begründet hätten, läge für die Kinder im Streitzeitraum (Juli 2021 und August 2021) kein inländischer Wohnsitz mehr vor. TU und TA haben nämlich, da bei beiden Kindern ein längerfristiger Auslandsaufenthalt vorliegt, keine ausreichende Zeit im Inland verbracht um einen Inlandswohnsitz beibehalten zu können.
51
aa) Zwar liegt nach der BFH-Rechtsprechung (BFH-Urteil vom 28. April 2022 III R 12/20, BFHE nn, BFH/NV 2022, 1138) bei einer voraussichtlichen Rückkehr innerhalb eines Jahres regelmäßig keine Aufgabe des Wohnsitzes vor. Das Gericht ist aber der Überzeugung, dass im Streitfall ein längerfristiger Auslandsaufenthalt vorliegt. Denn TA hat nach den in der Kindergeldakte vorliegenden Unterlagen bis 17. Dezember 2020 die Public School und danach ab Januar 2021 bis Dezember 2021 die High School in Australien besucht. Ausweislich der vorgelegten Bestätigung vom 31. Januar 2017 war TA im Februar 2017 im dritten Jahr an der T-City Public School eingeschrieben (II27/112); d.h. er besuchte diese Schule seit Anfang 2015. Bei einem Schulbesuch von mehr als fünf Jahren in Australien hat das Gericht bei TA keine Zweifel daran, dass ein längerfristiger Auslandsaufenthalt anzunehmen ist. TU war nach den vorliegenden Unterlagen im Jahr 2017 an der L-Town High School eingeschrieben (II30/112) und hat noch bis November 2021 die High School in Australien besucht. Als Datum der Einschreibung an der High School ist in der Bestätigung der 29. Januar 2016 angegeben; zuvor muss TU auch die Primary School besucht haben. Deshalb geht das Gericht auch bei TU von einem längerfristigen Auslandsaufenthalt aus.
52
bb) Das Gericht ist der Auffassung, dass das Vorbringen der Klägerin nicht zutrifft, dass sie und der Kindesvater entschieden hätten, dass TU und TA nur einen kurzfristigen Aufenthalt in Australien haben sollen (z.B. Klageschrift vom 30. Dezember 2021, Seite 3 f.; FG-Akte Bl 48 f.). In diesem Zusammenhang hat das Gericht den Eindruck, dass die Klägerin zu Unrecht die Begriffe „kurzfristig“ und „vorübergehend“ synonym verwendet bzw. versteht. So hat die Klägerin im Einspruchsverfahren vorgetragen, dass sich TU und TA vorübergehend zum Zweck der Schulausbildung in Australien aufhalten (Schreiben vom 23. August 2021, Seite 3; 91/150). Die gerade (unter Tz. II.3.c.aa) genannten Ausbildungszeiten in den australischen Schulen von TU und TA und das Vorbringen der Klägerin im Verwaltungsverfahren (vgl. oben Tz. II.3.b.cc) sprechen eindeutigen gegen einen kurzfristigen Aufenthalt im Ausland. Geplant war offensichtlich ein längerfristiger (mehrjähriger) Aufenthalt in Australien; die Einschätzung der Klägerin, dass dieser Zeitraum nur kurzfristig (bis zum Schulabschluss High School oder Primary School) gewesen war, ist unzutreffend. Der Zeitraum war auf jeden Fall längerfristig, wenn auch nur vorübergehend für die Schulzeit.
53
cc) Nach der Auffassung des Gerichts können TU und TA auf jeden Fall seit dem Jahr 2018 über keinen Wohnsitz mehr im Inland verfügen, selbst wenn sie ihn zuvor begründet hätten.
54
Ab dem Jahr 2018 kommt den Inlandsaufenthalten bei der Frage der Beibehaltung des Wohnsitzes der Kinder im Haushalt der Klägerin in A-Stadt erhebliche Bedeutung zu. Im Jahr 2018 werden für TU und TA keine Inlandsaufenthalte von der Klägerin behauptet.
55
Zum einen spricht dafür, dass die Kinder TU und TA keinen Wohnsitz mehr in Deutschland gehabt haben können, der Umstand, dass im Jahr 2018 die Klägerin und ihre Kinder TU (15 Jahre alt) und TA (10 Jahre alt) in L-Town und der Kindesvater in W-City in Australien und zwar in New South Wales lebten (vgl. Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/[… L-Town],_New_South_ Wales). Die Schule der Kinder waren ebenfalls in New South Wales (T-City liegt ebenfalls in New South Wales; vgl. Wikipedia: https://en.wikipedia.org/wiki/[… T-City],_New_South_Wales). Die Ehe zwischen der Klägerin und dem Kindesvater wurde im Sommer 2017 in Australien geschieden (vgl. nach der Stellungnahme der Klägerin vom 4. Oktober 2022 wurde sie am […] Mai 2017 geschieden; nach den Angaben im Kindergeldantrag der Klägerin vom 12. Juni 2018 ist sie seit […] Juli 2017 geschieden; II98/112). Und im Jahr 2018 hat sich der Kindesvater entschlossen, nur noch seinen Wohnsitz in Australien zu unterhalten (seinen Haushalt in W-City; vgl. Stellungnahme der Klägerin vom 1. August 2022).
56
dd) Für das Beibehalten eines Wohnsitzes von TU und TA im Inland ist nicht ausreichend, dass jedem der Kinder in der Wohnung in der H-Straße 124 ein Zimmer zur Verfügung stand. Erforderlich ist vielmehr zusätzlich, dass sie den überwiegenden Teil der ausbildungsfreien Zeit auch im Inland verbracht haben. Diese zusätzliche Voraussetzung war im Streitfall jedoch nicht erfüllt.
57
Zur Beantwortung dieser Frage sind die ausbildungsfreien Tage über den Kalender der Schulferien von New South Wales zu ermitteln. Die Schulferien in New South Wales in den Jahren 2017 bis 2021 sind in der nachfolgenden Tabelle abgebildet:

Sommer

Herbst

Winter

Frühling

Sommer

2017

- 26.01.

10.04.-25.04.

03.07.-14.07.

25.09.-06.10.

18.12.-02.02.

2018

- 02.02.

16.04.-27.04.

09.07.-20.07.

01.10.-12.10.

24.12.-04.02.

2019

- 04.02

15.04.-26.04.

08.07.-19.07.

30.09.-11.10.

23.12.-27.01.

2020

- 27.01.

10.04.-27.04.

06.07.-17.07.

28.09.-09.10.

21.12.-06.01.

2021

- 06.01.

05.04.-16.04.

28.06.-09.07.

20.09.-01.10.

20.12.-27.01.

58
Zusätzlich sind in dem Ferienkalender für New South Wales noch drei verlängerte Wochenenden verzeichnet, nämlich der Anzac Day (langes Wochenende um den 25. April), Queens Birthday (langes Wochenende um den 8. Juni) und Australia Day (langes Wochenende um den 26. Januar).
59
ee) Werden diese ausbildungsfreien Zeiten zugrunde gelegt, steht fest, dass sich die Kinder TU und TA auf jeden Fall ab dem Jahr 2018 nicht den überwiegenden Teil der ausbildungsfreien Zeit in Deutschland aufgehalten haben. Denn TU und TA waren zuerst nur von Anfang Dezember 2016 bis Ende Januar 2017 in A-Stadt. Sofern die Kinder zuvor einen Wohnsitz im Inland begründet hätten, hätten sie diesen Wohnsitz im Inland nicht beibehalten, denn später waren die Kinder nur mehr zu folgenden Zeiten im Inland: von Mitte Dezember 2019 bis Ende Januar 2020 (TU) bzw. Mitte Februar 2020 (TA) in A-Stadt; außerdem war TA im Juli 2019 A-Stadt (zum selben Zeitpunkt war auch die Klägerin in der Wohnung in A-Stadt anwesend; vgl. oben Tz. II.3.b.aa) und danach waren TU und TA erst wieder ab Mitte Dezember 2021 in A-Stadt.
60
Nach dem Vortrag der Klägerin haben sich die Kinder TU und TA im Jahr 2018 gar nicht im Inland aufgehalten. TU hat sich danach im Jahr 2019 nur 15 Tage im Dezember (15.12.-31.12.) im Inland aufgehalten. Auch im Jahr 2020 war TU weniger als die Hälfte der ausbildungsfreien Tage im Inland, nämlich bis 28. Januar 2020. Damit steht für TU in jedem der drei folgenden Jahre 2018, 2019 und 2020 fest, dass sie die Voraussetzung zur Beibehaltung eines inländischen Wohnsitzes, den überwiegenden Teil der ausbildungsfreien Zeit im Inland zu verbringen, nicht erfüllt hat.
61
In der Gesamtschau steht auch für TA nach der Auffassung des Gerichts fest, dass TA ab 2018 nicht den überwiegenden Teil der ausbildungsfreien Zeit im Inland verbracht hat. Im Jahr 2019 hat sich TA zwar von 80 Ferientagen (ohne die drei langen Wochenenden) 43 Tage (28 Tage im Juli <03.07.-31.07.>und 15 Tage im Dezember <15.12.-31.12.>) im Inland aufgehalten. Isoliert betrachtet sind das in 2019 mehr als der Hälfte der ausbildungsfreien Tage in diesem Jahr (sofern man die drei langen Wochenenden außer Betracht lässt). Außerdem hat sich TA danach auch noch in der Zeit bis Mitte Februar 2020 (01.01.2020 bis 15.02.2020) im Inland aufgehalten, also an 46 Tagen im Jahr 2020 bei 80 ausbildungsfreien Tagen (ohne die drei langen Wochenenden) im Jahr 2020. Nachdem für TA jedoch im Jahr 2018 bei 77 ausbildungsfreien Tagen (ohne die drei langen Wochenenden) keine Aufenthaltstage im Inland vorliegen, hat TA zusammengezählt in den drei Jahren 2018, 2019 und 2020 die Voraussetzung, den überwiegenden Teil der ausbildungsfreien Tage im Inland zu verbringen, nicht erfüllt.
62
ff) Nach den Angaben der Klägerin endete das Wechselmodell mit dem Aufenthalt der Kinder bei der Klägerin und beim Kindesvater im Jahr 2020 (91/150). Zu diesem Zeitpunkt – spätestens im März / April 2020 – ist die Klägerin nach Deutschland zurückgekehrt und danach erst wieder im November 2021 nach Australien geflogen. Spätestens damit endete die familiäre Wohn- und Lebensgemeinschaft zwischen der Klägerin und den Kindern im Frühjahr 2020 und die Klägerin kann den Kindern keinen Familienwohnsitz im Inland mehr vermitteln. Der Kindesvater hat ausweislich der australischen Behörden seit dem 5. März 2020 auch die alleinige elterliche Sorge für die Kinder ausgeübt (4/150). Und auch wenn man erst ab diesem Zeitpunkt im März 2020 eine Aufgabe des Wohnsitzes der Kinder im Inland annehmen würde, hätte die Klage keinen Erfolg. Denn dieser späteste Zeitpunkt für ein Ende eines – unterstellten, früher einmal begründeten – Inlandswohnsitzes der Kinder TU und TA liegt noch weit vor dem hier streitigen Zeitraum (Juli und August 2021).
63
gg) Nach der BFH-Rechtsprechung (BFH-Urteil vom 23. Juni 2015 III R 38/14, BFHE 250, 381, BStBl II 2016, 102) kommt es für das Innehaben einer Wohnung allein auf die tatsächlichen Verhältnisse und nicht auf die persönlichen oder finanziellen Beweggründe für die fehlenden Inlandsaufenthalte an. Außerdem kommt es für die Frage der Wohnsitzbeibehaltung auch nicht auf die Beweggründe der großen Entfernung und der damit verbundenen langen Reisedauer an. Nach der Maßgabe dieser Rechtsprechung ist das Gericht auch davon überzeugt, dass es für die Frage der – etwaigen – Wohnsitzbeibehaltung auch nicht darauf ankommt, dass wegen der Corona-Pandemie ab April 2020 auch keine Ausreise aus Australien mehr möglich war.
64
d) Aus der Aufstellung der Klägerin vom 1. August 2022 ist nach der Auffassung des Gerichts ersichtlich, dass TU und TA erst seit Dezember 2021 in Deutschland einen Wohnsitz gehabt haben können. Denn erst nach dem Ende der Beschränkungen wegen der Corona-Pandemie waren TU und TA wieder ab Mitte Dezember 2021 in A-Stadt. Aufgrund der fehlenden Anwesenheitszeiten in Deutschland scheidet im Streitzeitraum Juli 2021 und August 2021 auch ein gewöhnlicher Aufenthalt (§ 9 AO) im Inland aus.
65
e) Die Einschätzung der Klägerin, dass die Kinder drei Aufenthaltsorte (beim Kindesvater in W-City, bei ihr in L-Town sowie bei ihr in A-Stadt) hatten und dass sie und der Kindesvater für TU und TA gemeinsam A-Stadt zum Wohnsitz der Kinder bestimmt haben, widerspricht der oben angeführten ständigen BFH-Rechtsprechung (insbesondere BFH-Urteile vom 7. April 2011 III R 77/09, BFH/NV 2011, 1351, vom 25. Juli 2019 III R 46/18, BFH/NV 2020, 208 Rz. 18; BFH-Beschlüsse vom 15. Mai 2009 III B 209/08, BFH/NV 2009, 1630, und vom 27. August 2010 III B 30/09, BFH/NV 2010, 2272).
66
4. Die Familienkasse konnte die bisherige Kindergeldfestsetzung für TU und TA mit dem Bescheid vom 8. Juni 2021 auch aufheben.
67
a) Zwar hat die Beklagte die Aufhebung – zu Unrecht – auf § 70 Abs. 2 EStG gestützt. § 70 Abs. 2 Satz 1 EStG zielt nämlich auf eine ursprünglich rechtmäßige Kindergeldfestsetzung ab, die durch eine Änderung der ihr zugrunde liegenden Verhältnisse rechtswidrig wird. Fälle, in denen – wie im Streitfall – nachträglich festgestellt wird, dass das Recht von Anfang an unrichtig angewandt worden ist, werden von § 70 Abs. 2 Satz 1 EStG nicht erfasst (BFH-Urteil vom 3. März 2011 III R 11/08, BFHE 233, 41, BStBl II 2011, 722; Wendl in Herrmann/ Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 70 EStG Rz. 13 m.w.N. [April 2020]).
68
Damit ist im Streitfall § 70 Abs. 2 EStG nicht anwendbar. Zum Zeitpunkt der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung am 8. Juni 2021 hat ein inländischer Wohnsitz von TU und TA ebenso nicht vorgelegen, wie zum Zeitpunkt der Festsetzung des Kindergeldes.
69
b) Die Beklagte kann aber ihren Bescheid vom 8. Juni 2021 über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung mit der Korrekturvorschrift § 70 Abs. 3 EStG begründen. § 70 Abs. 3 EStG betrifft die Aufhebung oder Änderung eines von Anfang an rechtswidrigen Bescheides (BFH-Urteil vom 26. Juli 2001 VI R 83/98, BStBl II 2002, 85; Wendl in Herrmann/Heuer/ Raupach, EStG/KStG, § 70 EStG Rz. 16 m.w.N. [April 2020]). Es soll vermieden werden, dass die Familienkasse ggf. über einen längeren Zeitraum an eine als fehlerhaft erkannte Kindergeldfestsetzung gebunden bleibt. Bei einer Korrektur nach § 70 Abs. 3 EStG handelt es sich um eine gebundene (und nicht um eine Ermessens-) Entscheidung (BFH-Urteil vom 21. Februar 2018 III R 14/17, BFHE 261, 210, BStBl II 2018, 481; Wendl in Herrmann/Heuer/ Raupach, EStG/KStG, § 70 EStG Rz. 16 m.w.N. [April 2020]). Die Voraussetzungen des § 70 Abs. 3 EStG sind erfüllt; die Familienkasse hat mit ihrem Bescheid vom 8. Juni 2021 die Kindergeldfestsetzung auch nur für die Zukunft ab Juli 2021 aufgehoben.
70
c) Im Übrigen kann, soweit die Voraussetzungen vorliegen, allerdings auch die Änderung einer Kindergeldfestsetzung nach den Korrekturvorschriften der AO in Betracht kommen. Diese sind neben § 70 Abs. 3 EStG anwendbar. Das gilt insbesondere für § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO (Wendl in Herrmann/ Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 70 EStG Rz. 16 m.w.N. [April 2020]; anwendbar gemäß § 155 Abs. 4 AO, § 31 Satz 3 EStG auch auf Kindergeldfestsetzungen, vgl. BFH-Urteil vom 9. September 2015 XI R 9/14, BFH/NV 2016, 166).
71
d) Unerheblich ist im Streitfall, dass die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid als Rechtsgrundlage irrtümlich die falsche Korrekturvorschrift zitiert hat (BFH-Urteil vom 25. Juli 2001 VI R 18/99, BFHE 196, 260, BStBl II 2002, 81; vom 25. Juli 2019 III R 34/18, BFHE 265, 487, BStBl II 2021, 20).
72
e) Zu Unrecht beruft sich die Klägerin auch darauf, dass sie auf die Kindergeldfestsetzung hätte vertrauen dürfen. Die sozialrechtlichen Regelungen über Vertrauensschutz sind bei der Aufhebung von Kindergeldfestsetzungen und der Rückforderung von Kindergeld nicht anwendbar (BFH-Urteil vom 19. November 2008 III R 108/06, BFH/NV 2009, 357).
73
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.