Inhalt

VG München, Urteil v. 14.12.2022 – M 18 K 19.2180
Titel:

Fortsetzungsfeststellungsklage (teilweise Stattgabe), Rehabilitationsinteresse, Inobhutnahme, Selbstmelder, Kindeswohlgefährdung, Verhältnismäßigkeit

Normenketten:
SGB VIII § 42
VwGO § 43
VwGO analog § 113 Abs. 1 Satz 4
Schlagworte:
Fortsetzungsfeststellungsklage (teilweise Stattgabe), Rehabilitationsinteresse, Inobhutnahme, Selbstmelder, Kindeswohlgefährdung, Verhältnismäßigkeit
Fundstelle:
BeckRS 2022, 45329

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass die Inobhutnahme der Tochter C. der Kläger vom 11. Juli 2018 bis 20. August 2018 rechtswidrig war.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen die Kläger 1/6, die Beklagte 5/6.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Kläger begehren die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme ihrer Tochter C. (geb. am … März 2005) vom 6. Juli 2018 bis 20. August 2018.
2
C. hatte sich zwischen 2. Oktober 2017 und 23. November 2017 zum ersten Mal in Obhut des Jugendamtes der Beklagten befunden. Auf die Fortsetzungsfeststellungsklage der Kläger hierzu (M 18 K 18.1351) hin wurde mit Urteil vom 14. Dezember 2022 festgestellt, dass diese Inobhutnahme vom 11. Oktober 2017 bis 23. Oktober 2017 sowie vom 13. November 2017 bis 23. November 2017 rechtswidrig war.
3
Diese erste Inobhutnahme endete damit, dass C. bis zu einer zwischen allen Beteiligten abgesprochenen Abklärung ihrer gesundheitlichen Situation in der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik H. zu einer mit der Familie der Kläger befreundeten Familie zog. Das Jugendamt plante laut „weiterer Gefährdungsabklärung und Bewertung“ vom 24. November 2017 bzw. 9. Januar 2018, diese Abklärung abzuwarten.
4
Ab 11. Januar 2018 befand sich C. in der Klinik H. Laut Aktenvermerk der Beklagten berichtete die behandelnde Ärztin am 18. Januar 2018 dem Jugendamt, C. schildere glaubhaft Vorfälle häuslicher Gewalt und es gebe den Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung sowie auf eine mittelgradige depressive Episode und auf leichte ADS.
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Am 6. März 2018 wurde C. aus der Klinik H. entlassen.
6
Gemäß einem Aktenvermerk des Jungendamts teilte der behandelnde Arzt in einem Abschlussgespräch mit dem Jugendamt, den Klägern, C. u.a. am Entlassungstag mit, C. gehe es besser, aber noch nicht gut. C. habe sich in der Klinik oft stur verhalten. Wenn sie etwas nicht habe machen wollen, habe sie sich erheblich jünger verhalten. In der Gruppe sei sie als Antreiberin und Anstachlerin aufgefallen und habe negative Gruppendynamiken angetrieben. Zunächst habe es ihr in der Klinik gut gefallen, in den letzten zwei Wochen habe sich ihre Stimmung komplett gedreht und sie habe so schnell wie möglich nach Hause zurückkehren wollen. Es werde ein stationäres Clearing als weiterführende Maßnahme und eine Psychotherapie für C. empfohlen. Im Aktenvermerk ist außerdem festgehalten, vor allem der Kläger zu 1) habe sich nicht abgeneigt gezeigt, C. habe eine weitere stationäre Unterbringung abgelehnt. Die Kläger hätten sich um eine passende Psychotherapie und einen Nachhilfelehrer für C. kümmern wollen und ferner eine intensive ambulante Hilfe zur Erziehung beantragt.
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Der vorläufige Entlassbericht vom selben Tag nennt als Diagnosen: Auf Achse I Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung (ICD-10: F92.0) und Verdacht auf posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1 V), emotional instabile Züge; auf Achse II kein Hinweis auf umschriebene Entwicklungsstörung; auf Achse III im klinischen Eindruck mindestens durchschnittliche Begabung; auf Achse IV Thalassaemia minor (ICD-10: D56.3); auf Achse V psychosoziale Belastungsfaktoren vorhanden und auf Achse VI ernsthafte soziale Beeinträchtigung. Zur Behandlung wird berichtet, zu Beginn des Aufenthalts habe eine schwere depressive Symptomatik mit gedrückter Stimmung, Antriebs- und Freudlosigkeit, sozialem Rückzug und selbstverletzendem Verhalten in Form von oberflächlichem Ritzen imponiert. Auf Anforderungen im Stationsalltag habe C. wiederholt impulsiv-gereizt, teilweise auch trotzig-verweigernd reagiert, emotional habe sie sich stark angespannt gezeigt. Die antidepressive Therapie habe die depressive Symptomatik gelindert. Im weiteren Verlauf habe C. ein labiles Selbstkonzept mit Störungen in der Affektregulation sowie Auffälligkeiten in der Beziehungsgestaltung gezeigt. Auch dysfunktionale Verhaltensweisen hätten sich beobachten lassen. In ihrer ablehnenden Haltung zu einer Rückkehr in die Familie habe sich C. ambivalent geäußert. Nach anfänglichen Telefonaten und Belastungserprobungen mit der Klägerin zu 2) und der Schwester sei der Wunsch nach Kontakt zum Kläger zu 1) gewachsen. In dieser Phase sei es wiederholt zu Stimmungseinbrüchen gekommen. Nach ersten von C. positiv empfundenen direkten Kontakten zum Kläger zu 1) habe sich der Wunsch verstärkt, rasch in die Familie zurückzukehren. Vor diesem Hintergrund habe ein Rückgang der Behandlungsmotivation im stationären Setting deutlich beobachtet werden können. Die depressive Symptomatik habe sich gebessert gezeigt. Da sich weder C. noch die Kläger der ärztlichen Empfehlung einer stationären Jugendhilfemaßnahme, beispielsweise im Rahmen eines stationären Clearings, hätten anschließen können und keine Hinweise auf eine akute Kindswohlgefährdung vorlägen, werde dem Wunsch nach Rückkehr in die Familie zugestimmt. Es werde dringend eine ambulante therapeutische Begleitung von C. und der gesamten Familie empfohlen. Ergänzend seien ambulante Jugendhilfemaßnahmen beantragt worden. Die Voraussetzungen für eine Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII seien erfüllt.
8
In der „Falleingabe im Fachteam“ der Beklagten vom 21. März 2018 wurde als mögliche Hilfeart die ambulante Erziehungshilfe genannt. Als fachliche Bewertung wurde ausgeführt, C.s Gesundheit sei noch nicht wiederhergestellt, ihr Selbstwert sei derzeit sehr gering und trotzdem sei nach Rückkehr in das Familiensystem nichts an den äußeren Faktoren geändert worden, die für C. eine gewisse Entlastung bringen könnten. Ein erneuter krisenhafter Konflikt sei sehr wahrscheinlich. Die empfohlenen Hilfen müssten so schnell wie möglich durchgesetzt werden. Diese Einschätzung ist auch in der „Weiteren Gefährdungsabklärung und Bewertung“ vom 31. März 2018 und der „Erarbeitung und Vereinbarung Schutzkonzept“ des Jugendamtes vom 12. April 2018 festgehalten.
9
In der „Empfehlung des Fachteams“ vom 12. April 2018 ist die Rede von „§§ 29 ff. AEH (einschl. § 35 amb.)“ als empfohlene Hilfeart. Als Begründung wird angeführt, es sei wichtig, dass ein harmonisches Familienleben stattfinde. Die Familie benötige Strategien, um Konflikte gewaltfrei und konstruktiv zu lösen. Es bedürfe der Wiederherstellung eines klaren Rollenverhältnisses in der Eltern-Kind-Ebene. Die Hilfe solle im Umfang von 10 Stunden pro Woche ab 12. April 2018 realisiert werden.
10
Laut einem Aktenvermerk der Beklagten habe der Kläger zu 1) in einem Telefonat am 15. Juni 2018 gegenüber dem Jugendamt angegeben, er sei skeptisch gegenüber einer ambulanten Hilfe. Der Kinder- und Jugendpsychiater, Herr G., habe einen „externen Aufenthalt“ von C. außerhalb der Familie in Betracht gezogen, um das Familiensystem zu entlasten.
11
Am 27. Juni 2018 fand bei der Beklagten mit den Klägern und C. ein „Kennenlern-Gespräch“ mit der beauftragten Fachkraft der ambulanten Familienhilfe Frau D. und am 4. Juli 2018 ein erster Hausbesuch durch diese statt. Ein Bewilligungsbescheid der Beklagten hierzu wurde nicht erlassen.
12
Nachdem C. eine erste Psychotherapie abgebrochen hatte, nahm sie. am 6. Juli 2018 den ersten Termin bei einer neuen Psychotherapeutin, Frau F., wahr. Dort berichtete sie, große Angst vor dem Vater zu haben. Er übe u.a. bei schlechten Noten physische und psychische Gewalt aus und sie wolle nicht nach Hause. Auf der Autofahrt zur Therapiesitzung habe er sie mit dem Tod bedroht. Daraufhin rief Frau F. mit Einverständnis von C. die Polizei an, um einen Ansprechpartner zu erfragen, nachdem sie die Leitstelle des Jugendamtes nicht habe erreichen können. Die Polizei beorderte einen Streifenwagen zur Praxis von Frau F. Die Polizeibeamten befragten die Anwesenden nach der Vorgeschichte und telefonierten hierzu auch mit der Klägerin zu 2). Dem polizeilichen Bericht lässt sich entnehmen, die Polizeibeamten hätten die Aussagen der Eltern für glaubhaft gehalten. C. habe den Eindruck gemacht, „als wollte sie hauptsächlich von zu Hause weg, um keine Regeln zu haben“. Die von den Beamten vorgeschlagene Hilfe in Form von psychologischer Betreuung in der H-Klinik in M. habe C. abgelehnt, da sie zwar von zu Hause weg wolle, aber die Klinik kategorisch ablehne. Nach telefonischer Rücksprache mit der Leitstelle des Jugendamtes wurde C. in Obhut des Jugendamtes genommen und in die Schutzstelle K. gebracht.
13
In der „Abschließenden Überprüfung des Schutzkonzepts“ vom 9. Juli 2018 hielt das Jugendamt fest, C. habe klar und deutlich geäußert, dass sie nicht in die Familie zurückkehren wolle. Die Familie und C. würden weiterhin von Frau D. unterstützt. Der Fokus liege nun auf der Erarbeitung einer Perspektive, der Erörterung der Sichtweisen jedes Einzelnen und auf Deeskalation.
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Laut Aktenvermerk des Jugendamtes schilderte der Kläger zu 1) in einem Telefonat mit dem Jugendamt am 9. Juli 2018 die Situation vom 6. Juli 2018 folgendermaßen. Es habe eine Auseinandersetzung auf der Fahrt zur Psychotherapie gegeben. C. habe mit dem Auto fahren wollen, obwohl der Kläger zu 1) vor Stau gewarnt habe. Daher seien sie 30 Minuten verspätet zur Therapiesitzung erschienen. Womöglich sei seine diesbezügliche Standpauke im Auto Auslöser für C.s Verhalten gewesen. Außerdem habe es bei dem Gespräch mit Frau D. am 4. Juli 2018 einen Konflikt gegeben, woraufhin Frau D. C. Grenzen gesetzt habe, was C. sicherlich nicht gefallen habe. Es habe am 6. Juli 2017 weder Bedrohung noch Gewalt gegeben. C. habe der Klägerin zu 2) gegenüber erwähnt, dass sie sauer wegen des Streits im Auto sei, die Situation in ihrem tatsächlichen Umfang aber nicht beabsichtigt habe. Der Kläger zu 1) sehe das Jugendamt nun in der Verantwortung und eine therapeutische Wohngruppe als einzige Möglichkeit. Er habe mehrmals betont, mit der Inobhutnahme nicht einverstanden zu sein.
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Nach Angaben der Schutzstelle K. gegenüber dem Jugendamt vom 9. Juli 2018 stehe C. massiv unter Druck. Ihr subjektiver Eindruck sei, dass ihr keiner glaube. Sie mache sich große Sorgen um ihre Schwester. Sie wünsche sich Kontakt zur Mutter, Schwester und Oma, nicht aber zum Vater. Im Übrigen wünsche sie eine Verlegung in die Schutzstelle M., in der sie während der vorangegangenen Inobhutnahme gewesen sei.
16
Die Psychotherapeutin Frau F. empfahl laut Aktenvermerk der Beklagten über ein Telefonat mit dem Jugendamt am 9. Juli 2018 ein Clearing im stationären Setting. Für eine ambulante Therapie sei die Indikation nicht gegeben.
17
C. schilderte die Situation vom 6. Juli 2018 im Telefonat mit dem Jugendamt am 9. Juli 2018 laut Aktenvermerk des Jugendamtes dahingehend, dass der Vater im Auto so wütend und aggressiv gewesen sei, dass ihm das Blut aus dem Gesicht gewichen sei. Er habe die Fäuste geballt und gesagt, er bringe sie gleich um. Außerdem sei er „komisch“ gefahren und sie habe einen Unfall befürchtet. Die Polizei habe ihr nicht geglaubt und sie vor die Wahl gestellt, entweder nach Hause zurückzukehren oder in die H.-Klinik in M gebracht zu werden. Sie habe den Wunsch geäußert, in Obhut genommen zu werden, nachdem sie befürchtet habe, der Vater würde „ausrasten“. Sie wolle nach wie vor nicht nach Hause. Sie glaube, sie könne nie wieder nach Hause.
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Das Jugendamt hielt in einem Aktenvermerk ferner fest, im Telefonat vom selben Tag habe Frau D. dem Jugendamt mitgeteilt, die Inobhutnahme komme für sie unerwartet.
19
Laut weiterem Aktenvermerk der Beklagten habe der Kläger zu 1) bei einem Gespräch im Jugendamt am 9. Juli 2018 seine Ablehnung der Inobhutnahme mehrmals bekräftigt. Die Schutzstelle sei kein geeigneter Ort. Auch der Kinder- und Jugendpsychiater G. spreche sich für ein therapeutisches stationäres Setting aus, das schnellstmöglich installiert werden solle.
20
Das Jugendamt hielt in einem weiteren Aktenvermerk fest, dass die Klägerin zu 2) am 10. Juli 2018 dem Jugendamt telefonisch mitgeteilt habe, die Inobhutnahme abzulehnen. Sie wolle eine Jugendhilfemaßnahme im stationär-therapeutischen Bereich beantragen.
21
Ebenfalls am 10. Juli 2018 erfolgte die Anrufung des Familiengerichts durch das Jugendamt. Es wurde darauf hingewiesen, dass C. ihren Wunsch, zunächst nicht in die Familie zurückkehren zu wollen, klar, deutlich und glaubhaft geäußert habe, und eine Rückkehr in den elterlichen Haushalt für C. äußerst belastend und destabilisierend wäre. Um konstruktiv und zielführend an der weiteren Perspektive arbeiten zu können, solle sie zunächst in der Schutzstelle verbleiben. Während der Unterbringung würden klärende Gespräche mit allen Beteiligten bei gleichzeitiger Unterstützung durch die ambulante Erziehungshilfe stattfinden, um die Ziele und Bedürfnisse der Beteiligten zu klären.
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In einer kinder- und jugendpsychiatrischen gutachterlichen Stellungnahme zur Wiedereingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII vom 10. Juli 2018 teilte Herr G. mit, bei C. bestehe eine Störung der Emotionen und des Sozialverhaltens (ICD-10: F92.8; I. Achse) bei gewissen emotional instabilen Persönlichkeitszügen sowie dem Verdacht auf eine zusätzliche hyperkinetische Sozialverhaltensstörung (V.a. ICD-10: F90.1; I. Achse). Vor diesem Hintergrund habe sich bereits eine behandlungsbedürftige depressive Störung (IDC 10: F32.1; I. Achse) entwickelt. Eine ursächliche Begabungsminderung/geistige Behinderung (III. Achse) liege nicht vor und in den bisherigen Untersuchungen habe sich kein Anhalt auf eine zugrundliegende körperich-neurologische Erkrankung (IV. Achse) ergeben. Die Zugehörigkeit zum Personenkreis nach § 35a SGB VIII sei eindeutig gegeben. Angesichts der erheblich herabgesetzten psychosozialen Gesamtanpassungsfähigkeit (VI. Achse) sei die Unterbringung in einer therapeutischen Wohngemeinschaft dringend indiziert und unumgänglich.
23
Laut einem Aktenvermerk der Beklagten über ein Gespräch mit dem Psychologen der Schutzstelle am 12. Juli 2018 mache C. sich große Sorgen um ihre Schwester. Die Schutzstelle fände diese Aussagen besorgniserregend, da die Ängste sachlich und glaubhaft vorgetragen würden. Die Beklagte habe darüber informiert, dass aus deren Sicht keine gewichtigen Anhaltspunkte einer akuten Kindeswohlgefährdung vorlägen.
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Laut einem weiteren Aktenvermerk habe C. dem Jugendamt am 12. Juli 2018 mitgeteilt, dass es ihr schlecht gehe, da sie sich große Sorgen um ihre Schwester mache. Sie wolle nie wieder nach Hause. Außerdem wünsche sie sich einen Wechsel in die Schutzstelle M. Langfristig wolle sie in eine heilpädagogische Wohngruppe wechseln, ein therapeutisches Konzept der Wohngruppe lehne sie ab.
25
Mit Bescheid vom 12. Juli 2018 wurde C. für die Zeit vom 6. Juli 2018 bis auf weiteres in Obhut genommen. Zur Begründung wurde angegeben, die Voraussetzungen des § 42 SGB VIII seien erfüllt.
26
Mit E-Mail vom 16. Juli 2018 wies der Kläger zu 1) das Jugendamt darauf hin, dass noch immer keine Bedarfsmeldung für eine Unterbringung in einer therapeutischen Wohngruppe getätigt worden sei. Die aktuelle Inobhutnahme gehe an der laufenden Integration unter Zuhilfenahme der ambulanten Erziehungshilfe vollkommen vorbei und werfe C. in den bereits erzielten Fortschritten wieder zurück.
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In einem Gespräch des Jugendamtes mit Herrn G. am 18. Juli 2018 empfahl Herr G. laut Aktenvermerk des Jugendamtes eine stationäre therapeutische Wohngruppe, wenn möglich mit verhaltenstherapeutischer Ausrichtung. C. müsse lernen, ihr Verhalten einzuschätzen und die Konsequenzen abzuschätzen. Sie leide, wenngleich sie nur wenig moderat auf Kompromisse eingehen könne. Sei scheitere an Regeln und komme dabei an ihre Grenzen. C reagiere schnell impulsiv und habe eine schlechte Impulskontrolle. Sie halte Dinge nicht lange durch.
28
In einem weiteren Aktenvermerk der Beklagten ist festgehalten, dass die Schutzstelle K. am 18. Juli 2018 mitgeteilt habe, dass C. sich geritzt und einen anderen Jungen dazu angestiftet habe. C. brauche laut Schutzstelle ein langfristiges Clearing, was die Schutzstelle nicht leisten könne. Es werde um eine Verlegung gebeten. C. „implodiere“ zunehmend. Am selben Tag sprach C. mit dem psychologischen Fachdienst der Einrichtung und drohte dort bei einer Verweigerung der Inobhutnahme – nach Einschätzung der Psychologin – glaubhaft mit stetigem Weglaufen.
29
In der Sitzung des Familiengerichts am 18. Juli 2018 kamen die Kläger, der Verfahrensbeistand von C. und das Jugendamt überein, dass C. in eine therapeutische Wohngruppe kommen solle. Keine Einigkeit konnte hergestellt werden zur Frage, wo C. bis zur Verfügbarkeit eines entsprechenden Platzes verbleiben solle. Die Kläger erstrebten eine Rückkehr nach Hause, die Übrigen Beteiligten empfahlen einen Verbleib in der Schutzstelle. Daher beantragte das Jugendamt einstweilig die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts, der medizinischen Belange und der schulischen Angelegenheiten auf einen Ergänzungspfleger. In der Kindesanhörung am folgenden Tag gab C. im Wesentlichen an, sie wolle in der Schutzstelle bleiben. Sie wolle auch nicht in eine therapeutische Einrichtung, allenfalls in eine pädagogische Wohngruppe. Wenn sie nach Hause müsse, würde sie weglaufen.
30
Laut Aktenvermerk des Jugendamtes habe C. im Gespräch am 19. Juli 2018 gegenüber dem Jugendamt geäußert, dass sie keinen Drang mehr nach dem Ritzen habe und in keine Psychiatrie gehen wolle. Das Jugendamt habe C. darauf hingewiesen, dass bei akuter Selbstgefährdung die H.-Klinik in M. hinzugezogen werde. Dementsprechend habe das Jugendamt auch die Schutzstelle K. angewiesen, bei erneutem selbstverletzendem Verhalten sowie bei jeglicher Selbst-, Fremdgefährdung oder suizidalen Gedanken die H.-Klinik hinzuziehen.
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Im Ersteinschätzungsbericht der Schutzstelle K. vom 19. Juli 2018 empfahl diese eine weitere Abklärung im Rahmen des dreimonatigen Clearings. Zum Verlauf der Unterbringung wurde u.a. mitgeteilt, auffällig sei C.s schnell wechselnde Stimmung. Sie sei sehr reif und störe sich an der kindgerechten Tagesstruktur, den pädagogischen Angeboten und den Regeln.
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In einer E-Mail vom 20. Juli 2018 fragte die Klägerin zu 2) beim Jugendamt nach, wann eine Bedarfsmeldung für die therapeutisch betreute Unterbringung erfolge.
33
Das Jugendamt führt in der „Falleingabe im Fachteam“ vom selben Tag im Wesentlichen aus, es handle sich um ein massiv dysfunktionales Familiensystem. Weder C. noch die Kläger seien in der Lage, ihre Rolle im Familiensystem einzunehmen und sich entsprechend zu verhalten. Erschwerend komme die diagnostizierte Tendenz zur Persönlichkeitsakzentuierung hinzu. Es könne nicht abschließend geklärt werden, ob die Gewaltvorwürfe der Wahrheit entsprächen oder ob C. ein anderes Ziel verfolge. Das Verhältnis zwischen C. und ihren Eltern verhärte sich zunehmend, was langfristig schwerwiegende Folgen für C.s Persönlichkeitsentwicklung mit sich bringe. Der einzig geeignete Rahmen sei eine stationäre Unterbringung gemäß § 34 SGB VIII.
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Am 21. Juli 2018 suchte C. unerlaubterweise die Schutzstelle M., in der sie während der vorangegangenen Inobhutnahme untergebracht war, auf und äußerte dort wohl, sie werde in der Schutzstelle K. sehr schlecht behandelt und von Jungen belästigt.
35
Mit Fax vom 23. Juli 2018 beantragten die Kläger bei der Beklagten die Unterbringung von C. in einer therapeutischen Jugendhilfeeinrichtung. C. gehe es offensichtlich weder zu Hause noch in der Schutzstelle gut. Dies sei für die Kläger ein sehr besorgniserregender Zustand. Da alle bisherigen Hilfe nicht gewirkt hätten oder von C. nicht angenommen worden seien, werde eine Fremdunterbringung notfalls auch gegen C.s Willen beantragt.
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Am 25. Juli 2018 empfahl das Fachteam der Beklagten Heimerziehung gemäß § 34 SGB VIII.
37
Am 1. August 2018 wurde die ambulante Erziehungshilfe im Einvernehmen aller vorzeitig beendet. Im Abschlussbericht ist ausgeführt, die Motivation der Eltern sei deutlich sichtbar gewesen und C. habe in den Terminen kooperativ und offen mitgewirkt. Aufgrund der Inobhutnahme sei die Hilfe vorzeitig beendet worden.
38
Mit Beschluss des Familiengerichts vom 9. August 2018 wurde den Klägern das Recht zur Aufenthaltsbestimmung vorläufig entzogen, insoweit Ergänzungspflegschaft angeordnet und es wurden die entzogenen Rechte auf das Jugendamt übertragen. Da C. damit drohe, bei einer Rückkehr zu ihren Eltern abzuhauen, müsse sie gegen den Willen der Kläger bis zum Beginn der therapeutischen Wohngruppe in der Schutzstelle verbleiben.
39
Am 13. August 2018 legten die Kläger Widerspruch gegen den Bescheid vom 12. Juli 2018 ein.
40
Am 20. August 2018 zog C. mit Einverständnis der Kläger in die therapeutische Wohngruppe Cu. in B.
41
Mit Bescheid vom 27. September 2018 wurde als Leistung der Jugendhilfe für C. für die Zeit vom 20. August 2018 bis auf weiteres Hilfe zur Erziehung in Form von stationärer Unterbringung bei Cu. e.V. in B. gewährt. Der Bescheid vom 12. Juli 2018 wurde ab 20. August 2018 aufgehoben. Zur Begründung wurde angeführt, die Voraussetzungen des § 27 i.V.m. § 34 und §§ 39, 40 SGB VIII seien erfüllt.
42
Mit Widerspruchsbescheid vom 4. April 2019 wurde der Widerspruch gegen den Bescheid vom 12. Juli 2018 zurückgewiesen.
43
Am 6. Mai 2019 erhoben die Kläger Klage mit dem Antrag,
44
festzustellen, dass die am 6. Juli 2018 erfolgte Inobhutnahme rechtswidrig war.
45
Zur Begründung der Klage wurde im Schriftsatz vom 21. Juni 2019 auf die Klagebegründung im Verfahren M 18 K 18.1351 verwiesen und hervorgehoben, dass die Einschätzung der Therapeutin Frau S., bei der C. in den Jahren 2013/2014 in Behandlung gewesen sei, sowie der Entlassungsbericht aus der Klinik H. vorgelegen habe. Der Kläger habe am 9. Juli 2018 stationären therapeutischen Bedarf für C. angemeldet. Außerdem habe Herr G. am 18. Juli 2018 eine stationäre therapeutische Wohngruppe empfohlen. Auch das Fachteam habe am 20. Juli 2018 stationäre Unterbringung empfohlen, wenn auch auf der Grundlage schwerwiegender Ermessensfehler, da die Ursache weiterhin bei den Klägern gesehen worden sei und die Prüfung von § 35a SGB VIII nicht als erforderlich angesehen worden sei. Die Hilfeplanung sei grob defizitär.
46
Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 15. November 2019
47
Klageabweisung
48
und führte aus, die Inobhutnahme sei nicht bloße Krisenintervention, sondern inbegriffen sei auch ein Clearingauftrag. Es sei das standardisierte, auf §§ 27 ff. SGB VIII basierende Verfahren zur Einleitung einer Jugendhilfemaßnahme durchgeführt worden. Das erforderliche Fachteam habe am 25. Juli 2018 stattgefunden und § 34 SGB VIII empfohlen. § 35a SGB VIII sei erfüllt gewesen und einbezogen worden. Die Wohngruppe Cu. in B. könne nach § 34 oder § 35a SGB VIII belegt werden, daher sei unerheblich, ob § 35a SGB VIII geprüft worden sei.
49
Mit einer weiteren Klage haben die Kläger mehrere Feststellungsanträge bzgl. der hier streitgegenständlichen Inobhutnahme gestellt (M 18 K 21.6736).
50
In der mündlichen Verhandlung vom 14. Dezember 2022 zu diesem Verfahren sowie zu den Klagen M 18 K 18.1351 und M 18 K 21.6736 wurden der Sachverhalt sowie die Klageanträge eingehend erörtert.
51
Zum Sachverhalt im Übrigen wird auf die Gerichtsakten, die Niederschrift zur mündlichen Verhandlung am 14. Dezember 2022, sowie die zu diesen Verfahren vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

52
Die zulässige Klage ist begründet, soweit die Kläger die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme ihrer Tochter C. im Zeitraum 11. Juli 2018 bis 20. August 2018 begehren. Im Übrigen ist sie unbegründet.
53
Für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist auf den Zeitpunkt der angegriffenen Maßnahmen abzustellen. Dementsprechend ist für die Prüfung § 42 SGB VIII in der Fassung vom 20. Juli 2017 (im Folgenden: a.F.) zu Grunde zu legen, die sich jedoch vorliegend nicht entscheidungserheblich von der aktuellen Fassung unterscheidet.
54
A. Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist zulässig.
55
Sie ist zunächst statthaft. Die angefochtene Inobhutnahme hat sich erledigt. Mit Bescheid vom 27. September 2018 wurde als Leistung der Jugendhilfe für C. für die Zeit vom 20. August 2018 bis auf weiteres Hilfe zur Erziehung in Form von stationärer Unterbringung bei Cu. e.V. in B. gewährt. Gemäß § 42 Abs. 4 Nr. 2 SGB VIII endete die Inobhutnahme damit.
56
Die Kläger haben ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der erledigten Inobhutnahme.
57
Ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit eines bereits erledigten Verwaltungsaktes kann rechtlicher, wirtschaftlicher oder auch ideeller Natur sein. Entscheidend ist, dass die gerichtliche Entscheidung geeignet ist, die Position des Rechtsschutzsuchenden in den genannten Bereichen zu verbessern (vgl. BVerwG, U.v. 20.6.2013 – 8 C 39.12 – juris Rn. 19 m.w.N.). Im Hinblick auf die von der Rechtsprechung hierzu entwickelten Fallgruppen ist ein Feststellungsinteresse unter dem Gesichtspunkt der Rehabilitierung der Kläger, insbesondere des Klägers zu 1), zu bejahen. Ein Rehabilitationsinteresse kann ein berechtigtes Interesse an der Feststellung begründen, wenn der Verwaltungsakt außer seiner belastenden Wirkung zusätzlich diskriminierenden Charakter hat, der dem Ansehen des Betroffenen abträglich ist, und das Interesse an der Beseitigung dieser Rufminderung nach der Sachlage als schutzwürdig anzusehen ist. Mit Blick auf Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG besteht ein berechtigtes ideelles Interesse an einer Rehabilitierung nur, wenn sich aus der angegriffenen Maßnahme eine Stigmatisierung des Betroffenen ergibt, die geeignet ist, sein Ansehen in der Öffentlichkeit oder im sozialen Umfeld herabzusetzen. Diese Stigmatisierung muss Außenwirkung erlangt haben und noch in der Gegenwart andauern (Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 113 Rn. 119 m.w.N.; BVerwG, U.v. 20.6.2013 – 8 C 39/12 – juris Rn. 24). Für Inobhutnahmen wird das Rehabilitationsinteresse von der überwiegenden Rechtsprechung grundsätzlich bejaht (vgl. OVG NW, B.v. 3.5.2019 – 12 E 805/18 – juris Rn. 6: Inobhutnahme ging mit der Herausnahme der Kinder aus öffentlichen Einrichtungen (Kindergarten, Schule) einher; VG Würzburg, U.v. 3.1.22 – W 3 K 20.797 – juris Rn. 63: Inobhutnahme im Krankenhaus und damit für unbeteiligte Dritte hör- und sichtbar). Hier erfolgte die Inobhutnahme insbesondere aufgrund von Vorwürfen häuslicher Gewalt, deren Wahrheitsgehalt bis heute unklar ist und wurde sicherlich von weiteren unbeteiligten Dritten im sozialen Umfeld bemerkt. Ein schutzwürdiges Interesse der Kläger, sich von diesem Stigma zu lösen, kann diesen nicht abgesprochen werden.
58
Der Zulässigkeit der vorliegenden Fortsetzungsfeststellungsklage steht auch nicht die Bestandskraft eines Verwaltungsaktes entgegen. Gegen den Bescheid vom 12. Juli 2018 wurde am 13. August 2018 Widerspruch eingelegt. Der Widerspruchsbescheid vom 4. April 2019 ging der Klägerseite am 5. April 2019 zu. Die Klage ging am Montag, den 6. Mai 2019, und damit fristgemäß bei Gericht ein.
59
Schließlich scheitert die Zulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage auch nicht daran, dass den Klägern zwischen 9. August 2018 und 20. August 2018 das Aufenthaltsbestimmungsrecht durch das Familiengericht entzogen worden war. Die Inobhutnahme tangiert nicht nur das Aufenthaltsbestimmungsrecht, sondern darüber hinaus vor allem das von Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG umfasste Recht, das Kind zu erziehen. Zudem gebietet die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, gegen eine Inobhutnahme eine Rechtsschutzmöglichkeit zu eröffnen, da im familienrechtlichen Kontext eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Behördenhandelns gerade nicht erfolgt (BayVGH, B.v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 – juris Rn. 5 f.; BVerfG, B.v. 26. April 2022 – 1 BvR 674/22 – juris Rn. 12; VG München, U.v. 14.10.2020 – M 18 K 17.5909 – Rn. 42; VG Würzburg, Urteil vom 3. Januar 2022 – W 3 K 20.797 – juris Rn. 51a.A. VG Hannover, B.v. 26.5.2020 – 3 B 2032/20 – juris Rn. 33).
60
B. Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist begründet, soweit sie den Zeitraum 11. Juli 2018 bis 20. August 2018 betrifft. Für den Zeitraum 6. Juli 2018 bis 10. Juli 2018 ist sie unbegründet.
61
Die Aufteilung der Rechtmäßigkeitsprüfung einer Jugendhilfemaßnahme in mehrere Zeiträume ist zulässig, da eine Jugendhilfemaßnahme und – wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird – somit auch eine Inobhutnahme konstant durch die Behörde auf ihre Rechtsmäßigkeit zu überprüfen ist, wodurch sich für ein und dieselbe Maßnahme Zeitabschnitte ergeben können, die rechtlich unterschiedlich zu bewerten sein können.
62
Das Jugendamt ist gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet.
63
Voraussetzung für eine rechtmäßige Inobhutnahme ist danach zunächst der bloße subjektive Hilfebedarf des Kindes oder Jugendlichen. Die Bitte um Inobhutnahme muss ernst gemeint sein und freiwillig erfolgen und darf nicht (offensichtlich) rechtsmissbräuchlich sein (OVG NW, B.v. 7.2.2022 – 12 A 1402/18 – juris Rn. 91 m.w.N.). An diesen eindeutig geäußerten Wunsch sind keine weiteren formellen und/oder inhaltlichen Anforderungen zu stellen. Insbesondere darf die Inobhutnahme nicht von einer zusätzlichen Gefährdungseinschätzung entsprechend § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII abhängig gemacht werden (BayVGH, B.v. 8.8.2011 – 12 ZB 10.974 – juris Rn. 7, 10; B.v. 9.2.2010 – 12 ZB 08.3230 juris Rn. 9; OVG NW, a.a.O. Rn. 95 ff. m.w.N.; NdsOVG, B.v. 19.9.2009 – 4 LA 706/07 – juris Rn. 7; vgl. Trenczek in Münder/Meysen/Trenczek, SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 42 Rn. 14; Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 7a).
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Für die Wahrung des verfassungsrechtlich geschützten Elternrechts sorgt der gesetzlich zwingend vorgegebene weitere Verfahrensablauf, der die unverzügliche Einbeziehung der Personensorge- und Erziehungsberechtigten, die weitere Aufklärung des Gefährdungsrisikos und den Übergabeanspruch der Personensorge- und Erziehungsberechtigten vorsieht (OVG NW, a.a.O., Rn. 99; vgl. Kirchhoff in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, Stand: 21.11.2022; § 42 Rn. 31). Der besonderen Bedeutung der Verfahrensregelungen des § 42 SGB VIII im Hinblick auf den Schutz des Elternrechts (vgl. Kirchhoff in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, Stand: 21.11.2022, § 42 Rn. 31) entspricht es, dass Fehler an dieser Stelle schon zur Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme führen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, U.v. 20.9.2022 – 4 L 136721 – juris Rn. 37). Gemäß § 42 Abs. 2 SGB VIII a.F. muss die Situation, die zur Inobhutnahme geführt hat, geklärt und müssen Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung aufgezeigt werden.
65
Wenn kein Widerspruch der Personensorgeberechtigten erfolgt, ist unverzüglich ein Hilfeplanverfahren zur Gewährung einer Hilfe einzuleiten, § 42 Abs. 3 Satz 5 SGB VIII.
66
Im Falles eines Widerspruchs der Personensorge- oder Erziehungsberechtigten gegen die Inobhutnahme hat das Jugendamt nach § 42 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII unverzüglich das Kind oder den Jugendlichen dem Personensorge- oder Erziehungsberechtigten zu übergeben, sofern nach Einschätzung des Jugendamtes eine Gefährdung des Kindeswohls nicht besteht oder die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten bereit und in der Lage sind, die Gefährdung abzuwenden (Nr. 1) oder eine Entscheidung des Familiengerichts über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen herbeizuführen (Nr. 2). Die Entscheidung des Jugendamtes, die Inobhutnahme bis zu einer familiengerichtlichen Entscheidung aufrecht zu erhalten, ist danach nur dann rechtmäßig, wenn ohne die Inobhutnahme die Gefahr einer Beeinträchtigung des Wohles des Kindes oder Jugendlichen besteht und die Eltern zu Abwehr dieser Gefährdung nicht bereit oder in der Lage sind (OVG NW, B.v. 7.2.2022 – 12 A 1402/18 – juris Rn. 100 m.w.N.).
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Auch bei Selbstmeldern genügt somit der ernsthaft, freiwillig und nicht rechtsmissbräuchlich geäußerte Wille des Kindes oder Jugendlichen allein nicht bzw. nur für eine kurze Zeitspanne zu Beginn der Inobhutnahme. Im Anschluss muss auch bei Selbstmelderfällen für eine weitere Aufrechthaltung der Inobhutnahme gegen den Willen der Erziehungsberechtigten umgehend eine Gefährdungseinschätzung im Sinne des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII (Inobhutnahme wegen dringender Gefahr für das Wohl des Kindes) erfolgen. Denn eine Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII stellt sich als wesentlicher Eingriff in das grundrechtlich gemäß Art. 6 Abs. 2 GG geschützte Elternrecht dar. Sie kommt bei Widerspruch der Personensorgeberechtigten nur in akuten Gefährdungssituationen in Betracht, die ein Abwarten der Entscheidung des Familiengerichts nicht erlauben; sie ist ultima ratio (vgl. OVG NW, B.v. 7.2.2022 – 12 A 1402/18 – juris Rn. 134 ff. m.w.N.; VG München, B.v. 21.12.2020 – M 18 S 20.6711 – juris Rn. 29 m.w.N.).
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Die Inobhutnahme muss dementsprechend fortlaufend erforderlich sein. Erforderlich ist eine Maßnahme nur dann, wenn ein gleich wirksames, den betroffenen Bürger aber weniger beeinträchtigendes Mittel nicht zur Verfügung steht. Das bedeutet, dass unter mehreren gleich effektiven Mitteln dasjenige gewählt werden muss, welches den Bürger am wenigsten beeinträchtigt. Ebenso wie bei den „erforderlichen Maßnahmen“ nach § 1666 Abs. 1 BGB ist damit auch hier die Pflicht zur Prüfung angesprochen, ob es ein im Vergleich zur Inobhutnahme milderes, gleich geeignetes Mittel gibt. Zu fragen ist, ob die Kindeswohlgefährdung auch auf andere Weise, insbesondere durch öffentliche Hilfen, gleich effektiv abgewendet werden kann (LPK-SGB VIII/Jan Kepert, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 42 Rn. 27).
69
Kommen Hilfen in Betracht, ist umgehend der Bedarf zu ermitteln und ein entsprechendes Hilfeplanverfahren einzuleiten. Der Inobhutnahme kommt insoweit zwar eine Clearing-Funktion im Hinblick auf die geeignete und notwendige Anschlusshilfe zu (vgl. Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 40). Sie darf jedoch nicht dazu verwendet werden, ohne entsprechende Gefährdungsbeurteilung den Willen des Kindes oder Jugendlichen gegen den Willen der Erziehungsberechtigten durchzusetzen.
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Das Jugendamt hat diese Voraussetzungen für die Fortdauer der Inobhutnahme regelmäßig zu prüfen (Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 48a). Die Unterbringung muss fortlaufend weiter geeignet sein (§ 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Außerdem muss der mit der Unterbringung außerhalb des Elternhauses verbundene Übergang der Pflicht zur Aufsicht und zur Sorge für das Wohl des Kindes oder Jugendlichen auf das Jugendamt (vgl. § 42 Abs. 2 Satz 3 SGB VIII) geeignet sein und dazu v.a. ordnungsgemäß ausgeübt werden. Diese Prüfung ist zum Nachweis der Rechtsmäßigkeit der Inobhutnahme und auch im Hinblick auf mögliche anschließende Auseinandersetzungen über die Kostenerstattung oder eine Heranziehung der Eltern zu den Kosten zu dokumentieren (ebd. m.w.N.).
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I. Die Inobhutnahme war formell rechtmäßig.
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Eine Inobhutnahme kann auch mündlich erfolgen, § 33 Abs. 2 Satz 1 SGB X (VG München, B.v. 21.12.2020 – M 18 S 20.6711 – juris Rn. 22). Dass keine Anordnung der sofortigen Vollziehung erfolgt ist und der Vollzug der Inobhutnahme mit schriftlichem Widerspruch der Eltern am 13. August 2018 hätte eingestellt werden müssen – womit die Klageseite die Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme u.a. begründet –, ist eine Frage der Rechtmäßigkeit des Sofortvollzugs und hätte im Rahmen eines Verfahrens analog § 80 Abs. 5 VwGO (vgl. Hoppe, in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 120) geltend gemacht werden können. Die Frage der Rechtsmäßigkeit der Inobhutnahme selbst ist durch ein Unterbleiben der Anordnung der sofortigen Vollziehung jedoch nicht betroffen.
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II. Die Inobhutnahme war zwischen 11. und 20. August 2018 materiell rechtswidrig. Davor war sie rechtmäßig, da die Voraussetzungen der Inobhutnahme auf Bitten des Kindes i.S.v. § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII vorlagen.
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1. C. hat im Rahmen ihrer Therapiesitzung bei Frau F. ernsthaft und freiwillig die Bitte geäußert, nicht mehr nach Hause zurückkehren zu müssen. Diesen Wunsch wiederholte sie auch gegenüber den herbeigerufenen Polizisten. Diese hatten laut Bericht vom 6. Juli 2018 zwar den Eindruck, die Aussagen der Kläger seien glaubhaft und C. wolle „hauptsächlich von zu Hause weg um keine Regeln zu haben, an welche sie sich halten muss“ und stellten fest, dass C. zuvor nicht in die Obhut der Kläger zurückgekehrt wäre, wenn ihre Behauptungen zu den massiven Straftaten des Klägers der Wahrheit entsprochen hätten. Nachdem die zuständige Sachbearbeiterin im Jugendamt nicht mehr erreichbar war, informierte die Polizei die Leitstelle des Jugendamtes. Durch diese wurde C. in Obhut genommen und von der Polizei in die von der Leitstelle organisierte Schutzstelle verbracht. Angesichts der massiven Vorwürfe C.s gegenüber dem Kläger und C.s klarem Wunsch nach Inobhutnahme musste und durfte das Jugendamt, vertreten durch die Mitarbeiterin der Leitstelle, C. in Obhut nehmen.
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Hieran ändert auch die Tatsache nichts, dass C. und ihre Situation dem Jugendamt schon längere Zeit bekannt waren und das Gericht schon die frühere Inobhutnahme vom 2. Oktober 2017 ab 11. Oktober 2017 bzw. ab 13. November 2017 als rechtswidrig angesehen hat. Es bleibt beim o.g. Grundsatz, dass das Jugendamt bei Selbstmeldern zunächst keine Gefährdungsabschätzung durchzuführen hat. Es hat die in § 42 SGB VIII vorgesehenen Verfahrensschritte einzuhalten und je nachdem, welche Erkenntnisse und Zwischenergebnisse es gewinnt, weiter zu verfahren. Innerhalb dieses Verfahrens können und müssen auch die Besonderheiten der jeweiligen Situation Berücksichtigung finden, so z.B. hier C.s Vorgeschichte und die im Rahmen der ersten Inobhutnahme gewonnenen Erkenntnisse.
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2. Für einen gewissen Zeitraum nach der Selbstmeldung durfte das Jugendamt auch weiterhin davon ausgehen, dass C. rechtmäßigerweise in Obhut zu behalten war.
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a) Gerade der vorliegende Fall der erneute Inobhutnahme auf Wunsch der Jugendlichen C. zeigt die Notwendigkeit des Prüfprogramms, das § 42 SGB VIII dem Jugendamt auferlegt: Ohne ein Eintreten des Jugendamts in eine Gefährdungsabschätzung zu gegebener Zeit nach der infolge einer Selbstmeldung erfolgten Inobhutnahme könnte ein Jugendlicher bei jeder Entscheidung der Eltern, die ihm nicht gefällt, um Inobhutnahme bitten und so im Ergebnis die Entscheidung über seinen Aufenthalt stets selbst treffen. Diese Entscheidung steht aber den Personensorgeberechtigten zu und darf durch das Jugendamt lediglich im Fall einer Gefahrensituation ersetzt werden.
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b) Vorliegend hat das Jugendamt diesen Anforderungen entsprechend am auf die am späten Freitagnachmittag stattgefundene Inobhutnahme folgenden Montag, den 9. Juli 2018, die unmittelbar zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen zunächst ausgeschöpft. Es sprach zunächst mit dem Kläger zu 1) und C. sowie mit der Schutzstelle und der Psychotherapeutin F. Bei den Akten finden sich auch der polizeiliche Bericht sowie ein Vermerk über ein Gespräch mit Frau D., die mit der kurz vorher installierten ambulanten Erziehungshilfe betraut war. Dementsprechend hat das Jugendamt in der „abschließenden Überprüfung, Schutzkonzept“ festgehalten, C habe klar und deutlich geäußert, dass sie nicht in die Familie zurückkehren möchte, die Eltern seien nicht einverstanden, somit werde das Familiengericht angerufen. Die Familie und C. würden weiterhin durch Frau D. (AEH) unterstützt. Der Fokus liege auf der Erarbeitung einer Perspektive, der Erörterung von Sichtweisen jedes Einzelnen und auf der Deeskalation.
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c) Das Jugendamt hat auch gemäß § 42 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VIII am 10. Juli 2018 das Familiengericht unverzüglich angerufen.
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3. Allerdings hat es das Jugendamt im Folgenden fehlerhaft unterlassen, eine ausreichende Gefährdungseinschätzung vorzunehmen und die Inobhutnahme durch eine geeignete Maßnahme zu beenden. Die Inobhutnahme stellt sich daher ab 11. Juli 2018 als rechtswidrig dar.
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Bei der umgehend durchzuführenden Gefährdungseinschätzung hatte das Jugendamt alle bisherigen Erkenntnisse und insbesondere auch die schon im Rahmen der ersten Inobhutnahme vom 2. Oktober 2017 bis 23. November 2017 gewonnenen Informationen, Empfehlungen und Diagnosen zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund hätte das Jugendamt bald nach der Inobhutnahme und Klärung der unmittelbaren Umstände zur Einschätzung gelangen müssen, dass eine Gefährdung von C. zwar vorliegt, diese aber kaum von den Klägern ausgeht, sondern primär in C.s Gesundheitszustand begründet liegt, sodass eine Herausnahme aus der Familie verbunden mit der Unterbringung in einer Schutzstelle möglicherweise wenig zielführend oder gar kontraproduktiv ist und ein Hilfeplanverfahren möglichst beschleunigt einzuleiten und zu verfolgen ist. Das Gericht zieht als Zeitpunkt, zu dem das Jugendamt mit dem nachweislichen Vorantreiben von Ermittlungen und Hilfeplaneinleitung in Verzug war, den 11. Juli 2018 heran.
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a) Zu diesem Zeitpunkt war das Jugendamt in Kenntnis der im Rahmen und im Nachgang der vorangegangenen Inobhutnahme vom 2. Oktober 2017 gewonnenen Informationen, so insbesondere des Entlassberichts der Klinik H. in M. vom 6. März 2018, der die Diagnosen Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung, Verdacht auf Posttraumatische Belastungsstörung, emotional instabile Züge, Vorhandensein psychosozialer Belastungsfaktoren, ernsthafte soziale Beeinträchtigung nannte und stationäre Jugendhilfe, z.B. stationäres Clearing, empfahl. Dass dies aufgrund des Wunsches von C. und den Klägern nach C.s Rückkehr nach Hause zunächst nicht durchgeführt werden konnte, ändert nichts daran, dass im hier relevanten Zeitpunkt nach einer erneuten Inobhutnahme aufgrund Selbstmeldung die Ermittlung des Bedarfs und die notwendigen Veranlassungen vom Jugendamt nun umso zielgerichteter und dringlicher in den Blick hätten genommen werden müssen. In internen Vermerken vom 31. März 2018 und 12. April 2018 hatte das Jugendamt selbst festgestellt, dass ein erneuter Konflikt sehr wahrscheinlich sei und es wieder zu hoch krisenhaften Konflikten kommen könne, zumal zu diesem Zeitpunkt keine therapeutische Unterstützung verfügbar war. Zwar wurde die ambulante Erziehungshilfe in die Wege geleitet und lief am 27. Juni 2017 an, dennoch wurde die fachärztlich empfohlenen Hilfe in Form einer stationären Jugendhilfe, insbesondere eines stationären Clearings, nicht in die Wege geleitet bzw. Schritte in diese Richtung getan. Ob eine passende Einrichtung existent und verfügbar war, bedarf hier keiner Prüfung, da das Jugendamt schon die Einleitung eines zeitnahen Hilfeplanverfahrens nach der Beendigung des Klinikaufenthalts am 6. März 2018 und dem eindeutigen Hilfewunsch der Kläger unterlassen hat. Lediglich kurze Telefonate mit den einzelnen Beteiligten und interne Beratungen können ein solches Hilfeverfahren nicht ersetzen. Zudem hat es das Jugendamt vollständig versäumt, das Vorliegen eines Anspruchs auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII trotz eindeutiger Veranlassung durch fachärztliche Aussage zu überprüfen und den damit einhergehenden weiteren Anforderungen an das Hilfeplanverfahren nach § 36 Abs. 3 SGB VIII gerecht zu werden. Dieses fehlerhafte Verhalten des Jugendamtes bis zur streitgegenständlichen Inobhutnahme muss sich das Jugendamt bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit dieser Inobhutnahme zurechnen lassen.
83
b) Nach dem 10. Juli 2018 hatte das Jugendamt darüber hinaus Kenntnis der näheren Umstände der Inobhutnahme. So führte der Kläger zu 1) am 9. Juli 2018 nachvollziehbar aus, warum es auf der Fahrt zur Therapiesitzung bei Frau F. zu einem Streit gekommen war und wies darauf hin, dass Frau D. (AEH) im Gespräch am 4. Juli 2018 C. Grenzen gesetzt habe, was C. sicher nicht gefallen habe. Außerdem äußerte der Kläger zu 1), dass er eine therapeutische Wohngruppe als einzige Möglichkeit sehe. Auch der Bericht der Polizei vom 6. Juli 2018 über die Umstände und den Ablauf der Inobhutnahme lagen dem Jugendamt vor. Bemerkenswert darin ist insbesondere, dass die Polizisten einen glaubhaften Eindruck von den Aussagen der Eltern hatten und C. ihnen eher den Anschein erweckte, als wolle sie von zu Hause weg, um keine Regeln zu haben. Überdies äußerte sich die mit der ambulanten Hilfe zur Erziehung betraute Frau D. am 9. Juli 2018 überrascht über die Inobhutnahme, zumal ihr Gespräch mit dem Kläger zu 1) und C. am 4. Juli 2018 letztlich positiv verlaufen sei. Schließlich lagen bis 10. Juli 2018 auch weitere fachliche Einschätzungen zu C.s Behandlungsbedarf vor. Die Psychotherapeutin Frau F. empfahl – wenn auch nur wohl aufgrund des einmaligen Eindrucks am 6. Juli 2018 – ein Clearing im stationären Setting und sah keine Indikation für eine ambulante Therapie. Der Kinder- und Jugendpsychiater G. nahm am 10. Juli 2018 erneut Stellung zur dringenden und unumgänglichen Indikation der Unterbringung in einer therapeutischen Wohngemeinschaft aufgrund der bekannten Diagnosen. Dass diese Stellungnahme erst am 13. Juli 2018 per Fax vom Kläger zu 1) an das Jugendamt geschickt wurde, ändert nichts. Die Diagnosen und die Empfehlung des Herrn G. waren bekannt und hätten angesichts der vorliegenden Anhaltspunkte über C.s Gesundheitszustand auch früher vom Jugendamt abgefragt werden können. Das Jugendamt selbst zweifelte wohl spätestens ab 10. Juli 2018 an C.s Glaubwürdigkeit. Im Rahmen der „Prüfung gewichtiger Anhaltspunkte“ in Bezug auf C.s jüngere Schwester findet sich der Vermerk des Jugendamts: „es bleibt fraglich, inwieweit C.s Aussagen tatsächlich der Wahrheit entsprechen oder ob sie damit ein anderes Ziel verfolgt“.
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c) Konsequenzen aus dieser eigenen Einschätzung sowie aus den dargestellten Hinweisen auf den nun noch dringlicher gewordenen Hilfebedarf bei C. zog das Jugendamt nicht. Vielmehr erfolgten zunächst Ermittlungen im Hinblick auf eine Gefährdung der Schwester sowie Unklarheit, wie die ambulante Hilfe zur Erziehung fortzuführen sein könnte. C. wurde in der Schutzstelle belassen, obwohl die Geeignetheit der Unterbringung in einer Schutzstelle schon im Rahmen der vorangegangenen Inobhutnahme zweifelhaft war. Erst nachdem sich C.s Zustand weiter verschlechterte – die Schutzstelle sprach am 18. Juli 2018 davon, dass C. zunehmend „implodiere“ und bat um Verlegung – und C. sich erneut ritzte, erfolgte eine „Falleingabe ins Fachteam“ und dessen Empfehlung der Heimerziehung gemäß § 34 SGB VIII. Ein vorangegangenes ordnungsgemäßes Hilfeplanverfahren fehlt oder ist zumindest nicht dokumentiert. Ob ein Platz in einer geeigneten anderen Einrichtung als der Schutzstelle K. verfügbar gewesen wäre, ob eine solche Einrichtung tatsächlich besser geeignet gewesen wäre und ob C.s Entwicklung dann anders verlaufen wäre, lässt sich nicht aufklären. Dies kann aber dahinstehen, da dem Jugendamt vorzuwerfen ist, keinerlei Aktivitäten im Hinblick auf eine korrekte Hilfeplanung unternommen bzw. dokumentiert zu haben.
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Das Jugendamt kann dies nicht mit dem pauschalen Hinweis rechtfertigen, die Schutzstellen würden auch einen Clearingauftrag ausführen. Auch wenn dem theoretisch so sein sollte, ist im Hinblick auf die Ausführung dieses Clearingauftrages im vorliegenden Fall keine Dokumentation ersichtlich. Die Kommunikation zwischen dem Jugendamt und der Schutzstelle beschränkt sich auf Berichte über C.s Aussagen und Vorkommnisse in der Schutzstelle. Fachliche Aussagen über den Hilfebedarf und dessen Erfüllung finden sich erst in der Stellungnahme der Schutzstelle vom 18. Juli 2018 und zwar dahingehend, dass ein langfristiges Clearing erforderlich sei und um entsprechende Verlegung gebeten werde. Wie vorliegend die Clearing-Funktion der Inobhutnahme verfolgt wurde, erschließt sich demnach nicht.
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Auch dass C. die Unterbringung in der Schutzstelle möglicherweise wollte, ist kein Argument dafür, keine anderweitige Hilfeplanung in die Wege zu leiten. Es ist nicht ersichtlich, dass C. die verschiedenen Möglichkeiten der stationären Jugendhilfe kannte oder vom Jugendamt hierüber aufgeklärt wurde, geschweige denn im Rahmen des Verfahrens, das § 42 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII a.F. vorsieht, informiert wurde. Im Übrigen war die Aufklärung des komplexen Gesundheitszustands von C. zu diesem Zeitpunkt schon zumindest so weit fortgeschritten, dass klar gewesen sein musste, dass C.s Wille sehr sprunghaft war und oft nicht unbedingt zu ihrem Wohl beitrug. Sicherlich war C.s Bereitschaft zur Mitwirkung am Gelingen der in Frage kommende Jugendhilfemaßnahmen erforderlich. Letztlich konnte C. aber auch für den Aufenthalt in der Wohngruppe Cu. in B. gewonnen werden, was zeigt, dass ihre Compliance durchaus hergestellt werden konnte.
87
Nach alledem war der Klage im tenorierten Umfang stattzugeben.
88
C. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 188 Satz 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung – ZPO.