Inhalt

VG München, Urteil v. 14.12.2022 – M 18 K 18.1351
Titel:

Fortsetzungsfeststellungsklage (teilweise Stattgabe), Feststellungsklage, Rehabilitationsinteresse, Inobhutnahme, Selbstmelder, Kindeswohlgefährdung, Verhältnismäßigkeit

Normenketten:
SGB VIII § 42
VwGO § 43
VwGO analog § 113 Abs. 1 Satz 4
Schlagworte:
Fortsetzungsfeststellungsklage (teilweise Stattgabe), Feststellungsklage, Rehabilitationsinteresse, Inobhutnahme, Selbstmelder, Kindeswohlgefährdung, Verhältnismäßigkeit
Fundstelle:
BeckRS 2022, 45318

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass die Inobhutnahme der Tochter C. der Kläger vom 11. Oktober 2017 bis 23. Oktober 2017 sowie vom 13. November 2017 bis 23. November 2017 rechtswidrig war.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen die Kläger 7/8, die Beklagte 1/8.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Kläger begehren die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme ihrer Tochter C. vom 2. Oktober 2017 bis 23. November 2017.
2
Die Kläger sind gemeinsam sorgeberechtigt für ihre am … März 20005 geborene Tochter, welche gemeinsam mit ihrer am 20. Januar 2010 geborenen Schwester bis zu dem Zeitpunkt ihrer Inobhutnahme durch die Beklagte bei den Klägern lebte.
3
Im September 2017 wurde der Kontakt zwischen dem Jugendamt der Beklagten und C. sowie den Klägern durch die Schulpsychologin an C.s Schule hergestellt. Die Schulpsychologin berichtete dem Jugendamt von Problemen zwischen den Klägern und C. U.a. wurde berichtet, der Kläger zu 1) habe C. aus dem Gymnasium auf die Mittelschule umschreiben wollen, damit C. früher ihr eigenes Geld verdienen könne, was die Schulpsychologin habe verhindern können. Sie habe C. auch von der Möglichkeit der Inobhutnahme erzählt. C. sei sprachlich überdurchschnittlich gut entwickelt, sehr intelligent und wirke manchmal älter als sie sei.
4
Die Beklagte hielt in einem undatierten Formular „Prüfung gewichtiger Anhaltspunkte und Ersteinschätzung“ fest, dass ein erstes Telefonat des Jugendamts mit den Klägern am 21. September 2017 ergeben habe, dass C. sich nicht an die Familienregeln halte. Streitthemen seien insbesondere das Aufräumen und das Lernen für die Schule. Der Kläger zu 1) habe mitgeteilt, dass C. sicherlich von einem Vorfall erzählen werde, als er ca. drei Jahre zuvor mit einer Axt im Zimmer gestanden habe. Damals habe er auf der Terrasse Holz gehackt. Als er gehört habe, dass das Zimmer von C. und ihrer Schwester nicht aufgeräumt sei, sei er mit der Axt ins Kinderzimmer gegangen und habe gedroht, alles kurz und klein zu schlagen, wenn nicht aufgeräumt würde. C. habe die Polizei gerufen, die auch gekommen sei.
5
In dem Formular wird des Weiteren festgehalten, dass C. im Gespräch mit dem Jugendamt am 22. September 2017 berichtet habe, sie habe das Gefühl, den Eltern nie genügen zu können. Sie wünsche sich eine Pause und Ruhe vor den andauernden Anforderungen. Sie wolle von zu Hause weg, um wieder zu sich finden zu können. C. habe auch den Vorfall erwähnt, als der Kläger zu 1) mit der Axt im Kinderzimmer gestanden sei, und habe angegeben, sie habe große Angst gehabt. Außerdem habe sie erwähnt, der Kläger zu 1) werfe ihr immer vor, narzisstisch zu sein. Das Jugendamt habe C. die Möglichkeit und Ausgestaltung einer Inobhutnahme erklärt, insbesondere, dass in Schutzstellen nicht unbedingt Ruhe herrsche.
6
Bei einem Gespräch mit dem Jugendamt am 25. September 2017 hätten die Kläger erneut darüber berichtet, dass C. sich nicht in das Familiengefüge einordnen könne, nicht aufräume und zu wenig lerne. Es habe mit C. schon immer Probleme gegeben. Sie wolle immer ihren Willen durchsetzen. Sie sei schon in Therapie gewesen. Eine Psychologin habe ihr eine narzisstische Persönlichkeit bescheinigt. Der Kläger zu 1) habe zugegeben, dass er manchmal wegen C.s Verhalten einfach ausraste und ihr auch schon einmal eine Ohrfeige gegeben habe. Ein normaler sachlicher Streit sei aber nicht möglich, es arte immer aus. Das Jugendamt habe als Möglichkeiten des weiteren Vorgehens die Krisenintervention/Familienintervention erklärt. Es sei vereinbart worden, dass man in einem folgenden Treffen das weitere Vorgehen besprechen werde. Hierüber durch das Jugendamt am selben Tag informiert habe C. erklärt, dass sie ambulante Maßnahmen nicht für richtig halte und emotional bewegt über verbale Bedrohungen durch den Kläger zu 1) berichtet. Bis zum nächsten Termin am darauffolgenden Montag könne sie es jedoch noch zu Hause aushalten.
7
Am Montag, den 2. Oktober 2017, habe ein gemeinsamer Termin der Kläger mit C. beim Jugendamt stattgefunden. Die Kläger hätten berichtet, am Wochenende sei es zu einem Streit zwischen ihnen – den Klägern – gekommen, bei dem vom Kläger zu 1) eine Tasse zu Boden geworfen worden sei. C. habe berichtet, sie habe dies als Bedrohung empfunden.
8
Abschließend wird in dem Formular festgehalten, dass C. in Obhut genommen und in die Schutzstelle M. verbracht worden sei, da sie erneut seit mehr als einer Woche um Inobhutnahme gebeten und das Verhalten des Vaters als bedrohlich geschildert habe.
9
In einem weiteren undatierten Formular „Weitere Gefährdungsabklärung und Bewertung“ der Beklagten wird ein Telefonat mit den Klägern am 4. Oktober 2017 erwähnt, in welchem gesagt worden sei, dass der Kläger zu 1) prinzipiell nichts dagegen habe, das Einverständnis zur Inobhutnahme zu unterschreiben, die Klägerin zu 2) aber gegen die Inobhutnahme sei. In einem weiteren Telefonat am 5. Oktober 2017 hätten die Kläger nach einem Gespräch mit der Schulpsychologin beschlossen, ihr Einverständnis für die Inobhutnahme zu geben – dies aber zeitlich befristet.
10
Mit Schreiben vom 7. Oktober 2017, beim Jugendamt eingegangen am 9. Oktober 2017, teilten die Kläger mit, dass sie nach Tagen der Klärung innerhalb der Familie zu dem Ergebnis gekommen seien, dass sie die Inobhutnahme für kontraproduktiv halten würden und diese letztlich nicht zu C.s Wohl beitrage. Die Zustimmung werde daher nicht gegeben. Es handle sich um ein langgewachsenes und chronisches Problem, zu dem C. bereits zwischen dem Jahr 2013 und 2014 in tiefenpsychologischer Behandlung gewesen sei. Die Maßnahme werde C. in ihren abspalterischen Tendenzen bestärken und sie werde dieses Mittel immer wieder einsetzen wollen, sobald sie von ihrem familiären Umfeld nicht das abverlangen könne, was sie sich vorstelle. Man habe sich mit C.s ehemaliger Psychotherapeutin Frau S. beraten und diese sei auch der Meinung, dass der jetzige Weg ungeeignet und die anfangs angedachte ambulante Intervention in der Familie mit einer zusätzlichen jugendpsychologischen Individualbetreuung ein deutlich besserer Schritt sei. Die Inobhutnahme sei unverhältnismäßig und lenke von den eigentlichen Ursachen und Problemfeldern ab. In der Zwischenzeit sei ein kompetenter Jugendpsychologe herangezogen und C. zur Behandlung angemeldet worden. Dies könne und sollte in der ersten Zeit auch von einem ambulanten Kriseninterventionsteam begleitet werden.
11
In dem Formular „Weitere Gefährdungsabklärung und Bewertung“ der Beklagten wird festgehalten, dass es nach telefonischer Information durch eine Mitarbeiterin der Schutzstelle M. vom 9. Oktober 2017 Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung gebe. C. habe ein schlechtes Selbstbild mit beginnendem selbstverletzendem Verhalten. Am 10. Oktober 2017 habe die Schutzstelle dem Jugendamt mitgeteilt, C. wolle nicht zu dem (von den Klägern für den 11. Oktober 2017 organisierten) Termin bei dem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie G. Die Eltern möchten eine psychische Störung bei ihr manifestieren. Ihr sei alles zu viel. Die Beklagte habe daraufhin den Klägern mitgeteilt, dass C. vorerst nicht zu dem Facharzt gehe.
12
In einer „Zusammenfassung der geschilderten familiären Situation aus Sicht der Jugendlichen C.“ vom 10. Oktober 2017 teilte die Schutzstelle M. dem Jugendamt im Wesentlichen mit, C. beschreibe den Kläger als cholerisch und sehr streng. Früher sei er auch gewalttätig ihr gegenüber gewesen. Sie fühle sich nicht geliebt von ihren Eltern und in der Schutzstelle wohler. Der Kläger zu 1) habe gegenüber der Schutzstelle das Vorhandensein von Konflikten bestätigt. Die Pädagoginnen der Schutzstelle würden eine Verlängerung der Inobhutnahme als notwendig erachten, um C. und der Familie eine Auszeit zu ermöglichen, sowie um eine ausreichende Perspektivenklärung gewährleisten und eine geeignete Unterstützung finden zu können.
13
Mit einer Kurzmitteilung des Jugendamtes an die Kläger wurde diesen bestätigt, dass sie am 10. Oktober 2017 mündlich einen Antrag auf Hilfen zur Erziehung nach dem SGB VIII gestellt hätten.
14
Am selben Tag erfolgte die Anrufung des Familiengerichts durch das Jugendamt gemäß § 8a i.V.m. § 42 SGB VIII. Es wurde vorgetragen, es gäbe gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung. Grundlage für die Einschätzung sei ein als Anlage beigefügter Bericht der Schulpsychologin, datiert auf den 10. Oktober 2017.
15
In dem Formular „Weitere Gefährdungsabklärung und Bewertung“ der Beklagten wird weiter festgehalten, dass sich die Kläger am 11. Oktober 2017 erneut telefonisch an das Jugendamt gewandt und mitgeteilt hätten, C. brauche dringend therapeutische Hilfe, sie sei als Kleinkind schon verhaltensauffällig gewesen. Sie würden offiziell einen Antrag auf Hilfe zur Erziehung stellen, aber C. nicht in einer Schutzstelle haben wollen. Das Jugendamt habe erwidert, dass C. bei diesen Hilfen mitarbeiten müsse und man sie nicht zwingen könne. C. wolle in der Schutzstelle bleiben.
16
In einer Stellungnahme der Schutzstelle M. vom 19. Oktober 2017 gegenüber dem Jugendamt wurden die Schilderungen der erlebten Gewalt von C. durch den Kläger zu 1) zusammengefasst. C. habe angegeben, täglich oder manchmal mehrfach an einem Tag Opfer von Gewalt durch den Vater gewesen zu sein. Einige Vorfälle werden genauer beschrieben.
17
Aus einem nicht genau zuordenbaren „Protokoll Fachdienst; Info für Jugendamt“ vom 19. Oktober 2017 ergibt sich, C. spreche über verbale und körperliche Gewalt durch ihren Vater, beschreibe ihn als „unberechenbar in seiner Wut“, er habe „keine Kontrolle mehr über sich, wenn er ausrastet“ und werfe impulsiv Gegenstände. Dies erfolge auch gegenüber der kleinen Schwester und der Mutter. C. fühle sich schuldig, egoistisch, schlecht, auch körperlich überbelastet, stehe stark unter Druck und sei in schlechter körperlicher Verfassung. Sie leide unter Appetitlosigkeit, mangelndem Durstgefühl, Schwindel, wiederkehrendem Gefühl von Erbrechenmüssen und Erschöpfung. Es wurde eine Krankschreibung zur Entlastung sowie eine „Abklärung beim Kinderarzt/Hausarzt (Gewicht, psychische Verfassung)“ empfohlen.
18
Die damaligen Bevollmächtigten der Kläger nahmen mit Schriftsatz vom 20. Oktober 2017 umfangreich zu dem Antrag der Beklagten an das Familiengericht und insbesondere zu den Ausführungen der Schulpsychologin Stellung, deren Ausführungen falsch und unqualifiziert seien. Die Kläger hätten sich mehrmals an das Jugendamt gewandt, um Hilfe zu bekommen. Man habe sich darauf geeinigt, dass zunächst ambulante Hilfemaßnahmen erarbeitet würden. Der Bericht der Schutzstelle gebe lediglich die Aussagen von C. wieder.
19
Gemäß dem Vermerk des Amtsgericht Münchens – Familiengericht – über die nichtöffentliche Sitzung am 23. Oktober 2017 wurde zwischen den Beteiligten vereinbart, dass kein weiterer Austausch zwischen der Beklagten und der Schulpsychologin erfolgen und eine Abklärung bei dem Facharzt G. in die Wege geleitet werden solle, der das weitere Vorgehen empfehlen werde. Sodann hätten sich die Kläger mit der vorübergehenden Inobhutnahme einverstanden erklärt.
20
Am 8. November 2017 erließ die Beklagte einen Bescheid, nach dessen Ziffer 1) C. für die Zeit vom 2. Oktober 2017 bis auf weiteres in Obhut genommen worden sei.
21
Ebenfalls am 8. November 2017 fand ein erster Untersuchungstermin bei dem Facharzt G. statt.
22
In einem weiteren Formular „Weitere Gefährdungsabklärung und Bewertung“ der Beklagten über den Zeitraum 10. Oktober 2017 bis 8. November 2017 wurde als fachliche Bewertung festgehalten, die Eltern stünden noch immer nicht hinter der Inobhutnahme, auch wenn sie das vor dem Familiengericht so gesagt hätten. Es sei auffällig, dass die Eltern wenig Einfühlungsvermögen gegenüber C. zeigen würden. C selbst zeige aber auch einige psychische Auffälligkeiten, die Anlass zur Sorge geben würden. Deswegen sei eine Abklärung beim Kinder- und Jugendpsychiater dringend notwendig. Die psychische und physische Integrität sei verletzt. C. sei in ihrer Gesamtentwicklung gefährdet.
23
In einem „Statusbericht zur Falleingabe im Fachteam“ vom 9. November 2017 führte die Schutzstelle M. als fachliche Einschätzung im Wesentlichen aus, die psychische Belastung von C. sei nicht abzuschätzen. Im Kontakt mit den Betreuerinnen wirke C. höchst belastet und überfordert mit der gesamten Situation. Es werde derzeit ein stationäres Clearing in einer psychiatrischen Klinik empfohlen, um den genauen Bedarf zu bestimmen. Im Rahmen dieses Settings sollte auch zu gegebener Zeit Elternarbeit angeboten werden, um eine optimale Perspektivenentwicklung und Stabilisierung von C. gewährleisten zu können.
24
In dem weiteren Formular „Weitere Gefährdungsabklärung und Bewertung“ der Beklagten über den Zeitraum 10. Oktober 2017 bis 8. November 2017 wird ausgeführt, dass am 13. November 2017 eine Helferkonferenz in der Schutzstelle M. stattgefunden habe, bei der die Schutzstelle dem Jugendamt mitgeteilt habe, C. ritze sich seit einigen Tagen. C habe auch weiterhin Gedanken wie „Das Leben ist sinnlos“, es werde aber nicht von akuter Gefährdung ausgegangen. Das Jugendamt habe die Schutzstelle gebeten, diese Informationen sofort den Eltern zukommen zu lassen.
25
Bei Telefonaten mit den Klägern am 13. November 2017 hätten diese das Jugendamt um mehr Transparenz, Austausch und Fingerspitzengefühl gebeten und darauf hingewiesen, dass sie mehrfach um genaue Prüfung gebeten hätten, die nicht erfolgt sei. Der Kinderarzt sei entsetzt über die Inobhutnahme. Er betreue C. seit Geburt und habe nie Körperverletzungen feststellen können.
26
Mit Fax vom 14. November 2017 teilten die Kläger mit, dass ihnen am Abend zuvor bei ihrem Anruf bei der Schutzstelle M. von dieser mitgeteilt worden sei, dass C. sich ritze und suizidale Gedanke äußere. Das Team sei sich nicht mehr sicher, ob es die Betreuung von C. weiter leisten könne. Die Eltern hätten für eine weitere Abklärung sofort eine Schweigepflichtsentbindung für den Facharzt G. an die Schutzstelle übersandt. Die Kläger würden sich immense Sorge um ihre Tochter machen. Es sei vollkommen unverantwortlich, dass ihnen diese wichtige Information bei den Telefonaten am Vortag mit der Beklagten vorenthalten worden sei. Die Zustimmung zur Inobhutnahme werde mit sofortiger Wirkung widerrufen.
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In dem weiteren Formular „Weitere Gefährdungsabklärung und Bewertung“ der Beklagten über den Zeitraum 10. Oktober 2017 bis 8. November 2017 wird ausgeführt, dass C. mit einer Vertreterin des Jugendamts am 15. November 2017 einen von den Klägern als „Nottermin“ vereinbarten weiteren Termin bei Herrn G. wahrgenommen habe. Dieser habe eine stationäre Abklärung in der Klinik H. so schnell wie möglichempfohlen. Eine Einweisung wegen akuter Selbstgefährdung sei aber nicht angezeigt und solle vermieden werden. Auf die Nachfrage an C., ob sie es bis dahin in der Schutzstelle aushalten könne oder lieber zu ihren Eltern möchte, habe diese versichert, in der Schutzstelle bleiben zu wollen. Herr G. habe ferner dringend eine sozialpädagogische Familienhilfe empfohlen, z.B. Krisenintervention/Familienintervention mit Anschluss einer Ambulanten Erziehungshilfe.
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Im Gespräch des Jugendamtes mit den Klägern im Anschluss an den Arzttermin hätten diese erklärt, sie würden die Aufnahme in die Klinik H. abklären. Eventuell solle C. übergangsweise zu den Großeltern. Bezüglich ambulanter Erziehungshilfe und sozialpädagogischer Familienhilfe würden sie einen Antrag stellen, wenn dies auch in Bezug auf die jüngere Tochter als notwendig angesehen werde. In späteren Gesprächen hätten die Kläger dem Jugendamt jeweils mitgeteilt, C. solle nicht bis zur Aufnahme in die Klinik in der Schutzstelle bleiben, sondern – möglicherweise zusammen mit der Klägerin zu 2) – zu den Großeltern ziehen. Das Jugendamt habe den Klägern in den Folgetagen mehrfach mitgeteilt, C. sei von der Entscheidung, wo sie bis zum Klinikaufenthalt wohnen solle, überfordert. Die Eltern hätten Herrn G. so verstanden, dass C. so schnell wie möglich aus der Schutzstelle raus solle. C. habe telefonisch gegenüber der Beklagten geäußert, dass sie ihre Entscheidung, wo sie die Zeit bis zur Aufnahme in der Klinik verbringen solle, von der Dauer bis zum Aufnahmetermin abhängig mache. Sollte dies länger als vier Wochen dauern, würde sie überlegen, die Schutzstelle zu verlassen. Die Kläger hätten daraufhin bei einem Telefonat am 17. November 2017 erklärt, C. solle so schnell wie möglich mit der Klägerin zu 2) zu den Großeltern ziehen. Der Kläger zu 1) werde es so einrichten, dass C. ihn nicht sehe, sie würden die Rücknahme der Einverständniserklärung zur Inobhutnahme nicht zurücknehmen.
29
Die Beklagte rief daraufhin am 17. November 2017 das Familiengericht an.
30
Gemäß den weiteren Aufzeichnungen der Beklagten, wurde am 21. November 2017 bekannt, dass C. in der Schutzstelle M. vom Freund einer anderen Bewohnerin per WhatsApp bedroht worden sei. Die Klägerin zu 2) habe daraufhin dem Jugendamt mitgeteilt, C. solle keinesfalls weiterhin in der Schutzstelle verbleiben. Sie könne zu einer befreundeten Familie ziehen.
31
Am 23. November 2017 zog C. zur besagten Familie. Die Kläger vereinbarten mit dem Jugendamt, die Unterbringung bei dieser Familie erfolge in Verantwortung der Kläger.
32
Mit Schriftsatz vom 16. März 2018, bei Gericht eingegangen am 20. März 2018, erhoben die damaligen Bevollmächtigten für die Kläger beim Verwaltungsgericht München Klage und beantragten,
33
Es wird festgestellt, dass die am 2. Oktober 2017 erfolgte Inobhutnahme des Kindes C. durch die Beklagte rechtswidrig war.
34
Zur Begründung wurde ausgeführt, C. sei schon immer verhaltensauffällig und daher 2013/2014 in Therapie bei Frau S. gewesen. Sie habe unwahre Tatsachenbehauptungen aufgestellt, die völlig ungefiltert vom Jugendamt übernommen worden und weder mit den Eltern noch mit Fachleuten besprochen worden seien. Das Jugendamt habe zunächst Krisenintervention zugesagt, sich dann plötzlich umentschieden. Eine Nachfrage bei der früheren Therapeutin hätte ein anderes Bild von C. gezeigt und es wäre zu erkennen gewesen, dass C. eine Therapie brauche. C.s Äußerungen, dass sie geschlagen worden sei, und der Vater gesagt habe, er hasse seine Tochter, seien unwahr. Das Jugendamt habe keinen Kontakt zum Kinderarzt und zur Therapeutin aufgenommen. Die Zustimmung zur Inobhutnahme vor dem Familiengericht sei notgedrungen erteilt worden, um das Aufenthaltsbestimmungsrecht nicht zu verlieren, zumal ein Facharzt gefunden worden sei. In der Schutzstelle sei es zu Schwierigkeiten gekommen, u.a. habe C. begonnen, sich zu ritzen. Im Zeitpunkt der Inobhutnahme hätte keine dringende Gefahr vorgelegen. Die Eltern hätten von sich aus Hilfe gesucht und seien um Kooperation und zielführende Lösungen bemüht gewesen. Es hätte weniger das Elternrecht tangierende und besser geeignete Maßnahmen gegeben.
35
C. wurde vom 6. Juli 2018 bis 20. August 2018 erneut vom Jugendamt der Beklagten in Obhut genommen. Die Kläger haben hierzu unter den M 18 K 19.2180 und M 18 K 21.6736 ebenfalls Klagen erhoben.
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Mit Schriftsatz vom 19. September 2018 beantragte die Beklagte,
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die Klage abzuweisen,
38
und führte aus, die Situation hätte sich zugespitzt gehabt. C. hätte unter den massiven familiären Konflikten gelitten und mehrmals um Inobhutnahme gebeten. Die Inobhutnahme sei eine nur vorübergehende Schutzmaßnahme/Krisenintervention. Sie sei vom Familiengericht am 23. Oktober 2017 bestätigt worden, wobei weitere Schritte vereinbart worden seien. Die Schutzstelle M. sei eine überprüfte Einrichtung. Da C.s stationäre Aufnahme erst am 11. Januar 2017 möglich gewesen sei, sei eine Interimslösung erforderlich gewesen. In der Zwischenzeit sei C. nicht zugänglich für ambulante Hilfen gewesen.
39
Mit Schriftsatz vom 19. Februar 2019 legte ein neuer Klägerbevollmächtigter einen Bericht der früheren Psychotherapeutin, Frau S., vom 16. Juli 2013 vor. Hierin wurde u.a. ausgeführt, dass C. eine ausgeprägte Bindungs- und Kommunikationsstörung mit narzisstisch überhöhtem Ich-Ideal entwickele. Sie sei schon früh durch Distanzlosigkeit und unkindliches Verhalten aufgefallen. Mit scharfer Beobachtungsgabe und unglaublichem Wortschatz mit eloquenter Sprache versuche sie, ihre innere brüchige Welt krampfhaft zusammenzuhalten. Sie spüre, dass sie anders sei als die anderen, finde aber keinen Weg, sich allgemeinverständlich zu integrieren, sondern beziehe ihren Selbstwert im Sich-über-andere-Stellen für den Preis interpersoneller Konflikte. Dadurch habe sie Einsamkeits-, Verlassenheits- und Ohnmachtsgefühle, die sie durch Fehlanpassung kompensiere, ohne zu spüren, dass sie dadurch noch mehr Ablehnung erfahre. Ihr intrapsychischer Konflikt bestehe in der Leugnung ihrer zentralen Bedürfnisse nach Anerkennung, Geborgenheit und Nähe einerseits und unbewussten Schuldgefühlen mit Vernichtungsängsten, Bindung nicht herstellen zu können, andererseits. Die Eltern seien beide umstellungsbereit, differenziert und emotional zugänglich sowie in der Lage, die Symptomatik im Familienkontext zu verstehen. Sie seien besorgt um die Entwicklung von C. und belastet durch den schwierigen Alltag mit ihr. Als Diagnose wird eine psychoneurotische Entwicklungskrise mit Selbstunsicherheit und narzisstischer Krise, Kontakt- und Bindungsstörung sowie soziale Anpassungsstörung mit psychosomatischen Reaktionen genannt.
40
Hinzukommend zu den bisherigen Argumenten wurde im Wesentlichen vorgetragen, dass das Jugendamt auch bei Bitte eines Kindes um Inobhutnahme weiter ermitteln müsse, was hier unterlassen worden sei, obwohl die Kläger schon am 25. September 2017 auf die Psychotherapie in den Jahren 2013/2014 hingewiesen hätten. Stattdessen habe das Jugendamt in der Anrufung des Familiengerichts und in der Vorinformation an den im Verfahren tätigen Kinder- und Jugendpsychiater G. pflicht- und wahrheitswidrig vorgespiegelt, der Kläger projiziere psychiatrische Krankheitsbegriffe auf C. Die Hinweise auf die Therapeutin seien verschwiegen und nicht dokumentiert worden. Das Jugendamt habe auf immer bizarrer werdende Aussagen des Kindes und der Schulpsychologin vertraut, die nicht zur Psychotherapie befähigt sei und im Vorfeld ungeeignete Maßnahmen ergriffen habe. Wäre die Beklagte den Hinweisen auf die frühere Therapie nachgegangen und hätte sie die verschiedenen Einschätzungen von Fachleuten gesammelt und fachlich korrekt gewichtet, wäre klar geworden, dass der von C. geäußerte Wille hinsichtlich einer Inobhutnahme und deren Aufrechterhaltung selbstschädigend gewesen seien und eine Inobhutnahme als bloße Krisenintervention kindeswohlschädigend gewesen sei mit der Folge, dass sofort mit den Eltern zusammen – und nicht gegen sie – eine qualifizierte kinder- und jugendpsychiatrische Betreuung – ggf. stationär – hätte eingeleitet werden müssen. Die Schutzstelle sei ungeeignet gewesen. C. sei dort schädlichen Einflüssen ausgesetzt gewesen. Im Übrigen sei das Familiengericht erst am 10. Oktober 2017 und damit nicht sofort angerufen worden. Die Inobhutnahme hätte nach einigen Tagen beendet werden müssen. Die Inobhutnahme sei auch formell rechtswidrig, weil nur mündlich erfolgt. Die sofortige Vollziehung sei nicht angeordnet und schriftlich begründet worden.
41
Hierauf erwiderte die Beklagte, die Schutzstelle sei für Mädchen ab 12 Jahren konzipiert. Außerdem hätten mehrere gewichtige Anhaltspunkte vorgelegen, die über C.s Bitte um Inobhutnahme hinausgingen: dysfunktionales Familiensystem, wenig einfühlsame Eltern, psychische und physische Gewalt, psychische Auffälligkeit von C.
42
Am 31. Dezember 2020 erweiterte der nunmehrige Klägerbevollmächtigte die Klage um folgende – in der mündlichen Verhandlung vom 14. Dezember 2022 klargestellte – Feststellungsanträge:
43
Es wird hinzukommend beantragt festzustellen, dass es das Jugendamt pflichtwidrig entgegen § 8a Abs. 1, Abs. 3 und Abs. 4 SGB VIII unterlassen hat, die ihm sich aufdrängende Überprüfung vorzunehmen und den Klägern völlig ungeeignete Hilfen angeboten hat, welche später zu der rechtswidrigen Inobhutnahme geführt hat.
44
Die vorm Jugendamt getroffenen Maßnahmen verletzten die fachlichen Mindeststandards durch folgende Unterlassungen:
45
1. Das Jugendamt hat – unter Verletzung seiner Verpflichtungen zum Sozialdatenschutz §§ 61 ff. SSGB VIII – ohne die Kläger zu informieren Geheimgespräche mit der Schulpsychologin, welche ihrerseits die ihr obliegenden Verschwiegenheitsverpflichtungen verletzt hat.
46
2. Das Jugendamt hat es pflichtwidrig unterlassen, obwohl das Jugendamt aus § 35a SGB VIII verpflichtet gewesen war, Sorge dafür zu tragen, dass die psychische Situation der Tochter C. gemäß § 35a Abs. 1a SGB VIII von einem fachlich qualifizierten Arzt oder Psychologischen Psychotherapeuten abgeklärt wurde.
47
3. Das Jugendamt hat es dabei pflichtwidrig unterlassen, obwohl das Jugendamt aus § 35a Abs. 4 SGB VIII verpflichtet gewesen war, zu prüfen inwieweit bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 35a Abs. 1a SGB VIII nur solche Hilfen angeboten werden dürfen, welche in der Lage sind, notwendige Eingliederungshilfen (abgestimmt auf die psychischen Bedürfnisse des Kindes C) zu gewährleisten (§ 35a Abs. 4 SGB VIII i.V.m. § 34 SGB VIII).
48
4. Das Jugendamt hat es unterlassen zu prüfen, ob im vorliegenden Fall die Tatbestandsvoraussetzungen des § 27 SGB VIII i.V.m. § 34 SGB VIII überhaupt vorgelegen haben.
49
5. Die im Vorfeld der Inobhutnahme am 2. Oktober 2017 zwischen der Beklagten und den Kläger vereinbarten ambulanten Hilfen für die Tochter C. durch die Inobhutnahme rechtswidrig ausgesetzt wurden.
50
6. Die ab dem 2. Oktober 2017 durch die Beklagte erfolgte Unterbringung der Tochter C. in der Schutzstelle M. für die Tochter C. aufgrund der psychischen Vorerkrankung weder kindes-, alters- noch bedarfsgerecht und C. damit dauerhaft und im erheblichen Umfang psychisch und körperlich schädigte und damit rechtswidrig war.
51
7. Die Beklagte es pflichtwidrig unterlassen hat, C. psychologisch und therapeutisch zu begleiten und zu unterstützen und es unterlassen hat, während der Inobhutnahme von C. in der Zeit vom 2. Oktober 2017 bis zum 23. November 2017 ihre Aufsichtspflichten über C. auszuüben und festzustellen, dass die Beklagte in der Zeit vom 2. Oktober 2017 bis 23. November 2017 ihre Aufsichtspflichten über C. in erheblichem Maße pflichtwidrig verletzt hat.
52
Mit Schriftsatz vom 30. November 2022 wiederholte der Klägerbevollmächtigte seine Argumentation und legte eine vorläufige psychologische Stellungnahme von Frau Dr. Ch. vom 20. Februar 2022 vor, die als Ergebnis festhält, dass zum Zeitpunkt der Inobhutnahme von C. keine Kindeswohlgefährdung durch die Eltern erkennbar gewesen sei und für die Inobhutnahme keine Anhaltspunkte vorgelegen hätten, die sich aus den Akten ergeben würden. Die Folgeschäden durch die Inobhutnahme vom 2. Oktober 2017 seien gravierend. Außerdem wurde eine Stellungnahme des Mag.rer.nat (Diplomstudium Psychologie) Dr. R. vom 4. Juni 2020 mit dem Ergebnis des dringenden Therapiebedarfs für C., Tendenzen zu Persönlichkeitsstörung/en mit Impulskontrollstörung vorgelegt. Des Weiteren wurde ein Gutachten zur Wiedereingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII des auch im Verfahren befassten Kinder- und Jugendpsychiaters G. vom 19. Mai 2021 vorgelegt.
53
In der mündlichen Verhandlung vom 14. Dezember 2022 zu diesem Verfahren sowie zu den Klagen M 18 K 19.2180 und M 18 K 21.6736 wurde der Sachverhalt sowie die Klageanträge eingehend erörtert.
54
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift zur mündlichen Verhandlung am 14. Dezember 2022, den Inhalt der Gerichtsakten sowie die zu diesen Verfahren vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

55
Die Klage ist im tenorierten Umfang zulässig und begründet. Die Kläger haben einen Anspruch darauf festzustellen, dass die streitgegenständliche Inobhutnahme ihrer Tochter C. vom 11. Oktober 2017 bis 23. Oktober 2017 sowie vom 13. November 2017 bis 23. November 2017 rechtswidrig war. Im Übrigen ist die Klage teilweise unzulässig, teilweise unbegründet.
56
Für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist auf den Zeitpunkt der angegriffenen Maßnahmen abzustellen. Dementsprechend ist für die Prüfung § 42 SGB VIII in der Fassung vom 20. Juli 2017 (im Folgenden: a.F.) zu Grunde zu legen, die sich jedoch vorliegend nicht entscheidungserheblich von der aktuellen Fassung unterscheidet.
57
A. Der Fortsetzungsfeststellungsantrag in Bezug auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme ist insoweit zulässig, als er nicht den Zeitraum der Inobhutnahme betrifft, für den die Kläger in der familiengerichtlichen Sitzung am 23. Oktober 2017 ihr Einverständnis zur Inobhutnahme gegeben haben (24. Oktober 2017 bis 13. November 2017). Im Übrigen ist er unzulässig.
58
Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist statthaft. Die angefochtene Inobhutnahme hat sich erledigt. Am 23. November zog C. mit Einverständnis und auf Verantwortung der Kläger zu einer befreundeten Familie. Dies entspricht einer Herausgabe an die Sorgeberechtigten i.S.v. § 42 Abs. 4 Nr. 1 SGB VIII, sodass die Inobhutnahme beendet wurde.
59
Die Kläger haben ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der erledigten Inobhutnahme für den genannten Zeitraum, in dem sie mit der Inobhutnahme ausdrücklich nicht einverstanden waren.
60
Ein solches Interesse kann rechtlicher, wirtschaftlicher oder auch ideeller Natur sein. Entscheidend ist, dass die gerichtliche Entscheidung geeignet ist, die Position des Rechtsschutzsuchenden in den genannten Bereichen zu verbessern (vgl. BVerwG, U.v. 20.6.2013 – 8 C 39.12 – juris Rn. 19 m.w.N.). Im Hinblick auf die von der Rechtsprechung hierzu entwickelten Fallgruppen ist ein Feststellungsinteresse unter dem Gesichtspunkt der Rehabilitierung der Kläger, insbesondere des Klägers zu 1), zu bejahen. Ein Rehabilitationsinteresse kann ein berechtigtes Interesse an der Feststellung begründen, wenn der Verwaltungsakt außer seiner belastenden Wirkung zusätzlich diskriminierenden Charakter hat, der dem Ansehen des Betroffenen abträglich ist, und das Interesse an der Beseitigung dieser Rufminderung nach der Sachlage als schutzwürdig anzusehen ist. Mit Blick auf Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG besteht ein berechtigtes ideelles Interesse an einer Rehabilitierung nur, wenn sich aus der angegriffenen Maßnahme eine Stigmatisierung des Betroffenen ergibt, die geeignet ist, sein Ansehen in der Öffentlichkeit oder im sozialen Umfeld herabzusetzen. Diese Stigmatisierung muss Außenwirkung erlangt haben und noch in der Gegenwart andauern (BVerwG, U.v. 20.6.2013 – 8 C 39/12 – juris Rn. 24; Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 113 Rn. 119 m.w.N.). Für Inobhutnahmen wird das Rehabilitationsinteresse von der überwiegenden Rechtsprechung grundsätzlich bejaht (vgl. z.B. OVG NW, B.v. 3.5.2019 – 12 E 805/18 – juris Rn. 6: Inobhutnahme ging mit der Herausnahme der Kinder aus öffentlichen Einrichtungen (Kindergarten, Schule) einher; VG Würzburg, U.v. 3.1.22 – W 3 K 20.797 – juris Rn. 63: Inobhutnahme im Krankenhaus und damit für unbeteiligte Dritte hör- und sichtbar). Hier erfolgte die Inobhutnahme insbesondere aufgrund von Vorwürfen häuslicher Gewalt, deren Wahrheitsgehalt bis heute unklar ist, sowie unter Beteiligung der Schule und wurde sicherlich von weiteren unbeteiligten Dritten im sozialen Umfeld bemerkt. Ein schutzwürdiges Interesse der Kläger, sich von diesem Stigma zu lösen, kann diesen nicht abgesprochen werden.
61
Für den Zeitraum 23. Oktober 2017 bis 12. November 2017, in dem das vor dem Familiengericht erklärte Einverständnis der Kläger mit der Inobhutnahme bestand, fehlt jedoch das berechtigte Interesse an der Rechtswidrigkeit der erledigten Inobhutnahme. Die Kläger haben zwar vorgetragen, das Einverständnis nur notgedrungen gegeben zu haben, um das Aufenthaltsbestimmungsrecht nicht zu verlieren. Sie haben ihr Einverständnis aber ausdrücklich und unter rechtsanwaltlicher Beratung zu Protokoll des Familiengerichts erklärt und mussten sich der rechtlichen Wirksamkeit und Tragweite ihrer Erklärung bewusst sein.
62
Für weitere Zeitabschnitte der Inobhutnahme lag kein Einverständnis der Eltern vor, zum einen nicht nach ausdrücklicher Rücknahme des Einverständnisses am 13. November 2017, zum anderen nicht für den Zeitraum 2. Oktober 2017 bis 9. Oktober 2017 (Eingang des ausdrücklichen schriftlichen Widerspruchs bei der Beklagten). Aus den Akten ergibt sich zwar, dass der Kläger zu 1) der Inobhutnahme zunächst nicht abgeneigt gegenüberstand. Zur Haltung der Klägerin zu 2) unmittelbar nach der Inobhutnahme ist die Dokumentation unklar. Die Klägerin zu 2) hat in der mündlichen Verhandlung aber glaubhaft angegeben, von Anfang an ihr fehlendes Einverständnis geäußert zu haben. Bei gemeinsamer Sorge genügt der Widerspruch eines Sorgeberechtigten (Dürbeck, in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 14).
63
Der Zulässigkeit der vorliegenden Fortsetzungsfeststellungsklage steht auch nicht die Bestandskraft eines Verwaltungsakts entgegen. Die Inobhutnahme wurde zunächst am 2. Oktober 2017 mündlich angeordnet. Das Schreiben der Kläger vom 7. Oktober 2017, eingegangen bei der Beklagten am 9. Oktober 2017, ist als Widerspruch hiergegen nach § 70 VwGO auszulegen. Das zwischenzeitlich vor dem Familiengericht erklärte Einverständnis wurde per Fax vom 13. November 2017 zurückgenommen, sodass auch ein formgültiger Widerspruch gegen den Bescheid vom 8. November 2017 vorliegt.
64
B. Der Fortsetzungsfeststellungsantrag ist begründet, soweit er die Zeiträume 11. Oktober 2017 bis 23. Oktober 2017 und 13. November 2017 bis 23. November 2017 betrifft. Im Übrigen ist er – soweit nicht schon unzulässig (s.o.) – unbegründet.
65
Die Aufteilung der Rechtmäßigkeitsprüfung einer Jugendhilfemaßnahme in mehrere Zeiträume ist zulässig, da eine Jugendhilfemaßnahme und – wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird – somit auch eine Inobhutnahme konstant durch die Behörde auf ihre Rechtsmäßigkeit zu überprüfen ist, wodurch sich für ein und dieselbe Maßnahme Zeitabschnitte ergeben können, die rechtlich unterschiedlich zu bewerten sein können.
66
Das Jugendamt ist gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn das Kind oder der Jugendliche um Obhut bittet.
67
Voraussetzung für eine rechtmäßige Inobhutnahme ist danach zunächst der bloße subjektive Hilfebedarf des Kindes oder Jugendlichen. Die Bitte um Inobhutnahme muss ernst gemeint sein und freiwillig erfolgen und darf nicht (offensichtlich) rechtsmissbräuchlich sein (OVG NW, B.v. 7.2.2022 – 12 A 1402/18 – juris Rn. 91 m.w.N.). An diesen eindeutig geäußerten Wunsch sind keine weiteren formellen und/oder inhaltlichen Anforderungen zu stellen. Insbesondere darf die Inobhutnahme nicht von einer zusätzlichen Gefährdungseinschätzung entsprechend § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII abhängig gemacht werden (BayVGH, B.v. 8.8.2011 – 12 ZB 10.974 – juris Rn. 7, 10; B.v. 9.2.2010 – 12 ZB 08.3230 juris Rn. 9; OVG NW, a.a.O. Rn. 95 ff. m.w.N.; NdsOVG, B.v. 19.9.2009 – 4 LA 706/07 – juris Rn. 7; vgl. Trenczek in Münder/Meysen/Trenczek, SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 42 Rn. 14; Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 7a).
68
Für die Wahrung des verfassungsrechtlich geschützten Elternrechts sorgt der gesetzlich zwingend vorgegebene weitere Verfahrensablauf, der die unverzügliche Einbeziehung der Personensorge- und Erziehungsberechtigten, die weitere Aufklärung des Gefährdungsrisikos und den Übergabeanspruch der Personensorge- und Erziehungsberechtigten vorsieht (OVG NW, a.a.O., Rn. 99; vgl. Kirchhoff in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, Stand: 21.11.2022; § 42 Rn. 31). Der besonderen Bedeutung der Verfahrensregelungen des § 42 SGB VIII im Hinblick auf den Schutz des Elternrechts (vgl. Kirchhoff in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, Stand: 21.11.2022, § 42 Rn. 31) entspricht es, dass Fehler an dieser Stelle schon zur Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme führen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, U.v. 20.9.2022 – 4 L 136721 – juris Rn. 37). Gemäß § 42 Abs. 2 SGB VIII a.F. muss die Situation, die zur Inobhutnahme geführt hat, geklärt und müssen Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung aufgezeigt werden.
69
Wenn kein Widerspruch der Personensorgeberechtigten erfolgt, ist unverzüglich ein Hilfeplanverfahren zur Gewährung einer Hilfe einzuleiten, § 42 Abs. 3 Satz 5 SGB VIII.
70
Im Falles eines Widerspruchs der Personensorge- oder Erziehungsberechtigten gegen die Inobhutnahme hat das Jugendamt nach § 42 Abs. 3 Satz 2 SGB VIII unverzüglich das Kind oder den Jugendlichen dem Personensorge- oder Erziehungsberechtigten zu übergeben, sofern nach Einschätzung des Jugendamtes eine Gefährdung des Kindeswohls nicht besteht oder die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten bereit und in der Lage sind, die Gefährdung abzuwenden (Nr. 1) oder eine Entscheidung des Familiengerichts über die erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Kindes oder des Jugendlichen herbeizuführen (Nr. 2). Die Entscheidung des Jugendamtes, die Inobhutnahme bis zu einer familiengerichtlichen Entscheidung aufrecht zu erhalten, ist danach nur dann rechtmäßig, wenn ohne die Inobhutnahme die Gefahr einer Beeinträchtigung des Wohles des Kindes oder Jugendlichen besteht und die Eltern zu Abwehr dieser Gefährdung nicht bereit oder in der Lage sind (OVG NW, B.v. 7.2.2022 – 12 A 1402/18 – juris Rn. 100 m.w.N.).
71
Auch bei Selbstmeldern genügt somit der ernsthaft, freiwillig und nicht rechtsmissbräuchlich geäußerte Wille des Kindes oder Jugendlichen allein nicht bzw. nur für eine kurze Zeitspanne zu Beginn der Inobhutnahme. Im Anschluss muss auch bei Selbstmelderfällen für eine weitere Aufrechthaltung der Inobhutnahme gegen den Willen der Erziehungsberechtigten umgehend eine Gefährdungseinschätzung im Sinne des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII (Inobhutnahme wegen dringender Gefahr für das Wohl des Kindes) erfolgen. Denn eine Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII stellt sich als wesentlicher Eingriff in das grundrechtlich gemäß Art. 6 Abs. 2 GG geschützte Elternrecht dar. Sie kommt bei Widerspruch der Personensorgeberechtigten nur in akuten Gefährdungssituationen in Betracht, die ein Abwarten der Entscheidung des Familiengerichts nicht erlauben; sie ist ultima ratio (vgl. OVG NW, B.v. 7.2.2022 – 12 A 1402/18 – juris Rn. 134 ff. m.w.N.; VG München, B.v. 21.12.2020 – M 18 S 20.6711 – juris Rn. 29 m.w.N.).
72
Die Inobhutnahme muss dementsprechend fortlaufend erforderlich sein. Erforderlich ist eine Maßnahme nur dann, wenn ein gleich wirksames, den betroffenen Bürger aber weniger beeinträchtigendes Mittel nicht zur Verfügung steht. Das bedeutet, dass unter mehreren gleich effektiven Mitteln dasjenige gewählt werden muss, welches den Bürger am wenigsten beeinträchtigt. Ebenso wie bei den „erforderlichen Maßnahmen“ nach § 1666 Abs. 1 BGB ist damit auch hier die Pflicht zur Prüfung angesprochen, ob es ein im Vergleich zur Inobhutnahme milderes, gleich geeignetes Mittel gibt. Zu fragen ist, ob die Kindeswohlgefährdung auch auf andere Weise, insbesondere durch öffentliche Hilfen, gleich effektiv abgewendet werden kann (LPK-SGB VIII/Jan Kepert, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 42 Rn. 27).
73
Kommen Hilfen in Betracht, ist umgehend der Bedarf zu ermitteln und ein entsprechendes Hilfeplanverfahren einzuleiten. Der Inobhutnahme kommt insoweit zwar eine Clearing-Funktion im Hinblick auf die geeignete und notwendige Anschlusshilfe zu (vgl. Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 40). Sie darf jedoch nicht dazu verwendet werden, ohne entsprechende Gefährdungsbeurteilung den Willen des Kindes oder Jugendlichen gegen den Willen der Erziehungsberechtigten durchzusetzen.
74
Das Jugendamt hat diese Voraussetzungen für die Fortdauer der Inobhutnahme regelmäßig zu prüfen (Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 48a). Die Unterbringung muss fortlaufend weiter geeignet sein (§ 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Außerdem muss der mit der Unterbringung außerhalb des Elternhauses verbundene Übergang der Pflicht zur Aufsicht und zur Sorge für das Wohl des Kindes oder Jugendlichen auf das Jugendamt (vgl. § 42 Abs. 2 Satz 3 SGB VIII) geeignet sein und dazu v.a. ordnungsgemäß ausgeübt werden. Diese Prüfung ist zum Nachweis der Rechtsmäßigkeit der Inobhutnahme und auch im Hinblick auf mögliche anschließende Auseinandersetzungen über die Kostenerstattung oder eine Heranziehung der Eltern zu den Kosten zu dokumentieren (ebd. m.w.N.).
75
I. Im Zeitraum vom 2. Oktober 2017 bis 10. Oktober 2017 war die Inobhutnahme rechtmäßig, der Fortsetzungsfeststellungsantrag damit unbegründet.
76
1. Die Inobhutnahme am 2. Oktober 2017 war formell rechtmäßig.
77
Eine Inobhutnahme kann auch mündlich erfolgen, § 33 Abs. 2 Satz 1 SGB X (VG München, B.v. 21.12.2020 – M 18 S 20.6711 – juris Rn. 22). Dass keine Anordnung der sofortigen Vollziehung erfolgt ist und der Vollzug der Inobhutnahme mit schriftlichem Widerspruch der Eltern am 9. Oktober 2017 hätte eingestellt werden müssen – womit die Klageseite die Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme u.a. begründet – ist eine Frage der Rechtmäßigkeit des Sofortvollzugs und hätte im Rahmen eines Verfahrens analog § 80 Abs. 5 VwGO (vgl. Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 120) geltend gemacht werden können. Die Frage der Rechtsmäßigkeit der Inobhutnahme selbst ist durch ein Unterbleiben der Anordnung der sofortigen Vollziehung jedoch nicht betroffen.
78
2. Die Inobhutnahme war zwischen 2. Oktober 2017 und 10. Oktober 2017 auch materiell rechtmäßig. Die Voraussetzungen der Inobhutnahme auf Bitten des Kindes i.S.v. § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII lagen vor.
79
a) Die Tochter C. hat ernsthaft um ihre Inobhutnahme gebeten.
80
Laut Akten und Aussagen des Jugendamts hatte C. mehrfach um Inobhutnahme gebeten. Gründe, an der Ernsthaftigkeit und Freiwilligkeit zu zweifeln, lagen dem Jugendamt im Zeitpunkt der Inobhutnahme nicht vor. Auch für eine offensichtliche Rechtsmissbräuchlichkeit der Bitte ergaben sich keine Anhaltspunkte. Zwar hat C. laut psychologischem Gutachten vom 20. Februar 2022 später „glaubhaft“ geäußert, dass sie nicht um Inobhutnahme gebeten habe. Im weiteren Verfahren wird jedoch deutlich, dass sich die Glaubhaftigkeitsbeurteilung von C.s Aussagen äußerst schwierig gestaltet. Die Bitte um Inobhutnahme ist zwar in den Akten nicht wörtlich protokolliert, es ist aber mehrfach die Rede davon, dass C. in Kenntnis der Möglichkeit und Umstände der Inobhutnahme geäußert habe, „von zu Hause weg zu wollen“, den vorgeschlagenen ambulanten Maßnahmen ablehnend gegenüberstand und schließlich „erneut seit mehr als einer Woche um Inobhutnahme bat“. Grundsätzlich kann sogar eine konkludente Bitte ausreichend sein (OVG NW, B.v. 7.2.2022 – 12 A 1402/18 – juris Rn. 93), sodass hier unter Würdigung aller Umstände trotz der – im Übrigen unsubstantiierten – gutachterlichen Aussage davon auszugehen ist, dass eine den Anforderungen entsprechende Bitte vorlag.
81
b) Bis zum 10. Oktober 2017 blieb die Inobhutnahme auf der genannten Grundlage rechtmäßig.
82
aa) Die Anrufung des Familiengerichts durch die Beklagte am 10. Oktober 2017 erfolgte unverzüglich im Sinne des § 42 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VIII.
83
Vorliegend haben die Kläger der Inobhutnahme widersprochen. Allerdings wird aus den Aktenvermerken der Beklagten hinreichend erkennbar, dass der Wille der Eltern zunächst noch nicht endgültig erschien. So wurde laut dem Aktenvermerk in einem Telefonat am 4. Oktober 2017 gesagt, dass der Kläger zu 1) prinzipiell nichts gegen die Inobhutnahme habe, die Klägerin zu 2) aber gegen die Inobhutnahme sei. Am 5. Oktober 2017 hätten die Kläger telefonisch mitgeteilt, dass sie gemeinsam beschlossen hätten, ihr Einverständnis zu geben. Am 9. Oktober 2017 ging beim Beklagten schließlich das Schreiben der Kläger vom 7. Oktober 2017 ein, in dem sie ausführlich begründen, nicht einverstanden zu sein. Zwar hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar angegeben, dass sie von Anfang an ihren Widerspruch gegen die Inobhutnahme deutlich gemacht habe. Der Beklagten ist insoweit jedoch zuzugestehen, dass die Position der Kläger in diesen ersten Tagen – sicherlich auch bedingt durch die für diese überraschende Inobhutnahme ihrer Tochter – zumindest unklar war und die Kläger sich hinsichtlich ihrer Positionierung noch beraten wollten. Mit Eingang des Schreibens vom 7. Oktober 2017 hat die Beklagte unverzüglich am Folgetag das Familiengericht angerufen.
84
bb) Das Jugendamt ging rechtmäßig bis zum 10. Oktober 2017 von einer Gefahr für C.s Wohl aus, die nicht von den Klägern und nicht mit milderen Mitteln abgewendet werden konnte.
85
Eine Gefahr für das Kindeswohl wird in Anlehnung an die Auslegung von § 1666 BGB bejaht, wenn eine Gefahr für die Kindesentwicklung abzusehen ist, die bei ihrer Fortdauer eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (vgl. OVG NW, B.v. 7.2.2022 – 12 A 1402/18 – juris Rn. 112; B.v. 31.10.2019 – 12 B 448/19 – juris Rn. 17; B.v. 20.12.2016 – 12 B 1262/16 – juris Rn. 17; Schmidt in BeckOGK, Stand 15.6.2021, SGB VIII § 42 Rn. 18). Eine dringende Gefahr nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII muss – angesichts des mit der Inobhutnahme bewirkten schwerwiegenden Eingriffs in das Elternrecht – stets eine konkrete und keine lediglich latente bzw. abstrakte Gefahr sein (vgl. BayVGH, B.v. 9.1.2017 – 12 CS 16.2181 – juris Rn. 9; VG Würzburg, B.v. 28.7.2020 – W 3 S 20.894 – juris Rn. 55).
86
Im vorliegenden Fall durfte das Jugendamt zunächst davon ausgehen, dass C. sich in einer derartigen dringenden Gefahr befand. Hierbei ist zu bedenken, dass die Inobhutnahme eine Schutzmaßnahme in einer akuten Krisen- bzw. Gefahrensituation darstellt (Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 22). Demgemäß konnte die Inobhutnahme hier zwar nicht damit begründet werden, dass zwischen C. und den Klägern jahrelang Konflikte und Schuldzuweisungen schwelten oder dass C. sich eine „Auszeit“ wünschte. Auch die Androhung, C. vom Gymnasium abzumelden und auf die Mittelschule zu schicken, genügt nicht. Dem Jugendamt lagen aber auch Meldungen der Schulpsychologin vor, die zwar nicht weiter hinterfragt oder aufgeklärt wurden, aber sicherlich ernst zu nehmen waren und inhaltlich die Annahme einer Kindeswohlgefährdung zunächst rechtfertigten. Die Aussagen der Eltern deuteten außerdem zwar nicht auf häusliche Gewalt, wohl aber auf ein erkennbar akut überfordertes Familiensystem hin. Schließlich führte das Jugendamt mit C. und schon kurz nach C.s Einzug mit der Schutzstelle M. unverzüglich Gespräche, deren Inhalt auf das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung schließen ließen. Insbesondere teilte die Schutzstelle M. mit, dass es durchaus Anhaltspunkte für eine Kindeswohlverletzung gebe. Angesichts dieser Umstände erscheinen die Inobhutnahme und Unterbringung in einer Schutzstelle als unmittelbare, eilige Maßnahme als gerechtfertigt. Weitere Ermittlungen zu C.s Gesundheitszustand, zum Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen und den Hintergründen zum lang gewachsenen Konflikt mit den Eltern waren in den ersten Tagen der Inobhutnahme noch nicht realisierbar.
87
Dem Jugendamt kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht zum Vorwurf gemacht werden, kein Hilfeplanverfahren eingeleitet zu haben. Hierzu war die Sachlage noch zu unklar. Anhaltspunkte dafür, dass die Schutzstelle M. nicht geeignet war, lagen in diesem zeitlichen Zusammenhang ebenfalls nicht vor. Die Schutzstelle M verfügte über eine Betriebserlaubnis, war altersgerecht und konzeptionell passend. Mildere Mittel konnten angesichts der Kürze der Zeit auch noch nicht erkennbar sein. C. wollte explizit keine anderweitige Unterbringung. Die spätere Lösung mit der Unterbringung bei der befreundeten Familie konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht eruiert werden.
88
II. Im Zeitraum vom 11. Oktober bis 23. Oktober 2017 war die Inobhutnahme unter Zugrundelegung der oben ausgeführten Anforderungen hingegen rechtswidrig.
89
Wie ausgeführt, muss das Jugendamt eine Inobhutnahme laufend darauf hin überprüfen, ob die Kindeswohlgefährdung weiterhin gegeben ist, ob die Eltern dem nicht abhelfen können oder wollen, ob die Inobhutnahme geeignet und verhältnismäßig ist, insbesondere ob Jugendhilfemaßnahmen als milderes Mittel einzuleiten sind. Hierzu hat das Jugendamt zunächst Ermittlungen zu diesen Fragen anzustellen sowie die verfügbaren Informationen fachlich zu bewerten und zu dokumentieren. Vorliegend hat das Jugendamt sowohl diese Ermittlungen als auch die Einleitung eines Hilfeplanverfahrens als notwendigen Verfahrensschritt und Bestandteil der Verhältnismäßigkeitsprüfung versäumt. Als Zeitpunkt, in dem diese Versäumnisse in ihrer Gesamtheit zur Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme führen, sieht das Gericht den 11. Oktober 2017 an. Zu diesem Zeitpunkt musste das Jugendamt aufklärungsbedürftige Zweifel am Wahrheitsgehalt der Aussagen von C. haben, erkennen, dass den Hinweisen auf eine psychische Erkrankung bei C. nachzugehen war, ein Hilfeplanverfahren einleiten bzw. die Verhältnismäßigkeit der Inobhutnahme zu Gunsten einer Unterbringung in einer geeigneteren Einrichtung ernsthaft in Zweifel ziehen.
90
1. Während das Jugendamt die Meldung durch die Schulpsychologin zunächst – wie schon erwähnt – als ausreichenden Hinweis auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung werten durfte und musste, musste es im weiteren Verlauf dennoch im Zusammenwirken mit den Klägern, vgl. § 42 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII a.F. a.E., weitere Ermittlungen zur Gefährdungsabschätzung anstellen. Ungeachtet der Frage, inwieweit die Aussagen der Schulpsychologin auf Kompetenzüberschreitungen o.ä. zu überprüfen waren – die nicht Gegenstand dieses Verfahrens ist – hatte das Jugendamt Anlass zur Nachforschung z.B. dazu, welche der in den Ausführungen der Schulpsychologin genannten Lehrer welche Aussagen über die Kläger gemacht haben, und wie z.B. die Einschätzung des Klassenlehrers aussah. Darüber hinaus hätten C.s. Aussagen einer Glaubhaftigkeitsbeurteilung unterzogen werden müssen. Es ist davon auszugehen, dass dies nicht erfolgt ist, da im Fall, dass den Gewaltvorwürfen gegenüber dem Kläger letztlich Glauben geschenkt worden wäre, strafrechtliche Schritte oder zumindest Recherchen bei der Polizei mit entsprechendem Ergebnis sowie Maßnahmen zum Schutz der jüngeren Tochter der Kläger hätten eingeleitet werden müssen. Zur Nachforschung wären an dieser Stelle auch beispielsweise eine Kontaktaufnahme zum Kinderarzt oder ein Hausbesuch nahegelegen. Vor allem aber auch der Aspekt, dass der Kläger zu 1) nach Ansicht der Beklagten C. Narzissmus vorwarf, hätte das Jugendamt zu weiteren zielgerichteten Ermittlungen veranlassen müssen. Der Vorwurf von Narzissmus stellt als „Projektion psychiatrischer Krankheitsbegriffe“ – wie ihn das Jugendamt bezeichnete – doch eher einen atypischen Fall von psychischer Gewalt von Eltern gegenüber ihrem Kinde dar, sodass hier gezielte Nachfragen zu erwarten gewesen wären. Noch dazu hatten die Kläger schon im Gespräch am 25. September 2017, also vor der Inobhutnahme am 2. Oktober 2017, erstmals mindestens darauf hingewiesen, dass C. schon mit acht Jahren in psychologischer Behandlung gewesen sei, wo ihr eine „narzisstische Persönlichkeit bescheinigt“ worden sei. Ob zu diesem Zeitpunkt auch der Name der Therapeutin genannt wurde, lässt sich nicht abschließend klären, kann im Ergebnis aber offen bleiben. Im Schreiben vom 7. Oktober 2017 wurde der Hinweis auf die frühere Therapie detaillierter und unter namentlicher Nennung der Therapeutin wiederholt und auch darauf hingewiesen, dass C. schon früher in jungem Alter Verhaltensauffälligkeiten gezeigt habe und die frühere Therapeutin die Inobhutnahme für ungeeignet halte. Die Kläger äußerten mehrmals, C. benötige eine Therapie. Dennoch wertete das Jugendamt diese Umstände zu Lasten der Kläger als „Projektion psychiatrischer Krankheitsbegriffe auf C.“, womit C. psychische Gewalt angetan werde. Ermittlungen in Richtung der Aufklärung, ob bei C. möglicherweise tatsächlich eine entsprechende psychische Erkrankung vorlag, insbesondere durch Kontaktaufnahme zur früheren Therapeutin, unterblieben gänzlich. Dass die Kläger derartige Ermittlungen verhindert hätten, erscheint abwegig, vielmehr ist unter dem Eindruck der Akten und dem Eindruck von den Klägern in der mündlichen Verhandlung davon auszugehen, dass diese jede Möglichkeit, C. der richtigen Hilfe zuzuführen, unterstützt hätten. Insgesamt erfolgte die Gefährdungsabschätzung somit defizitär und von einer Gefährdungsabschätzung in Zusammenwirken mit den Eltern, wie sie § 42 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII a.F. a.E. vorsieht, kann keine Rede sein. So wurde auch C.s Weigerung, den von den Klägern für den 11. Oktober 2017 organisierten Termin bei einem Kinder- und Jugendpsychiater wahrzunehmen, vom Jugendamt offenbar unkritisch mitgetragen. Hiergegen kann nicht vorgebracht werden, zu derartigen Maßnahmen sei C.s Compliance nötig, die nicht bestanden habe. Es finden sich keinerlei Hinweise darauf, dass das Jugendamt versucht hat, auf irgendeine Weise auf diese Compliance hinzuwirken, obwohl angesichts des äußerst unklaren Sachverhalts eine psychiatrische Abklärung als einzige Erkenntnisquelle erschien. Vom Jugendamt dokumentiert ist lediglich, dass C. nicht zum Psychiater wolle, die Eltern eine psychische Störung manifestieren wollen würden, C. Angst vor den Konsequenzen wie z.B. Kontaktverbot zur Schwester oder Handyverbot habe und ihr im Moment alles zu viel sei. All dies kann nicht das Unterlassen des Hinwirkens auf eine von allen Beteiligten als notwendig angesehene und C. zumutbare medizinische Abklärung bei einem Facharzt, die noch dazu schnellstmöglich von den Eltern in die Wege geleitet worden war, rechtfertigen.
91
Demzufolge hat das Jugendamt keine ordnungsgemäße Gefährdungseinschätzung durchgeführt. Zwar lag zweifelsohne eine Gefährdung von C.s Gesundheit und Entwicklung vor, die Ursachen, Hintergründe und Risikofaktoren wurden jedoch nicht ausreichend bzw. falsch ermittelt und bewertet.
92
2. Außerdem hat das Jugendamt durch die versäumte Einleitung eines Hilfeplanverfahrens sowohl den durch § 42 SGB VIII vorgesehenen Verfahrensablauf verletzt als auch die Verhältnismäßigkeit der Inobhutnahme fehlerhaft angenommen.
93
Erschwerend kommt in diesem Zusammenhang hinzu, dass die Kläger vorliegend mehrfach Hilfen beantragt haben. Das Verhalten der Kläger mag zwar gerade im Vorfeld und zu Beginn der Inobhutnahme nicht ganz eindeutig gewesen sein, die klare Bitte um Hilfe wurde jedoch jederzeit deutlich. Zum Termin beim Jugendamt am 2. Oktober 2017 kam es gerade dadurch, dass die Eltern mögliche Hilfen besprechen wollten. Im Schreiben vom 7. Oktober 2017 wurde nochmals ausdrücklich um ambulante Hilfe gebeten. Bei den Akten findet sich überdies eine Bestätigung, dass die Kläger am 10. Oktober 2017 persönlich einen Antrag auf Hilfen zur Erziehung nach dem SGB VIII gestellt haben.
94
Aus den Akten ist jedoch keine rechtzeitige und ordnungsgemäße Einleitung eines Hilfeplanverfahrens erkennbar. Auch nach der mündlichen Verhandlung bleibt unklar, was im Gespräch am 2. Oktober 2017 erfolgen sollte. Im Raum stand wohl der Vorschlag einer Krisenintervention/Familienintervention, wobei schon unklar bleibt, was diese Maßnahme genau beinhaltet und inwieweit dies den Klägern und C. erläutert wurde. Fest steht aber, dass zumindest zunächst keinerlei Hilfeplanung weiterverfolgt worden war. Bei den Akten befinden sich keine Antragsformulare, keine Schweigepflichtentbindungen und keine Dokumentation zu Aufklärungsgesprächen über Hilfemöglichkeiten. Auch zur Antragstellung am 10. Oktober 2017 findet sich kein Aktenvermerk o.ä. darüber, was genau passiert ist bzw. was im Nachgang dazu unternommen wurde. Die vorliegende Dokumentation der Gespräche mit den Eltern ist nicht ausreichend. Hier wurden lediglich die Gespräche kurz zusammengefasst. Die tatsächlichen Wünsche und Aussagen der Kläger lassen sich nicht nachvollziehen. Eine Stellungnahme des Jugendamts zum Hilfeplanverfahren liegt nicht vor.
95
3. Somit war die Inobhutnahme vom 11. Oktober 2013 an bereits wegen Verletzung der Verfahrensvorschriften des § 42 SGB VIII sowie aufgrund von Unverhältnismäßigkeit rechtswidrig. Das Gericht kann daher offenlassen, ob womöglich auch – zumindest zu einem folgenden Zeitpunkt – von der Ungeeignetheit der Unterbringung in der Schutzstelle M. auszugehen ist. Dass die Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme ab 11. Oktober 2013 zunächst nur bis 23. Oktober 2017 festgestellt wird, ist – wie oben dargestellt – der Unzulässigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage hinsichtlich des Folgezeitraums auf Grund der gerichtlich protokollierten Erklärung ihres Einverständnisses mit der Inobhutnahme geschuldet.
96
III. Vom 13. November 2017 bis 23. November 2017 war die Inobhutnahme ebenfalls aufgrund der Versäumnisse des Jugendamts bezüglich der Ermittlungen zur Gefährdungsabschätzung, der Einleitung eines Hilfeplanverfahrens und der damit verbundenen Unterlassung der Prüfung, ob die Inobhutnahme noch geeignet und verhältnismäßig war, rechtswidrig.
97
Dass zwischenzeitlich (23. Oktober 2017 bis 12. November 2017) ein Einverständnis der Eltern mit der Inobhutnahme bestand, ist insoweit unbeachtlich. Hierdurch wurde das Jugendamt nicht von der weiteren Prüfung der Gefährdungslage und des Hilfebedarfs etc. entbunden. Vielmehr hätte das Jugendamt schon gemäß dem ausdrücklichen Gesetzeswortlaut in § 42 Abs. 3 Satz 5 SGB VIII unverzüglich ein Hilfeplanverfahren einleiten müssen. Auch das wiederholte Bitten der Kläger um Hilfe zur Erziehung hätte endlich zur Einleitung eines Hilfeplanverfahrens führen müssen.
98
Hinzu kommen für den Zeitraum ab 13. November 2017 auch weitere Aspekte.
99
Die Glaubwürdigkeit C.s. hätte weiter leiden müssen, nachdem sie ihre Erzählungen zur häuslichen Gewalt durch den Vater kontinuierlich steigerte (vgl. „Nähere Erläuterungen der erlebten Gewalt aus Sicht der Jugendlichen C.“ vom 19.10.2017). Konsequenzen im Hinblick auf die Sicherheit der jüngeren Tochter der Kläger sowie auf eine Einschaltung der Polizei erfolgten nicht. Die Gefährdung C.s hätte somit nicht mehr so sehr mit deren Gewaltvorwürfen ihrem Vater gegenüber begründet werden dürfen, sondern weiteres Augenmerk hätte darauf gerichtet werden müssen, ob bei C. möglicherweise psychische Probleme vorlagen.
100
Außerdem hätte die Geeignetheit der Schutzstelle M. dringend in Zweifel gezogen werden müssen. Am 19. Oktober 2017 hatte ein Fachdienst starke körperliche Beschwerden und eine starke Belastung bei C. beschrieben, weshalb C. krank geschrieben werden sollte. Anfang November 2017 zeigte C. selbstverletzendes Verhalten in Form von Ritzen und äußerte Selbstmordgedanken i.w.S. Ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich also in kurzer Zeit merklich. Dementsprechend empfahl auch die Schutzstelle M. im Statusbericht vom 9. November 2017 stationäres Clearing in klinischem Setting, um den Bedarf zu bestimmen, in dessen Rahmen auch Elternarbeit angeboten werden sollte.
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Vor allem beachtlich war die Empfehlung des Kinder- und Jugendpsychiaters, Herrn G., der eine stationäre Abklärung in einer jugendpsychiatrischen Klinik in H. „so schnell wie möglich“ sowie eine sozialpädagogische Familienhilfe empfahl. Krisenintervention hielt er für eine gute Idee mit Anschluss einer ambulanten Hilfe zur Erziehung.
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Somit sah sich die Schutzstelle selbst als nicht geeignet an und wies das Jugendamt einmal mehr darauf hin, dass ein irgendwie gearteter Hilfebedarf bestand, der ein Hilfeplanverfahren als dringend erforderlich erscheinen ließ. Außerdem wies ein Facharzt darauf hin, dass ein Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik notwendig sei und weitere Jugendhilfemaßnahmen angezeigt seien. Die Einleitung eines Hilfeplanverfahrens erfolgte nicht. Stattdessen wollte das Jugendamt die Situation bis zum damals zunächst ungeklärten Zeitpunkt des Klinikaufenthalts unverändert belassen. Diese Absicht wird daraus erkennbar, dass das Jugendamt am 17. November 2017 das Familiengericht anrief, sowie dass sich in den Akten keinerlei Suche nach einer alternativen Einrichtung, wie z.B. die in der mündlichen Verhandlung diskutierte Clearingstelle M.R., ergibt. Die Suche nach einem Platz in einer anderen Einrichtung stellte sicherlich keine leicht lösbare Aufgabe dar, dennoch hätten Bemühungen unternommen und dokumentiert werden müssen, um C. in einer anderen, möglicherweise besser geeigneten Einrichtung als der, in der sich ihr Gesundheitszustand bis hin zu selbstverletzendem Verhalten verschlechtert hatte, unterzubringen.
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Alldem zufolge war die Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme auch zwischen 13. und 23. November 2017 festzustellen.
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C. Die weiteren Feststellungsanträge sind allesamt bereits unzulässig.
105
Gemäß § 43 VwGO kann durch Klage die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Als Rechtsverhältnis in diesem Sinne werden die rechtlichen Beziehungen angesehen, die sich aus einem konkreten Sachverhalt aufgrund einer diesen Sachverhalt betreffenden öffentlich-rechtlichen Norm für das Verhältnis mehrerer Personen untereinander oder einer Person zu einer Sache ergeben (z.B. BVerwG, BVerwGE 136, 54 Rn. 24). Keine Rechtsverhältnisse sind bloße Vorfragen oder einzelne Elemente von Rechtsverhältnissen, soweit sie nicht selbst den Charakter von Rechten oder Pflichten haben (Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 43 Rn. 15).
106
Erforderlich ist ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Mangels der unmittelbaren Durchsetzung des materiellen Rechts bedarf die Feststellungsklage dieser besonderen Rechtfertigung (Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 43 Rn. 29 m.w.N.).
107
Bei vergangenen Rechtsverhältnissen, also solchen, die sich zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bereits erledigt haben, stellt sich die Frage nach dem berechtigten Interesse an der baldigen Feststellung mit besonderer Schärfe. Hier setzt das berechtigte Interesse ähnlich wie bei der Fortsetzungsfeststellungsklage die Gefahr der Wiederholung oder die Berechtigung einer Rehabilitierung voraus (BVerwG, U.v. 29.4.1997 – 1 C 2/95 – juris Rn. 21; VGH BW, U.v. 24.11.1994 – 1 S 2909/93 – juris Rn. 36).
108
Die Absicht, eine Amtshaftungsklage zu erheben, die im Rahmen der Fortsetzungsfeststellungsklage grundsätzlich als besonderes Feststellungsinteresse herangezogen werden kann, kann hier jedoch kein schutzwürdiges Interesse begründen, da sich der Verwaltungsakt bereits vor Erhebung einer verwaltungsgerichtlichen Klage erledigt hat (st.Rspr.; vgl. nur BVerwG, U.v. 20.1.1989 – 8 C 30/87 – BVerwGE 81, 226; U.v. 27.3.1998 – 4 C 14/96 – BverwGE 106, 295, 298; BayVGH, B.v. 26.2.2013 – 7 ZB 12.2617 – juris Rn. 11). In diesem Fall kann der Betroffene nämlich sogleich das zuständige Zivilgericht anrufen, das auch für die Klärung öffentlich-rechtlicher Vorfragen zuständig ist (Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 113 Rn. 118).
109
Wie jeder Klageantrag muss auch ein Feststellungsantrag ausreichend bestimmt sein, vgl. § 82 Abs. 1 Abs. 2 VwGO. Das Gericht hat zwar die Pflicht, das klägerische Begehren erschöpfend zu ermitteln (vgl. BVerfG NVwZ 1992, 259, 260). Bleibt das klägerische Begehren dennoch unklar, so ist die Klage unter den Voraussetzungen des § 82 Abs. 2 VwGO aber unzulässig.
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Die Klage auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses ist unzulässig, soweit der Kläger seine Rechte durch Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann oder hätte verfolgen können (§ 43 Abs. 2 S. 1), sie ist also gegenüber diesen Klagearten subsidiär. In diesem Zusammenhang ist auch § 44a VwGO zu beachten, wonach Rechtsbehelfe gegen behördliche Verfahrenshandlungen nur gleichzeitig mit den gegen die Sachentscheidung zulässigen Rechtsbehelfen geltend gemacht werden können.
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Unter Beachtung dieser Ausführungen sind sämtliche Feststellungsanträge unzulässig, worauf das Gericht bereits in der mündlichen Verhandlung deutlich hingewiesen hatte, jedoch weder eine Rücknahme noch eine rechtliche Argumentation hierzu erfolgte.
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1. Der – erstmals in der mündlichen Verhandlung ergänzte – nicht nummerierte Antrag auf Feststellung, dass es das Jugendamt pflichtwidrig entgegen § 8a Abs. 1, Abs. 3 und 4 SGB VIII unterlassen habe, die ihm sich aufdrängende Überprüfung vorzunehmen und den Klägern völlig ungeeignete Hilfen angeboten habe, was später zu der rechtswidrigen Inobhutnahme geführt habe, ist aus mehreren Gründen unzulässig.
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Zum einen fehlt es ihm an der erforderlichen Bestimmtheit. Es bleibt auch nach der mündlichen Verhandlung unklar, welche „Überprüfung“ und welche „völlig ungeeigneten Hilfen“ gemeint sind. Aus dem Zusammenhang lässt sich allenfalls schließen, dass es um Unterlassungen im Zeitraum vor der Inobhutnahme gehen soll. Dann scheitert der Antrag aber zum anderen – sollte man ihn überhaupt auf ein der obigen Definition entsprechendes Rechtsverhältnis gerichtet ansehen – am fehlenden besonderen Feststellungsinteresse. Da es sich um ein vergangenes Rechtsverhältnis handelt, müsste eine Wiederholungsgefahr oder ein Rehabilitationsinteresse bzw. ein schwerwiegender Grundrechtseingriff in Grundrechte der Kläger vorliegen, was nicht der Fall ist. Vor der Inobhutnahme lässt sich keine Stigmatisierung der Kläger erkennen, die Wiederholung der Situation scheint angesichts der in der Zwischenzeit geänderten Umstände ausgeschlossen und Grundrechte der Kläger waren vor der Inobhutnahme noch nicht in erheblicher Weise betroffen. Im Übrigen scheitert ein Antrag auf Feststellung, dass den Klägern ungeeignete Hilfen angeboten wurden, daran, dass dieser Antrag subsidiär zu einer Klage auf Gewährung geeigneter Hilfen wäre.
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2. Der Antrag auf Feststellung, dass das Jugendamt – unter Verletzung seiner Verpflichtungen zum Sozialdatenschutz §§ 61 ff. SGB VIII – ohne die Kläger zu informieren Geheimgespräche mit der Schulpsychologin geführt habe, welche ihrerseits die ihr obliegende Verschwiegenheitsverpflichtung verletzt habe, ist ebenfalls unzulässig.
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Auch bei diesem Antrag bleibt unklar, welche Daten weitergegeben worden sein sollen und welche „Geheimgespräche“ gemeint sind, sodass der Antrag unbestimmt ist. Eine nähere Bestimmung ist auch in der mündlichen Verhandlung nicht erfolgt. Eine mögliche Verschwiegenheitsverletzung durch die Schulpsychologin kann im vorliegenden Verfahren gegen das Jugendamt ohnehin nicht geltend gemacht werden.
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3. Der Antrag, dass es das Jugendamt pflichtwidrig unterlassen habe, obwohl es aus § 35a Abs. 4 SGB VIII verpflichtet gewesen sei, Sorge dafür zu tragen, dass die psychische Situation der Tochter C. gemäß § 35a Abs. 1a SGB VIII von einem fachlich qualifizierten Arzt oder Psychologischen Psychotherapeuten abgeklärt wird, wird so verstanden, dass festgestellt werden soll, dass das Jugendamt die Einholung eines Gutachtens nach § 35a Abs. 1a SGB VIII pflichtwidrig unterlassen habe.
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Dies stellt eine Vorfrage zu einer Leistungsklage auf Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII dar, die von C. als Anspruchsinhaberin im Rahmen von Leistungen nach § 35a SGB VIII zu erheben gewesen wäre. Ein besonderes Interesse der Kläger an der Feststellung ist daneben nicht ersichtlich. Zudem waren die Kläger selbst umgehend bemüht, eine solche fachärztliche Abklärung einzuleiten, so dass ein paralleles Tätigwerden der Beklagten nicht veranlasst war.
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4. Der Antrag auf Feststellung, dass es das Jugendamt unterlassen habe, obwohl es aus § 35a Abs. 4 SGB VIII verpflichtet gewesen sei, zu prüfen, inwieweit bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 35a Abs. 1a SGB VIII nur solche Hilfen angeboten werden dürfen, welche in der Lage sind, notwendige Eingliederungshilfen (abgestimmt auf die psychischen Bedürfnisse des Kindes C.) zu gewährleisten (§ 35a Abs. 4 SGB VIII i.V.m. § 34 SGB VIII), ist vom Ziel her völlig unklar und damit wegen Unbestimmtheit, die auch in der mündlichen Verhandlung nicht aufgeklärt wurde, unzulässig. Insbesondere kann nicht erschlossen werden, um welche „Hilfen“ und um welche Zeiträume es geht. Im Übrigen ist die Auswahl von geeigneten Hilfen nach § 35a SGB VIII eine Verfahrenshandlung im Rahmen der Hilfegewährung nach § 35a SGB VIII, die gemäß § 44a VwGO nur gleichzeitig mit dem gegen die Sachentscheidung zulässigen Rechtsbehelf geltend gemacht werden kann.
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5. Der Antrag auf Feststellung, dass es das Jugendamt unterlassen habe zu prüfen, ob im vorliegenden Fall die Tatbestandsvoraussetzungen des § 27 SGB VIII i.V.m. § 34 SGB VIII überhaupt vorgelegen haben, lässt ebenfalls zeitlich und inhaltlich kein konkretes Ziel erkennen und ist damit auch nach der mündlichen Verhandlung unbestimmt und unzulässig. Sollte das Ziel die Feststellung, dass die Tatbestandvoraussetzungen für eine Hilfe zur Erziehung nach §§ 27, 34 SGB VIII vorlagen, sein, wäre vorrangig eine Leistungsklage auf Gewährung von Hilfe zur Erziehung zu erheben gewesen und ist die Feststellungsklage wegen Subsidiarität unzulässig.
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6. Die Zulässigkeit des Antrags auf Feststellung, dass die im Vorfeld der Inobhutnahme am 2. Oktober 2017 zwischen der Beklagten und den Klägern vereinbarten ambulanten Hilfen für die Tochter C. durch die Inobhutnahme rechtswidrig ausgesetzt worden seien, scheitern ebenfalls daran, dass vorrangig eine entsprechende Leistungsklage zu erheben gewesen wäre.
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7. Die beantragte Feststellung, dass die ab 2. Oktober 2017 durch die Beklagte erfolgte Unterbringung der Tochter C. in der Schutzstelle M. für die Tochter C. aufgrund der psychischen Vorerkrankung weder kindes-, alters- noch bedarfsgerecht gewesen sei und C. damit dauerhaft und im erheblichen Umfang psychisch und körperlich geschädigt habe und damit rechtswidrig gewesen sei, ist Teil des Antrags auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Inobhutnahme vom 2. Oktober 2017, die mit dieser Entscheidung im tenorierten Umfang erfolgt ist. Ein besonderes Interesse an einer Feststellung der genannten Pflichtverletzungen darüber hinaus ist nicht erkennbar. Der weitere Antrag auf Feststellung ist somit unzulässig.
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8. Gleiches wie unter Punkt 7. gilt für den Antrag auf Feststellung, die Beklagte habe es pflichtwidrig unterlassen, C. psychologisch und therapeutisch zu begleiten und zu unterstützen und während der Inobhutnahme in der Zeit vom 2. Oktober 2017 bis 23. November 2017 ihre Aufsichtspflichten über C. auszuüben, und auf Feststellung, dass die Beklagte ihre Aufsichtspflichten über C. in erheblichem Maße pflichtwidrig verletzt habe.
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D. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 188 Satz 2 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung – ZPO.