Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 18.11.2022 – Au 9 K 22.30990
Titel:

keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Irak)

Normenketten:
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsatz:
Eine Gruppenverfolgung von Jesiden durch den irakischen Staat oder den sog. IS ist gegenwärtig und in absehbarer Zukunft nicht beachtlich wahrscheinlich. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Irak, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (verneint), jesidische Volks- und Glaubensangehörige, keine Gruppenverfolgung jesidischer Volks- und Glaubensangehöriger, keine beachtliche Verfolgungsgefahr im Einzelfall aufgrund ebenfalls rückkehrpflichtiger Familienangehöriger, subsidiärer Schutz (verneint), Abschiebungsverbote (verneint), Jesiden, Flüchtlingseigenschaft, subsidiärer Schutz, Rückkehr im Familienverbund
Fundstelle:
BeckRS 2022, 45270

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.  

Tatbestand

1
Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die Gewährung subsidiären Schutzes bzw. hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten in den Irak bzw. einen anderen aufnahmebereiten Staat.
2
Die am ... in ... (Irak) geborene Klägerin ist irakische Staatsangehörige mit jesidischer Volks- und Religionszugehörigkeit.
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Ihren Angaben zufolge reiste die Klägerin erstmalig am 19. August 2021 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie unter dem 14. Oktober 2021 Asylerstantrag stellte. Eine Beschränkung des Asylantrags gemäß § 13 Abs. 2 Asylgesetz (AsylG) auf die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) erfolgte im Verfahren nicht.
4
Die persönliche Anhörung der Klägerin beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) erfolgte am 13. September 2022. Die Klägerin trug hierbei im Wesentlichen vor, sie habe den Irak verlassen, um ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern und um mit ihren in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Brüdern zusammenzuleben. Sie habe weder mit den irakischen Behörden noch der Polizei Probleme gehabt. Sie sei weder politisch aktiv, noch sei sie Mitglied einer staatlichen bzw. nichtstaatlichen oder in einer sonstigen politischen Organisation gewesen. Die Muslime hätten ihrer Familie das Leben schwer gemacht, sodass sie es nicht mehr hätten ertragen können. Muslime würden jesidische Glaubensangehörige oft angreifen und töten. Sie befürchte als Jesidin ebenfalls, irgendwann angegriffen zu werden. Sie und ihre Familie hätten das zwar bisher nicht erlebt, sie hätten jedoch Angst davor. Der Irak sei ein gefährliches Land. Man höre und sehe oft im Fernsehen, wie Leute im Irak getötet würden. Persönlich sei sie nie verfolgt oder bedroht worden. Auch sei sie keinen Übergriffen ausgesetzt gewesen. Sie habe nie die Schule besucht und habe nur der Mutter im Haushalt geholfen. Sie könne nur ihren Namen schreiben. Im Irak habe sie mit ihrem Bruder und ihren Eltern zusammengelebt. Ihre Schwester sei verheiratet und lebe bei den Schwiegereltern im Irak.
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Für den weiteren Vortrag der Klägerin wird auf die über die persönliche Anhörung gefertigte Niederschrift des Bundesamts Bezug genommen.
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Mit Bescheid des Bundesamts vom 21. September 2022 (Gz.: ...) wurden die Anträge der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. auf Asylanerkennung abgelehnt (Nrn. 1 und 2 des Bescheids). Nr. 3 des Bescheids bestimmt, dass der Klägerin auch der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt wird. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) liegen nicht vor (Nr. 4). In Nr. 5 wird die Klägerin aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde der Klägerin die Abschiebung in den Irak bzw. einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht. Nr. 6 des Bescheids ordnet das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristet es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
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Auf die Gründe des Bescheids des Bundesamts vom 21. September 2022 wird verwiesen.
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Der vorbezeichnete Bescheid wurde der Klägerin mit Postzustellungsurkunde am 27. September 2022 bekanntgegeben.
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Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 29. September 2022 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben und beantragt,
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1. Die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass die Klägerin die Voraussetzungen des subsidiären Schutzstatus erfüllt, hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen, hilfsweise das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben bzw. kürzer zu befristen.
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2. Den angefochtenen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. September 2022, Gz.:, aufzuheben, soweit er der o.g. Verpflichtung entgegensteht.
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Zur Begründung der Klage ist mit Schriftsatz vom 27. Oktober 2022 ausgeführt, dass die erschwerten Bedingungen der Arbeitssuche und -aufnahme in der Familie der Klägerin zur Armut geführt hätten. Hinzu kämen Sicherheitsbedenken durch die sich in der Vergangenheit ereigneten Verfolgungen und Ermordungen durch die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS). Die Klägerin habe aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Religionszugehörigkeit niemals eine Schule besuchen können. Lediglich eine verheiratete Schwester der Klägerin lebe noch im Irak. Verfolgungen von Jesiden durch den zuvor zurückgedrängten IS im Irak bzw. die Fortsetzung des ausgeübten Genozides seien höchstwahrscheinlich. Durch die jahrelange Stigmatisierung von Jesiden im Irak seien extremistische Strömungen im Land weit fortgeschritten. Der sich seit 2007 im Untergrund aufhaltende IS würde zudem stark radikalisieren. Die Klägerin sei eine junge ledige Frau, die im Falle einer Remigration in den Irak erheblichen Gefahren, insbesondere jedoch der Ausgrenzung, Gewalt und Verfolgung aufgrund ihres Geschlechtes ausgesetzt sei. Bei der jesidischen Klägerin lägen präsente und zukünftige Verfolgungshandlungen vor, welche die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertigten. Da es sich bei der Klägerin noch um eine ledige, äußerst junge Frau handle, die außerdem fernab jedweder Schulbildung aufgewachsen sei, sei ihr Gefahrenrisiko vor Verfolgung besonders hoch. Als alleinstehende Frau ohne männlichen Schutz habe die Klägerin bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG zu befürchten. Die Klägerin wäre im Falle einer Remigration in den Irak nicht in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, selbständig Eigentum zu mieten oder sich sicher allein zu bewegen. Die Situation der Klägerin sei durch Perspektivlosigkeit gekennzeichnet. Alle Angehörigen der Klägerin – mit Ausnahme einer verheirateten Schwester – lebten in der Bundesrepublik Deutschland. Alle Großeltern seien mittlerweile verstorben. Die Wohnung der Klägerin und dessen Familie im Irak sei verkauft worden, um die damalige Schleusung zu finanzieren. Auch sonst verfüge die Familie über keinerlei Eigentum im Irak. Die im Irak lebende, dort verheiratete Schwester sei nicht verpflichtet, die Klägerin bei sich dauerhaft aufzunehmen.
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Auf den weiteren Inhalt der Klagebegründungsschrift vom 27. Oktober 2022 wird ergänzend verwiesen.
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Das Bundesamt ist für die Beklagte der Klage mit Schriftsatz vom 6. Oktober 2022 entgegengetreten und beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wurde auf die angefochtene Entscheidung Bezug genommen.
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Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 21. Oktober 2022 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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Am 17. November 2022 fand die mündliche Verhandlung statt. Für den Hergang der Sitzung, in der die Klägerin informatorisch angehört wurde, wird auf das hierüber gefertigte Protokoll verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und auf die von der Beklagten vorgelegte Verfahrensakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage der Klägerin verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 17. November 2022 teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten ausweislich der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Die Beklagte ist zur mündlichen Verhandlung vom 17. November 2022 form- und fristgerecht geladen worden.
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Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Der mit der Klage angegriffene Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 21. September 2022 (Gz.: ...) ist rechtmäßig und nicht geeignet, die Klägerin in ihren Rechten zu verletzen. Die Klägerin besitzt keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG), auf Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) bzw. auf Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zur Begründung wird auf die umfassenden und zutreffenden Gründe des Bescheids des Bundesamts Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt.
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1. Die Klägerin besitzt keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 ff. AsylG.
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Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
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Die Tatsache, dass der Ausländer bereits verfolgt oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war, ist dabei ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, wenn nicht stichhaltige Gründe dagegensprechen, dass er neuerlich von derartiger Verfolgung bedroht ist. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dabei ist es Sache des Ausländers, die Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei genügt für diesen Tatsachenvortrag auf Grund der typischerweise schwierigen Beweislage in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
25
Wer bereits Verfolgung erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei der Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (kausal-) Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus (vgl. BVerfG, B.v. 12.2.2008 – 2 BvR 2141/06 – juris Rn. 20; VG Köln, U.v. 26.2.2014 – 23 K 5187/11.A – juris Rn. 26).
26
In Anwendung dieser rechtlichen Vorgaben ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen. Die Klägerin ist kein Flüchtling i.S.v. § 3 AsylG.
27
Eine begründete Furcht der Klägerin vor Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zur jesidischen Religion kann das erkennende Gericht nicht feststellen.
28
Der Klägerin ist zunächst nicht in Folge der allgemeinen Lage für Jesiden die Flüchtlingseigenschaft einzuräumen (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Die Auswertung der aktuellen Erkenntnismittel bestätigt die der aktuellen obergerichtlichen Rechtsprechung zugrundeliegende Einschätzung der gegenwärtigen Lage im Irak. Auf Grundlage dieses Lagebilds besteht gegenwärtig keine Gruppenverfolgung von Jesiden. Auch eine individuelle Verfolgung der Klägerin liegt nicht vor bzw. ist bereits nicht vorgetragen.
29
Der Einzelrichter geht in Einklang mit der obergerichtlichen Rechtsprechung davon aus, dass eine Verfolgung der Gruppe der Jesiden im Irak nicht erfolgt (vgl. zu den Anforderungen der Annahme einer Gruppenverfolgung VGH BW, U.v. 5.3.2020 – A 10 S 1272/17 – juris Rn. 23 ff.).
30
Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hat in seinen Urteilen vom 10.05.2021 (9 A 570.20.A und 9 A 1489/20.A, beide juris) im Einzelnen dargelegt, warum eine Gruppenverfolgung von Jesiden durch den irakischen Staat nicht anzunehmen ist (vgl. auch NdsOVG, B. v. 11.3.2021 – 9 LB 129/19 – sowie U. v. 22.10.2019 – 9 LB 130/19 –, vom 24.9.2019 – 9 LB 136/19 –, U. v. 7.8.2019 – 9 LB 154/19 – und vom 30.7.2019 – 9 LB 133/17 –; OVG Saarland, B. v. 8.11.2021 – 2 A 255/21 –; VGH BW, U. v. 7.12.2021 – A 10 S 2189/21 – jeweils juris). Es hat dabei insbesondere auf die verfassungsrechtliche Gleichberechtigung der Jesiden sowie Bestrebungen des irakischen Staates verwiesen, die (insbesondere als Nachwirkung der Verfolgung durch den sog. IS) in vielfacher Hinsicht sehr schwierige Lage der großen Mehrheit der Jesiden im Irak, vor allem in der Herkunftsregion des Klägers, zu verbessern (vgl. OVG NW, U. v. 10.5.2021 a. a. O. Rn. 50 ff.). Die von dem erkennenden Einzelrichter im vorliegenden Verfahren ausgewerteten Erkenntnismittel bestätigen diese Einschätzung. Insbesondere hat der irakische Staat am 1.3.2021 ein Gesetz verabschiedet, das die Gräueltaten des sog. IS an der Minderheit der Jesiden als Völkermord anerkennt und ihnen Schutz zuspricht. Überlebende von „IS“-Angriffen werden außerdem bei der Einstellung von 2% aller Stellen im öffentlichen Sektor bevorzugt. Im Mai 2021 hat der Ministerrat zudem eine Generaldirektion für die Angelegenheiten der jesidischen Überlebenden eingerichtet, die dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales untersteht, und der Ministerrat ernannte eine jesidische Juristin zur Generaldirektorin (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Irak, 15.10.2021, S. 103 ff.). Zuletzt hat das irakische Parlament im September 2021 weitere Regelungen zugunsten jesidischer Überlebender der Gewalttaten des sog. IS erlassen, die von Menschenrechtsorganisationen als wesentlichen Schritt hin zur Leistung von Reparationen angesehen werden (vgl. Amnesty International, Bericht vom 02.11.2021, abrufbar unter https://www.amnesty.org/en/latest/news/2021/11/iraq-yezidi-reparations-lawprogresswelcome-but-more-must-be-done-to-assist-survivors/). Auch in der Kurdischen Region im Irak (RKI) ist das Jesidentum als Religionsgemeinschaft anerkannt. Das Ministerium für Stiftungen und religiöse Angelegenheiten (MERA) der Kurdischen Regionalregierung (KRG) bezahlt zudem die Gehälter der Geistlichen der jesidischen Gemeinschaft und kommt für die Instandhaltung ihrer religiösen Stätten auf (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl a.a.O.).
31
Auch eine Gruppenverfolgung von Jesiden im Irak durch den sog. IS ist gegenwärtig und in absehbarer Zukunft nicht zu verzeichnen.
32
Der sog. IS hat in der Jahren 2014 bis 2017 in Teilen des irakischen Staatsgebiets die Gebietshoheit ausgeübt und in den von ihm beherrschten Gebieten Jesiden aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit systematisch in einer Art und Weise verfolgt, die u. a. vom UN-Menschenrechtsrat (und im März 2021 auch durch den irakischen Staat) als Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen qualifiziert wurden. Seitdem es im Dezember 2017 landesweit gelungen ist, dem sog. IS die Gebietshoheit wieder zu entziehen, fehlen diesem die militärischen Fähigkeiten zu einer Fortsetzung der genannten Gruppenverfolgung. Seitdem agiert der sog. IS aus dem Untergrund und versucht, vor allem durch gezielte Terroranschläge regional oder lokal Einflusssphären zu erhalten oder wiederzugewinnen („asymmetrische Kriegsführung“, vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 25.10.2021, S. 16), wobei der Erfolg dieser Bemühungen abhängig von den jeweiligen örtlichen Verhältnissen sehr unterschiedlich und hochvolatil ist. Insbesondere in Landesteilen, in denen das Gewaltmonopol des irakischen Staats in Konkurrenz mit anderen Akteuren, sei es mit örtlichen Milizen oder auch der RKI, tritt, besteht teilweise ein örtliches oder in sehr dünn besiedelten Bereichen auch regionales Sicherheitsvakuum, das Aktivitäten des sog. IS Raum gibt (vgl. hierzu auch die Karte in Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Irak, 15.10.2021, S. 20).
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Auch eine Gruppenverfolgung von Jesiden durch andere nicht-staatliche Akteure wie insbesondere durch die zahlreichen im Irak aktiven Milizen besteht nicht (vgl. im Einzelnen OVG NW, U. v. 10.5.2021 a.a.O. Rn. 202-220). Insbesondere in den Diensten der kurdischen Peschmerga finden sich außerdem in größerer Zahl auch Jesiden (vgl. VGH BW, U. v. 7.12.2021 – A 10 S 2189/21 – juris Rn. 27).
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Auch eine individuelle Verfolgung der Klägerin lässt sich nicht feststellen. Die von der Klägerin glaubhaft dargestellten Alltagsdiskriminierungen für jesidische Volks- und Glaubensangehörige erreichen nicht die für die Gewährung von Flüchtlingsschutz erforderliche Schwelle. Im Übrigen fehlt es an einer individuell gegen die Klägerin gerichteten Verfolgung aus Gründen des § 3d AsylG.
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Auch im Übrigen kann die Klägerin im Einzelfall zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 VwGO) keine (beachtliche) Gefahr einer flüchtlingsschutzrelevanten Verfolgung für den Fall einer Rückkehr in den Irak glaubhaft machen. Der Klägerin droht bei Rückkehr in ihr Heimatland keine geschlechtsspezifische Verfolgung i.S.d. § 3d Abs. 1 Nr. 4 a.E. AsylG.
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Nach § 3 Abs. 1 i.V. m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 a.E. AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft und von nichtstaatlichen Dritten i.S.d. § 3c Nr. 3 AsylG ausgeht. Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Nur wenn die Verfolgung, die sich gegen eine Gruppe von Menschen richtet, auf jeden Angehörigen der Gruppe zielt, in aller Regel also jeder Angehörige der Gruppe als vom Verfolgungsgeschehen in seiner Person betroffen anzusehen ist, liegt eine soziale Gruppe vor, die einer Gruppenverfolgung unterliegen kann (vgl. BVerwG, U.v. 20. Juni 1995 – 9 C 294.94 – juris m.w.N.). In Anwendung dieser Maßgaben ist eine Gruppenverfolgung der alleinstehenden Frauen ohne männliche schutzbereite Familienangehörige im Irak anzunehmen (so u.a. auch VG Hannover, U.v.24.3.2022 – 6 A 3392/17 – juris; VG Greifswald, U.v. 16.2.2022 – 6 A 894/20 HGW – juris; VG Oldenburg, U.v. 26.1.2022 – 15 A 1885/18 – juris; VG Regensburg, U.v. 25.10.2021 – RO 13 K 19.30604 – juris; BayVGH, B.v. 18.10.2021 – 5 ZB 21.30929 – juris zu VG Bayreuth, U.v. 18.5.2021 – B 3 K 20.30075 – juris; VG München, U.v.17.3.2020 – M 19 K 16.32656 – juris; VG Freiburg, U.v.7.9.2021 – A 3 K 294/19 – juris; verneinend u.a. VG Göttingen, U. v. 24. September 2020 – 2 A 1001/17 – juris). Alleinstehenden Frauen, die keine schutzbereiten männlichen Familienangehörige im Irak haben, droht landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifische Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, ohne dass der irakische Staat oder andere Organisationen sie schützen könnten.
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Das Verwaltungsgericht Münster (U.v. 5.2.2019 – 6a K 3033/18.A – juris Rn. 39 -
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69) führt dazu aus:
39
„Der Auskunftslage zufolge ist die irakische Gesellschaft von Diskriminierung der Frauen geprägt. Die Frauen werden in ihrer körperlichen und geistigen Integrität verletzt, sie werden gegenüber den Männern diskriminiert, sie werden in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit beschnitten und ihnen wird es sehr erschwert, alleine zu überleben und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, am öffentlichen Gesellschaftsleben teilzunehmen, sich zu bilden und entsprechend zu arbeiten, ihnen drohen Ehrenmorde und Zwangsverheiratung und ihnen droht Misshandlung, wenn sie sich nicht den strengen Bekleidungs-, Moral- und Verhaltensvorschriften in der Öffentlichkeit unterordnen. Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z.B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken. In der irakischen Verfassung ist zwar die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben, Art. 41 bestimmt jedoch, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Paragrafen als Grundlage für eine Re-Islamisierung des Personenstandsrechts und damit eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht. Frauen werden noch immer in Ehen gezwungen, rund 20% der Frauen werden vor ihrem 18. Lebensjahr (religiös) verheiratet, viele davon im Alter von 10-14 Jahren. 10% der irakischen Frauen sind Witwen, viele davon Alleinversorgerinnen ihrer Familien. Ohne männliche Angehörige erhöht sich das Risiko für diese Familien, Opfer von Kinderheirat und sexueller Ausbeutung zu werden. Das gesellschaftliche Klima gegenüber Geschiedenen ist nicht offen repressiv. Üblicherweise werden geschiedene Frauen in die eigene Familie reintegriert. Sie müssen jedoch damit rechnen, schlechter bezahlte Arbeitsstellen annehmen zu müssen oder als Zweit- oder Drittfrau in Mehrehen erneut verheiratet zu werden. Im Rahmen einer Ehescheidung wird das Sorgerecht für Kinder ganz überwiegend den Vätern (und ihren Familien) zugesprochen. Viele Frauen und Mädchen sind auch durch Flucht und Verfolgung besonders gefährdet. Es gibt vermehrt Berichte, dass minderjährige Frauen in Flüchtlingslagern zur Heirat gezwungen werden. Dies geschieht entweder, um ihnen ein vermeintlich besseres Leben zu ermöglichen oder um ihre Familien finanziell zu unterstützen. Häufig werden die Ehen nach kurzer Zeit wieder annulliert, mit verheerenden Folgen für die betroffenen Frauen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand Dezember 2018) vom 12. Januar 2019, S. 13, 14.) Alleine lebende Frauen sind im gesamten Irak, nicht allein unter Minderheitenangehörigen, ein völlig unübliches Phänomen – allenfalls findet man Witwen bzw. Familien, d.h. Frauen mit ihren Kindern, die im Zuge der diversen kriegerischen Auseinandersetzungen ihr männliches Familienoberhaupt verloren haben. Junge Frauen, auch aus wohlhabenden bzw. bildungsnahen Familien, leben in aller Regel bis zu ihrer Verheiratung bei den Eltern. Stirbt der Ehemann und ist die Frau noch jung, ihre Kinder noch klein, kehrt sie entweder in ihre eigene Familie zurück oder aber lebt bei der Familie ihres verstorbenen Mannes. Studiert eine Frau in einer anderen Stadt als der Heimatstadt der Eltern, so wird dies normalerweise nur gestattet, wenn sie dort bei Verwandten leben kann. Die permanente Kontrolle unverheirateter bzw. verwitweter oder geschiedener Frauen durch männliche Familienmitglieder ist zentraler Bestandteil irakischer Moral- und Ehrvorstellungen. Eine Frau, die alleine oder mit einem oder mehreren Kindern aus einer früheren Beziehung lebt, fällt nicht nur auf, sie wird vielmehr von breiten gesellschaftlichen Schichten gemieden bzw. sozial ausgegrenzt, von Männern wie auch von Frauen. Für eine alleinstehende Frau ohne verwandtschaftliche Kontakte und Unterstützung erweisen sich zahlreiche Alltagshandlungen wie etwa das Finden einer Wohnung als extrem schwierig. Je jünger die Frau ist, umso schwieriger ihre Lage: Zwar trifft die soziale Ausgrenzung auch ältere Frauen – selbst solche, deren Männer als „Helden“ gestorben sind – das Misstrauen gegenüber alleinlebenden Frauen wird jedoch mit zunehmendem Alter geringer, d.h. in dem Maß, in dem eine Frau nicht mehr als sexuell aktiv wahrgenommen wird. Hat eine Frau dieses Alter noch nicht erreicht, besteht zudem die Gefahr sexueller Übergriffe und Belästigungen durch Nachbarn etc. Alleinstehende Frauen ohne männlichen „Schutz“ sind dieser Gefahr in höherem Ausmaß ausgesetzt, als innerhalb der (Groß-) Familie lebende Frauen. Was die Arbeitsmarktsituation von Frauen anbelangt, so ist es bis heute in breiten Schichten der irakischen Gesellschaft, die kurdisch verwalteten Gebiete eingeschlossen, nicht üblich, dass Frauen einer Erwerbstätigkeit außerhalb ihres eigenen Hauses nachgehen (vgl. Europäisches Zentrum für kurdische Studien v. 27. November 2006, S. 14-16.) […] Der Schnellrecherche der Länderanalyse der schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 15. Januar 2015 zum Thema „Irak: Zwangsheirat“ ist im Hinblick auf alleinstehende Frauen zu entnehmen (vgl. Seiten 2 und 8), dass diese kaum die Möglichkeit hätten, sich dem Willen der Familie zu entziehen. Auch wenn sie nicht mit Ehrenmord bedroht würden, könnten junge Frauen in den seltensten Fällen alleine und außerhalb ihres Familienverbandes leben. Frauen, die alleine lebten, würden deshalb auch gemäß den Richtlinien von UNHCR zu den verletzlichsten Personengruppen zählen. Ohne die Unterstützung ihrer Verwandtschaft seien viele gezwungen, sich zu prostituieren, Ehen mit älteren Männern oder Zeitehen einzugehen. Schließlich weist auch das Britische Innenministerium in seinem Länderbericht betreffend den Irak von Juni 2015 (vgl. UK Home Office (June 2015), Country Information and Guidance – Iraq: humanitarian situation in Baghdad, the south (including Babil) and the Kurdistan Region of Iraq, S. 7 bzw. Unterpunkt 2.4.8 (in englischer Sprache)), darauf hin, dass einzelne Frauen und Kinder, die in den Irak zurückkehrten, aufgrund ihres Geschlechts und ihres Alters besonders anfällig seien und wahrscheinlich die Schwelle für die Zuerkennung internationalen Schutzes erreichen dürften, wenn sie keine Unterstützungsnetze hätten oder sich nicht finanziell unterstützen können.“
40
Diese Ausführung macht sich das Gericht zu Eigen. Hieraus lässt sich keine flüchtlingsrelevante Verfolgungsgefahr für die Klägerin ableiten, da sie bei gewöhnlicher Lebenserfahrung zusammen mit ihren ebenfalls in der Bundesrepublik Deutschland ausreisepflichtigen Familienangehörigen in den Irak zurückkehren wird. So ist insbesondere darauf zu verweisen, dass auch der ältere Bruder der Klägerin (Kläger im Verfahren Au 9 K 22.30989) vollziehbar ausreisepflichtig ist. Gleiches gilt für die Eltern der Klägerin. Damit gehört aber die Klägerin nicht zur Gruppe der alleinstehenden Frauen ohne männliche schutzbereite Familienangehörige i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbsatz AsylG.
41
Nach allem war der Antrag der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft deshalb abzulehnen.
42
2. Die Klägerin hat aber auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung eines subsidiären Schutzstatus i.S.v. § 4 AsylG. Ein solcher kommt insbesondere nicht im Hinblick auf die schlechte humanitäre Lage des Klägers bei einer Rückkehr in seine Herkunftsregion in Betracht. Insoweit fehlt es jedenfalls an einer Zurechnung der der Klägerin drohenden Gefahren zu einem Verfolgungsakteur i.S.v. § 4 Abs. 3 Satz 1 i.S.v. 3c AsylG.
43
Für eine mögliche Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte und hat die Klägerin auch nichts dargetan (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG).
44
Des Weiteren begründet die allgemeine humanitäre Situation im Irak nicht die Gefahr der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Es fehlt vorliegend bereits an dem erforderlichen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur, von dem insoweit eine zielgerichtete unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ausgehen müsste. Für die Zuerkennung subsidiären Schutzes infolge einer allgemein schlechten humanitären Lage bedarf es einer direkten oder indirekten Aktion eines staatlichen oder nichtstaatlichen Akteurs i.S.d. § 3c i.V.m. § 4 Abs. 3 AsylG – die ein auf die bewirkten Effekte gerichtetes Handeln oder gar Absicht jenseits nicht intendierter Nebenfolgen erfordert –, auf deren Basis der (nicht-)staatliche Akteur die unmenschliche Lebenssituation im Sinne einer Zurechenbarkeit zu verantworten hat (vgl. BVerwG, U. v. 20.5.2020 – 1 C 11.19 –, juris, Rn. 13 m.w.N.). Die im Irak vorherrschende insgesamt schwierige humanitäre Lage wird durch die langanhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen, die Sicherheitslage, die fragliche Staatlichkeit, die innerstaatlichen Territorialkonflikte, die fortbestehenden konfessionellen bzw. ethnischen Auseinandersetzungen, die weiterhin unbefriedigende wirtschaftliche Entwicklung und die herrschenden Umweltbedingungen beeinflusst und bestimmt. Es ist aber nicht festzustellen, dass einem der in Betracht kommenden staatlichen oder nichtstaatlichen Akteure im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung ein solcher Beitrag hieran anzulasten wäre, der nach den dargestellten Maßstäben zur Zurechenbarkeit im Rahmen der Gewährung subsidiären Schutzes führte. Es liegt fern, dass die die humanitäre Situation bestimmenden Umstände von einem solchen Akteur gezielt herbeigeführt worden wären bzw. aufrechterhalten würden.
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Es ist ferner auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Klägerin eine ernsthafte individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG). Dabei kann die Qualifizierung der fortbestehenden Auseinandersetzungen im Irak als ein solcher Konflikt dahinstehen, da jedenfalls keine beachtliche Schadenswahrscheinlichkeit für die Klägerin besteht. Gefahrerhöhende Umstände sind für die Klägerin nicht ersichtlich. Das quantifizierbare Risiko, allein durch die Anwesenheit im Nordirak Opfer eines Konflikts zu werden, ist daher so gering, dass nicht von einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgegangen werden kann. Auch eine wertende Gesamtbetrachtung der aktuellen Situation unter umfassender Berücksichtigung der weiteren, die Situation des Iraks bzw. der betroffenen Region kennzeichnenden Umstände, rechtfertigt keine abweichende Einschätzung im Vergleich zu dieser quantitativen Ermittlung des Tötungs- oder Verletzungsrisikos (vgl. zu diesen Kriterien EuGH, U.v. 10.6.2021 – C-901/19 –, juris, Rn. 43.).
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3. Abschiebungsverbote bestehen ebenfalls nicht.
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Gründe für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG sind nicht erkennbar. Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) – EMRK – ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Eine Verletzung des Art. 3 EMRK kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei „nichtstaatlichen“ Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein „verfolgungsmächtiger Akteur“ (§ 3c AsylG) fehlt, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Situation und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung sind (BVerwG, U. v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris, Rn. 12). Das für Art. 3 EMRK erforderliche „Mindestmaß an Schwere“ (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris, Rn. 13) kann erreicht sein, wenn die Personen ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern können, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen (vgl. BVerwG, B. v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 –, juris Rn.11). In seiner jüngeren Rechtsprechung stellt der Gerichtshof der Europäischen Union darauf ab, ob sich die betroffene Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, „die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“ (EuGH, U. v. 19.3.2019 – C-297/17 –, juris Rn. 90). Im Ergebnis kommt es auf eine Würdigung aller konkreten Umstände des Einzelfalls an (EGMR, U. v. 5.11.2019 – 32218/17-, NVwZ 2020, 538 Rn. 40; BVerwG, B. v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris Rn. 11), wobei neben der Bewertung der tatsächlichen Lage in der Heimatregion des Rückkehrers zahlreiche weitere Faktoren zu berücksichtigen sind, etwa dessen Alter, Geschlecht, Bildungsstand, Gesundheitszustand, Familienanschluss und mögliche beziehungsweise zu erwartende Unterstützungsleistungen.
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Es ist nicht ersichtlich, dass die Klägerin, wenn sie im Familienverbund mit ihrem Bruder und ihren Eltern in den Irak zurückkehrt, in extreme materielle Not geraten könnte. Die Versorgungslage im Irak ist grundsätzlich angespannt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 25.10.2021, S. 24). Die Erkenntnismittel beschreiben einen deutlichen Hilfsbedarf, aber keine flächendeckende Extremsituation in dem Sinne, dass die Menschen ihre elementarsten Bedürfnisse nicht mehr befriedigen könnten. Dies gilt bereits unabhängig von dem Lebensmittelsubventionsprogramm des irakischen Staates für Familien mit geringem Einkommen und den internationalen Unterstützungsleistungen an Rückkehrer (vgl. hierzu VG Berlin, U. v. 13.1.2022 – 29 K 120.17 A –, UA S. 10 f.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 25.10.2021, S. 25). Obwohl die Sicherheitslage im Irak prekär ist, liegt keine allgemeine Situation einer solchen extremen allgemeinen Gewalt vor, die es rechtfertigt, Rückkehrern generell Abschiebungsschutz gem. § 60 Abs. 5 AufenthG i.S.v. Art. 3 EMRK zu gewähren (vgl. NdsOVG, U.v. 24.9.2019 – 9 LB 136/19 – juris Rn. 128 ff).
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Der Klägerin ist es als volljähriger, erwerbsfähiger und gesunder Frau durchaus zumutbar, in ihr Heimatland zurückzukehren. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass die Klägerin keinen Schulbesuch vorweisen kann. Insoweit ist die Klägerin auf die Inanspruchnahme staatlicher Rückkehrhilfen zu verweisen. Damit liegt bei einer Rückkehr im Familienverbund kein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen eine Abschiebung „zwingend“ sind. Die Klägerin dürfte im Familienverbund aufgrund ihrer persönlichen Situation in der Lage sein, ihre elementaren Bedürfnisse trotz der im Allgemeinen schwierigen Bedingungen erneut sicherstellen zu können.
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Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist ebenso nicht feststellbar.
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Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Dieser Vorschrift setzt eine individuelle und konkrete zielstaatsbezogene Gefahr voraus (BVerwG, U.v. 25.11.1997 – 9 C 58.96 – juris Rn. 3 ff.). Die befürchtete Verschlechterung muss zu einer erheblichen Gesundheitsgefahr führen, also eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besondere Intensität erwarten lassen (vgl. BVerwG, B.v. 24.5.2006 – 1 B 118.05 – juris Rn. 4). Solange diese Grenzen nicht überschritten sind, ist es wiederrum unerheblich, sofern die medizinische Versorgung im Zielstaat nicht mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG).
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Anhand dieser Maßstäbe lässt sich aus dem klägerischen Vortrag nicht auf ein Abschiebungsverbot schließen. Der Klägerin hat im Verfahren keinerlei gesundheitliche Einschränkungen geltend gemacht. Sie hat sich selbst als gesund und erwerbsfähig bezeichnet.
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Damit liegen im Ergebnis keine Gründe vor, welche die hilfsweise beantragte Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Irak rechtfertigen.
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4. Die Ausreiseaufforderung und die gleichzeitig erfolgte Abschiebungsandrohung gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG, § 38 Abs. 1 AsylG begegnen keinen rechtlichen Bedenken. Gleiches gilt für die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf der Grundlage des § 11 Abs. 1, 2 AufenthG. Das Bundesamt hat insoweit das ihm zukommende Ermessen erkannt und dieses im Rahmen der eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung nach § 114 VwGO ordnungsgemäß ausgeübt.
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5. Nach allem war die Klage daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Als im Verfahren unterlegen hat die Klägerin die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.