Inhalt

OLG München, Hinweisbeschluss v. 19.07.2022 – 8 U 5204/21
Titel:

Kein Schadensersatzanspruch gegen Audi wegen des entwickelten, hergestellten und eingebauten 3,0-Liter-Motors (hier: Audi A6 Avant 3.0 TDI)

Normenketten:
BGB § 445a, § 823 Abs. 2, § 826
VO (EG) Nr. 715/2007 Art. 5 Abs. 2
RL 2007/46/EG Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1, Art. 46
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
AEUV Art. 267
ZPO § 148, § 522 Abs. 2
Leitsätze:
1. Vgl. zu 3,0 Liter-Motoren von Audi mit unterschiedlichen Ergebnissen auch: BGH BeckRS 2021, 37683; BeckRS 2022, 21374; OLG München BeckRS 2022, 43580; BeckRS 2023, 5894; OLG Nürnberg BeckRS 2023, 5896; BeckRS 2023, 5895; OLG München BeckRS 2022, 36080 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1); OLG Bamberg BeckRS 2022, 28703 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1) sowie OLG Brandenburg BeckRS 2021, 52227 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1). (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine temperaturabhängige Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster), die im Grundsatz auf dem Prüfstand in gleicher Weise wie im Fahrbetrieb auf der Straße arbeitet, ist nicht mit einer Prüfstandserkennungssoftware gleichzusetzen, auch wenn die AGR nur bei Außentemperaturen zwischen 15°C und 33°C in vollem Umfang stattfindet und außerhalb dieser Bedingungen deutlich reduziert wird. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
3. Auch bei einem Audi mit einem Dieselmotor des Typs V6 3.0 TDI EU6 können wesentliche Umstände, die den Vorwurf der Sittenwidrigkeit im Hinblick auf die Entwicklung und Implementierung einer unzulässigen Abschalteinrichtung tragen, bis zum maßgeblichen Zeitpunkt des Fahrzeugerwerbs durch den Käufer (hier: Juni 2020) entfallen und damit das Verhalten der Herstellerin mit einer Täuschung nicht mehr gleichzusetzen sein. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
4. Der Fahrzeughersteller unterliegt wegen etwaiger Aufwendungen des Fahrzeugverkäufers im Rahmen der Gewährleistung gem. § 445a BGB dem Rückgriff des Händlers, hat also wirtschaftlich die Folgen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen ggf. voll und alleine zu tragen, was ausreichenden Anreiz bietet, die Unionsvorschriften penibel einzuhalten, so dass es auch aus Gründen der „Äquivalenz und der Effektivität“ europarechtlich nicht noch zusätzlich der Begründung einer auf Rückabwicklung des Kaufvertrags gerichteten unmittelbaren Fahrlässigkeitshaftung aus § 823 Abs. 2 BGB gegen den Fahrzeughersteller bedarf. (Rn. 55 – 56) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, 3,0-Liter-Motor, EA896Gen2, EA897, Audi, unzulässige Abschalteinrichtung, Thermofenster, Prüfstandserkennungssoftware, (kein) Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrages, Schlussanträge des Generalanwaltes
Vorinstanz:
LG Passau, Urteil vom 02.07.2021 – 1 O 220/21
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Beschluss vom 25.08.2022 – 8 U 5204/21
Fundstelle:
BeckRS 2022, 45192

Tenor

I. Der Senat beabsichtigt, die Berufung der Klagepartei gemäß § 522 Abs. 2 ZPO als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.
II. Die Klagepartei erhält Gelegenheit, sich zu I. binnen 3 Wochen ab Zustellung dieses Beschlusses zu äußern.
III. Binnen derselben Frist können sich alle Beteiligten auch zum Streitwert des Berufungsverfahrens äußern, den der Senat beabsichtigt, auf bis zu 19.000,- € festzusetzen.

Entscheidungsgründe

I.
1
Nach den landgerichtlichen Feststellungen erwarb die Klagepartei am 03.06.2020 von Privat einen gebrauchten Audi A6 Avant 3.0 TDI, EU 6, (EZ: 17.02.2017) für 16.850,- €, in dem sich ein Motor des Typs 3,0 Liter V 6 TDI mit 160 kW befindet. Im streitgegenständlichen Motor ist ein Thermofenster verbaut.
2
Die Klagepartei behauptet, dass der klägerische Motor vom sog. „Dieselskandal“ betroffen sei. In dem Fahrzeug sei ein Dieselmotor der Baureihe EA 897 (EU 6) verbaut, in dem mehrere unzulässige Abschalteinrichtungen (unzulässige Zykluserkennung zur Prüfstandoptimierung; Thermofenster) verbaut seien. Das Kraftfahrtbundesamt (KBA) habe bei Überprüfung des streitgegenständlichen Fahrzeugs die unzulässigen Abschalteinrichtungen festgestellt und einen verbindlichen Rückruf zur Überarbeitung der Motorsteuerungssoftware angeordnet. Das Rückrufschreiben sei lediglich als „freiwillige Servicemaßnahme Software-Update“ deklariert worden. Durch die unzulässigen Abschalteinrichtungen würde bewirkt, dass das Fahrzeug die für den Fahrzeugtyp geltenden gesetzlichen Grenzwerte für den Ausstoß von NOx im normalen Straßenbetrieb überschreite. In der strategischen Entscheidung zum Einsatz der unzulässigen Abschalteinrichtungen aus Gründen der Gewinnmaximierung durch Täuschung des KBA zur Erlangung der EG-Typengenehmigung liege auch eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Klagepartei. In Kenntnis dieser Umstände hätte sie das Fahrzeug nicht gekauft.
3
Die Beklagte hat eingewandt, die Klagepartei weder getäuscht noch sittenwidrig geschädigt zu haben. Im streitgegenständlichen Fahrzeug sei kein Dieselmotor der Baureihe EA 897 (EU 6) verbaut, sondern einer des Typs EA 896 Gen. 2 (V6 TDI EU 6) mit 160 kW, für den es keinen verbindlichen Rückruf des KBA gebe. Bei dem aus Motorschutzgründen implementierten Thermofenster handele es sich nicht um eine unzulässige Abschalteinrichtung.
4
Die Klagepartei hat erstinstanzlich beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an sie 16.248,51,- € nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 1.003,40 € nebst Zinsen zu zahlen und ferner festzustellen, dass sich die Beklagte in Annahmeverzug befinde.
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Das Landgericht hat die Klage abgewiesen.
6
Ein Schadensersatzanspruch wegen sittenwidriger Schädigung gemäß § 826 BGB bestehe vorliegend nicht. Die Klagepartei habe bereits die konkrete, spezifizierte Baureihe des in ihrem Fahrzeug tatsächlich verbauten Dieselmotors nicht schlüssig dargelegt und unter Beweis gestellt. Die Beklagte habe bestritten, dass ein Motor des Typs EA 897 verbaut sei, wie die Klagepartei behaupte; vielmehr sei der Motortyp EA 896 Gen. 2 eines 3,0 Liter V 6 TDI Dieselmotors verbaut (EU 6 mit 160 kW). Für diesen gebe es keine verbindliche Rückrufanordnung des KBA. Entgegen der Auffassung der Klagepartei gebe es auch keinen tragfähigen Anhaltspunkt dafür, dass der streitgegenständliche Fahrzeugmotor tatsächlich von einem Rückruf betroffen sei. In der in der Klageschrift wiedergegebenen Auflistung des KBA über betroffene Fahrzeuge der Beklagten fehle es an einer Übereinstimmung zwischen dem in der „Tabelle 2“ der Klageschrift (dort S. 21) aufgeführten Fahrzeuge vom Typ Audi A6 mit dem Motorkennbuchstaben CRT und dem klägerischen Fahrzeug mit dem Kennbuchstaben CTCC (Zulassungsbescheinigung Teil I, Anl. K 13). Es verbiete sich, von der Betroffenheit anderer Fahrzeugtypen der Beklagten darauf zu schließen, dass daher auch im streitgegenständlichen Motor eine Zykluserkennung enthalten sei. Eine temperaturgesteuerte Abschalteinrichtung, wie das implementierte Thermofenster, die vom Grundsatz her im normalen Fahrbetrieb in gleicher Weise arbeite wie auf dem Prüfstand und bei welcher Motorschutzgesichtspunkte ernsthaft erwogen werden könnten, könne bei Fehlen konkreter Anhaltspunkte, die die Klagepartei jedoch nicht vorgetragen habe, nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass die Mitarbeiter der Beklagten in dem Bewusstsein agiert hätten, möglicherweise eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden. Vielmehr müsse hier eine möglicherweise falsche, aber dennoch vertretbare Gesetzesauslegung und -anwendung durch die Beklagte in Betracht gezogen werden. Es fehle daher auch an einem Schädigungsvorsatz.
7
Hiergegen wendet sich die Klagepartei mit ihrer Berufung, mit welcher sie ihre erstinstanzlichen Anträge weiterverfolgt.
II.
8
Der Senat beabsichtigt, die Berufung als unbegründet zurückzuweisen, da er einstimmig davon überzeugt ist, dass diese offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Senats nicht erfordern und eine mündliche Verhandlung nicht geboten ist.
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Die Entscheidung des Landgerichts hält den von der Berufung erhobenen Einwendungen ausgehend von der aktuellen Rspr. des BGH stand.
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1) Vorauszuschicken ist, dass der Senat bezüglich Vorbringens in der Berufungsbegründung, das sich im Ersturteil so nicht findet, davon ausgehen muss, dass es im Berufungsverfahren neu ist und schon mangels entsprechender Berufungsrüge i.S.v. § 520 III Nr. 4 ZPO dort nicht mehr gem. § 531 II ZPO zugelassen werden kann und deshalb auch nicht mehr zugelassen wird.
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Ferner sind pauschale Bezugnahmen auf erstinstanzlichen Vortrag bekanntermaßen unzulässig (vgl. z.B. BGHZ 35, 103; BGH NJW 1998, 155; Thomas/Putzo ZPO 25. Aufl., Rn.2 vor § 284 ZPO).
12
Dessen ungeachtet ist die Berufung aber auch sonst erfolglos.
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2) Eine Haftung der Beklagten gem. §§ 826, 31 BGB bzw. § 831 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung besteht offenkundig nicht.
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(1) Das Vorliegen einer sog. Prüfstanderkennungssoftware im oben darlegten Sinn hat das Landgericht nicht festgestellt und musste es nicht feststellen.
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a) Eine entsprechende Haftung setzt zunächst hinreichend konkreten Vortrag sowie Darlegung unstreitiger oder nachgewiesener Anhaltspunkte dafür voraus, dass eine evident unzulässige Prüfstanderkennungssoftware im Sinne einer Umschaltlogik oder eine andere verwaltungsrechtlich unzulässige Abschalteinrichtung im streitgegenständlichen Fahrzeugmotor verbaut ist, und im letzteren Fall zugleich Hinweise auf besondere Umstände i.S.d. Rspr. des BGH vorliegen, die das Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen (vgl. Senat, Hinweisbeschluss vom 01.03.2021, Endbeschluss vom 08.04.2021, Gz. 8 U 4122/20, veröffentlicht in Beck-Online und Juris, NZB BGH Az. VII ZR 453/21 zurückgenommen).
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b) Hieran fehlt es vorliegend bereits, sodass das Landgericht zutreffend ohne Beweiserhebung abgewiesen hat.
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Ausweislich des landgerichtlichen Urteils hat die Klagepartei das Vorliegen mehrerer unzulässiger Abschalteinrichtungen im angeblich verbauten Motor EA 897 (EU 6) behauptet. So verfüge der Dieselmotor über eine unzulässige Zykluserkennung, die den NOx-Ausstoß im Prüfstand bei Erkennen des Testlaufs optimiere. Darüberhinaus handele es sich auch bei dem implementierten Thermofenster um eine unzulässige Abschalteinrichtung.
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Eine temperaturabhängige Steuerung des Emissionskontrollsystems, die im Grundsatz auf dem Prüfstand in gleicher Weise wie im Fahrbetrieb auf der Straße arbeitet – wie das unstreitig implementierte Thermofenster –, ist indes nicht mit einer solchen gleichzusetzen (BGH, Beschluss vom 19.01.2021 – VI ZR 433/19). Dies ist auch dann noch der Fall, wenn die AGR nur bei Außentemperaturen zwischen 15°C und 33°C in vollem Umfang stattfindet und außerhalb dieser Bedingungen deutlich reduziert wird, und selbst dann noch, wenn nur unter den für den Prüfzyklus maßgebenden Bedingungen (Umgebungstemperatur, Luftfeuchtigkeit, Geschwindigkeit, Widerstand etc.) die Rate der AGR im normalen Fahrbetrieb derjenigen auf dem Prüfstand entspricht (BGH, Beschluss v. 09.03.2021 – VI ZR 889/20).
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Auch trägt die Berufung nicht vor, dass an die weitere, im streitgegenständlichen Motor angeblich verbaute Abschalteinrichtung in Form einer Prüfstanderkennung eine Funktion geknüpft ist, die bei Erkennen des Prüfstands in einen – sauberen Modus (Modus 1) – schaltet, außerhalb des Prüfstands hingegen in einen unsauberen Modus (Modus 2) umschaltet, wie bei dem Dieselmotor EA 189 der VW AG. Vielmehr führt sie lediglich aus, dass bei Erkennen des Prüfstands der Abgasausstoß, insbesondere in Bezug auf Stickoxid reduziert werde. Dass an Parameter angeknüpft wird, die regelmäßig, aber nicht ausschließlich auf dem Prüfstand vorkommen, genügt für das Vorliegen einer evident unzulässigen Prüfstanderkennungssoftware bzw. Umschaltlogik danach wohl nicht.
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c) Jedenfalls fehlt es am Aufzeigen unstreitiger oder nachgewiesener Anhaltspunkte für den Verbau unzulässiger Abschalteinrichtungen in Form einer Motorsteuerungssoftware zur Prüfstandoptimerung sowie eines Thermofensters.
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aa) Darlegung und Nachweis von Anhaltspunkten für das Vorliegen einer Prüfstanderkennungssoftware oder sonst unzulässigen Abschalteinrichtung müssen nach st. Rspr. des Senats grundsätzlich konkret motorbezogen sein; ein entsprechender Generalverdacht gegen eine ganze Motorenklasse – hier gegen alle 3-Liter-Motoren der Beklagten besteht danach grundsätzlich nicht (Beschluss v, 29.08.2019, Az. 8 U 1449/19, WM 2019, 1937, Nichtzulassungsbeschwerde vom BGH mit Beschluss v. 15.09.2020, Gz. VI ZR 389/19, ohne weitere Begründung zurückgewiesen). Das ergibt sich vorliegend schon daraus, dass auch das KBA nicht etwa alle 3-Liter Motoren der A. AG pauschal beanstandet hat, sondern nur bestimmte 3-Liter Motoren mit konkret bezeichneten Motorkennbuchstaben (MKB; vgl. die „Liste der betroffenen Fahrzeugvarianten“ des KBA mit Stand 13.01.2022 unter: https://www.kba.de/DE/Marktueberwachung/Abgasthematik/uebersicht2_p.pdf? blob=publicationFile& v=7). Soweit die Klagepartei pauschal vorträgt, dass die Beklagte in ihren Fahrzeugen vom Typ A4 und A6 bereits ab dem Modelljahr 2004 und bei nahezu allen anderen Fahrzeugtypen der Mittel- und Oberklasse ab den Modelljahren 2007/2008 jedenfalls noch bis zu den Modelljahren 2017 bzw. 2018 durchgängig verbotene Abschalteinrichtungen zum Einsatz gebracht habe (BB S. 12), ist dieser Vortrag schon deshalb bereits nicht zielführend.
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Bei den Audi 3-Liter-Motoren besteht ferner die Besonderheit, dass es sich bei den von den Parteien im Streitfall verwendeten Motoren-Bezeichnungen EA 897/896 um rein interne Bezeichnungen der A. AG handelt, während es sich bei den offiziellen Motorkennbuchstaben (MBK), wie sie vom KBA in seiner veröffentlichten „Liste der betroffenen Fahrzeugvarianten“ verwendet werden, um Buchstabencodes handelt, sodass für die Darlegung, dass der jeweilige Motor ggfs. auch in einem anderen Fahrzeug (vgl. dazu Beschluss vom 28.01.2020 – VIII ZR 57/19, zum Daimler-Motor OM 651) – von einem Rückruf wegen einer angeblichen Prüfstanderkennungssoftware betroffen ist, klägerseits auf diese offiziellen Buchstabencodes hätte abgestellt werden müssen. Dies wäre der Klagepartei auch ohne Weiteres möglich gewesen, da MBK ein bereits Mitte der 1960er Jahre entwickeltes Kennzeichnungsschema ist, um die verschiedenen Typen von Motoren eindeutig voneinander zu entscheiden. Die MBK werden der fortlaufenden Motornummer vorangestellt und in den Motorblock eingestanzt (vgl. Wikipedia unter „Motorkennbuchstaben“); das hätte somit klägerseits ohne Weiteres selbst festgestellt und vorgetragen werden können. Mit ihrem Einwand, dass der Motortyp in keiner der der Klagepartei vorliegenden Dokumentationen enthalten sei, dringt die Berufung daher nicht durch (BB S. 10).
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Das Landgericht hat im Übrigen unter Verweis auf die genannte Liste des KBA festgestellt, dass in der Zulassungsbescheinigung des streitgegenständlichen Fahrzeugs die MKB CTCC angegeben seien (Anl. K 13, Teil I), die jedoch keine Übereinstimmung mit den laut „Tabelle 2“ (der Klageschrift, S. 21) nach Angaben des KBA betroffenen Fahrzeugen der Beklagten des Typs A6 mit den MKB CRT aufweisen würden.
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bb) Vor diesem Hintergrund ist auch der weitere Einwand der Klagepartei, wonach das Landgericht Chemnitz vom 16.08.2021 (Az. 4 O 142/21) nach Erholung eines Sachverständigengutachtens zu dem im dortigen Verfahren streitgegenständlichen baugleichen Motor, für den gleichfalls bisher kein Rückruf des KBA bestehe, angenommen habe, dass sich darin gleichfalls eine illegale Abschalteinrichtung befinde, sodass zwischen den Motortypen EA 897 bzw. EA 896 daher nicht zu differenzieren sei, nicht zielführend, da maßgeblich nicht die interne Motorenbezeichnung, sondern die MKB sind. Dass die MKB des dort verfahrensgegenständlichen Motors mit denen des streitgegenständlichen Motors übereinstimmen würden, wurde klägerseits aber nicht vorgetragen. Aus der Entscheidung des LG Chemnitz kann die Klagepartei daher für sich nichts herleiten. Einer Beweiserhebung durch Erholung eines Sachverständigengutachtens bzw. der Verwertung des im dortigen Verfahren erholten Sachverständigengutachtens, wie von der Klagepartei beantragt (BB S. 4), bedurfte es daher nicht.
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cc) Soweit die Klagepartei darauf verweist, dass die Beklagte gegenüber den amerikanischen Umweltschutz- und Strafverfolgungsbehörden im Jahr 2015 selbst eingeräumt habe, dass sämtliche von ihr hergestellte Motoren mit 3 Liter Hubraum von den Manipulationen betroffen seien (BB S. 5, Anl. K 12), kann sie daraus gleichfalls nichts für sich herleiten. Dies gilt bereits deshalb, weil der europäische Markt bekanntermaßen anderen Regularien unterliegt. Zudem ist dem Vortrag der Berufung schon nicht zu entnehmen, dass und inwieweit dort eine Prüfstanderkennungssoftware, entsprechend der im VW-Motor EA 189, beanstandet worden wäre. Vielmehr heißt es in der von der Berufung zitierten Stelle nur:„…dass drei gesonderte Emissionskontrollsysteme in den 3,0 Liter-Motoren gegenüber den US-Behörden nicht offengelegt worden waren ..Eine davon ist nach anwendbaren US-Recht als Abschalteinrichtung anzusehen“ (BB S. 6).
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Auch die weiteren Ausführungen, dass nicht nachvollziehbar sei, weshalb das Eingeständnis der Beklagten in den USA, wonach sämtliche 3 Liter-Motoren von Manipulationen betroffen seien, in Europa für einzelne Modellreihen gelten nicht gelten solle, stellen aus den dargelegten Gründen daher nur einen so nicht gerechtfertigten Generalverdacht dar. Aus denselben Gründen stellt daher der klägerische Vortrag, dass sowohl das Vorgänger- als auch das Nachfolgemodell mit entsprechender Motorisierung Gegenstand eines Rückrufs wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung gewesen sei, keinen greifbaren Anhaltspunkt dar, auf dem die Vermutung gründe, dass daher auch im 3 Liter-Dieselmotor des klägerischen Fahrzeugs eine solche verbaut sei (BB S. 11).
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dd) Soweit die Berufung aus Anl. K 12 zitiert (BB S. 7 ff.), wonach die Beklagte zur Einhaltung der europäischen Emissionsstandards eine Abschalteinrichtung entwickelt habe, die erkennen konnte, wann das Fahrzeug getestet wurde und in diesem Zeitraum die Treibstoffeinspritzung während des Tests abstellte, um sie anschließend während normaler Fahrtbedingungen wieder zu aktivieren (sog. Akustikfunktion), und von 2004- 2008 3,0 Liter-Dieselmotoren mit dieser Funktion auf dem europäischen Markt eingeführt habe, ist auch dieser Einwand nicht zielführend, da das klägerische Fahrzeug erst Ende 2014/Anfang 2015 (EZ: 25.01.2015) produziert wurde. Dass die Beklagte diese Funktion auch später noch in sämtlichen 3,0 Liter-Dieselmotoren verbaut hätte, hat die Klagepartei nicht vorgetragen. Dagegen spricht bereits, dass nicht sämtliche 3 Liter-Motoren von einem Rückruf betroffen sind (s.o.).
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Dass danach ein verpflichtender Rückruf des KBA wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung bzw. gar einer evident unzulässigen Prüfstanderkennungssoftware für das klägerische Fahrzeug existieren würde, hat die Klagepartei schon nicht vorgetragen. Vielmehr hat sie nach den Feststellungen des Landgerichts lediglich behauptet, dass ein als „freiwillige Servicemaßnahme Software-Update“ bezeichneter verbindlicher Rückrufbescheid des KBA vorliege. Die Beklagte hat hierzu ausgeführt, dass sie in Abstimmung mit dem KBA eine freiwillige Serviceaktion für bestimmte Fahrzeuge mit einem V6- und V8-TDI-Motor angeboten habe. Diese Maßnahme sei im Rahmen des Diesel-Gipfels 2017 gegenüber der Bundesregierung zugesagt worden, um aktiv einen Beitrag zur Verbesserung der Emissionen speziell im innerstädtischen Straßenverkehr zu leisten. Die im Rahmen der freiwilligen Serviceaktion erfolgende Aktualisierung der Software unterscheide sich daher maßgeblich von Software-Updates aufgrund der Anordnung einer nachträglichen Nebenbestimmung zur EG-Typgenehmigung durch das KBA,die verpflichtend durchzuführen sei. Ferner hat sie unter Verweis auf eine amtliche Auskunft des KBA gegenüber dem OLG Hamm (Az. I-22 U 28/20) vom 25.08.2020 (Anl. BE 2) vorgetragen, dass das KBA darin in Bezug auf einen – gleichfalls nicht von einem verpflichtenden Rückruf betroffenen – VW Touareg V 6-TDI EU 5, bestätigt habe, dass „freiwillige Maßnahmen“ im Rahmen des Nationalen Forum Diesel nur bei Fahrzeugen durchgeführt würden, bei deren amtlicher Untersuchung keine unzulässigen Abschalteinrichtungen festgestellt worden seien. Bei freiwilligen Servicemaßnahmen bestünden daher keine Anhaltspunkte für das Vorhandensein von unzulässigen Abschalteinrichtungen. Angesichts dieser grundlegenden Auskunft des KBA zu freiwilligen Servicemaßnahmen der Beklagten, kann aufgrund der für das klägerische Fahrzeug vorgesehenen freiwilligen Servicemaßnahme gleichfalls nicht auf das Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung bzw. gar einer evident unzulässigen Prüfstanderkennungssoftware im klägerischen Fahrzeugmotor geschlossen werden kann.
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(2) Für das Vorliegen anderer verwaltungsrechtlich unzulässiger Abschalteinrichtungen bedarf die Annahme von Sittenwidrigkeit, wie ausgeführt, zusätzlicher Umstände, die hier gleichfalls nicht aufgezeigt wurden.
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Deshalb traf die Beklagte auch insoweit keine weitere sekundäre Darlegungslast und kann die Unzulässigkeit des verbauten Thermofensters sogar unterstellt werden, d.h. die Ausführungen der Berufung, nicht die Beklagte, das KBA oder eine Strafverfolgungsbehörde hätten über die Zulässigkeit einer Abschalteinrichtung zu entscheiden, sind ohne Relevanz.
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(a) Der BGH hat dabei erst kürzlich bezüglich des Thermofensters bekräftigt, dass der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit jedenfalls voraussetzt, dass die seitens der Beklagten handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems im Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen (Leitsatz BGH, Urt. v. 16.09.2021 – VII ZR 190/20).
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(b) Der BGH hat weiter auf den Bericht der vom Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur eingesetzten Untersuchungskommission V. verwiesen, nach dem Thermofenster von allen Autoherstellern eingesetzt und mit dem Erfordernis des Motorschutzes begründet würden; insoweit sei ein Verstoß betreffend die Auslegung der Ausnahmevorschrift des Art. 5 II S.2 a VO (EG) Nr. 715/2007 nicht eindeutig (vgl. BMVI, Bericht der Untersuchungskommission V., Stand April 2016). Eine u.U. nur fahrlässige Verkennung der Rechtslage genüge aber für die Feststellung der besonderen Verwerflichkeit des Verhaltens der Beklagten nicht (BGH, Urt. v. 16.09.2021 – VII ZR 190/20, Rz 31 ff.).
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Die Beklagte hat vorgetragen, das Thermofenster aus Gründen des Motor- bzw. Bauteilschutzes für gerechtfertigt gehalten zu haben. Auf eine unvertretbare Gesetzesauslegung als Hinweis auf das erforderliche Unrechtsbewusstsein seitens der Beklagten kann sich die Klagepartei bzw. Berufung dabei aus dargelegten Gründen schon nicht stützen.
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(c) Aus einer etwaig unterbliebenen Offenlegung der genauen Wirkungsweise des Thermofensters folgen außerdem nach höchstrichterlicher Rspr. ebenfalls noch keine Anhaltspunkte dafür, dass für die Beklagte tätige Personen im Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden. Selbst wenn die Beklagte dabei – erforderliche – Angaben zu Einzelheiten der temperaturabhängigen Steuerung unterlassen haben sollte, wäre die Typgenehmigungsbehörde nach dem Amtsermittlungsgrundsatz gemäß § 24 I S.1 und 2 VwVfG gehalten gewesen, diese zu erfragen, um sich in die Lage zu versetzen, die Zulässigkeit der Abschalteinrichtung zu prüfen. Anhaltspunkte für wissentlich unterbliebene oder unrichtige Angaben der Beklagten im Typgenehmigungsverfahren, die noch dazu auf ein heimliches und manipulatives Vorgehen oder eine Überlistung des KBA und damit auf einen bewussten Gesetzesverstoß hindeuten würden, ergeben sich damit nicht (BGH, Urt. vom 16.09.2021 – VII ZR 190/20, Rz 26 ff.).
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Gründe, weshalb hier etwas anderes gelten sollte, wurden nicht dargetan, selbst eine unzureichende Offenlegung des Thermofensters bzw. der behaupteten Zykluserkennung würde daher nicht auf das erforderliche Unrechtsbewusstsein seitens der Beklagten hinweisen.
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3) Selbst unterstellt, dass die im klägerischen Fahrzeugmotor angeblich verbaute Abschalteinrichtung in Form einer Prüfstanderkennung (BB S. 5 ff.) als evident unzulässige Abschalteinrichtung zu qualifizieren wäre, müsste der Vorwurf der Sittenwidrigkeit gegenüber der Beklagten außerdem im Zeitpunkt des Kaufs am 03.06.2020 noch gerechtfertigt gewesen sein.
37
Auch dies ist hier nicht der Fall.
38
a) Nach der zwischenzeitlich ergangenen höchstrichterlichen Rspr. zu einem Audi mit einem Dieselmotor des Typs V6 3.0 TDI EU6 (vgl. BGH, Beschluss vom 12.01.2022, VII ZR 391/21) können wesentliche Umstände, die den Vorwurf der Sittenwidrigkeit im Hinblick auf die Entwicklung und Implementierung einer unzulässigen Abschalteinrichtung tragen, bis zum maßgeblichen Zeitpunkt des Fahrzeugerwerbs durch die Klagepartei entfallen und damit das Verhalten der Beklagten mit einer Täuschung nicht mehr gleichzusetzen sein (vgl. BGH, Urt. v. 30.07.2020 – VI ZR 5/20 Rn. 34).
39
Auch wenn analog zu den Feststellungen zur Gesinnung und zum Verhalten der V. AG gegenüber Käufern, die vor dem 22.09.2015 ein Fahrzeug mit einem Motor des Typs EA189 erwarben (vgl. BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 Rn. 16 ff., BGHZ 225, 316), unterstellt wird, dass die Beklagte ebenfalls ursprünglich aufgrund einer für ihr Unternehmen getroffenen grundlegenden strategischen Entscheidung bei der Motorenentwicklung im eigenen Kosten- und Gewinninteresse durch bewusste und gewollte Täuschung des KBA systematisch, langjährig und in großem Umfang Fahrzeuge mit Motoren mit unzulässiger Abschalteinrichtung in den Verkehr gebracht habe, womit eine erhöhte Belastung der Umwelt sowie die Gefahr einhergegangen seien, dass bei einer Aufdeckung des Sachverhalts eine Betriebsbeschränkung oder -untersagung hinsichtlich der betroffenen Fahrzeuge erfolgen könnte, erscheint der Vorwurf der Sittenwidrigkeit im maßgeblichen Erwerbszeitpunkt – das Fahrzeug wurde im Fall des BGH am 06.04.2018 gekauft – nach Darlegung des BGH aufgrund der dort vom Berufungsgericht festgestellten Verhaltensänderung seitens der Beklagten nicht mehr gerechtfertigt.
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Nach den dortigen Feststellungen hat die Beklagte umfangreiche Veranlassungen getroffen, um eine – durch ihre Vertragshändler vermittelte – Täuschung der Käufer zu verhindern. Aufgrund einer verpflichtenden internen Anweisung durfte sie davon ausgehen, dass Fahrzeugkäufer von ihren Vertragshändlern grundsätzlich Kenntnis von der unzulässigen Abschalteinrichtung erhielten. Zudem hat die Beklagte in Zusammenarbeit mit dem KBA ein Software-Update entwickelt, das den gesetzeswidrigen Zustand und die Stilllegungsgefahr nach Freigabe durch das KBA beseitigt hat.
41
Weiter hat der BGH ausgeführt, dass die Tatsache, dass die Beklagte – wie dort festgestellt – nicht analog zur V. AG und dem von dieser entwickelten Motortyps EA189 eine Pressemitteilung über den Rückruf veröffentlicht und keine Suchmaschine freigeschaltet hat, mit der anhand der Fahrzeug-Identifizierungsnummer kontrolliert werden konnte, ob das eigene Fahrzeug betroffen war, keine andere Beurteilung gebietet. Denn dass diese eine bewusste Manipulation geleugnet hat und dass sie möglicherweise weitere Schritte zur umfassenden Aufklärung hätte unternehmen können, reicht für die Begründung des gravierenden Vorwurfs der sittenwidrigen Schädigung gegenüber späteren Käufern nicht aus. Insbesondere war ein aus moralischer Sicht tadelloses Verhalten der Beklagten oder eine Aufklärung, die tatsächlich jeden potenziellen Käufer erreicht und einen Fahrzeugerwerb in Unkenntnis der Abschalteinrichtung sicher verhindert, zum Ausschluss objektiver Sittenwidrigkeit nicht erforderlich (BGH, Beschluss v. 12.01.2022, Gz. VII ZR 391/21).
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b) Ebenso liegt es hier. Das Landgericht hat hierzu zwar keine Feststellungen getroffen; der streitgegenständlichen Kauf fand jedoch im Juni 2020 statt, mithin über zwei Jahre nachdem die Beklagte die in der zitierten Entscheidung des BGH genannten umfangreichen Maßnahmen getroffen hat. Es kann daher offen bleiben, ob im streitgegenständlichen Fahrzeugmotor ursprünglich unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut waren, da eine etwaige – objektive – Sittenwidrigkeit des Verhaltens der Beklagten aufgrund der von dieser bereits Anfang 2018 getroffenen umfangreichen Veranlassungen im Zeitpunkt des Kaufs des streitgegenständlichen Fahrzeugs bereits wieder entfallen war.
43
3. Eine Haftung der Beklagten folgt hier nach höchstrichterlicher Rspr. auch nicht aus § 823 II BGB i.V.m. § 263 StGB oder i.V.m. Art. 4 II UAbs. 2 und Art. 5 I VO 715/2007/EG oder § 6 I, § 27 EG-FGV.
44
a) Für eine Haftung wegen Betruges fehlt es bei dem vorliegenden Gebrauchtwagenkauf von einem Dritten schon an der erforderlichen Stoffgleichheit des etwaig erstrebten rechtswidrigen Vermögensvorteils seitens der Beklagten mit dem Vermögensschaden des Käufers bzw. der Klagepartei (vgl. BGH, Urt. v. 30.07.2020 – VI ZR 5/20).
45
b) Ein auf Rückabwicklung des streitgegenständlichen Kaufvertrags gerichteter Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 4 II und Art. 5 I VO 715/2007/EG oder §§ 6 I, 27 EG-FGV kommt ebenfalls weiterhin nicht in Betracht:
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Der Bundesgerichtshof geht in inzwischen st. Rspr. (BGH, Urteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19 Rn. 72 ff., BGHZ 225, 316; Urteil vom 30. Juli 2020 – VI ZR 5/20 Rn. 10 ff., ZIP 2020, 1715; vgl. auch Beschluss vom 10. Februar 2022 – III ZR 87/21 Rn. 8 ff, juris) davon aus, dass die Rechtslage im Hinblick auf § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV von vornherein eindeutig („acte clair“, vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 – Rs 283/81, NJW 1983, 1257, 1258; BVerfG, NVwZ 2015, 52 Rn. 35) sei. Zuletzt hat er dies im Beschluss vom 4. Mai 2022 – VII ZR 656/21 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das den Gegenstand der Schlussanträge des Generalanwalts R. vom 02.06.2022 bildende Vorabentscheidungsersuchen des Landgerichts Ravensburg ausgesprochen. Selbst wenn die Verordnung (EG) 715/2007 dem Schutz der Käufer eines Fahrzeugs vor Verstößen des Herstellers gegen seine Verpflichtung, neue Fahrzeug in Übereinstimmung mit ihrem genehmigten Typ bzw. den für ihren Typ geltenden Rechtsvorschriften in den Verkehr zu bringen, diente, besage dies nichts für die Frage, ob damit auch der Schutz des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts und damit der Schutz des Käufers vor dem Abschluss eines ungewollten Vertrages erfasst sein solle. Es seien keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Gesetz- und Verordnungsgeber mit den genannten Vorschriften (auch) einen Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Käufer bezweckt habe und an die (auch fahrlässige) Erteilung einer inhaltlich unrichtigen Übereinstimmungsbescheinigung einen gegen den Hersteller gerichteten Anspruch auf (Rück-)Abwicklung eines mit einem Dritten geschlossenen Kaufvertrags hätte knüpfen wollen (BGH, Beschluss vom 4. Mai 2022 – VII ZR 656/21 –, Rn. 3, juris).
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Auch die Schlussanträge des Generalanwalts R. vom 02.06.2022 in der Rechtssache …100/21 (Celex-Nr. …100) geben keine Veranlassung, von dieser gefestigten Rechtsprechung abzuweichen oder nunmehr eine Vorlage an den EuGH gem. § 267 AEUV bzw. eine Aussetzung entsprechend § 148 ZPO bis zu einer Entscheidung des EuGHs in dieser Sache in Erwägung zu ziehen:
48
(1) Dazu ist zunächst festzuhalten, dass die Schlussanträge den Europäischen Gerichtshof nicht binden. Auch wenn der Europäische Gerichtshof ihnen in der Regel folgt, haben die Schlussanträge ebensowenig Außenwirkung wie die entsprechende Einschätzung der EU-Kommission.
49
(2) Darüber hinaus schlägt der Generalanwalt inhaltlich zwar vor, die erste und zweite Vorlagefrage so zu beantworten, dass Art. 18 Abs. 1, Art. 26 Abs. 1 und Art. 46 der RL 2007/46 dahin auszulegen sind, dass sie die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Kraftfahrzeugs schützen, insbesondere das Interesse, kein Fahrzeug zu erwerben, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 ausgestattet ist (IV B. 50 der Schlussanträge vom 02.06.2022). Hinsichtlich der Vorlagefragen 3 – 6 beschränkt sich der Antrag jedoch auf die Feststellung, dass ein Erwerber eines Fahrzeugs einen Ersatzanspruch gegen einen Hersteller hat, wenn dieses Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 ausgestattet ist. Es sei jedoch Sache der Mitgliedstaaten die Regeln für die Art und Weise der Berechnung des Ersatzes des Schadens, der dem Erwerber entstanden ist, festzulegen, sofern dieser Ersatz in Anwendung des Effektivitätsgrundsatzes dem erlittenen Schaden angemessen ist (IV C 65 der Schlussanträge vom 02.06.2022).
50
Damit stünde es den Mitgliedstaaten, selbst wenn der Europäische Gerichtshof den Anträgen des Generalanwalts folgen sollte, weiterhin frei, einen Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrages wegen einer Verletzung des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts zu verneinen. Ein solcher ist aber Gegenstand der vorliegenden Berufung.
51
(3) Die Schlussanträge des Generalanwalts vom 02.06.2022 bieten nach Auffassung des Senats auch in der Sache keine ausreichenden Anhaltspunkte, um nunmehr von einer durch den EuGH klärungsbedürftigen Frage auszugehen.
52
(a) Zur EuGH-Vorlage des BGH zur Klärung der Frage, ob es sich bei den nationalen Vorschriften zur Umsetzung der Medizinprodukte-RL um Schutzgesetze gem. § 823 Abs. 2 BGB handeln könne (NJW 2015, 2737), hatte der EuGH seinerzeit entschieden, dass die Voraussetzungen, unter denen eine von einer benannten Stelle begangene schuldhafte Verletzung der ihr im Rahmen dieses Verfahrens gemäß dieser Richtlinie obliegenden Pflichten ihre Haftung gegenüber den Endempfängern begründen kann, vorbehaltlich der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität dem nationalen Recht unterliegen (EuGH, ECLI:ECLI:EU:C:2017:128 = NJW 2017,1161 [Schmitt/TÜV Rheinland] zur Haftung für Schäden durch fehlerhafte Brustimplantate).
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Das sieht im Grundsatz auch Generalanwalt R. so, wenn er in Rz. 55 seiner Schlussanträge vom 02.06.2022 ausführt, dass, abgesehen von einem Entschädigungsanspruch, der unmittelbar im Unionsrecht begründet ist, im Rahmen des nationalen Haftungsrechts zu bestimmen ist, wie der entstandene Schaden zu ersetzen ist, wobei die im nationalen Schadensersatzrecht festgelegten Voraussetzungen wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen zu verhängen ermöglichen müssen.
54
(b) Bei der Beurteilung dieser Frage übersieht der Generalanwalt dann jedoch völlig, dass nach – im Wesentlichen auf der Verbrauchsgüterkauf-RL beruhendem – nationalem deutschem Recht bei der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in erster Linie – sogar z.T. verschuldensunabhängige – äußert „wirksame und abschreckende“ kaufvertragliche Ansprüche gegen den Fahrzeugverkäufer bestehen (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 21. Juli 2021 – VIII ZR 254/20, zum Motor EA189, BGH, Beschluss vom 28. Januar 2020 – VIII ZR 57/19, zum Motor OM651) und Ansprüche aus unerlaubter Handlung gegen den Fahrzeughersteller deshalb erst nach Ablauf der – gem. der Verbrauchsgüterkauf-RL europarechtlich einheitlichen – Gewährleistungsfrist von 2 Jahren in den Fokus treten.
55
Deshalb trifft es entgegen der Auffassung des Generalanwalts in Rz. 58 auch nicht zu, dass „der Fahrzeughersteller nach derzeitigem Rechtsstand in Deutschland keine Inanspruchnahme zu befürchten“ hätte. Denn der Fahrzeughersteller unterliegt wegen etwaiger Aufwendungen des Fahrzeugverkäufers im Rahmen der Gewährleistung gem. § 445a BGB dem Rückgriff des Händlers, hat also wirtschaftlich die Folgen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen ggf. voll und alleine zu tragen, was nach Auffassung des Senats fraglos auch ausreichenden Anreiz böte, die Unionsvorschriften penibel einzuhalten (ähnlich OLG Stuttgart, Urteil vom 28.06.2022, Gz. 24 U 115/22, juris).
56
(c) Dass es aus Gründen der „Äquivalenz und der Effektivität“ gleichwohl europarechtlich noch zusätzlich der Begründung einer auf Rückabwicklung des Kaufvertrags gerichteten unmittelbaren Fahrlässigkeitshaftung aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. Art. 5 Abs. 2, 3 Nr.10 der VO Nr. 715/2007 gegen den Fahrzeughersteller bedürfte, erscheint dem Senat daher weiterhin fernliegend (vgl. bereits Senat, Beschluss vom 29.8.2019 – 8 U 1449/19, WM 2019, 1937, NJW-RR 2019, 1497, Rn. 78 ff., beck-online, rechtskräftig, NZB vom BGH mit Beschluss vom 15.09.2020, Gz. VI ZR 389/19, ohne Begründung zurückgewiesen).
57
(d) Daran ändert auch die Pressemitteilung Nr. 104/2022 des BGH vom 01.07.2022 zum Verhandlungstermin am 21.11.2022 in Sachen VIa ZR 335/21 (“Dieselverfahren“; …unionsrechtliche Folgefragen) nichts. Der Senat versteht diese Pressemitteilung dahingehend, dass der BGH nur vorsorglich einen Termin bestimmt hat, um sich ggfs. zeitnah mit einer Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C -100/21 befassen zu können. Dem kann nach Auffassung des Senats aber nicht entnommen werden, dass der BGH nunmehr davon ausginge, dass im Hinblick auf die Schlussanträge des Generalanwalts kein „acte clair“ mehr vorliege.
III.
58
1. Bei dieser Sachlage wird schon aus Kostengründen empfohlen, die Berufung zurückzunehmen, zumal angesichts des relativ geringen Streitwerts ein weiteres Rechtsmittel nicht mehr statthaft sein dürfte.
59
Im Fall der Berufungsrücknahme ermäßigen sich die Gerichtsgebühren vorliegend von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).
60
2. Zu diesen Hinweisen kann der Berufungsführer binnen der oben gesetzten Frist Stellung nehmen. Der Senat soll nach der gesetzlichen Regelung die Berufung unverzüglich durch Beschluss zurückweisen, wenn sich Änderungen nicht ergeben. Mit einer einmaligen Verlängerung dieser Frist um maximal 3 Wochen ist daher nur bei Glaubhaftmachung konkreter, triftiger Gründe zu rechnen (vgl. OLG Rostock, OLGR 2004, 127 ff.).
61
3. Der Streitwert ergibt sich aus dem bezifferten Hauptsache-Zahlungsantrag.