Titel:
Grobe Verkennung der Rechtslage in einem Stichentscheid
Normenketten:
VVG § 125, § 128
NRV 2013 § 3a Abs. 2
Leitsätze:
1. Ein anwaltlicher Stichentscheid verkennt die Sach- und Rechtslage grob, wenn er allein den Einbau eines Thermofensters zur Begründung einer sittenwidrigen Schädigung für ausreichend hält. (Rn. 19 – 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es besteht kein Anspruch auf Rechtsschutzdeckung für eine Klage auf Schadensersatz, wenn sie allein auf den Einbau unzulässiger Emissionskontrolleinrichtungen gestützt werden soll. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Rechtsschutzversicherung, Stichentscheid, Bindungswirkung, Abweichung von der Rechtslage, Diesel-Fälle, hinreichende Erfolgsaussicht, Thermofenster, Emissionskontrolleinrichtungen
Rechtsmittelinstanzen:
OLG Nürnberg, Hinweisbeschluss vom 16.03.2023 – 8 U 3296/22
OLG Nürnberg, Beschluss vom 11.05.2023 – 8 U 3296/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 44731
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird auf 6.897,00 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten um die Eintrittspflicht einer Rechtsschutzversicherung für außergerichtliche und gerichtliche Tätigkeit in einem Fall im Rahmen des sogenannten Dieselskandals.
2
Zwischen den Parteien besteht eine Rechtsschutzversicherung, der die Beklagte die Versicherungsnummer … zugewiesen hat.
3
Mit Anwaltsschreiben vom 05.05.2021 wurde der Beklagten mitgeteilt, dass die … von der Klagepartei mit deren rechtlicher Vertretung gegen ... beauftragt wurde und dass die Klagepartei Ansprüche aus der Manipulation der Abgasteuerung an dem von der Klagepartei erworbenen BMW 640d gegen den Hersteller geltend machen will. Die Beklagte wurde entsprechend um Deckungszusage für das anwaltliche Vorgehen aus der Versicherung mit Versicherungsnummer … gebeten.
4
Die Beklagte lehnte mit Schreiben vom 20.05.2021 (Anlage K 2) die Zusage einer Deckung ab.
5
Die Klagevertreter fertigten daraufhin ein Schreiben mit Datum 05.06.2021, das sie als Stichentscheid bezeichneten und der Beklagte vorlegten (Anlage K 3). In diesem Schreiben stellten sie dar, dass die ... AG Herstellerin des Fahrzeugs sei und behaupteten, im streitgegenständlichen Fahrzeug sei eine illegale Abschalteinrichtung verbaut. Weiter wurde von den anwaltlichen Vertretern der Klagepartei im Schreiben vorgebracht, dass das streitgegenständliche Fahrzeug mit einem Thermofenster ausgestattet sei, was das Vorhandensein illegaler Abschalteinrichtungen begründet erscheinen lasse.
6
Die Beklagte lehnte auch nach diesem Schreiben die Deckungszusage weiter ab.
7
Die Klagepartei behauptet, dass im streitgegenständlichen Fahrzeug eine illegale Abschalteinrichtung verbaut sei, die unter bestimmten Umständen die Abgasreinigung deaktiviere oder weniger wirksam mache. Die Software sei so konzipiert, dass sie Prüfungssituationen bestehe, da sie unnatürliches Fahrverhalten erkenne und in einem solchen Fall den Motor anweise, die Abgasaufbereitung derart zu optimieren, dass hier dann möglich wenig Stickoxide entstehen. Es seien zwischenzeitlich Manipulation der Steuerung der Abgasreinigung der verbauten Motorserie bekannt geworden und damit einhergehend massive Verschlechterung der Schadstoffwerte im realen Betrieb des Fahrzeuges. Daher sei die Klagepartei bei Erwerb massiv über wesentliche Eigenschaften des Fahrzeugs getäuscht worden. Das streitgegenständliche Fahrzeug verfüge auch über ein sogenanntes Thermofenster, welches als unzulässige Abschalteinrichtung zu qualifizieren sei.
8
Weiter behauptet die Klagepartei, dass die im Fahrzeug aktive Software des Emissionskontrollsystems so programmiert sei, dass der Betrieb des Fahrzeugs bei einer Messung auf dem Prüfstand im neuen europäischen Fahrzyklus erkannt werde und die Abgaswerte im Gegensatz zum Betrieb im Straßenverkehr optimiert würden.
9
Die Klagepartei ist der Meinung, dass in Anbetracht des vorstehenden Sachverhalts die von ihr avisierte Klage hinreichend Erfolgsaussicht habe. Insbesondere hinge die Beurteilung von der Durchführung einer Beweisaufnahme ab. Im Übrigen ist sie der Meinung, dass die Beklagte schon aus dem wirksamen Stichentscheid heraus verpflichtet sei, Deckungszusage zu erteilen.
10
Die Klagepartei beantragt:
- 1
-
Es wird festgestellt, dass die Beklagte aus dem Versicherungsvertrag Nr. … im Zusammenhang mit der Schadennummer … verpflichtet ist, die Kosten der außergerichtlichen und erstinstanzlichen Wahrnehmung der rechtlichen Interessen der Klagepartei gegen die ... AG aus dem Kauf eines BMW 640d … und der unterstellten Manipulation der Abgassteuerung dieses Fahrzeugs zu tragen.
- 2
-
Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von den Kosten des in Zusammenhang mit der Schadennummer … gefertigten Stichentscheids der … vom 05.06.2021 in Höhe von Euro 713,76 freizustellen.
11
Die Beklagte beantragt:
12
Die Beklagte ist der Meinung, dass die von der Klagepartei avisierte Klage keine hinreichende Erfolgsaussicht habe und sie insoweit keine Deckungszusage zu erteilen habe. Der Vortrag der Klagepartei lasse eine Auseinandersetzung mit einschlägigen höchstrichterlichen Rechtsprechung vermissen. Allein die Verwendung eines Thermofensters reiche nicht aus, um ein vorsätzlich sittenwidriges Verhalten und damit einen Schadensersatzanspruch gegen die avisierte Beklagte zu begründen. Im Übrigen sei der Vortrag der Klagepartei unsubstantiiert und nicht fallbezogen. Allein der Umstand, dass Abgaswerte außerhalb des NEFZ über den gesetzlichen Grenzwerten lägen, sei noch kein ausreichender Vortrag, um das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung zu begründen.
13
Der von vorgelegte Stichentscheid binde die Beklagte nicht, da dieser nicht die erforderlichen Mindestvoraussetzungen erfülle.
14
Auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 17.08.2022 wird Bezug genommen. Im Übrigen wird auf die wechselseitigen Schriftsätze verwiesen.
Entscheidungsgründe
15
Die zulässige Klage ist unbegründet.
16
Dem Kläger steht kein Deckungsanspruch gegen die Beklagte zu, da die Beklage die Kostendeckung nach dem Versicherungsvertrag in Verbindung mit § 3 a (1) a) NRV 2013 Plus wegen fehlender hinreichender Erfolgsaussicht zurecht abgelehnt hat. Maßgeblich für die Beurteilung der Erfolgsaussicht ist wie die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung.
17
1. Den mit Stichentscheid bezeichneten Schreiben der anwaltlichen Vertreter der Klagepartei vom 05.06.2021 kommt keine Bindungswirkung zu.
18
a. Nach § 3 a Absatz 2 NRV 2013 Plus kann ein Rechtsanwalt für einen Versicherungsnehmer auf Kosten des Versicherers eine begründete Stellungnahme abgeben, wonach die Wahrnehmung rechtlicher Interessen in einem angemessenen Verhältnis zum angestrebten Erfolg stehe und hinreichende Aussicht auf Erfolg verspreche. Eine solche Stellungnahme ist grundsätzlich für beide Vertragspartner bindend, es sei denn die Entscheidung des anwaltlichen Vertreters weicht offenbar von der wirklichen Sach- und Rechtslage ab. Dabei darf der Rechtsanwalt Mindermeinungen vertreten, die höchstrichterlich noch nicht geklärt sind. Die Stellungnahme muss allerdings schlüssig und widerspruchsfrei sein (OLG Frankfurt am Main, NJW-RR 2019, 1319). Ein Stichentscheid setzt jedoch voraus, dass der Rechtsanwalt des Versicherungsnehmers eine von der Interessenvertretung losgelöste Beurteilung der Sach- und Rechtslage vornimmt und diese so ausreichend begründet ist, dass erkennbar ist, in welchen tatsächlichen und rechtlichen Punkten die Meinung des Versicherers unrichtig ist (Habauer/Schmid, ARB 2010, § 3 a Nr. 51).
19
b. Diese Voraussetzungen erfüllt der mit Anlage K 3 vorgelegte Stichentscheid der anwaltlichen Vertreter der Klagepartei nicht. Ein Stichentscheid muss zwar nur so ausreichend begründet sein, dass er hinreichend erkennen lässt, in welchen Punkten tatsächlicher oder rechtlicher Art die Meinung des VR nach Ansicht des Rechtsanwalts unrichtig ist. Entscheidend ist nicht die Form der Stellungnahme, sondern ihr Inhalt; er ist in erster Linie abhängig vom Umfang oder der Komplexität des Streitstoffes, von der bisherigen Kenntnis des Rechtsschutzversicherers und dem Stadium der Interessenwahrnehmung. Der Rechtsanwalt hat den entscheidungserheblichen Streitstoff darzustellen, anzugeben, inwieweit für bestrittenes Vorbringen Beweis oder Gegenbeweis angetreten werden kann, die sich ergebenden rechtlichen Probleme unter Berücksichtigung von Rspr. und Rechtslehre herauszuarbeiten und sich auch mit etwa vorhandenen Argumenten auseinander zu setzen, die gegen eine Erfolgsaussicht sprechen. Der Stichentscheid muss sich aber auf die Punkte beziehen, auf die der Rechtsschutzversicherer zuvor die Deckungsablehnung gestützt hat (vgl. Schmitt in: Harbauer, Rechtsschutzversicherung: ARB, 9. Aufl. 2018, § 3 a Rn. 49 m.w.N.).
20
Die Klägervertreterin hat zwar ausgiebig begründet, warum sie auf das Vorliegen eines Thermofensters im klägerischen Fahrzeug schließe und dass sie unter Zugrundelegung der – zu diesem Zeitpunkt vorliegenden – Rspr. auf dessen Unzulässigkeit schließen durfte. Allerdings setzte sie sich nicht mit dem in dem Ablehnungsschreiben der Beklagten vom 20.05.2021 (Anlage K2) vorgetragenen Punkt auseinander, „dass das Thermofenster oder sonstige Abschalteinrichtungen nicht per se sittenwidrige Handlungen darstellen, vielmehr müssen darüber hinaus weitere darüber hinaus weitere Umstände hinzutreten. (…) Insoweit verweisen wir auf BGH ZR 433/79. 19.01.2021 Az: VI ZR 433/19“.
21
Insofern hat der Stichentscheid auch die Sach- oder Rechtslage wohl gröblich verkannt. Zum Bewilligungszeitpunkt war die Auffassung, dass ein Thermofenster ohne weiteres eine illegale Abschalteinrichtung i.S.d. Art. 5 Abs. 2 EGVO 715/2007 sei und eine sittenwidrige vorsätzliche Schädigung nach § 826 BGB vorliege, aufgrund höchstrichterlichen Rspr. – BGH-Beschluss vom 19.01.2021 – nicht mehr vertretbar.
22
Da kein wirksamer Stichentscheid vorliegt, steht dem Kläger auch kein Anspruch auf Ersatz der dadurch entstandenen Kosten zu, § 3 a (2) ARB-RU 2013.
23
2. Auch die von der Klagepartei avisierte Rechtsverfolgung bietet nach Auffassung des Gerichts keine hinreichende Aussicht auf Erfolg.
24
a. Hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne von § 3 a Absatz 1 NRV 2013 Plus liegt entsprechend der gleichlautenden sachlichen Voraussetzung zur Gewährung von Prozesskostenhilfe gemäß § 114 Absatz 1 Satz 1 ZPO dann vor, wenn nach summarischer Prüfung der rechtliche Standpunkt vertretbar und eine Beweisführung in der Hauptsache möglich erscheint (Beck OK, ZPO, § 114 Randziffer 28). Überspannte Anforderungen dürfen hierbei nicht gestellt werden. Einer überwiegenden Erfolgsaussicht bedarf es nicht während eine nur ganz fernliegende unzureichend ist. Auf Seiten der. Klagepartei bedarf es hierfür jedenfalls einer schlüssigen Klage die in den streitigen Punkten auch ausreichend substantiiert sein muss (Zöller, ZPO, § 114 Randnummer 23).
25
b. Diesen Anforderungen wird der hier zu würdigende Klagevortrag nicht gerecht.
26
Im Hinblick auf das seitens der Klagepartei geltend gemachte Vorliegen eines sogenannten Thermofensters setzt sich der Vortrag der Klagepartei nicht mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Bezug auf die Voraussetzungen zur Feststellung eines sittenwidrigen Handelns eines Fahrzeugherstellers und eines möglichen Anspruchs aus § 826 BGB auseinander. Die Verwendung eines Thermofensters ist nicht per se sittenwidrig zu qualifizieren. Es bedarf insoweit der Feststellung, hier eines Vortrags der Klagepartei, zur besonderen Verwerflichkeit des Verhaltens des Fahrzeugherstellers. Allein die objektive Feststellung der Unzulässigkeit dieser Emissionskontrolleinrichtung reicht nach höchstrichterlicher Rechtsprechung hierzu nicht aus. So setzt die Annahme von Sittenwidrigkeit in diesen Fällen jedenfalls voraus, dass für den Fahrzeughersteller handelnde Personen bei Entwicklung oder Verwendung dieser temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein gehandelt haben, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf zu nehmen (BGH, NJOZ 2021, 1517). Entsprechende Anhaltspunkte hierfür trägt die Klagepartei nicht substantiiert vor. Ihre pauschale Behauptung, die Software sei so konzipiert, dass sie in Prüfungssituationen erkenne und in einem solchen Fall die Abgasaufbereitung optimiere, stellen nach Auffassung des Gerichts einen Vortrag ins Blaue hinein dar. Auch aus dem Vortrag der Klagepartei, dass Euro 6 Fahrzeuge des in Anspruch zu nehmenden Fahrzeugherstellers Emissionsgrenzwerte im Realbetrieb massiv überschreiten würden, reicht zur Substantiierung des Vortrags der Klagepartei nicht aus. Unabhängig von der Frage, ob Grenzwertüberschreitungen im Realbetrieb überhaupt Indiz für das Vorliegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung sein können, bezieht sich der Vortrag der Klagepartei hier allgemein auf Fahrzeuge der Schadstoffklasse Euro 6. Die Klagepartei verhält sich nicht dazu, ob, wie von der Beklagten bestritten, diese Indizwirkung auch für ein Fahrzeug der Schadstoffklasse 5 vorliegen kann.
27
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 ZPO. Der Streitwert wurde gemäß § 3 ZPO bestimmt.