Titel:
kein Anspruch auf Erteilung einer Duldung
Normenkette:
AufenthG § 25 Abs. 5, § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 60a Abs. 2 S. 1, § 81 Abs. 3, Abs. 4
Leitsatz:
Nicht jede eheliche Lebensgemeinschaft und jedwede familiäre Beziehung führen zu einer rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung, vielmehr muss eine unzumutbare Beeinträchtigung der Familieneinheit durch die (vorübergehende) Trennung von Familienangehörigen vorliegen. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
nigerianischer Staatsangehöriger, deutsche Ehefrau, Nachholung des Visumsverfahren zumutbar, Verfahrensduldung, Fiktionswirkung, Schutz von Ehe und Familie, Visumverfahren
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 06.03.2023 – 19 CE 22.2647
Fundstelle:
BeckRS 2022, 44725
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 1.250,00 EUR festgesetzt.
Gründe
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Der Antrag, dem Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung gem. § 123 VwGO zu untersagen, aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegenüber dem Antragsteller zu vollziehen, und den Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, die Duldung des Antragstellers zu verlängern, hat keinen Erfolg. Er ist unbegründet.
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Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Regelungsanordnung). Im Hinblick auf die durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistete Garantie effektiven Rechtsschutzes ist der Antrag begründet, wenn der geltend gemachte Anspruch hinreichend wahrscheinlich ist (Anordnungsanspruch) und es dem Antragsteller schlechthin unzumutbar ist, das Ergebnis des Hauptsacheverfahrens abzuwarten (Anordnungsgrund). Diese Voraussetzungen sind gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft zu machen.
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Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Der Antragsteller ist nach der bestandskräftigen Ablehnung seines Asylgesuchs mit Bescheid vom 14. Juli 2017 vollziehbar ausreisepflichtig. Seine Abschiebung nach Nigeria wurde angedroht.
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1. Ein Anordnungsanspruch liegt nicht vor. Dieser ist nicht in Form einer sogenannten Verfahrensduldung (bis zur Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis) nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG gegeben.
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Unter Berücksichtigung der gesetzlichen Wertung in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG, wonach ein verfahrensbezogenes Bleiberecht in Form einer Erlaub-nis-, Duldungs- oder Fortgeltungsfiktion nur für den Fall eines rechtmäßigen Aufenthalts vorgesehen ist, kann allein daraus, dass der Ausländer einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis geltend macht und diesen im Bundesgebiet durchsetzen will, grundsätzlich kein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis folgen, dem durch Aussetzung der Abschiebung für die Dauer des Aufenthaltserlaubniserteilungsverfahrens Rechnung zu tragen ist (NdsOVG, B.v. 22.8.2017 – 13 ME 213/17 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 27.11.2018 – 19 CE 17.550 – juris Rn. 30). Dem in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Anliegen und der Gesetzessystematik widerspräche es, wenn ein Ausländer für die Dauer eines jeden (anderen) Aufenthaltserlaubniserteilungsverfahrens die Aussetzung der Abschiebung beanspruchen könnte (vgl. etwa BayVGH, B.v. 27.11.2018 – 19 CE 17.550 – juris Rn. 30).
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Der vorgetragene Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hat vorliegend keine Fiktionswirkung gemäß § 81 Abs. 3 Satz 1 oder Abs. 4 AufenthG.
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Ausnahmsweise kann jedoch zur Gewährleistung effektiven Rechtschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG die Aussetzung einer Abschiebung geboten sein, um die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen und tatsächlich gegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Dauer des Aufenthaltserlaubniserteilungsverfahrens aufrecht zu erhalten und so sicherzustellen, dass eine aufenthaltsrechtliche Regelung einem möglicherweise Begünstigten zu Gute kommen kann (NdsOVG, B.v. 22.8.2017 – 13 ME 213/17 – juris Rn. 3; BayVGH, B.v. 27.11.2018 – 19 CE 17.550 – juris Rn. 31). Je besser insoweit die Erfolgsaussichten sind, desto eher werden die Voraussetzungen für eine Verfahrensduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG oder zumindest nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG erfüllt sein (BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris Rn. 30).
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Ein im Rahmen einer einstweiligen Anordnung zu sichernder Anspruch auf Erteilung einer Verfahrensduldung besteht für den Antragsteller jedoch nach summarischer Prüfung nicht.
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Ein solcher ergibt sich insbesondere nicht aus § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG.
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Denn dem Antragsteller steht kein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift zu, da es an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung der Einreise mit dem erforderlichen Visum fehlt, § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Zwar könnte gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG von dieser allgemeinen Erteilungsvoraussetzung abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumsverfahren nachzuholen. Allerdings handelt es sich hierbei um eine Ermessensvorschrift; ein Anspruch aufgrund einer Ermessensvorschrift ist im Hinblick auf die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG auch dann nicht ausreichend, wenn das Ermessen im Einzelfall „auf Null“ reduziert ist (BayVGH, B.v. 16.3.2020 – 10 CE 20.326 – juris Rn. 17 m.w.N.). Damit steht diese Ermessensentscheidung wiederum der Annahme eines strikten Rechtsanspruchs entgegen. § 39 Satz 1 Nr. 5 AufenthV, der insoweit eine Ausnahme darstellt, ist im Fall des Antragstellers nicht anwendbar, da er im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (BayVGH, U.v. 17.8.2020 – 10 B 18.1223 – BeckRS 2020, 20621 Rn. 35) nicht im Besitz einer Duldung ist.
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Auch aus § 25 Abs. 5 AufenthG kann der Antragsteller keinen zu sichernden Anspruch auf Erteilung einer Verfahrensduldung herleiten.
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Dabei kann offenbleiben, ob sich eine rechtliche Unmöglichkeit im Sinne dieser Norm aus einer (unzumutbaren) Trennung einer familiären Lebensgemeinschaft nach Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK ergeben kann (bejahend mit ausführlicher Begründung: BayVGH, U.v. 7.12.2021 – 10 BV 21.1821 – BeckRS 2021, 44425 Rn. 24 ff. m.w.N.). Denn hier liegt keine derartige Unmöglichkeit vor. Nicht jede eheliche Lebensgemeinschaft und jedwede familiäre Beziehung führen zu einer rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung (VGH BW, B.v. 19.4.2021 – 13 S 555/01 – InfAuslR 2001, 381 f.), vielmehr muss eine unzumutbare Beeinträchtigung der Familieneinheit durch die (vorübergehende) Trennung von Familienangehörigen vorliegen. Die Gefährdung des Schutzes von Ehe und Familie kann damit als inlandsbezogenes Abschiebungshindernis einen Anspruch auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung gem. § 60a Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG, Art. 8 EMRK auslösen. Um dies festzustellen, ist stets eine Einzelfallabwägung im konkreten Fall unter Berücksichtigung der familiären Belange sowie des öffentlichen Interesses an der Ausreise vorzunehmen. Hierzu sind die familiären Bindungen des Betroffenen entsprechend ihrem Gewicht zur Geltung zu bringen. Eine unzumutbare Trennung einer familiären Lebensgemeinschaft kann im Einzelfall vorliegen, beispielsweise bei einer langen Trennung von Eltern und ihren minderjährigen Kindern, sodass durch die Abschiebung eine unzumutbare Beeinträchtigung der durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Familieneinheit anzunehmen ist. Maßgeblich ist, ob durch eine Abschiebung der Schutzbereich des Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK in einer Weise tangiert ist, dass er das Führen der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet zumindest auf unzumutbar lange Zeit unmöglich macht.
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Dies ist hier nicht der Fall. Der Antragsteller ist seit dem 16. November 2021 mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet. Zu diesem Zeitpunkt war sein Asylverfahren bereits rechtskräftig negativ abgeschlossen. Für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG muss er das Visumsverfahren gemäß § 5 Abs. 2 AufenthG nachholen. Allein der Umstand, dass der Antragsteller möglicherweise eine vorübergehende Trennung von seiner Ehefrau für die Dauer des Visumverfahrens hinnehmen muss, steht auch bei Berücksichtigung des Schutzes der Ehe durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK einer Abschiebung nicht entgegen (BVerwG, U.v. 11.1.2011 – 1 C 23.09 – juris Rn. 34), dies kann sich nur durch Hinzutreten weiterer Umstände ergeben.
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Derartige Umstände sind hier nicht ersichtlich.
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Dies folgt auch nicht daraus, dass das Bundesamt mit Bescheid vom 14. Juli 2017 ein Einreise- und Aufenthaltsverbot in Höhe von 30 Monaten ab dem Tag der Abschiebung festgesetzt hat. Auch diese Frist, die bei einer Abschiebung des Antragstellers nach Nigeria greift, stellt keine unzumutbar lange Zeitdauer der Trennung von seiner Ehefrau dar. Den Eheleuten ist eine Trennung auch über einen längeren Zeitraum zumutbar; es sind keine minderjährigen Kinder vorhanden, denen das Verständnis, dass der Antragsteller wiederkommt, fehlen würde, und deren Entwicklung beeinträchtigt werden könnte. Es liegen auch keine anderweitigen besonderen, eine andere Beurteilung begründenden Umstände (wie etwa eine notwendige dauerhafte Pflege des Ehepartners oder ähnliches) vor. Darüber hinaus könnte der Antragsteller auch vom Ausland aus einen Antrag auf Verkürzung der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 4 AufenthG stellen. Es ist den Eheleuten zuzumuten, den Kontakt beispielsweise über Besuche oder (moderne) Kommunikationsmittel aufrechtzuerhalten.
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Bei der Abwägung ist auch zu berücksichtigen, dass die Ehe im beiderseitigen Wissen um den ablehnenden Bundesamtsbescheid vom 14. Juli 2017 und die unsichere Aufenthaltsperspektive des Antragstellers geschlossen wurde (BayVGH, B.v. 12.11.2020 – 10 ZB 20.2257 – BeckRS 2020, 32696 Rn. 6 f.).
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Der Umstand, dass der Antragsteller eine vorübergehende Trennung von seiner Ehefrau für die Dauer des Visumverfahrens hinnehmen muss, welches nach den Angaben des Antragsgegners ca. zwischen 12 und 15 Monaten dauern wird, was der Erfahrung des Gerichts aus anderen Verfahren entspricht, steht daher vorliegend auch bei Berücksichtigung des Schutzes der Ehe durch Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK einer Abschiebung nicht entgegen; es liegt keine rechtliche Unmöglichkeit vor.
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Sonstige schützenswerte Gründe, warum die Ausländerbehörde dem Antragsteller den weiteren Aufenthalt vorübergehend ermöglichen müsste, sind nicht ersichtlich. Das aktuell laufende Gesetzgebungsverfahren zum sog. Chancen-Aufenthalt stellt aus Sicht der Kammer ebenfalls keinen solchen Umstand dar. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung (Bt-Drs. 20/3717) befindet sich aktuell im Beratungsverfahren und ist am Freitag, 2. Dezember 2022, durch den Deutschen Bundestag beschlossen worden. Nun steht die Beteiligung des Bundesrats an, die wohl noch am 16. Dezember 2022 erfolgen soll. Unabhängig davon, ob der Antragsteller überhaupt in den Genuss der vorgesehenen Regelungen kommen sollte, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (B.v. 24.2.1999 – 2 BvR 283/99) von einer konkretisiert unmittelbar bevorstehenden Regelung ausgegangen werden. Zum einen wurden durch das Bundesverfassungsgericht diese Voraussetzungen nicht näher konkretisiert und zum anderen sind nach dem Grundgesetz noch weitere wesentliche Verfahrensschritte in dem Gesetzgebungsverfahren (Art. 78, 82 GG) bis zu einem möglichen Inkrafttreten zu gehen.
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2. Dementsprechend hat der Antragsteller mangels Unmöglichkeit der Abschiebung auch keinen Anspruch auf Erteilung einer Duldung aus § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK.
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Die Voraussetzungen für eine Ausbildungsduldung nach § 60c AufenthG wurden durch den Antragsteller nicht weiter substantiiert dargelegt und sind soweit ersichtlich nicht gegeben.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1 und 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 und 63 Abs. 2 GKG. Das Gericht orientiert sich dabei an den Nrn. 8.3 und 1.5 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.