Inhalt

VG München, Beschluss v. 12.12.2022 – M 19 S 22.5350
Titel:

Entzug der Fahrerlaubnis aufgrund Nichteignungsvermutung nach § 11 Abs. 8 FeV

Normenketten:
FeV § 11 Abs. 2, Abs. 8, § 46 Abs. 1 S. 1, Anl. 4
StVG § 3 Abs. 1
Leitsätze:
1. Bei der Beurteilung, ob Tatsachen bekannt sind, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisbewerbers begründen, kann die Fahrerlaubnisbehörde die Urteilsgründe in einem Strafverfahren sowie die Strafakten heranziehen. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Behörde muss angesichts der in § 11 Abs. 6 FeV spezialgesetzlich und abschließend geregelten Begründungsanforderungen in der Beibringungsanordnung nicht begründen, warum sie sich bei bestehenden Eignungszweifeln neben anderen grundsätzlich in Betracht kommenden Gefahrerforschungsmaßnahmen gerade für diejenige der Beibringung eines ärztlichen Gutachtens entschieden hat. (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Nichteignungsvermutung des § 11 Abs. 8 FeV eröffnet keinen Ermessenspielraum.  (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Eignungszweifel wegen Depression, Anordnung eines ärztlichen Gutachtens, Nichteignungsvermutung aufgrund Nichtvorlage des Gutachtens, Entziehung, Fahrerlaubnis, Eignungszweifel, Nichteignungsvermutung, Depression, ärztliches Gutachten, Nichteignungsfiktikon
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 23.02.2023 – 11 CS 22.2649
Fundstelle:
BeckRS 2022, 44720

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der … geborene Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A b, A1, B, L, M und S.
2
Die Antragsgegnerin erhielt am 8. Juli 2021 durch die Staatsanwaltschaft München I Kenntnis über das seit 6. Mai 2021 rechtskräftige Urteil des Landgerichts München I vom … April 2021 (Bl. 47 ff. BA). Hiernach hat sich der Antragsteller der vorsätzlichen Körperverletzung gemäß §§ 223 Abs. 1, 230 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) strafbar gemacht und wurde zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten und zu einem Fahrverbot von drei Monaten verurteilt. Der Verurteilung lag folgender Vorfall vom … November 2019 zugrunde: Als der Antragsteller mit seinem Pkw an einer Ampel wartete, klopfte der Betroffene an dessen Autoscheibe, um ihn aufgrund eines aus seiner Sicht zuvor erfolgten knappen Einscherens vor seinen Pkw und Veranlassens zu einer starken Bremsung zur Rede zu stellen. Daraufhin stieg der Antragsteller aus dem Auto, packte den Betroffenen am Hals und drückte diesen gegen den Pkw. Bezüglich der persönlichen Verhältnisse wurde in den Urteilsgründen u.a. ausgeführt, dass bei dem Antragsteller etwa Ende des Jahres 2018 erste Symptome einer Depression auftraten, die sich im Laufe des Jahres deutlich verschlechterten und bei ihm eine endogene Depression begründeten. Etwa Anfang November 2019 begab er sich auf Drängen seines Vaters in psychotherapeutische Behandlung bei Dr. R … Diese führte in den Folgemonaten durch Gabe von Venlafaxin und therapeutischen Gesprächen zu einer erheblichen Verbesserung der Situation.
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Mit Schreiben vom 7. September 2021 kündigte die Antragsgegnerin an, dass sie beabsichtige vor dem Hintergrund zweier Urteile des Amtsgerichts … wegen vorsätzlicher Körperverletzung ein medizinisch-psychologisches Gutachtens zu veranlassen. Hierzu äußerte sich der Antragsteller mit Schreiben vom … September 2021. Unter Bezugnahme auf die im Urteil des Landgerichts genannte Depression bat die Antragsgegnerin den Antragsteller mit Schreiben vom 11. November 2021 bis zum 11. Januar 2022 und weiterem Schreiben vom 2. Februar 2022 bis zum 2. März 2022 um Vorlage einer Bescheinigung seines behandelnden Arztes/ seiner Ärzte bzw. Psychotherapeuten hinsichtlich der Diagnosen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Von der Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens wurde Abstand genommen.
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Nachdem der Antragsteller keine ärztlichen Bescheinigungen vorlegte, ordnete die Antragsgegnerin mit Schreiben vom 4. Mai 2022 die Beibringung eines (fach-)ärztlichen Gutachtens zur Klärung der Fahreignung innerhalb von drei Monaten ab Zustellung des Schreibens an. Gestützt wurde dies auf § 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 2 Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) i.V.m. Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV. Im Falle einer psychischen (geistigen) Störung bestünden nur unter bestimmten Voraussetzungen Fahreignung. Die durch das Urteil zur Kenntnis gelangte endogene Depression stelle eine Tatsache i.S.d. § 11 Abs. 2 FeV dar, die auf eine Erkrankung oder einen Mangel nach Nr. 7 der Anlage 4 der FeV hinweise und somit Zweifel an der geistigen Eignung begründe. Der erfolgreiche Behandlungsverlauf der Erkrankung sei mittels eines ärztlichen Gutachtens von einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung i.S.v. § 66 FeV aufzuklären. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit werde gewahrt. Ermessen wurde ausgeübt.
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Folgende Fragestellungen sollten Gegenstand der gutachterlichen Stellungnahme sein:
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„Liegt bei der zu begutachtenden Person eine psychische Erkrankung oder Beeinträchtigung vor, die nach Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV die Fahreignung infrage stellt? Wenn ja, welche? Ist die zu begutachtenden Person in der Lage den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 gerecht zu werden?
7
Sind Nachuntersuchungen bzw. ist eine Nachuntersuchung erforderlich? Wenn ja, aus welchen Gründen und in welchen zeitlichen Abständen?“
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Der Antragsteller äußerte sich mit E-Mail vom … Juli 2022 und wies darauf hin, dass ihm mit der Entziehung der Fahrerlaubnis als selbstständiger Handwerker auch seine Arbeitsgrundlage entzogen werde. Er sei gemeinsam mit seinem Vater tätig, der auf seine Mitarbeit angewiesen sei. Der Vater des Antragstellers ergänzte mit Schreiben vom … August 2022, dass sich der Gesundheitszustand des Antragstellers erheblich verbessert habe und dies Herr Dr. R … bereits im strafrechtlichen Verfahren bestätigt habe. Das Landgericht habe sodann nach sorgfältiger Abwägung das vom Amtsgericht verhängte einjährige Fahrverbot auf drei Monate reduziert. Diese Entscheidung könne nun nicht von der Fahrerlaubnisbehörde gekippt werden. Zudem habe er extra einen weiteren Lkw angeschafft, denn die Aufgaben des Antragstellers erforderten zwingend ein eigenes Fahrzeug.
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Da kein Gutachten beigebracht wurde und nach erfolgter Anhörung des Antragstellers vom 9. August 2022, entzog ihm die Antragsgegnerin mit für sofort vollziehbar erklärtem (Nr. 4) Bescheid vom 16. September 2022 die Fahrerlaubnis aller Klassen (Nr. 1) und forderte ihn unter Androhung eines Zwangsgeldes (Nr. 3) auf, seinen Führerschein innerhalb einer Woche nach Zustellung abzugeben (Nr. 2). Als Rechtsgrundlage für die Entziehung wurden §§ 46 Abs. 1 und Abs. 3, 11 Abs. 8 FeV genannt. Ein Gutachten sei trotz entsprechender Anordnung nicht vorgelegt worden.
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Über den hiergegen am 29. September 2022 erhobenen Widerspruch ist noch nicht entschieden.
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Am … Oktober 2022 ließ der Antragsteller beim Verwaltungsgericht München beantragen,
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die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 16. September wiederherzustellen bzw. anzuordnen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgebracht, dass die Begründung des Sofortvollzugs nicht den Voraussetzungen des § 80 Abs. 3 VwGO entspräche. Sie sei formelhaft und gehe nicht auf die Umstände des Einzelfalls ein. Insbesondere sei unklar warum der Sofortvollzug angeordnet werden solle, nachdem der Antragsgegnerin seit mehr als einem Jahr die psychische Erkrankung bekannt gewesen sei. Die Entziehung der Fahrerlaubnis sei materiell rechtswidrig da keine Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4,5 oder 6 zur FeV vorlägen. Sie habe auch deshalb nicht entzogen werden dürfen, weil der Antragsteller kein ärztliches Gutachten beigebracht habe. Die Gutachtensanordnung beruhe bereits nicht auf einer hinreichenden Tatsachengrundlage. Denn der Antragsteller leide keinesfalls an einer sehr schweren Depression i.S.d. Nr. 7.5 der Anlage 4 zur FeV. Aus den Feststellungen des Urteils des Landgerichts ergebe sich, dass sich die psychische Situation des Antragstellers ab November 2019 erheblich verbessert habe. Anzeichen, dass sich sein Zustand seitdem verändert habe, bestünden nicht. Zudem gehe die Antragsgegnerin selbst nicht von einer früheren sehr schweren Depression i.S.d. Nr. 7.5.1. der Anlage 4 zur FeV aus. Außerdem werde die Anordnung nicht den Anforderungen des § 11 Abs. 6 Satz 1 FeV gerecht. Selbst wenn man die Erfolgsaussichten in der Hauptsache als offen ansehen würde, überwiege das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das öffentliche Vollzugsinteresse. Die psychische Erkrankung liege schon mehrere Jahre zurück. Seitdem habe der Antragsteller ohne relevante Vorfälle am Straßenverkehr teilgenommen. Das Landgericht habe keine Zweifel an der Fahreignung des Antragstellers gehabt. Zudem sei der Antragsteller als Handwerker dringend auf die Fahrerlaubnis angewiesen.
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Die Antragsgegnerin legte am 22. November 2022 die Behördenakte vor. Über eine Abgabe des Führerscheins durch den Antragsteller ist nichts bekannt.
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Mit Beschluss vom 8. Dezember 2022 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen (§ 6 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
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Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO bleibt ohne Erfolg.
18
Der gestellte Antrag ist auf die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die unter Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids verfügte Entziehung seiner Fahrerlaubnis und die unter Nr. 2 des Bescheids verfügte Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins gerichtet. Hinsichtlich der in Nr. 3 des Bescheids verfügten und kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Zwangsgeldandrohung (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. Art. 21a Satz 1 des Bayerischen Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetzes – VwZVG) sowie der ebenfalls kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO) sofort vollziehbaren Kostenregelung, Nr. 5 und Nr. 6 des Bescheids, begehrt der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs.
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Der Antrag ist zulässig, aber unbegründet.
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1. Die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung in Nr. 4 des Bescheids vom 16. September 2022 genügt den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Nach dieser Vorschrift ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen. Dabei hat die Behörde unter Würdigung des jeweiligen Einzelfalls darzulegen, warum sie abweichend vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung, die Widerspruch und Klage grundsätzlich zukommt, die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts angeordnet hat. Auch wenn pauschale oder formelhafte Wendungen grundsätzlich nicht den Anforderungen an eine schlüssige‚ konkrete und substantiierte Darlegung der wesentlichen Erwägungen genügen, sind an dieses Begründungserfordernis inhaltlich keine allzu hohen Anforderungen zu stellen; es genügt vielmehr eine schriftliche Begründung, die zu erkennen gibt, dass die Behörde eine Anordnung des Sofortvollzugs im konkreten Fall für geboten erachtet (BayVGH, B.v. 30.1.2019 – 9 CS 18.2533 – juris Rn. 18 m.w.N.; Hoppe in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 55) .
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Dem genügt die Begründung im streitgegenständlichen Bescheid. Die Antragsgegnerin hat unter Bezugnahme auf die Aussagen zur Depression des Antragstellers im Urteil des Landgericht München I dargelegt, warum sie im Interesse der Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs die sofortige Vollziehung angeordnet hat. Die eingewandte Verfahrensdauer von über einem Jahr zwischen Kenntniserlangung der Erkrankung und Entziehung der Fahrerlaubnis kann nicht gegen einen Sofortvollzug eingewendet werden. Im Bereich des Sicherheitsrechts ergibt sich das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung aus den Gesichtspunkten, die für den Erlass des Verwaltungsakts maßgebend waren (BayVGH, B.v. 27.2.2019 – 10 CS 19.180 – juris Rn. 10 ff.). Es besteht typischerweise eine Koinzidenz von öffentlichem Interesse am Grundverwaltungsakt und an dessen Sofortvollzug (VGH BW, B.v. 20.9.2011 – 10 S 625/11 – juris Rn. 4). Sofern sich der Ablauf des Verwaltungsverfahrens zur Feststellung der Voraussetzungen des Entziehungsbescheids verzögert hat, kann dies nicht zu Lasten der öffentlichen Sicherheit gehen und wäre vielmehr im Rahmen der Ermessensbegründung zu würdigen (vgl. BayVGH, B.v. 26.5.2021 – 11 CS 21.730 – juris Rn. 31).
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2. Bei der Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO hat das Gericht eine eigenständige Interessenabwägung vorzunehmen. Abzuwägen ist das Interesse des Antragstellers, zumindest vorläufig von seiner Fahrerlaubnis weiter Gebrauch machen zu können, gegen das Interesse der Allgemeinheit daran, dass dies unverzüglich unterbunden wird. Bei der Prüfung ist in erster Linie von den Erfolgsaussichten des eingelegten Hauptsacherechtsbehelfs, hier dem Widerspruch vom 29. September 2022, auszugehen. Lässt sich bei summarischer Prüfung eindeutig feststellen, dass der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist und den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, kann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung dieses Verwaltungsakts bestehen. Andererseits ist für eine Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers im Regelfall kein Raum, wenn keine Erfolgsaussichten in der Hauptsache bestehen. So liegt die Sache hier.
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Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Anfechtungsklage gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (stRspr, vgl. u.a. BVerwG, U.v. 23.10.2014 – 3 C 3.13 – juris Rn. 13), hier somit derjenige des Bescheidserlasses. Dies gilt auch für den vorliegenden Beschluss.
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2.1. Der zulässige Widerspruch vom 29. September 2022 gegen die mit Bescheid vom 16. September 2022 verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis (dort Nr. 1) hat voraussichtlich keine Aussicht auf Erfolg, da die Entziehung rechtmäßig ist und den Antragsteller nicht in seinen Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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Die Antragsgegnerin durfte aus der Nichtbeibringung des vom Antragsteller zu Recht geforderten Gutachtens gemäß §§ 46 Abs. 1, Abs. 3, 11 Abs. 8 FeV auf seine Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen schließen.
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Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Das gilt insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist (§ 46 Abs. 1 Satz 2 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet oder nur bedingt geeignet ist, so finden gemäß § 46 Abs. 3 FeV die §§ 11 bis 14 FeV entsprechende Anwendung. Die Fahrerlaubnisbehörde hat dann unter den dort genannten Voraussetzungen weitere Aufklärung, insbesondere durch die Anordnung der Vorlage ärztlicher oder medizinisch-psychologischer Gutachten, zu betreiben (§ 3 Abs. 1 Satz 3 StVG, § 46 Abs. 3 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die körperliche oder geistige Eignung des Fahrerlaubnisbewerbers begründen, kann die Fahrerlaubnisbehörde zur Vorbereitung von Entscheidungen über die Erteilung oder Verlängerung der Fahrerlaubnis die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens anordnen (§ 11 Abs. 2 Satz 1 FeV). Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er das von der Fahrerlaubnisbehörde geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf diese bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung schließen (§ 11 Abs. 8 Satz 1 FeV).
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Der Einwand vom Antragsteller, er sei weder ungeeignet noch nicht befähigt, ein Kraftfahrzeug zu führen steht vorliegend nicht Raum (in diesem Fall hätte eine Gutachtensanordnung unterbleiben müssen, § 11 Abs. 7 FeV). Die Entziehungsentscheidung beruht vielmehr auf der gesetzlichen Nichteignungsvermutung (§ 11 Abs. 8 Satz 1 FeV), die im Falle der Nichtbeibringung eines rechtmäßig geforderten Gutachtens zwingend zu treffen ist.
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Die Nichteignungsfiktikon ist jedoch nur zulässig, wenn die Anordnung des Gutachtens formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig ist (stRspr, vgl. nur BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – juris Rn. 19 m.w.N.). An die Rechtmäßigkeit der Gutachtensanordnung sind dabei grundsätzlich strenge Maßstäbe anzulegen, weil der Antragsteller sie mangels Verwaltungsaktqualität nicht unmittelbar anfechten kann. Er trägt das Risiko, dass ihm gegebenenfalls die Fahrerlaubnis bei einer Weigerung oder Nichtbeibringung entzogen wird. Der Gutachter ist an die Gutachtensanordnung und die dort formulierte Fragestellung gebunden (§ 11 Abs. 5 FeV i.V.m. Nr. 1 lit. a Satz 2 der Anlage 4a zur FeV). Es ist gemäß § 11 Abs. 6 FeV Aufgabe der Fahrerlaubnisbehörde, die Beurteilungsgrundlage und den Beurteilungsrahmen selbst klar festzulegen (vgl. BVerwG, B.v. 5.2.2015 – 3 B 16/14 – juris, Rn. 8). Der Betroffene muss der Gutachtensaufforderung entnehmen können, was konkret ihr Anlass ist und ob das Verlautbarte die behördlichen Zweifel an seiner Fahreignung zu rechtfertigen vermag.
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Gemessen an diesen Maßstäben begegnet die Gutachtensaufforderung der Antragsgegnerin vom 4. Mai 2022, wonach der Antragsteller zur Abklärung seiner Fahreignung ein ärztliches Gutachten einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung beizubringen hatte, keinen rechtlichen Bedenken.
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2.1.1. Sie genügte den formellen Voraussetzungen des § 11 Abs. 6 FeV. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller im Aufforderungsschreiben vom 4. Mai 2022 unter Nennung der zutreffenden Rechtsgrundlagen der §§ 46 Abs. 3 i.V.m. 11 Abs. 2 FeV i. V.m. Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV die Gründe dargelegt, weshalb sie an seiner Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen zweifelt. Abgestellt wurde auf die Entscheidungsgründe der strafrechtlichen Verurteilung des Antragstellers (LG München I, U.v. 28.4.2021 – … … … … …), denen zufolge bei ihm etwa Ende des Jahres 2018 erste Symptome einer Depression auftraten, die sich im Laufe des Jahres deutlich verschlechterten und bei ihm eine endogene Depression begründeten. Sie teilte dem Antragsteller auch die zu klärenden Fragen und die in Betracht kommenden Untersuchungsstellen mit. Die Gutachtensaufforderung genügte auch den sonstigen, sich aus § 11 Abs. 6 FeV ergebenden formellen Anforderungen. Die Gutachtensaufforderung enthielt insbesondere den erforderlichen Hinweis nach § 11 Abs. 8 Satz 2 FeV.
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2.1.2. Die materiellen Voraussetzungen zur Anforderung eines ärztlichen Gutachtens lagen im maßgeblichen Zeitpunkt der Begutachtungsanordnung (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – juris Rn. 14; BayVGH, B.v. 11.2.2019 – 11 CS 18.1808 – juris Rn. 18) ebenfalls vor.
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Hinsichtlich der Frage, wann ausreichende Anhaltspunkte vorliegen, gilt, dass die Beibringung eines Gutachtens nach allgemeinen Grundsätzen nur aufgrund konkreter Tatsachen, nicht auf einen bloßen Verdacht „ins Blaue hinein“ bzw. auf Mutmaßungen, Werturteile, Behauptungen oder dergleichen hin verlangt werden darf. Ein detaillierter Beleg ist allerdings nicht erforderlich, denn dann wäre der Mangel bereits nachgewiesen. Es genügt vielmehr im Sinne eines „Anfangsverdachts“, wenn ausreichende tatsächliche Anhaltspunkte bestehen (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2022 – 11 C 22.1748 – juris Rn. 14 m.w.N.). Demnach ist die Anordnung eines ärztlichen Gutachtens gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 FeV u.a. bereits bei Anhaltspunkten gerechtfertigt, die bei vernünftiger, lebensnaher Einschätzung die ernsthafte Besorgnis begründen, der Betreffende könnte einer eignungsausschließenden Erkrankung oder einem Mangel nach Anlage 4 oder 5 zur FeV unterliegen (vgl. VGH BW, B.v. 16.6.2003 – 10 S 430/03 – juris Rn. 6 ff. zum regelmäßigen Cannabiskonsum).
33
Es bestand Anlass, ein ärztliches Gutachten anzuordnen, weil der Antragsteller ausweislich der gerichtlichen Ausführungen (LG München I, U.v. 28.4.2021 a.a.O.) an einer endogenen Depression gelitten hatte. Das von der Antragsgegnerin in ihrer Gutachtensanordnung (S. 2) dargestellte Krankheitsbild, insbesondere die potenziell mit der Krankheit einhergehenden Beeinträchtigungen des Realitätsurteils, lassen eine negative Beeinflussung der Fahreignung in jedem Falle als naheliegend oder zumindest möglich erscheinen. Von einer hinreichenden Tatsachengrundlage war damit auszugehen da die Urteilsgründe des Landgerichts heranzuziehen waren (vgl. BayVGH, B.v. 15.1.2021 – 11 CS 20.2789 – juris Rn. 17). Die Übermittlung von Strafakten durch die Staatsanwaltschaft beruhte auch auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage (dazu NdsOVG, B.v. 6.4.2022 – 12 ME 37/11 – juris Rn.4).
34
Der Einwand vom Antragsteller, dass sich seine psychische Situation seit November 2019 erheblich verbessert habe und keine Anzeichen bestünden, dass sich sein Zustand seitdem verändert habe, lässt die Anordnungsbefugnis unberührt. Dieses Vorbringen wäre vielmehr im Rahmen des angeordneten Gutachtens darzulegen. Ohne Vorlage ärztlicher Nachweise jeglicher Art, musste die Antragsgegnerin jedoch zu der von ihr gewählten Form der Sachverhaltserforschung mittels Beibringung eines ärztlichen Gutachtens greifen. Es war und ist völlig unklar, wie sich die Erkrankung im ursprünglichen Zustand und dementsprechend auch im verbessertem Zustand darstellte. Die Ausführungen im strafrechtlichen Urteil (LG München I, U.v. 28.4.2021 a. a.O.), wonach der Antragsteller nach der Gabe von Venlafaxin und theapeutischen Gesprächen wieder in der Lage sei am täglichen Leben teilzunehmen und auch einer regelmäßigen Arbeitstätigkeit nachzugehen, lassen allenfalls Mutmaßungen über den gesundheitlichen Zustand des Antragstellers zu; einen Aussagewert bezüglich einer Fahreignung haben sie nicht.
35
Die zu begutachtenden Fragestellungen waren nicht zu beanstanden. Die formulierte Fragestellung war ausreichend bestimmt und angemessen. Dies setzt voraus, dass die bekannt gewordene Tatsache, d.h. der Mangel, die Krankheit bzw. die Beeinträchtigung, die die Zweifel an der Fahreignung begründen, zu benennen ist, jedenfalls mindestens hinsichtlich eines Oberbegriffs, wie er sich aus Anlage 4 ergibt (BeckOK StVR/Dronkovic, 17. Ed. 15.10.2022, FeV § 11 Rn. 26). Dies ist vorliegend der Fall. Der Fragen beschränkten sich auf die in Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV genannte Erkrankung. Der Vortrag der Antragstellerseite, die vorliegenden Fragen seien zu weit gefasst und würden jeden Bezug zum Sachverhalt vermissen lassen, wird vom Gericht nicht geteilt. Der Sachverhalt gab für eine konkretere Fragestellung keinen Raum. Sämtliche Erforschungsmaßnahmen im Vorfeld gingen ins Leere, sodass die Antragsgegnerin zu Recht mit dem ärztlichen Gutachten zunächst ermitteln musste, ob überhaupt eine psychische Erkrankung und wenn ja welche vorliegt. Ebenso kommt sie mit der Fragestellung, ob Nachuntersuchungen erforderlich seien, ihrer Aufgabe, die Beurteilungsgrundlage und den Beurteilungsrahmen selbst klar festzulegen, ausreichend nach.
36
Wie bereits erwähnt kann gegen eine Anordnungsbefugnis auch nicht eingewandt werden, dass die Antragsgegnerin selbst nicht von einer fahreignungsausschließenden Erkrankung i.S.d. Anlage 4 zur FeV ausgegangen wäre (vgl. unter 2.1.). Entscheidungserheblich ist vorliegend nicht die Frage, ob der Antragsteller tatsächlich einer zur Fahrungeeignetheit führenden Erkrankung i.S.d. Nr. 7 der Anlage 4 zur FeV unterlag, sondern ob Zweifel hieran begründet waren. Es sind somit keine Hinderungsgründe ersichtlich, weshalb die Antragsgegnerin nicht die Aussagen des landgerichtlichen Urteils hätte auswerten und zum Anlass für weitere Aufklärungsmaßnahmen hätte nehmen dürfen. Nachdem keine Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der gerichtlichen Darstellung im Urteil vom … April 2021 bestehen und vom Antragsteller auch nicht vorgetragen wurden, war die Antragsgegnerin dazu berechtigt die genannte psychische Erkrankung des Antragstellers zu erforschen.
37
Schließlich war die von der Antragsgegnerin festgelegte amtlich anerkannte Begutachtungsstelle für Fahreignung für die Art des geforderten Gutachtens geeignet und qualifiziert. Auch war die dem Antragssteller gewährte Frist zur Beibringung des ärztlichen Gutachtens innerhalb von drei Monaten ab Zustellung angemessen.
38
2.1.3. Ermessensfehler der Antragsgegnerin sind nicht ersichtlich. Sie hat erkannt, dass ihr durch § 11 Abs. 2 FeV ein Entschließungsermessen eingeräumt ist und hat dieses Ermessen auch rechtsfehlerfrei ausgeübt.
39
Die Antragsgegnerin hat insbesondere vor der Gutachtensanordnung mit Schreiben vom 11. November 2021 und 2. Februar 2022 Erforschungsmaßnahmen vorgenommen und damit dem Antragsteller die Möglichkeit gegeben, die entstandenen Zweifel auszuräumen um die Anordnung des ärztlichen Gutachtens abzuwenden. Nachdem der Antragsteller keine ärztlichen Dokumente vorlegte und sich dazu auch nicht äußerte, war es unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten nicht geboten, weitere Aufklärungsmaßnahmen vorzunehmen.
40
Im Übrigen muss die Behörde in der Beibringungsanordnung nicht begründen, warum sie sich bei bestehenden Eignungszweifeln neben anderen grundsätzlich in Betracht kommenden Gefahrerforschungsmaßnahmen gerade für diejenige der Beibringung eines ärztlichen Gutachtens entschieden hat. Denn die Begründungsanforderungen für die Gutachtensaufforderung sind in § 11 Abs. 6 FeV spezialgesetzlich und abschließend geregelt und sehen eine Begründung in dieser Hinsicht gerade nicht vor. Außerdem geht die Fahrerlaubnis-Verordnung davon aus, dass eine Person, deren Fahreignung Bedenken begegnet, diese Zweifel gerade durch ein auf eigene Kosten beizubringendes Gutachten auszuräumen hat, während die Fahrerlaubnisbehörde nicht verpflichtet ist, medizinische Maßnahmen zur Sachverhaltsaufklärung durch eigenes Fachpersonal vorzunehmen (NK-GVR/Felix Koehl, 3. Aufl. 2021, FeV § 11 Rn. 73).
41
In dem Einwand, die Antragsgegnerin habe erst ein Jahr nach Kenntniserlangung über die psychische Erkrankung des Antragstellers die Entziehung der Fahrerlaubnis angeordnet kann keine Ermessensverletzung erkannt werden. Der Vorwurf einer übermäßig langen Verfahrensdauer kann angesichts der im Falle einer Nichteignungsvermutung nach § 11 Abs. 8 FeV erforderlichen, vorzuschaltenden Gutachtensanordnung nicht geteilt werden; vorliegend waren ergänzend noch vorhergehende Erforschungsmaßnahmen vorzunehmen, sodass die Verfahrensdauer nicht unverhältnismäßig lang war. Im Übrigen traf die Gutachtensanordnung den Antragsteller nicht überraschend, da die Antragsgegnerin bereits im September 2021, also bereits zwei Monate nach Kenntniserlangung des Landgerichtsurteils, den Antragsteller mit bevorstehenden fahrerlaubnisrechtlichen Maßnahmen konfrontiert hatte.
42
Eine Unverhältnismäßigkeit kann auch nicht aus dem Umstand gefolgert werden, dass das strafrechtliche Urteil ein dreimonatiges Fahrverbot ausgesprochen hatte. Das Fahrerlaubnisrecht als Gefahrenabwehrrecht verfolgt eine anderweitige, präventive Zielrichtung (Klärung von Eignungszweifeln zum Schutz anderer Verkehrsteilnehmer), als die des repressiven Strafrechts. Zur Gewährleistung der Sicherheit des Straßenverkehrs und dem Ziel, Gefahren für Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer soweit wie möglich auszuschließen, stellte die vorliegende Gutachtensanordnung zur Klärung der Eignungszweifel eine verhältnismäßige Beschränkung der Rechte des Antragstellers dar (vgl. VG München, B.v. 21.12.2021 – M 19 S 21.5782 – juris Rn. 39; VG Gelsenkirchen, B.v. 8.10.2018 – 7 L 1307/18 – juris Rn. 10 ff.).
43
Da die Gutachtensanordnung rechtmäßig war und der Antragsteller das Gutachten nicht vorgelegt hat, musste die Behörde aus der Nichtvorlage auf die fehlende Eignung des Antragstellers schließen. Bezüglich der Nichteignungsvermutung des § 11 Abs. 8 FeV stand dem Antragsgegner kein Ermessenspielraum zu (vgl. BayVGH, B.v. 30.3.2021 – 11 ZB 20.1138 – juris Rn. 14). Daher konnten etwaige Folgen der Fahrerlaubnisentziehung wie die vom Antragsteller vorgebrachten beruflichen Sorgen nicht berücksichtigt werden. Gleiches gilt bezüglich einer etwaigen beanstandungsfreien Teilnahme am Straßenverkehr.
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2.2. Da die sofortige Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis der summarischen gerichtlichen Überprüfung standhält, verbleibt es auch bei der zur Entziehung akzessorischen Ablieferungspflicht aus Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids. Diese Verpflichtung findet ihre Rechtsgrundlage in § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG, § 47 Abs. 1 FeV.
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3. Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Die Streitwertfestsetzung basiert auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz – GKG – i.V.m. den Nrn. 1.5 Satz 1, 46.1 (Auffangwert) und 46.3 (Auffangwert) des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Stand Juli 2013). Maßgeblich sind die Fahrerlaubnisklassen A und B. Der nach Nr. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs in Antragsverfahren zu halbierende Gesamtstreitwert von 10.000 EUR ergibt einen Streitwert von 5.000 EUR.