Titel:
Besitzstörung durch Werbeflyereinwurf
Normenkette:
BGB § 858
Leitsatz:
Eine Besitzstörung ist grundsätzlich anzunehmen durch das Einwerfen von Werbe-Flyern, wenn erkennbar zu verstehen gegeben wird, dass der Einwurf von Werbung nicht erwünscht ist. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Besitzstörung, verbotene Eigenmacht, Werbeflyer, Briefkasten
Fundstellen:
BeckRS 2022, 44467
LSK 2022, 44467
VuR 2023, 200
Tenor
1. Die Beklagte wird verurteilt, es bei Vermeidung eines vom Gericht für jeden Fall der Zuwiderhandlung festzusetzenden Ordnungsgeldes bis zu € 250.000, ersatzweise Ordnungshaft oder Ordnungshaft bis zu sechs Monaten, letztere zu vollziehen am Geschäftsführer der persönlich haftenden Gesellschafterin der Beklagten,
Werbematerial unaufgefordert auf der Briefkastenanlage oder vor dem Hauseingang des Anwesens München abzulegen, insbesondere nicht durch deren Festklemmen in Ritzen und Zwischenräumen in der Konstruktion der Briefkastenanlage wie geschehen am 7. Mai 2021.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 1.500,00 € vorläufig vollstreckbar.
4. Der Streitwert wird auf 3.500,00 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über einen Unterlassungsanspruch hinsichtlich der unerwünschten Ablage von Werbematerial in einer Briefkastenanlage und im Eingangsbereich eines Mehrfamilienhauses.
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Der Kläger bewohnt eine Wohnung im Mehrfamilienhaus München. Die Beklagte betreibt ein Umzugsunternehmen und beauftragt regelmäßig Personen mit der Verteilung von Werbeflyern für ihr Umzugsunternehmen auch im Wohngebiet des Klägers.
3
Am 07.05.2021 fand der Kläger an der Briefkastenanlage des Anwesens zwei Werbeflyer des Unternehmens der Beklagten vor, welche in eine Ritze zwischen einem Briefkasten und einem darunter liegenden Totraum geklemmt waren (Anlage K 1). Sämtliche Briefkästen der Anlage sind mit dem Hinweis „Bitte keine Werbung einwerfen“ gekennzeichnet.
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Der Kläger forderte die Beklagte daraufhin mit Schreiben vom 08.05.2021 zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung auf, eine Reaktion hierauf erfolgte nicht.
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Der Kläger hat weitere in ähnlicher Weise verteilte Flyer der Beklagten bildlich dokumentiert am 18.06.2021 (Anlage K 4) und 25.10.2021 (Anlage zum Protokoll vom 17.11.2021, Bl. 20 d.A.).
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Er behauptet, die Beklagte habe die Werbeflyer in dieser rücksichtslosen Art verteilen lassen. Die Bewohner des Hauses, die schon keine Werbung erhalten möchten, legten erst Recht keinen Wert auf anderweitig wild abgelegte oder befestigte Reklame. Hierdurch erhöhe sich der Lästigkeitsfaktor beträchtlich.
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Der Kläger ist der Auffassung, dass er als Mitbewohner Mitbesitz an den Gemeinschaftsanlagen des Anwesens habe und daher berechtigt sei, Abwehransprüche bei Beeinträchtigung dieses Rechts auch ohne Mitwirkung der übrigen Mitbesitzer aus eigenem Recht geltend zu machen.
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Der Kläger hat beantragt,
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Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
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Sie meint, der Kläger mache zu weit gehende Ansprüche geltend.
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Sie hält sich für nicht passivlegitimiert, da sie die angeblich störende Art einer Verteilung von Werbematerial nicht veranlasst und nicht zu vertreten habe.
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Die von ihr beauftragten Personen hätten im Mai nicht im Wohngebiet des Klägers verteilt. Sie seien zudem angewiesen, Werbung nur in Briefkästen einzulegen, wenn diese keinen Hinweis enthalten, dass der Nutzer keine Werbung im Briefkasten haben möchte. Sie hätten im Übrigen auch keine Zeit und Lust, mit dem Werbematerial in kindlicher Art und Weise zu spielen und irgendwelche Ritzen und Fugen zu suchen, in denen sie das Werbematerial drapieren könnten.
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Die Beklagte weist darauf hin, dass die Briefkastenanlage für jeden Passanten zugänglich sei und unbekannte Dritte das Werbematerial dort ablegt haben könnten. So hätten sich etwa zwei Mädchen bei ihr gemeldet, die Fans des Unternehmens seien und die Verteilung der Flyer als Hobby betrieben. Zudem gäbe es andere Werbeverteiler, die absichtlich aus Ärger über manche Anwohner diesen aus Rache die Briefkästen mit fremden Werbematerial füllten. Zudem sei nicht auszuschließen, dass der Kläger selbst die Anlagen mit den Flyern gespickt habe.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch uneidliche Vernehmung der Zeugen T und O. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird Bezug genommen auf die Sitzungsniederschrift vom 02.02.2022.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Parteien (26. Juli 2021, 28. September 2021 (Kläger); 9. September 2021, 23. November 2021, 3. Februar 2022 (Beklagte)) und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 17. November 2021 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig und begründet.
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Die Klage ist zulässig. Das Amtsgericht ist sachlich gem. §§ 23 Nr. 1, 71 GVG und örtlich gem. §§ 12, 17 I ZPO zuständig.
18
Die Klage ist auch begründet.
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Dem Kläger steht ein Anspruch auf Unterlassung aus §§ 823 Abs. 1, 863 BGB in Verbindung mit § 1004 BGB analog zu. Der Kläger wurde durch die Beklagte in seinem Besitz bzw. Mitbesitz rechtswidrig gestört, es besteht Wiederholungsgefahr und die Beklagte ist Störerin.
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1. Der unmittelbare (rechtmäßige) Besitz wird als „sonstiges Recht“ gem. § 823 I BGB geschützt (Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 823 Rn. 324). Eine Besitzstörung ist grundsätzlich anzunehmen durch das Einwerfen von Werbe-Flyern, wenn wie hier erkennbar zu verstehen gegeben wird, dass der Einwurf von Werbung nicht erwünscht ist (Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 858 Rn. 5; BGHZ 106, 229 (232 f.) = NJW 1989, 902 (903)). Dem Wohnungsbesitzer steht das Recht aus § 862 BGB zu, sich gegen eine Beeinträchtigung seiner räumlich-gegenständlichen Sphäre durch das Aufdrängen von unerwünschtem Werbematerial zur Wehr zu setzen. Angesichts des erreichten Ausmaßes derartiger Werbung nach Quantität und Intensität kann keine Rede davon sein, dass der Besitz nur unwesentlich beeinträchtigt ist (BGHZ 106, 229 (232 f.) = NJW 1989, 902 (903)). Ohnehin existiert eine Erheblichkeitsschwelle, die überschritten sein muss, damit von einer Beeinträchtigung und nicht nur von einer Belästigung gesprochen werden kann, nicht (BeckOGK BGB, 1.2.2022, § 1004 Rn. 116).
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Zwar wurde im vorliegenden Fall der Werbeflyer nicht in den dem Kläger zugewiesenen Briefkasten gesteckt; der Kläger wurde jedoch jedenfalls in seinem Mitbesitz an der Briefkastenanlage und am Eingangsbereich des Mehrfamilienhauses gestört. Selbst wenn der Kläger nur Mieter einer Wohnung des betroffenen Anwesens wäre, steht ihm auch das Recht zur Mitbenutzung der Gemeinschaftsflächen des Hauses zu. Sind keine besonderen Vereinbarungen getroffen, umfasst das Recht die übliche Benutzung und deckt alle mit dem Wohnen typischerweise verbundenen Umstände (BGH, Urteil vom 10. November 2006 – V ZR 46/06 –, Rn. 9, juris). Dem Kläger ist danach Mitbesitz auch an der Briefkastenanlage einschließlich des Eingangsbereichs des Anwesens eingeräumt (vgl. hierzu etwa Gies in: Herberger/Martinek/Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, 9. Aufl., § 866 BGB (Stand: 01.07.2020), Rn. 19 m.w.N.). Im Verhältnis zur Beklagten als Dritter ist der Besitzschutz des Klägers als Mitbesitzer nicht eingeschränkt. Jeder Mitbesitzer hat bei Beeinträchtigungen seines Mitbesitzes die Rechte aus §§ 859 ff. BGB; er kann sie allein gerichtlich geltend machen (Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 866 Rn. 14). Soweit ein entgegenstehender Wille der übrigen Mitbesitzer hieran überhaupt etwas ändern könnte ist ein solcher beklagtenseits nicht dargetan und angesichts des Versehens sämtlicher Briefkästen mit dem Hinweis, dass Werbung unerwünscht ist, auch fernliegend.
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2. Die Beklagte ist mittelbare Handlungsstörerin: Handlungsstörer ist derjenige, der die Rechtsgutsverletzung durch sein Verhalten (positives Tun oder pflichtwidriges Unterlassen) adäquat verursacht hat (Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 1004 Rn. 165). Die Beklagte ist mittelbare Störerin, da sie Flyer der gegenständlichen Art unstreitig auch im streitgegenständlichen Zeitraum in München hat verteilen lassen.
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Der Einwand der Klägerin, ihre Austräger hätten die Flyer im konkreten Fall nicht verteilt, greift nicht durch. Nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises kann davon ausgegangen werden, dass Handzettel eines Unternehmens auch von Werbeverteilern, die für das Unternehmen tätig sind, im Zuge von Werbeaktionen eingeworfen wurden. Hierbei handelt es sich um einen typischen Geschehensablauf. Die pauschale Behauptung, Dritte könnten Handzettel verteilt haben, steht der Bejahung des Anscheinsbeweises nicht entgegen (vgl. in ähnlicher Konstellation BGH, Urteil vom 20. Dezember 1988 – VI ZR 182/88 –, BGHZ 106, 229-236, Rn. 15). Es ist unstreitig, dass die Beklagte jedenfalls auch im Jahr 2021 Werbung in München hat verteilen lassen, auch wenn sie – im Übrigen ebenfalls deutlich zu pauschal – vorträgt, zum Zeitpunkt der gegenständlichen Störung sei im Gebiet des Klägers nicht ausgetragen worden. Nach den Angaben der Austräger der Beklagten, den Zeugen S und Z, beschäftigt die Beklagte einen Disponenten, der die Verteilung von Werbematerial koordiniert. Dennoch trägt die Beklagte nicht vor, ob, wann und wo sie ihr Werbematerial im gegenständlichen Zeitraum hat verteilen lassen. Auch den Disponenten hat sie weder namentlich benannt noch als Zeugen angeboten.
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Der Beklagten ist es auch im Rahmen der Beweisaufnahme nicht gelungen Tatsachen zu beweisen, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines abweichenden (atypischen) Ablaufs ergibt. Zwar haben die beiden genannten Zeugen grundsätzlich angegeben, die Flyer nicht auf die vom Kläger dokumentierte Weise zu verteilen; sie konnten jedoch zum konkreten Tatgeschehen keinerlei Angaben machen, insbesondere nicht mehr angeben, dass sie am 07.05.2021 gar nicht im Gebiet des Klägers tätig waren. Zudem hat die Zeugin S angegeben, dass es zu dem angegebenen Zeitpunkt noch einen weiteren für die Beklagte tätigen Verteiler gegeben habe, der mittlerweile verstorben sei. Auch dieser kommt daher für die vom Kläger gerügte Verteilung in Betracht. Beide Zeugen konnte zudem die von der Beklagten vermuteten Handlungen Dritter, etwa von Kindern oder Fremdausträgern, weder generell noch konkret bestätigen. Hinzu kommen die vom Kläger durch Lichtbilder dokumentierten gleichartigen Verteilungen zu weiteren Zeitpunkten und an weiteren Orten. Soweit die Beklagte dem Kläger tatsächlich zur Last legen will, dieser habe die Flyer in prozessbetrügerischer Weise selbst drapiert, haben sich auch hierfür nicht die geringsten Anhaltspunkte ergeben.
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3. Auch der Einwand der Beklagten, sie habe die von ihr beauftragten Austräger angewiesen, Werbung nur auf erlaubte Weise zu verteilen (s. Schreiben vom 04.01.2021, Bl. 19 d.A.), verfängt nicht. Ein Vertretenmüssen der Beeinträchtigung ist im Rahmen des geltend gemachten Unterlassungsanspruchs nicht erforderlich. Die Beklagte ist im Übrigen gehalten, alle ihr zu Gebote stehenden rechtlichen und wirtschaftlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um weitere Rechtsbeeinträchtigungen des Klägers auszuschließen; nur rechtlich oder wirtschaftlich unzumutbare Maßnahmen – wie etwa die Unterlassung der Werbung mit Handzetteln überhaupt – können ihr nicht abverlangt werden. Auch für die Frage der Zumutbarkeit ist aber dem Rang des schutzwerten Interesses an der Respektierung des Eigenbereichs Rechnung zu tragen. Dabei trifft sie die Darlegungs- und Beweislast für die Schritte, die sie in dieser Richtung unternommen hat (vgl. BGH, Urteil vom 30. Oktober 1981 – V ZR 191/80 – NJW 1982, 440, 441). Die Beklagte ist gehalten, die von ihr beauftragten Verteiler eindringlich auf die Notwendigkeit einer entsprechenden Organisation und Kontrolle der Werbeaktion hinzuweisen, sich über den Einsatz geeigneter Schutzvorkehrungen zu vergewissern, Beanstandungen nachzugehen, schließlich gegebenenfalls dem Anliegen durch Androhung wirtschaftlicher und rechtlicher Sanktionen einen stärkeren Nachdruck zu verleihen. Zu denken ist hier etwa an eine Vertragsstrafenvereinbarung (s. BGH, a.a.O. Rn. 16 – 17). Zur Einleitung derartiger weitergehender Maßnahmen hat die Beklagte jedenfalls nach dem vom Kläger gerügten Verstoß jedoch nichts vorgetragen.
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4. Die Rechtswidrigkeit des Verstoßes wird indiziert, Wiederholungsgefahr ist auch für die Zukunft nicht ausgeräumt. Dass eine Beeinträchtigung bereits stattgefunden hat, ist ein Indiz für das Drohen weiterer Beeinträchtigungen (Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 1004 Rn. 303). Auf den von der Beklagten bestrittenen Zugang der klägerischen Abmahnung kommt es daher nicht an.
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5. Die Androhung des Ordnungsmittels ergibt sich aus § 890 ZPO.
28
III. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 709 ZPO.
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Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf §§ 3 ZPO, 63 Abs. 2 S. 1 GKG.