Inhalt

LG Deggendorf, Urteil v. 28.03.2022 – 1 Ks 8 Js 5270/21
Titel:

Schuldunfähigere bei paranoider Schizophrenie; Mordmerkmale

Normenkette:
StGB § 20, § 63, § 211, § 212
Leitsätze:
1. Das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründeist zu verneinen, wenn der Beschuldigte unter Verlust des Realitätsbezuges unter dem Eindruck einer wahnhaften Vorstellung handelte (hier: im Körper des Opfers befänden sich zwei Personen, die er herausholen müsse). Eine sittliche Bewertung seiner Tatantriebe war dem Beschuldigten in Anbetracht seines wahnhaften Realitätsverlustes, der bei der Begehung der Tat zu einer Aufhebung seiner Einsichtsfähigkeit geführt hat, in subjektiver Hinsicht im Ansatz nicht möglich. (Rn. 106) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein solcher wahnhafter Realitätsverlust führt auch dazu, dass selbst eine Vielzahl von Messerstichen nicht als Grausamkeit iSv § 211 StGB zu bewerten ist. (Rn. 114) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Unterbringung, psychiatrisches Krankenhaus, paranoide Schizophrenie, Schuldunfähigkeit, Einsichtsfähigkeit, emotional-instabile Persönlichkeitsakzentuierung, krankhafte seelische Störung, floride Phase, Steuerungsfähigkeit, Mordmerkmale, Grausamkeit, niedrige Beweggründe
Fundstelle:
BeckRS 2022, 44395

Tenor

1. Die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus wird angeordnet.
2. Der Beschuldigte trägt die Kosten des Verfahrens.

Entscheidungsgründe

A. Persönliche Verhältnisse
I. Herkunft, Familie, Migration, Ankunft und Leben in Deutschland
1
Der Beschuldigte wurde nach eigenen Angaben am ... 2000 in Mogadischu in Somalia geboren. Er ist somalischer Staatsangehöriger, ledig und hat keine Kinder. Der Beschuldigte wuchs als jüngstes Kind mit neun Geschwistern, sechs älteren Brüdern und drei älteren Schwestern, bei seinen Eltern in Somalia auf. Die Eltern des Beschuldigten sind ca. 60 Jahre alt. Der Vater des Beschuldigten arbeitete als Viehhändler. Die Mutter des Beschuldigten arbeitete als Verkäuferin. Die Eltern und die Geschwister des Beschuldigten leben in Somalia.
2
Der Beschuldigte erlebte in Somalia nach eigenen Angaben eine normale Kindheit. Er hatte in seiner Kindheit keine Gewalterfahrungen gemacht oder Kriegserlebnisse gehabt. Die Familie lebte in geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen.
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Im Jahr 2016 fasste der Beschuldigte den Entschluss, nach Europa auszuwandern. Er reiste mit dem Bus von Somalia aus durch Äthiopien in den Sudan, wo er ca. vier Monate lang blieb. Vom Sudan aus reiste er nach Libyen, wo er ca. ein Jahr lang in einem Lager untergebracht war und nach eigenen Angaben geschlagen wurde; nach der Zahlung eines Geldbetrages in Höhe von 7.000 $, den seine Eltern über Western Union überwiesen hatten, wurde er aus dem Lager entlassen. Nach der Entlassung aus dem Lager versuchte er, mit einem Boot über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, wurde jedoch auf der Fahrt von Soldaten aufgehalten und zurück nach Libyen und anschließend nach Niger gebracht. In Niger war er ca. ein Jahr lang in einem Lager untergebracht. Dort erhielt er unter Vermittlung des UNHCR am 09.10.2018 im Rahmen des Programms zur „Neuansiedlung von Schutzsuchenden“ (sog. Resettlement) durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine Aufnahmezusage und wurde mit dem Flugzeug am 15.10.2018 nach Deutschland gebracht.
4
Nach seiner Ankunft in Hannover am 15.10.2018 wurde der Beschuldigte für ca. zwei Wochen im Grenzdurchgangslager Friedland aufgenommen. Anschließend wurde er auf den Freistaat Bayern bzw. den Regierungsbezirk N. verteilt und lebte nach Zuweisung durch die Regierung von N. ca. ein Jahr lang in einer Asylbewerberunterkunft in B. Danach wohnte er ca. sechs Monate lang in einem Mitarbeiterzimmer eines Besteckfachhandels in P., bei dem er als Spüler arbeitete. Nachdem das Arbeitsverhältnis im Juli 2020 gekündigt worden war, musste er aus dem Zimmer in P. ausziehen, so dass er in der Folge versuchte, wieder in die Asylbewerberunterkunft in B. zurückzukehren. Da ihm die Rückkehr in die Asylbewerberunterkunft in B. jedoch nicht gestattet wurde und er keinen festen Wohnsitz hatte, wurde er am 27.07.2020 durch die Polizei in die Obdachlosenunterkunft in der B. Straße ... in R. gebracht, in der ihm durch die Stadt R. ein Zimmer zur Verfügung gestellt wurde, das er, unterbrochen durch Haft- und Unterbringungszeiten in anderer Sache, bis zu seiner Inhaftierung in dieser Sache am 19.07.2021 bewohnte.
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Zeitweise hatte der Beschuldigte den Wunsch, in seine Heimat nach Somalia zurückzukehren. Er versuchte deshalb, sich bei der somalischen Botschaft in Berlin die erforderlichen Papiere für eine Rückkehr nach Somalia zu beschaffen, jedoch ohne Erfolg.
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Mit Beschluss des Amtsgerichts V. vom 14.04.2021, Az. …, wurde für den Beschuldigten eine Betreuung angeordnet, die folgende Aufgabenkreise umfasst: Vermögenssorge, Gesundheitsfürsorge, Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post im Rahmen der übertragenen Aufgabenkreise, Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern, Vertretung in Arbeitsangelegenheiten, Wohnungsangelegenheiten. Zum Betreuer des Beschuldigten wurde der Berufsbetreuer E. L. aus P. bestellt.
II. Schulische Entwicklung, beruflicher Werdegang, wirtschaftliche Verhältnisse
7
Der Beschuldigte, der keinen Kindergarten besucht hatte, wurde in Somalia mit sechs Jahren eingeschult und besuchte die Schule bis zur 6. Klasse. Er beendete die Schule nach der 6. Klasse ohne Schulabschluss. Nach der Beendigung der Schule half er seiner Mutter bei ihrer Arbeit als Verkäuferin. Eine Berufsausbildung begann er nicht. Nachdem er Somalia verlassen hatte, arbeitete er ca. vier Monate lang als Ziegenhirte im Sudan.
8
Nach seiner Ankunft in Deutschland nahm der Beschuldigte an einem sechsmonatigen Deutschkurs an der Volkshochschule in R. teil. Er erhielt Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Höhe von ca. 350 € im Monat. Im Jahr 2020 arbeitete er ca. sechs Monate lang als Spüler in einem Besteckfachhandel in P. und erzielte hieraus ein monatliches Nettoeinkommen in Höhe von 1.200 €. Da ihn die Arbeit jedoch stark belastete und seine Leistungen nicht den Anforderungen entsprachen, wurde das Arbeitsverhältnis im Juli 2020 gekündigt. In der Folge ging der Beschuldigte keiner Erwerbstätigkeit mehr nach, sondern bezog bis zu seiner Inhaftierung in dieser Sache am 19.07.2021 Sozialleistungen (Arbeitslosengeld II) in Höhe von ca. 420 € im Monat. Er lebte in der Obdachlosenunterkunft in R. bis zu seiner Inhaftierung struktur- und ziellos in den Tag hinein und gab sein Geld mit Vorliebe für Alkohol, Zigaretten und Cannabis aus.
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Der Beschuldigte hat kein nennenswertes Vermögen und keine nennenswerten Schulden.
III. Gesundheit und Suchtanamnese
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1. In körperlicher Hinsicht ist der Beschuldigte gesund. Seine Geburt und seine frühkindliche Entwicklung verliefen unauffällig; erhebliche Erkrankungen oder Unfälle sind nicht bekannt. In der Kindheit litt er einmal an einem Abszess am Rücken, der nach Entfernung des Eiters ohne Folgen ausheilte. Überdies schlug ihm in der Kindheit eine seiner Schwestern beim Spielen einen Stein auf den Hinterkopf; hierdurch entstand eine blutende Wunde, die im Krankenhaus versorgt werden musste, jedoch ohne Folgen ausheilte. Bei seinem Aufenthalt in Libyen wurde er mit einem Stock auf den Rücken geschlagen; hierdurch entstanden jedoch keine bleibenden Schäden. Nach seiner Ankunft in Deutschland kam es zu keinen erheblichen Erkrankungen oder Unfällen, jedoch fügte sich der Beschuldigte wiederholt erhebliche Selbstverletzungen (Schnitt- und Bisswunden) zu, die mittlerweile verheilt bzw. vernarbt sind. Er hat gegenwärtig keine körperlichen Beschwerden.
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2. In geistiger Hinsicht leidet der Beschuldigte an einer paranoiden Schizophrenie (ICD-10: F20.0). Daneben weist der Beschuldigte eine emotional-instabile Persönlichkeitsakzentuierung auf, die jedoch nicht das Ausmaß einer Persönlichkeitsstörung erreicht. Überdies bestand bei ihm ein schädlicher Gebrauch von Alkohol und Cannabis, ohne jedoch die Kriterien eines Abhängigkeitssyndroms zu erfüllen. Seine Intelligenz liegt im Durchschnittsbereich.
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In Somalia hatte der Beschuldigte nach eigenen Angaben keine seelischen Probleme. Bei seinem Aufenthalt in Libyen hatte er Sinnzweifel und Selbstmordgedanken und litt unter der Vorstellung, dass in der Nacht der „Scheitan“ zu ihm komme. Bei seinem Aufenthalt in Niger besserte sich sein seelischer Zustand. Nach seiner Ankunft in Deutschland traten bei dem Beschuldigten, spätestens seit dem Jahr 2020, unabhängig vom Konsum von Alkohol oder Drogen, psychotische Symptome in Gestalt von Stimmenhören und Wahnvorstellungen auf. Der Beschuldigte nahm unter anderem Befehle, Beschimpfungen und Schreie von Stimmen in seinem Kopf und aus den Wänden wahr. Daneben litt er unter der Vorstellung, dass der „Scheitan“ in der Nacht zu ihm komme und ihn hole. Überdies hatte er den Eindruck, dass im Radio über ihn gesprochen werde. Ferner hatte er die Empfindung, dass ihm in der Nacht eine Festplatte der Illuminaten oder einer fremden Religion eingepflanzt worden sei. Außerdem nahm er die Gestalten von Statuen und Dämonen wahr, die ihn beobachteten und mit ihm sprachen.
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Der Beschuldigte trat mit deutlichen Verhaltensauffälligkeiten in Erscheinung, unter anderem führte er Selbstgespräche und fügte sich – nach eigenen Angaben in erster Linie zum „Stressabbau“ – wiederholt erhebliche Selbstverletzungen (Schnitt- und Bisswunden) zu.
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Am 11.09.2020 unternahm der Beschuldigte in K. einen Suizidversuch, indem er versuchte, sich mit einer abgebrochenen Glasflasche die Schlagadern am Handgelenk aufzuschneiden. Durch die Polizei wurde er zur ärztlichen Versorgung in das Klinikum K. gebracht. Dort versuchte er, aus dem 8. Stock des Gebäudes zu springen. Er wurde am 18.09.2020 in die Psychiatrie des Klinikums K. gebracht, konnte jedoch am 20.09.2020 flüchten und kehrte in die Obdachlosenunterkunft nach R. zurück.
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Nach seiner Inhaftierung in der Justizvollzugsanstalt L. in anderer Sache am 30.09.2020 nahm das Stimmenhören des Beschuldigten zu. Am 02.10.2020 fügte sich der Beschuldigte in einem Haftraum der Justizvollzugsanstalt L. mit Spiegelscherben eine Vielzahl von Schnittverletzungen im Bereich des Bauches und mit einer Gabel eine massive kreisförmige in den Bauchraum reichende Wunde zu, indem er sich mit der Gabel Körpergewebe aus dem Bauch entfernte. Der Beschuldigte handelte in der Vorstellung, der „Scheitan“ stecke in seinem Körper. Durch das Öffnen des Bauches wollte er dem „Scheitan“ nach eigenen Angaben die Möglichkeit geben, seinen Körper zu verlassen. Zur ärztlichen Behandlung wurde er in das Klinikum L. verbracht, wo die Wunde chirurgisch versorgt werden musste.
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Nach seiner Verlegung in die Forensik des Bezirksklinikums M. am 12.10.2020 wurde der Beschuldigte mit einem Neuroleptikum (Olanzapin 5 mg) behandelt, infolgedessen die psychotischen Symptome abklangen. Ein Absetzversuch führte zu einem Wiederauftreten der Symptome, insbesondere zu Anspannung, Unruhe, Stimmenhören, Selbstgesprächen und grundlosem Lachen. Durch das erneute Ansetzen des Neuroleptikums (Olanzapin 5 mg) klangen die Symptome wieder ab. In der Folge wurde der Beschuldigte am 27.01.2021 in die Justizvollzugsanstalt L. zurückverlegt. Seine Entlassung aus der Justizvollzugsanstalt L. am 15.02.2021 führte zum Absetzen des Neuroleptikums, infolgedessen die Symptome wieder auftraten.
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Nachdem sich der Beschuldigte seit 10.06.2021 im Vollzug einer Ersatzfreiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt L. befunden hatte, wurde er bereits am 21.06.2021 wieder aus der Haft entlassen, da er wegen Selbstverletzungen nicht für haftfähig befunden wurde.
18
Am 30.06.2021 wurde der Beschuldigte durch seinen Betreuer E. L., den Verfahrenspfleger K. G. und einen Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe des Landratsamts R., A. L., in der Obdachlosenunterkunft in R. aufgesucht, da er gegenüber seinem Betreuer geäußert hatte, sich mit Alkohol umbringen zu wollen. Kurz vor dem Eintreffen der Personen hatte sich der Beschuldigte mit einer Rasierklinge den Arm aufgeschnitten und weigerte sich, die Personen in sein Zimmer zu lassen. Als der Verfahrenspfleger K. G. bemerkte, dass der Beschuldigte am Arm eine blutende Schnittwunde hatte und sich auf dem Boden seines Zimmers eine größere Menge Blut befand, drängte der Beschuldigte den Verfahrenspfleger K. G. aus der Tür und schloss sich in seinem Zimmer ein. Nach der Verständigung der Polizei flüchtete der Beschuldigte durch das Fenster aus seinem Zimmer. Er konnte durch die Polizei im Stadtgebiet von R. aufgegriffen werden und wurde nach der Versorgung der Schnittwunde im Krankenhaus Z. in die Allgemeinpsychiatrie des Bezirksklinikums M. gebracht. Dort erklärte er am 01.07.2021, freiwillig im Bezirksklinikum M. bleiben zu wollen, flüchtete jedoch am 02.07.2021 und kehrte in die Obdachlosenunterkunft nach R. zurück.
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Bis zu seiner Inhaftierung in dieser Sache am 19.07.2021 traten bei dem Beschuldigten mit zunehmender Intensität Stimmenhören und Wahnvorstellungen auf; unter anderem nahm er Stimmen wahr, die ihn zum Töten aufforderten.
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Seit seiner Aufnahme in der Forensik des Bezirksklinikums M. am 19.07.2021 wird der Beschuldigte wieder mit einer neuroleptischen Medikation behandelt, infolgedessen die psychotischen Symptome abgeklungen sind; seit 06.10.2021 erhält er vierwöchentlich eine Depotmedikation (Haloperidol 150 mg).
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3. Der Beschuldigte raucht seit ca. 5 Jahren Zigaretten, aktuell ca. 7 – 8 Zigaretten am Tag.
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Bei seinem Aufenthalt in Niger begann er mit dem Konsum von Alkohol; dort trank er mit anderen Personen im Durchschnitt ca. zwei- bis dreimal in der Woche jeweils ein bis zwei Flaschen Whisky. In Deutschland setzte er den Konsum von Alkohol fort; bereits am Tag der Ankunft in Deutschland trank er Alkohol. Zunächst trank er hauptsächlich Bier, im Durchschnitt ca. zwei Flaschen Bier am Tag. Im Jahr 2019 hörte er mit dem Konsum von Alkohol vorübergehend auf, fing jedoch im Jahr 2020 wieder mit dem Konsum von Alkohol an, da er über seine Arbeitslosigkeit frustriert war. Bis zu seiner Inhaftierung in anderer Sache am 30.09.2020 trank er im Durchschnitt ca. 1,5 Liter Weißwein am Tag; daneben trank er Bier oder Schnaps. In der Folge seiner Inhaftierung am 30.09.2020 litt er wegen des Entzugs von Alkohol in der ersten Zeit an starkem Zittern. Nach seiner Entlassung am 15.02.2021 setzte er den Konsum von Alkohol trotz gerichtlicher Abstinenzweisung fort und trank im Durchschnitt bis zu seiner Inhaftierung in dieser Sache am 19.07.2021 nach eigenen Angaben bis zu 5 Liter Weißwein am Tag; daneben trank er Bier oder Schnaps.
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In Somalia begann der Beschuldigte mit 14 Jahren mit dem Konsum von Kath; er konsumierte die Droge bis zum Alter von 16 Jahren im Durchschnitt ca. ein- bis zweimal in der Woche. Bei seinem Aufenthalt in Niger begann er mit dem Konsum von Cannabis. In Deutschland konsumierte er im Durchschnitt ca. 1 – 2 g Cannabis am Tag. Darüber hinaus konsumierte er bislang ca. fünfmal Kokain, zuletzt während seines Aufenthalts in der Obdachlosenunterkunft in R.
IV. Vorstrafen
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Der Beschuldigte ist in Deutschland bereits strafrechtlich in Erscheinung getreten. Die Auskunft aus dem Bundeszentralregister weist zwei Eintragungen auf:
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1. Mit Strafbefehl des Amtsgerichts V. vom 18.08.2020, rechtskräftig seit 22.09.2020, Az. …, wurde gegen den Beschuldigten wegen Sachbeschädigung in zwei Fällen in Tateinheit mit Hausfriedensbruch in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung eine Gesamtgeldstrafe in Höhe von 130 Tagessätzen zu je 10,00 € verhängt (= BZR Ziffer 1).
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Dem Strafbefehl lag folgender Sachverhalt zugrunde:
„1.)
Am 11.04.2019 gegen 13 Uhr riss der Angeklagte wissentlich und willentlich ein Telefon in der Asylbewerberunterkunft im L.weg ... in … B. aus der Wand. Es entstand dabei, wie von dem Angeklagten beabsichtigt, ein Sachschaden in Höhe von 100 €.
Strafantrag wurde form- und fristgerecht gestellt.
2.)
Am 28.08.2019 gegen 00:21 Uhr betrat der Angeklagte das Pils Pub ‚P.‘ in der R.straße ... in … B., obwohl er wusste, dass ihm zuvor von dem Inhaber des Lokals Herrn W. ein Hausverbot erteilt wurde. Der Geschädigte W. forderte den Angeklagten daher auf, sein Lokal zu verlassen. Dem kam der Angeklagte jedoch nicht nach, so dass ihn der Geschädigte W. aus dem Lokal führte. Auf dem Weg zur Tür warf der Angeklagte absichtlich eine Flasche Bier in den Thekenbereich, wo er eine Tonbandmaschine und ein Sammler-Werbeplakat traf. Es entstand dabei, wie von dem Angeklagten beabsichtigt, ein Sachschaden in Höhe von 350 €. Anschließend bugsierte der Geschädigte den Angeklagten aus dem Lokal und reichte ihm seinen mitgebrachten Rucksack. Diesen nahm der Angeklagte entgegen und schleuderte ihn bewusst an den Kopf des Geschädigten. Dieser zog sich dadurch, wie von dem Angeklagten zumindest billigend in Kauf genommen, eine kleine Wunde am Kopf zu.
Strafantrag wurde form- und fristgerecht gesteilt.“
27
Der Beschuldigte befand sich in jenem Verfahren von 10.06.2021 bis 21.06.2021 im Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt L.
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2. Mit Urteil des Amtsgerichts D. vom 15.02.2021, rechtskräftig seit 15.02.2021, Az. …, wurde der Beschuldigte wegen vorsätzlicher Körperverletzung und räuberischen Diebstahls und Diebstahls in Tateinheit mit versuchter gefährlicher Körperverletzung und Erschleichens von Leistungen in 10 Fällen und Hausfriedensbruchs in Tateinheit mit Sachbeschädigung unter Einbeziehung des Strafbefehls des Amtsgerichts V. vom 18.08.2020, Az. …, zu einer Jugendstrafe von 1 Jahr 6 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung (Bewährungszeit: 2 Jahre) ausgesetzt wurde.
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Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde:
„1.)
Am 26.08.2020 in der Zeit von 13:45 bis 13:55 Uhr sprach der Angeklagte die 10-jährige E. B. im K.park in R. nahe des Spielplatzes an und forderte sie auf, ihm 20,00 – 30,00 € zu geben. Hierbei fasste der Angeklagte E. B. bereits ins Haar und riss ihr auch Haare aus. Als E. B. es ablehnte, ihm Geld zu geben, und weiter Richtung Einkaufszentrum ging, ging der Angeklagte über eine Strecke von circa 500 Metern dicht neben ihr mit ihr mit. Er fasste ihr dabei immer wieder in die Haare, zog an ihnen und streichelte sie außerdem am Rücken und an den Schultern, obwohl E. B. ihm beim zweiten Mal sagte, dass er aufhören soll. Dies war E. B. sehr unangenehm. Auf Höhe des Spielplatzes griff der Angeklagte auch nach der Handtasche der E. B. und zog daran.
Die Staatsanwaltschaft bejaht das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung.
2.)
Am 24.09.2020 gegen 18:25 Uhr entwendete der Angeklagte in den Geschäftsräumen der Firma L. in der Z. Str. ... in … R. zwei Packungen Zigaretten, Marke Goldfield, Big Pack, im Wert von jeweils 10,00 €, um die Ware, ohne zu bezahlen, für sich zu behalten. Er entnahm die Zigaretten aus dem Regal bei der Kasse und steckte sie in die Oberschenkeltasche seiner Jeans. Nach der Kasse wurde er durch N. M. und die Kassiererin Frau K. angesprochen und aufgehalten und aufgefordert, die Zigaretten herauszugeben. Er nahm die Zigaretten lediglich aus der Tasche, stieß N. M. und die Kassiererin Frau K. dann aber mit den flachen Händen weg, um mit den Zigaretten flüchten zu können.
3.)
Am 25.09.2020 gegen 08:05 Uhr entwendete der Angeklagte im Einkaufszentrum E., A.weg ..., … R. Kopfhörer im Wert von 7,79 € und Handyladekabel sowie Adapter im Gesamtwert von 22,40 €, um die Waren, ohne zu bezahlen, für sich zu behalten. Als der Angeklagte nach Passieren der Kasse durch den Marktleiter M. R. angesprochen und in das Büro gebeten wurde, lief er weg in Richtung Ausgang. Im Eingangsbereich, unmittelbar nachdem der Angeklagte die Kopfhörer weggeworfen hatte, konnte M. R. den Angeklagten allerdings an seinem Rucksack festhalten. Um sich zu befreien, schlug der Angeklagte daher mit der durch ihn soeben gekauften Bierflasche ‚Augustiner Hell‘ nach dem Kopf des M. R., wobei er zumindest billigend in Kauf nahm, M. R. zu verletzen.
Strafantrag wurde im Hinblick auf die entwendeten Kopfhörer form- und fristgerecht gestellt. Im Übrigen wird seitens der Staatsanwaltschaft, soweit erforderlich, das besondere öffentliche Interesse an der Strafverfolgung bejaht.
4.)
Am 16.12.2019 gegen 09:55 Uhr fuhr der Angeklagte mit dem ICE 701 auf der Strecke von H. nach M., ohne im Besitz einer gültigen Fahrkarte zu sein. Der Angeklagte hatte bereits bei Fahrtantritt vor, den Fahrtpreis in Höhe von 122,00 € nicht zu entrichten.
Strafantrag wurde durch die D. GmbH form- und fristgerecht gestellt.
5.)
Am 16.12.2019 gegen 13:33 Uhr fuhr der Angeklagte mit dem Zug RE 4072 auf der Strecke von M. nach P., ohne im Besitz einer gültigen Fahrkarte zu sein. Der Angeklagte hatte bereits bei Fahrtantritt vor, den Fahrtpreis in Höhe von 11,20 € nicht zu entrichten.
Strafantrag wurde durch die D. GmbH form- und fristgerecht gesteilt.
6.)
Am 16.01.2020 gegen 14:46 Uhr fuhr der Angeklagte mit dem Zug RE 57042 auf der Strecke von M. nach U., ohne im Besitz einer gültigen Fahrkarte zu sein. Der Angeklagte hatte bereits bei Fahrtantritt vor, den Fahrtpreis in Höhe von 19,40 € nicht zu entrichten.
Strafantrag wurde durch die D. GmbH form- und fristgerecht gestellt.
7.)
Am 26.01.2020 gegen 14:44 Uhr fuhr der Angeklagte mit dem Zug RE 4074 auf der Strecke von M. nach P., ohne im Besitz einer gültigen Fahrkarte zu sein. Der Angeklagte hatte bereits bei Fahrtantritt vor, den Fahrtpreis in Höhe von 11,20 € nicht zu entrichten.
Strafantrag wurde durch die D. GmbH form- und fristgerecht gestellt.
8.)
Am 27.01.2020 gegen 09:46 Uhr fuhr der Angeklagte mit dem Zug RE 4065 auf der Strecke von P. nach M., ohne im Besitz einer gültigen Fahrkarte zu sein. Der Angeklagte hatte bereits bei Fahrtantritt vor, den Fahrtpreis in Höhe von 6,40 € nicht zu entrichten.
Strafantrag wurde durch die D. GmbH form- und fristgerecht gestellt.
9.)
Am 27.01.2020 gegen 14:10 Uhr fuhr der Angeklagte mit dem Zug RE 4070 auf der Strecke von P. nach P., ohne im Besitz einer gültigen Fahrkarte zu sein. Der Angeklagte hatte bereits bei Fahrtantritt vor, den Fahrtpreis in Höhe von 4,80 € nicht zu entrichten.
Strafantrag wurde durch die D. GmbH form- und fristgerecht gestellt.
10.)
Am 27.07.2020 gegen 07:17 Uhr fuhr der Angeklagte mit der Länderbahn Zug WBA 05381 auf der Strecke zwischen D. und Z., ohne im Besitz einer gültigen Fahrkarte zu sein. Der Angeklagte hatte bereits bei Fahrtantritt vor, den Fahrtpreis in Höhe von 3,00 € nicht zu entrichten.
Strafantrag wurde durch die L. GmbH form- und fristgerecht gestellt.
11.)
Am 27.07.2020 gegen 08:03 Uhr fuhr der Angeklagte mit der Länderbahn Zug WBA 83964 auf der Strecke zwischen Z. und B., ohne im Besitz einer gültigen Fahrkarte zu sein. Der Angeklagte hatte bereits bei Fahrtantritt vor, den Fahrtpreis in Höhe von 1,90 € nicht zu entrichten.
Strafantrag wurde durch die L. GmbH form- und fristgerecht gestellt.
12.)
Am 27.07.2020 gegen 20:59 Uhr fuhr der Angeklagte mit der Länderbahn Zug WBA 83950 auf der Strecke zwischen L. und R., ohne im Besitz einer gültigen Fahrkarte zu sein. Der Angeklagte hatte bereits bei Fahrtantritt vor, den Fahrtpreis in Höhe von 2,70 € nicht zu entrichten.
Strafantrag wurde durch die L. GmbH form- und fristgerecht gestellt.
13.)
Am 27.07.2020 gegen 19:57 Uhr fuhr der Angeklagte mit der Länderbahn WBA 83945 auf der Strecke zwischen R. und Z., ohne im Besitz einer gültigen Fahrkarte zu sein. Der Angeklagte hatte bereits bei Fahrtantritt vor, den Fahrtpreis in Höhe von 3,20 € nicht zu entrichten.
Strafantrag wurde durch die L. GmbH form- und fristgerecht gestellt.
14.)
Am 27.07.2020 gegen 11:40 Uhr verschaffte der Angeklagte sich durch ein gekipptes Fenster gewaltsam Zutritt zu dem Übergangswohnheim für Asylbewerber im L.weg ... in … B. und legte sich in Zimmer 30 ins Bett, obwohl dem Angeklagten bei seinem Auszug im Januar 2020 und am Tattag mündlich erklärt wurde, dass er nicht in das Übergangswohnheim zurückkehren könne. An dem Fenster entstand ein Sachschaden in Höhe von 300,00 €.
Strafantrag wurde durch die Regierung von N. form- und fristgerecht gestellt.“
30
Der Beschuldigte befand sich in jenem Verfahren aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts D. vom 29.09.2020, Gz. …, von 30.09.2020 bis 12.10.2020 und aufgrund Haftbefehls des Amtsgerichts D. vom 27.01.2021, Gz. …, von 27.01.2021 bis 15.02.2021 in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt L. und aufgrund Unterbringungsbefehls des Amtsgerichts D. vom 12.10.2020, Gz. …, von 13.10.2020 bis 26.01.2021 in der einstweiligen Unterbringung gemäß § 126a StPO im Bezirksklinikum M.
31
Mit Beschluss des Amtsgerichts D. vom 15.02.2021 wurde die Dauer der Bewährungszeit auf 2 Jahre festgesetzt und wurde der Beschuldigte der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers unterstellt. Dem Beschuldigten wurde die Auflage erteilt, 100 Arbeitsstunden bis spätestens 15.08.2021 zu erbringen. Dem Beschuldigten wurde die Weisung erteilt, sich jeglichen Alkoholkonsums zu enthalten, sich Suchtmittelkontrollen auf Staatskosten zu unterziehen, Suchtberatungsgespräche bei der Caritas wahrzunehmen und eine Psychotherapie zu absolvieren.
32
In Bezug auf die Arbeitsauflage leistete der Beschuldigte ca. 60 Stunden gemeinnützige Arbeit bei der Stadt R. Er nahm nach Vorladung die Gesprächstermine bei der Bewährungshilfe und bei der Suchtberatung wahr. Eine Psychotherapie wurde nicht begonnen. Er blieb nicht abstinent von Alkohol.
33
Mit Beschluss des Amtsgerichts V. vom 16.09.2021, rechtskräftig seit 28.09.2021, Az. …, wurde die Aussetzung der Vollstreckung der Jugendstrafe von 1 Jahr 6 Monaten zur Bewährung widerrufen, wobei die vollzogene Ersatzfreiheitsstrafe von 12 Tagen von 10.06.2021 bis 21.06.2021 in Bezug auf die einbezogene Geldstrafe von 130 Tagessätzen aus dem Strafbefehl des Amtsgerichts V. vom 18.08.2020 mit 12 Tagen angerechnet wurde.
34
Mit Beschluss des Amtsgerichts D. vom 18.10.2021, Gz. …, wurde der Unterbrechung des Vollzugs der mit Unterbringungsbefehl des Amtsgerichts D. vom 19.07.2021, Az. …, angeordneten einstweiligen Unterbringung (siehe unten A.VI.) gemäß Nr. 92 Abs. 1 UVollzO zum Zwecke der Strafvollstreckung der Jugendstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts D. vom 15.02.2021 zugestimmt, mit der Maßgabe, dass die Strafvollstreckung in der Maßregelvollzugseinrichtung stattfindet.
35
Die Jugendstrafe von 1 Jahr 6 Monaten wird seit 02.11.2021 im Bezirksklinikum M. vollzogen.
V. Ausländerrechtliche Situation
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Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.10.2018 wurde folgende Entscheidung getroffen:
„1. Es wird eine Aufnahmezusage gemäß § 23 Absatz 4 des Aufenthaltsgesetzes erteilt, die zur einmaligen Einreise innerhalb von sechs Monaten ab Bekanntgabe des Bescheides in die Bundesrepublik Deutschland und zur anschIießenden Aufenthaltsnahme berechtigt. Die Einreise darf nur mit Hilfe der hierzu beauftragten Internationalen Organisation für Migration (IOM) erfolgen.
2. Für die Einreise ist zusätzlich ein durch die zuständige Deutsche Botschaft ausgestelltes Visum erforderlich. Die Aufnahmezusage wird daher unter dem Vorbehalt erteilt, dass das Visumverfahren erfolgreich abgeschlossen wird.
3. Nach der Einreise wird von der zuständigen Ausländerbehörde eine befristete Aufenthaltserlaubnis gemäß § 23 Abs. 4 AufenthG erteilt, die zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit berechtigt.
4. Falls ein für den Grenzübertritt anerkanntes Reisedokument oder ein Reiseausweis für Ausländer nicht vorliegt, wird die Ausnahme von der Passpflicht ab der Bekanntgabe der Aufnahmezusage für die Dauer von sechs Monaten zugelassen.
5. Für die Zulassung einer Ausnahme von der Passpflicht wird keine Gebühr festgesetzt.“
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Der Beschuldigte reiste am 15.10.2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 16.10.2018 wurde ihm eine befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 4 AufenthG (Resettlement) bis 15.10.2020 erteilt. Am 26.08.2020 wurde ihm eine befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 4 AufenthG (Resettlement) bis 15.10.2022 erteilt.
VI. Haft/Unterbringung
38
Der Beschuldigte wurde am 19.07.2021 vorläufig festgenommen und befand sich aufgrund Unterbringungsbefehls des Amtsgerichts D. vom 19.07.2021, Gz. …, von 19.07.2021 bis 01.11.2021 in der einstweiligen Unterbringung gemäß § 126a StPO im Bezirksklinikum M. Die einstweilige Unterbringung ist seit 02.11.2021 zum Zwecke der Strafvollstreckung unterbrochen (siehe oben A.IV.2.). Seither befindet sich der Beschuldigte im Vollzug der Jugendstrafe von 1 Jahr 6 Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts D. vom 15.02.2021 im Bezirksklinikum M.
39
Im September 2021 unternahm der Beschuldigte im Bezirksklinikum M. einen Fluchtversuch, indem er sich von einem Mitpatienten in einen Essenswagen sperren ließ, um so unbemerkt aus dem Bezirksklinikum M. entkommen zu können. Er wurde jedoch durch das Pflegepersonal entdeckt, so dass sein Fluchtversuch scheiterte.
B. Festgestellter Sachverhalt
I. Vorgeschichte
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Am ... 1968 wurde A. K. in S. in Kasachstan als Sohn einer deutschstämmigen Familie geboren. Er wuchs in einem Kinderheim auf. Nach Kindheit und Jugend heiratete er in Kasachstan die S. K. Aus der Ehe ging der am ... 1988 geborene Sohn A. K. jun. hervor. Im Herbst des Jahres 2000 übersiedelte die Familie nach Deutschland und ließ sich in R. nieder. A. K. machte einen Sprachkurs und fand eine Arbeit in Z. Er konnte beruflich in Deutschland jedoch nicht dauerhaft Fuß fassen. Wegen seines Alkoholkonsums traten Konflikte in der Familie auf, in deren Folge ihn seine Ehefrau S. mit dem Sohn A. K. jun. verließ. Zwischenzeitlich lebte A. K. in einem Obdachlosenheim im Feuerwehrhaus in R. Nach einiger Zeit versöhnten sich die Eheleute und S. K. nahm A. K. in ihrer neuen Wohnung bei sich auf. Er fand vorübergehend wieder eine Arbeit, fiel jedoch nach einiger Zeit in den Alkoholkonsum zurück und verlor seine Arbeit, so dass sich S. K. endgültig von ihm trennte und ihn aus der Wohnung wies; sie fand einen neuen Mann und bekam mit dem neuen Mann im Jahr 2004 die Tochter S.; später ließ sie sich von A. K. scheiden. Nach der Trennung fand A. K. nicht mehr in ein geordnetes Leben zurück, sondern verlor sich im Alkoholismus. Er konnte seine persönlichen Angelegenheiten nicht mehr regeln und erhielt einen Betreuer. In den Jahren 2009 bis 2013 lebte er in einer Einrichtung für chronisch alkoholkranke Frauen und Männer in K. in der Gemeinde S. Anschließend kehrte er nach R. zurück und lebte in R. seit dem Jahr 2016 in der Obdachlosenunterkunft in der B. Straße ..., in der er bis zu seinem Tod am 19.07.2021 ein Einzelzimmer im Erdgeschoss bewohnte. Zur Sicherstellung seines notwendigen Lebensunterhalts erhielt A. K., der keinen Rentenanspruch hatte, eine staatliche Grundsicherung, die ihm sein Betreuer einteilte, indem er ihm dreimal im Monat ein Taschengeld in Höhe von ca. 60 – 80 € auszahlte; sein Taschengeld besserte er sich gelegentlich durch Flaschensammeln im Stadtgebiet von R. auf. Der fortgesetzte Alkoholkonsum führte bei A. K., der in der Regel bereits am Morgen alkoholische Getränke zu sich nahm, zu erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen, so dass seine körperlichen Kräfte in den letzten Jahren stark nachgelassen hatten. Da er in alkoholisiertem Zustand wiederholt gestürzt war und er hierdurch auch Knochenbrüche erlitten hatte, musste er – zuletzt im Jahr 2020 – mehrmals im Krankenhaus behandelt werden; zeitweise musste er auf Krücken gehen. Seine Einkäufe konnte er jedoch bis zu seinem Tod in aller Regel selbständig erledigen; hierzu bediente er sich gewöhnlich eines Einkaufstrolleys. Da er zum Saubermachen seines Zimmers allein nicht in der Lage war und an manchen Tagen betrunken im Bett lag, setzte sein Betreuer eine Reinigungskraft ein. In seinem Umfeld wurde A. K. als ruhiger und umgänglicher Mensch erlebt, der keinen Streit suchte und sich mit Alkohol, Zigaretten und Fernsehen begnügte. Er trat, abgesehen von einem Vorfall im Jahr 2003, als er im Obdachlosenheim im Feuerwehrhaus in R. mit einem Messer auf einen Mitbewohner losgegangen sein soll, zu keiner Zeit mit körperlichen Übergriffen in Erscheinung; gelegentlich neigte er in alkoholisiertem Zustand zu lautem „Schimpfen“, wobei er sich in aller Regel nach kurzer Zeit wieder beruhigte. Mit seinem Sohn A. K. jun. und seiner Bekannten S. F. pflegte er einen regelmäßigen Kontakt. Daneben wurde er regelmäßig von seinem Betreuer, H. W., besucht. Eine Lebensgefährtin hatte er bis zu seinem Tod nicht mehr.
41
Am 27.07.2020 wurde der Beschuldigte, nachdem ihm die Rückkehr in die Asylbewerberunterkunft in B. nicht mehr gestattet worden war, durch die Polizei in die Obdachlosenunterkunft in der B. Straße ... in R. gebracht, in der ihm durch die Stadt R. im Erdgeschoss ein Einzelzimmer zur Verfügung gestellt wurde, das er als Zimmernachbar des A. K., unterbrochen durch Haft- und Unterbringungszeiten in anderer Sache, bis zu seiner Inhaftierung in dieser Sache am 19.07.2021 bewohnte. In der Obdachlosenunterkunft lebte er bis zu seiner Inhaftierung weitgehend struktur- und ziellos in den Tag hinein und gab sein Geld mit Vorliebe für Alkohol, Zigaretten und Cannabis aus.
42
Die Nachbarschaft zwischen dem Beschuldigten und dem A. K. gestaltete sich ambivalent, blieb jedoch im Großen und Ganzen friedlich; zwar gab es hin und wieder kleinere Streitigkeiten, körperliche Übergriffe fanden jedoch nicht statt. Ein gemeinsames Interesse fanden der Beschuldigte und A. K. im Trinken von Alkohol, so dass sie in ihrem Umfeld als „Saufkumpanen“ wahrgenommen wurden; am liebsten tranken sie Wein, den sie gemeinsam in größeren Mengen konsumierten. Neben dem gemeinsamen Alkoholkonsum gingen sie gelegentlich gemeinsam zum Einkaufen oder gingen im Stadtgebiet von R. spazieren. Daneben hielt sich der Beschuldigte häufig im Zimmer des A. K., der ein Fernsehgerät besaß, auf, um gemeinsam fernzusehen. Der Beschuldigte bezeichnete den A. K. mitunter als „Vater“, während A. K. in Bezug auf den Beschuldigten mitunter davon sprach, einen „zweiten Sohn“ zu haben. A. K. gab dem Beschuldigten gelegentlich Geld, um Alkohol und Zigaretten kaufen zu können. Hingegen kam es hin und wieder zu kleineren Streitigkeiten, da sich der Beschuldigte häufig an A. K. wandte, wenn er Geld oder Zigaretten benötigte; manchmal betrat er, wenn A. K. schlief, nach Belieben das Zimmer des A. K. und bediente sich an dessen Zigaretten; außerdem hatte A. K. gegen den Beschuldigten den Verdacht, ihm Geld gestohlen zu haben. Bisweilen, wenn sich A. K. beim gemeinsamen Trinken in einer gereizten Stimmung befand, beschimpfte er den Beschuldigten, bis der Beschuldigte sich aus dem Zimmer des A. K. entfernte; er nannte ihn dann mitunter einen „Affen“ und eine „schwarze Katastrophe“. Im Sommer 2020, als der Beschuldigte einmal mit A. K. und dessen Sohn, A. K. jun., im K.park in R. auf einer Bank saß, griff er nach dem Handy des A. K. jun. und lief mit dem Handy weg; später gab er das Handy an den A. K. heraus, der es seinem Sohn zurückgab. Als der Beschuldigte einmal mit A. K. und dessen Bekannten S. F. am Schwarzen R. in R. verweilte, sprach er leise mit den Schwänen und erklärte zur Verwunderung der S. F., die sein Verhalten merkwürdig fand, er verstehe die Sprache der Schwäne; darauf sagte A. K. zu dem Beschuldigten, er sei ein „Idiot“ und solle „die Klappe halten“. Ein paar Monate vor dem Tod des A. K. am 19.07.2021 sagte der Beschuldigte zu ihm, er werde sich dessen Fernseher nehmen, wenn A. K. gestorben sei; dies nahm A. K. jedoch nicht ernst.
43
Neben dem Beschuldigten und A. K. wohnten in der Obdachlosenunterkunft im Erdgeschoss die Bewohner D. M. und M. N. in einem Doppelzimmer, die mit dem Beschuldigten und dem A. K. jedoch keinen engeren Kontakt pflegten. Mit dem Beschuldigten hatten sie hin und wieder kleinere Streitigkeiten, weil der Beschuldigte manchmal nach Belieben, ohne anzuklopfen, ihr Zimmer betrat; einmal stand der Beschuldigte, als sie geschlafen hatten, plötzlich in ihrem Zimmer; körperliche Übergriffe fanden jedoch nicht statt.
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Der Beschuldigte wurde am 30.09.2020 in anderer Sache festgenommen und befand sich von 30.09.2020 bis 15.02.2021 in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt L. bzw. in einstweiliger Unterbringung im Bezirksklinikum M.; nach seiner Entlassung am 15.02.2021 kehrte er in die Obdachlosenunterkunft zurück.
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Am 10.06.2021 wurde der Beschuldigte erneut in anderer Sache festgenommen und befand sich von 10.06.2021 bis 21.06.2021 im Vollzug einer Ersatzfreiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt; nach seiner Entlassung am 21.06.2021 kehrte er in die Obdachlosenunterkunft zurück.
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Am 30.06.2021 wurde der Beschuldigte, nachdem er sich mit einer Rasierklinge den Arm aufgeschnitten hatte, in das Bezirksklinikum M. gebracht; dort gab er am 01.07.2021 eine Freiwilligkeitserklärung ab, flüchtete jedoch am 02.07.2021 und kehrte in die Obdachlosenunterkunft zurück.
47
In der Folge traten bei dem Beschuldigten mit zunehmender Intensität Stimmenhören und Wahnvorstellungen auf; unter anderem nahm er Stimmen wahr, die ihn aufforderten, jemanden zu töten.
II. Tatgeschehen
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Am Abend des 18.07.2021 saßen der Beschuldigte und A. K. bei geöffneter Tür gemeinsam im Zimmer des A. K.; der Beschuldigte saß auf einem Stuhl, A. K. saß auf seinem Bett. Die anderen Bewohner D. M. und M. N., die den Tag außerhalb der Obdachlosenunterkunft verbracht hatten, kehrten zwischen 18:00 Uhr und 19:00 Uhr in Begleitung der gemeinsamen Freundin S. S. für kurze Zeit in die Obdachlosenunterkunft zurück, um persönliche Sachen zu holen, da sie die Nacht bei einem Freund in V. verbringen wollten. Zu diesem Zeitpunkt schimpfte A. K. aus einem nicht näher bekannten Grund, wobei es um Zigaretten ging. Nach kurzer Zeit verließen D. M. und M. N. mit S. S. die Obdachlosenunterkunft, um nach V. zu fahren, dort verbrachten sie die Nacht bei einem Freund. Die weitere Abendgestaltung des Beschuldigten und des A. K. blieb im Dunkeln; eine erhebliche Menge von Alkohol wurde an dem Abend weder von dem Beschuldigten noch von A. K. konsumiert.
49
In der Nacht auf den 19.07.2021 hielt sich der Beschuldigte entweder immer noch oder bereits wieder im Zimmer des A. K. auf. Er befand sich in der floriden Phase einer paranoiden Schizophrenie und nahm die Gestalten von Statuen und Dämonen wahr, die ihn beobachteten und mit ihm sprachen. Er hatte die wahnhafte Vorstellung, dass sich im Körper des A. K. zwei Personen befänden, die laut mit ihm sprächen und die er aus dem Körper des A. K. herausholen müsse. In dieser Vorstellung entnahm er aus einem Messerblock im Zimmer des Alexander zwei Messer mit genieteter Griffschale. Das eine Messer hatte einen Messerrücken mit einer Länge von 13 cm, eine Schneide mit einer Länge von 13,7 cm und eine Klingenbreite von 1,9 cm. Das andere Messer hatte einen Messerrücken mit einer Länge von 19,3 cm, eine Schneide mit einer Länge von 21,3 cm und eine Klingenbreite von 3,7 cm. Er stach dem A. K. mit den beiden Messern in zahlreichen Hieben in den Hals und in den Oberkörper, wobei A. K. jedenfalls den wesentlichen Teil der Stiche im Bett empfing. A. K. machte, bewusst oder unbewusst, eine Drehbewegung nach links zur Wand, zeigte jedoch keine Abwehrreaktion.
50
Der Beschuldigte verletzte durch die Messerstiche bei noch intaktem Kreislauf des A. K. den linken Bereich der Lunge, das Herz und den Bauchbereich des A. K. und löste massive Blutungen aus, durch die Blut in die Atemwege des A. K. gelangte. Insgesamt versetzte der Beschuldigte dem A. K. einhundertelf einzeln abgrenzbare glattrandige Hautdurchtrennungen. So verursachte er durch die Messerstiche fünfunddreißig Durchsetzungen des Brustkorbes, weit überwiegend links, insbesondere zwei nahezu handtellergroße, breit klaffende Durchsetzungen der gesamten vorderen Rumpfwand einschließlich der Rippen 2 – 6, wodurch die Brusthöhle links eröffnet wurde. Ebenfalls verursachte er durch die Messerstiche fünfzehn Durchsetzungen des Herzbeutels, überwiegend an der Vorderseite, aber auch an der Rückseite, unter Eröffnung der rechten Herzkammer und zahlreichen vollständigen Durchsetzungen der linken Herzkammer. Vierundzwanzig Stichverletzungen fügte er dem A. K. am linken Lungenober- und -unterlappen zu, ebenso mehrere Durchsetzungen des Brustbeins und des 1. und 2. Zwischenrippenraumes rechts, drei Durchsetzungen des rechten Lungenoberlappens und eine breit klaffende Durchsetzung der unteren vorderen Brustwand. Durch acht Stiche wurde die Bauchhöhle des A. K. eröffnet, wodurch Magen- und Darmanteile austraten. Ferner verursachte der Beschuldigte durch die Messerstiche drei Dutzend Durchsetzungen des Darms, drei Durchsetzungen der Leber, vier Durchsetzungen der linken Niere, zwei Durchsetzungen der rechten Niere und acht Durchsetzungen des Zwerchfelles links. Acht Messerstiche verletzten die linke Schulter und den linken Oberarm; mehrere Messerstiche verletzten die rechte Beinhebermuskulatur, die Bauchspeicheldrüse, die Milz und die rechte Bauchschlagader; zwei Messerstiche verletzten die linke Beckenschlagader.
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A. K. verstarb aufgrund der zahlreichen Stich- bzw. Stich-Schnitt-Verletzungen des Rumpfes durch Verbluten nach außen und innen.
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Anschließend wechselte der Beschuldigte seine blutige Kleidung und wusch sich im Toilettenraum oberflächlich das Blut des A. K. ab. Dann verließ er die Obdachlosenunterkunft mit seinem Fahrrad und fuhr ohne erkennbares Ziel in südlicher Richtung aus der Stadt in die Umgebung von R. hinaus. Unterwegs ließ er das Fahrrad in einer Wiese liegen und setzte seinen Weg zu Fuß fort, wobei er die S. O. durchquerte und gegen 01:30 Uhr durchnässt zum Anwesen des D. C. in R., ca. 5 km von der Obdachlosenunterkunft entfernt, gelangte. Dort stieg er über den Zaun und ging auf das Wohnhaus des D. C. zu, der in seinem Wintergarten saß und an seiner Modelleisenbahn arbeitete. D. C. öffnete die Tür des Wintergartens und fragte den Beschuldigten, der auf ihn einen hilflosen und verwirrten Eindruck machte: „Was ist los? Wo kommst du her?“ Der Beschuldigte antwortete: „Ich komme aus Somalia. lch bin im Arsch. Ich brauche Hilfe.“ Als D. C. dem Beschuldigten sagte, dass er die Polizei rufen werde, lief der Beschuldigte los und entfernte sich vom Anwesen des D. C.; danach kehrte er zu Fuß in die Obdachlosenunterkunft nach R. zurück.
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Nach seiner Rückkehr in die Obdachlosenunterkunft wechselte der Beschuldigte seine durchnässte Kleidung und schleifte gegen 05:00 Uhr den leblosen Körper des A. K. aus dessen Zimmer über den Gang in sein Zimmer. Dort enthauptete er ihn am Boden mit mehreren Messerhieben gegen den Hals und durch Drehen des Kopfes gegen den Rumpf; hierdurch verursachte er massive Verletzungen der Halswirbelkörper, die splitterten und brachen; den Kopf ließ er am Boden oberhalb des Rumpfes liegen. Zudem stach der Beschuldigte mit einem Schraubenzieher in den rechten oberen Brustbereich, in den Kopf und in die Schamregion des A. K.
III. Nachtatgeschehen
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Nachdem der Beschuldigte den A. K. enthauptet hatte, ließ er die Leiche am Boden in seinem Zimmer liegen, sperrte die Tür des Zimmers mit seinem Schlüssel ab und verließ gegen 06:00 Uhr die Obdachlosenunterkunft, um sich in Richtung des K.parks zu begeben, wobei er die Geldbörse und die Bankkarte des A. K. in seinem Besitz hatte und den Einkaufstrolley des A. K. mit sich führte.
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Zwischen 07:15 Uhr und 07:30 Uhr wurde der Beschuldigte von der Rentnerin H. W., die mit ihrem Hund spazieren ging, auf einer Parkbank sitzend im K.park in R. gesichtet, wo er Wein aus einer Flasche trank.
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Gegen 07:30 Uhr begab sich die Rentnerin R. P., die mit ihrem Ehemann A. P. die R.er Tafel betreut und an jenem Morgen Lebensmittel an Bedürftige in der Garage der Obdachlosenauskunft ausgeben wollte, im Erdgeschoss der Obdachlosenunterkunft in den Toilettenraum. Als sie bemerkte, dass sich Blutspuren im Gang und im Toilettenraum und eine große Blutlache im Zimmer des A. K. befanden, verließ sie die Obdachlosenunterkunft und teilte ihrem Ehemann A. P. mit, dass drinnen etwas Schlimmes passiert sein müsse. A. P. blickte durch das Fenster in das Zimmer des Beschuldigten und sah auf dem Boden den leblosen Körper des A. K. liegen. Daraufhin verständigte er die Polizei.
57
Nach Benachrichtigung des Rettungsdienstes durch die Polizeieinsatzzentrale trafen gegen 07:40 Uhr die Rettungssanitäter A. W. und M. H. an der Obdachlosenunterkunft ein. Da die Tür des Zimmers des Beschuldigten abgesperrt war, trat A. W. die Tür ein und fand am Boden die Leiche des A. K.
58
Gegen 07:45 Uhr traf die Polizei an der Obdachlosenunterkunft ein.
59
Der Beschuldigte kaufte gegen 08:05 Uhr im Verbrauchermarkt REWE in der B.straße 24 in R. zwei Getränkekartons Weißwein der Marke Wappenlese zu je 1,5 Liter und eine Schachtel Zigaretten der Marke Pall Mall.
60
Gegen 08:45 Uhr erschien der Beschuldigte an der Obdachlosenunterkunft, wobei er die Geldbörse und die Bankkarte des A. K. in seinem Besitz hatte und den Einkaufstrolley des A. K. mit sich führte; in dem Einkaufstrolley befanden sich eine noch zu einem Drittel gefüllte Flasche Weißwein und ein leerer und zwei volle Getränkekartons Weißwein der Marke Wappenlese zu je 1,5 Liter.
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Der Beschuldigte wurde gegen 08:45 Uhr durch die Polizei festgenommen.
62
Im Zuge der polizeilichen Maßnahmen wurde er auf die Dienststelle der Polizeiinspektion D. gebracht, wo er gegen 13:00 Uhr bis zur Vorführung beim Ermittlungsrichter des Amtsgerichts D. in eine Haftzelle gesperrt wurde. Gegen 13:30 Uhr versuchte der Beschuldigte, den Fugenmörtel aus den Fliesen der Haftzelle zu kratzen. Anschließend lief er mit Anlauf und mit voller Wucht gegen die Gitterstäbe der Haftzelle, wodurch er sich eine blutende Wunde an der Stirn zuzog. Als sich die Polizeibeamten PHK L., PHK A. und PM H. in die Haftzelle begaben, um den Beschuldigten zu beruhigen, ging er auf die Polizeibeamten los und schlug mit beiden Händen auf sie ein. Da der Einsatz von Pfefferspray bei dem Beschuldigten keine Wirkung zeigte und der Beschuldigte weiterhin auf die Polizeibeamten einschlug, wurde er durch die Polizeibeamten zu Boden gebracht und gefesselt, wobei er versuchte, sich mit Fußtritten zu befreien. Erst nach dem Anlegen der Fesseln beruhigte sich der Beschuldigte. Die Polizeibeamten PHK L., PHK A. und PM H. erlitten durch die Widerstandshandlungen des Beschuldigten nicht unerhebliche Verletzungen.
IV. Alkohol und Drogen
63
Eine bei dem Beschuldigten am 19.07.2021 um 11:28 Uhr bzw. um 13:05 Uhr im Klinikum D. durchgeführte Blutentnahme ergab eine Blutalkoholkonzentration von 0,50 ‰ bzw. 0,36 ‰, nachdem der Beschuldigte am Morgen des 19.07.2021 Weißwein getrunken hatte.
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Die toxikologische Blutuntersuchung ergab keine Hinweise auf eine Aufnahme von Amphetamin, Methamphetamin, Kokain, Opiaten, Cannabinoiden, Methadon, Benzodiazepinen oder trizyklischen Antidepressiva.
65
Die Untersuchung einer am 19.07.2021 bei dem Beschuldigten entnommenen Haarprobe, die einen zeitlichen Bereich von mindestens 1,5 Monaten, gegebenenfalls einen längeren Zeitraum repräsentiert, ergab Messwerte in Bezug auf Methamphetamin von 0,68 ng/mg und in Bezug auf Mirtazapin von 0,06 ng/mg, die auf eine Aufnahme von kleinen Mengen Methamphetamin und eine zumindest einmalige Aufnahme von Mirtazapin hindeuten.
66
Eine alkoholbedingte Enthemmung des Beschuldigten im Zeitpunkt der Tat kann nicht ausgeschlossen werden. Eine bedeutsame alkohol- oder drogenbedingte Beeinträchtigung des Beschuldigten bei der Begehung der Tat hat sich jedoch nicht feststellen lassen. Der Beschuldigte zeigte im zeitlichen Zusammenhang mit der Tat keine alkohol- oder drogenbedingten Ausfallerscheinungen.
V. Schuldfähigkeit
67
Der Beschuldigte handelte im Zustand der Schuldunfähigkeit. Seine Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen (Einsichtsfähigkeit), war bei der Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung aufgehoben. Er befand sich im Zeitpunkt der Tat in der floriden Phase einer paranoiden Schizophrenie, die bei der Tötung des A. K. zu einem Verlust des Realitätsbezuges führte.
VI. Motiv
68
Der Beschuldigte hatte bei der Begehung der Tat die wahnhafte Vorstellung, dass sich im Körper des A. K. zwei Personen befänden, die laut mit ihm sprächen. Er tötete den A. K., um die Personen aus dem Körper des A. K. herauszuholen.
69
Darüber hinaus hat sich ein Motiv für die Tat nicht finden lassen, insbesondere haben sich keine konkreten Anhaltspunkte für ein islamistisches Motiv des Beschuldigten ergeben.
C. Beweiswürdigung
70
I. Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen Die Feststellungen unter A. zu den persönlichen Verhältnissen des Beschuldigten beruhen auf den Angaben des Beschuldigten und der durchgeführten Beweisaufnahme.
71
Der Beschuldigte hat in der Exploration durch den Sachverständigen Dr. R. zu seiner Herkunft, seiner Familie, seiner Migration und seiner Ankunft und seinem Leben in Deutschland umfangreiche Angaben gemacht, die der Sachverständige Dr. R. in der Hauptverhandlung berichtet hat und die der Beschuldigte in der Hauptverhandlung bestätigt hat. Hinsichtlich der Betreuung des Beschuldigten ist der Beschluss des Amtsgerichts V. vom 14.04.2021, Az. …, in der Hauptverhandlung verlesen worden.
72
Die Feststellungen zur schulischen Entwicklung, zum beruflichen Werdegang und zu den wirtschaftlichen Verhältnissen beruhen auf den Angaben des Beschuldigten, den Angaben des Sachverständigen Dr. R., die der Angeklagte bestätigt hat, und den Angaben der Zeugen E. L. und A. L. in der Hauptverhandlung.
73
Die Feststellungen zur Gesundheit und zur Suchtanamnese ergeben sich aus den Angaben des Sachverständigen Dr. R., die der Beschuldigte in der Hauptverhandlung bestätigt hat, und aus den Angaben der Zeugen E. L., A. L. und Dr. M. P. in der Hauptverhandlung; hinsichtlich der Selbstverletzung des Beschuldigten am 02.10.2020 in der Justizvollzugsanstalt L. ist der Bericht der Justizvollzugsanstalt L. vom 02.10.2020 verlesen und sind die betreffenden Lichtbilder in Augenschein genommen worden.
74
Die Feststellungen zu den Vorstrafen des Beschuldigten beruhen auf der Verlesung der Auskunft aus dem Bundeszentralregister vom 07.03.2022 in der Hauptverhandlung; ergänzend sind auszugsweise der Strafbefehl des Amtsgerichts V. vom 18.08.2020 (= BZR Ziffer 1), das Urteil des Amtsgerichts D. vom 15.02.2021 (= BZR Ziffer 2), der Bewährungsbeschluss des Amtsgerichts D. vom 15.02.2021, der Widerrufsbeschluss des Amtsgerichts V. vom 16.09.2021 und der Beschluss des Amtsgerichts D. vom 18.10.2021 verlesen worden; die Haftdaten ergeben sich aus den Auszügen aus der Vollstreckungsdatenbank (Stand: 24.03.2022), die in der Hauptverhandlung verlesen worden sind.
75
Die Feststellungen zur ausländerrechtlichen Situation des Beschuldigten ergeben sich aus der Verlesung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 09.10.2018 und der Auskunft aus dem Ausländerzentralregister vom 20.07.2021 in der Hauptverhandlung.
76
Die Feststellungen zum Fluchtversuch des Beschuldigten im September 2021 im Bezirksklinikum M. ergeben sich aus den Angaben der Zeugin M. F.
II. Feststellungen zum Sachverhalt
1. Feststellungen zur Vorgeschichte
77
Die Feststellungen unter B.I. zur Vorgeschichte der Tat beruhen auf der durchgeführten Beweisaufnahme.
78
Die Feststellungen zur Herkunft und zu den Lebensverhältnissen des A. K. ergeben sich aus den Angaben der Zeugen A. K. jun., S. F., und H. W. in der Hauptverhandlung.
79
Die Feststellungen zum Verhältnis zwischen dem Beschuldigten und dem A. K. und zur Wohnsituation in der Obdachlosenunterkunft beruhen auf den Angaben der Zeugen A. K. jun., S. F., H. W., D. M., M. N. und F. T.
80
Die Umstände der Selbstverletzung des Beschuldigten am 30.06.2021 ergeben sich aus den Angaben der Zeugen E. L. und A. L. in der Hauptverhandlung.
81
Die Feststellung, dass der Beschuldigte Stimmen gehört hat, die ihn aufgefordert haben, jemanden zu töten, beruht auf den Angaben des Beschuldigten in der Exploration durch den Sachverständigen Dr. R., die der Sachverständige Dr. R. in der Hauptverhandlung berichtet hat.
2. Feststellungen zum Tatgeschehen
82
Die Feststellungen unter B.II. zum Tatgeschehen beruhen auf der Einlassung des Angeklagten und der durchgeführten Beweisaufnahme.
83
Der Beschuldigte hat zu Beginn der Hauptverhandlung keine Angaben zur Sache gemacht, im Verlauf der Hauptverhandlung jedoch seine im Rahmen einer Untersuchung durch die Zeugin Dr. M. P. gemachten Angaben, wonach er die Tat begangen habe, weil er im Körper des A. K. zwei Personen wahrgenommen habe, die laut mit ihm gesprochen hätten und die er aus dem Körper des A. K. herausholen habe wollen, bestätigt.
84
Die Umstände in der Obdachlosenunterkunft am Abend des 18.07.2021 ergeben sich aus den Angaben der Zeugen D. M., M. N. und S. S. Ein Verhalten des Beschuldigten bzw. des A. K., das auf eine Alkoholisierung hindeuten könnte, ist durch die Zeugen nicht berichtet worden; eine Leichenblutentnahme bei A. K. hat eine Blutalkoholkonzentration von 0,02 ‰ ergeben.
85
Die Feststellungen zum Inhalt der Wahnvorstellung des Beschuldigten bei der Begehung der Tat folgen aus der Einlassung des Beschuldigten und den Angaben des Sachverständigen Dr. R. bzw. der Zeugen Dr. M. P. und M. F., denen der Beschuldigte über seine Vorstellungen bei der Begehung der Tat berichtet hat.
86
Der Tathergang und die Täterschaft des Beschuldigten stehen fest aufgrund des Spurengutachtens des Sachverständigen Prof. Dr. A., der medizinischen Befunde aus der Leichenöffnung durch den Sachverständigen Prof. Dr. P. und aus der Untersuchung des Beschuldigten durch die Sachverständige Dr. L., der gesicherten Fingerabdruckspuren und der gesicherten DNA-Spuren; nach dem Ergebnis der molekulargenetischen Untersuchung befanden sich die DNA-Spuren des Beschuldigten und des A. K. wechselseitig an der Kleidung des Beschuldigten bzw. des A. K.; überdies hat die Kammer die nach dem Tatgeschehen gefertigten Lichtbilder des Beschuldigten, der Leiche des A. K. und des Spurenbildes in den Räumlichkeiten der Obdachlosenunterkunft und die sichergestellten Tatwerkzeuge in Augenschein genommen. Demnach steht zweifelsfrei fest, dass der Beschuldigte den A. K. in der Nacht von 18.07.2021 auf 19.07.2021 vor 01:30 Uhr mit einer Vielzahl von Messerstichen getötet hat und den A. K. nach dem Eintritt des Todes, nachdem er die Obdachlosenunterkunft vorübergehend verlassen hatte, in sein Zimmer geschleift und dort enthauptet hat. Die eigenen Angaben des Beschuldigten zu seinen Vorstellungen bei der Tat fügen sich zwanglos in die getroffenen Feststellungen zum Tathergang ein.
87
Die zeitliche Einordnung des Geschehensablaufs ergibt sich aus den Angaben der Zeugen D. M., M. N., S. S., F. T., D. C., H. W. und S. B.
88
Die Feststellungen zur Todesursache und zu den Verletzungen des A. K. folgen aus den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. P., der die Leichenöffnung durchgeführt hat, in der Hauptverhandlung.
3. Feststellungen zum Nachtatgeschehen
89
Die Feststellungen unter B.III. zum Nachtatgeschehen ergeben sich aus den Angaben der Zeugen H. W., R. P., A. W. und PHM U. Die Feststellungen zum Verhalten des Beschuldigten in der Haftzelle der Polizeiinspektion D. ergeben sich aus den Angaben der Zeugen PHK L., PHK A. und PM H.
4. Feststellungen zu Alkohol und Drogen
90
Die Feststellungen unter B.IV. zu einer Aufnahme von Alkohol und Drogen des Beschuldigten beruhen auf der Verlesung der Blutalkohol-Untersuchungsbefunde des Universitätsklinikums B. vom 27.07.2021, der immunologischen Vortestbefunde des Universitätsklinikums B. vom 28.07.2021, des rechtsmedizinischen Gutachtens des Universitätsklinikums B. vom 09.08.2021, des Protokolls und Antrags zur Feststellung von Alkohol und Drogen im Blut vom 20.07.2021 und des ärztlichen Berichts vom 19.07.2021, den Angaben der Zeugen D. M., M. N., S. S., D. C., H. W. und PHM U. und den gutachterlichen Ausführungen des Sachverständigen Dr. R. in der Hauptverhandlung. Danach hat sich keine bedeutsame alkolhol- oder drogenbedingte Beeinträchtigung des Beschuldigten bei der Begehung der Tat bzw. haben sich keine alkohol- oder drogenbedingten Ausfallerscheinungen des Beschuldigten im zeitlichen Zusammenhang mit der Tat ergeben.
5. Feststellungen zur Schuldfähigkeit
91
Die Feststellungen unter B.V. zur Schuldunfähigkeit des Beschuldigten beruhen auf dem widerspruchsfreien, nachvollziehbaren und auf zutreffenden Anknüpfungstatsachen gründenden mündlichen Gutachten des Sachverständigen Dr. R. in der Hauptverhandlung, dem sich die Kammer nach kritischer Würdigung aus eigener Überzeugung anschließt.
92
Der Sachverständige Dr. R., Facharzt für Nervenheilkunde, dem die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft D., die Straferkenntnisse zu den Vorstrafen des Beschuldigten, die Gesundheitsakte des Bezirksklinikums M. und das schriftliche Vorgutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. P. vom 10.12.2021 zur Verfügung gestanden haben und der den Beschuldigten am 10.03.2022 im Bezirksklinikum M. im Rahmen einer persönlichen Exploration untersucht hat, ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten bei der Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung gemäß § 20 StGB aufgehoben gewesen ist.
93
Der Sachverständige ist aufgrund der ihm vorliegenden Anknüpfungstatsachen und der durch ihn festgestellten Befundtatsachen in diagnostischer Hinsicht zu dem Ergebnis gelangt, dass der Beschuldigte im Tatzeitraum an einer paranoiden Schizophrenie (ICD-10: F20.0) gelitten habe (und noch daran leide), die das Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB erfülle. Daneben weise der Beschuldigte eine emotional-instabile Persönlichkeitsakzentuierung auf, die sich als Prodromalsymptomatik der Schizophrenie begreifen lasse, jedoch für sich genommen nicht das Ausmaß einer Persönlichkeitsstörung erreicht habe und keine forensisch bedeutsame Ausprägung habe. Überdies habe bei dem Beschuldigten im Tatzeitraum ein schädlicher Gebrauch von Alkohol und Cannabis bestanden, der jedoch keine forensische Relevanz habe; die Kriterien eines Abhängigkeitssyndroms seien nicht erfüllt.
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Die krankhafte seelische Störung der paranoiden Schizophrenie sei ursächlich für die Tat gewesen. Der Beschuldigte habe sich bei der Begehung der Tat in einer floriden Phase der Erkrankung befunden. Er sei unter dem Einfluss von Stimmen gestanden, habe fremde Gestalten wahrgenommen und habe die wahnhafte Vorstellung gehabt, im Körper des A. K. befänden sich zwei Personen, die er aus dem Körper des A. K. herausholen müsse. Das wahnhafte Erleben habe bei ihm zu einer Überflutung mit Reizen durch halluzinatorische Sinneswahrnehmungen geführt, der er sich krankheitsbedingt mangels Filterfunktion nicht entziehen habe können und die sich durch die Tat entladen habe. Er habe versucht, die Quelle der Sinneswahrnehmungen, die ihn gepeinigt hätten und die er den Personen im Körper des A. K. zugeordnet habe, zu finden und zu zerstören. Demnach sei die Tat aus sachverständiger Sicht direkt zurückzuführen auf die Erkrankung des Beschuldigten.
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Infolgedessen seien sowohl die Einsichtsfähigkeit als auch die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten bei der Begehung der Tat aufgehoben gewesen. Der Beschuldigte sei durch sein wahnhaftes Erleben in seinem Denken und Fühlen derart eingeengt gewesen, dass er zu einer Reflexion der Situation und einer Abwägung der Handlungsoptionen nicht in der Lage gewesen sei und Wahn und Realität nicht unterscheiden habe können. Daher habe dem Beschuldigten bei der Begehung der Tat die Fähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, gefehlt.
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Dagegen habe bei dem Beschuldigten im Zeitpunkt der Tat eine Beeinflussung durch Alkohol oder Drogen mit forensischer Relevanz unter Berücksichtigung des Leistungsverhaltens, der Befunde aus der Untersuchung der Blutproben und der Haarprobe und des Nachtrunks aus sachverständiger Sicht nicht vorgelegen.
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Die Kammer ist nach eigenständiger Überprüfung von der Richtigkeit des gewissenhaft erstellten, in sich widerspruchsfreien, auch in den Details nachvollziehbaren und von großer Sachkunde getragenen Gutachtens des Sachverständigen Dr. R. überzeugt. Dabei hat die Kammer bedacht, dass die fehlende Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten die Steuerungsfähigkeit für die Tat zwangsläufig hat entfallen lassen (vgl. BGH, Urteil vom 18.01.2006, Az. 2 StR 394/05).
6. Feststellungen zum Motiv
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Die Feststellungen unter B.IV. zum Motiv des Beschuldigten ergeben sich aus den Angaben des Beschuldigten im Rahmen der Untersuchung durch die Zeugin Dr. M. P., die er in der Hauptverhandlung bestätigt hat, ferner aus den Angaben des Beschuldigten, die er im Rahmen der Exploration durch den Sachverständigen Dr. R. gemacht hat. Demnach hatte der Beschuldigte bei der Begehung der Tat die Vorstellung, dass sich im Körper des A. K. zwei Personen befänden, die er aus dem Körper des A. K. herausholen müsse. Darüber hinaus hat sich ein Motiv für die Tat nicht feststellen lassen, insbesondere haben sich nach der islamwissenschaftlichen Bewertung des Bayerischen Landeskriminalamtes vom 27.10.2021 nach Auswertung des Mobiltelefons und des TikTok-Accounts des Beschuldigten keine konkreten Anhaltspunkte für ein islamistisches Motiv des Beschuldigten, das handlungsleitend gewesen sein könnte, gefunden.
D. Rechtliche Würdigung
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Der Beschuldigte hat nach den getroffenen Feststellungen rechtswidrig den Tatbestand des Totschlags gemäß § 212 StGB verwirklicht, indem er den A. K. ohne rechtfertigenden Grund vorsätzlich getötet hat.
100
Demgegenüber ist der Tatbestand des Mordes gemäß § 211 StGB nicht erfüllt, da sich Mordmerkmale im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB nicht mit der gebotenen Sicherheit haben feststellen lassen; insbesondere sind nach den getroffenen Feststellungen nicht die Mordmerkmale der Habgier, der niedrigen Beweggründe, der Heimtücke oder der Grausamkeit erfüllt.
I. Habgier
101
Das Mordmerkmal der Habgier ist nach den getroffenen Feststellungen nicht erfüllt.
102
Ein Täter handelt nach ständiger Rechtsprechung aus Habgier, wenn sich die Tat als Folge eines noch über die bloße Gewinnsucht hinaus gesteigerten abstoßenden Gewinnstrebens um jeden Preis darstellt (vgl. BGH, Urteil vom 15.01.2003, Az. 5 StR 223/02; Beschluss vom 07.12.2000, Az. 1 StR 414/00; Urteil vom 02.03.1995, Az 1 StR 595/94; Urteil vom 02.09.1980, Az. 1 StR 434/80). Auf die Größe des Vermögensvorteils kommt es dabei grundsätzlich nicht an (vgl. Fischer, StGB, 69. Auflage 2022, § 211 Rn. 10), überdies muss eine dauerhafte Bereicherung nicht angestrebt werden (vgl. BGH, Urteil vom 02.09.1980, Az. 1 StR 434/80). Das Ziel der Bereicherung muss nicht erreicht werden, sondern es genügt bereits die hierauf gerichtete Absicht des Täters (vgl. BGH, Beschluss vom 18.02.1993, Az. 1 StR 49/93). Das Gewinnstreben braucht nicht das einzige Motiv des Täters sein, es muss jedoch tatbeherrschend und bewusstseinsdominant sein (vgl. BGH, Urteil vom 12.01.2005, Az. 2 StR 229/04; Urteil vom 10.03.1999, Az. 3 StR 1/99; Urteil vom 15.11.1996, Az. 3 StR 79/96; Urteil vom 02.03.1995, Az. 1 StR 595/94; Urteil vom 02.09.1980, Az. 1 StR 334/80); in Fällen eines Motivbündels muss das Motiv der Gewinnerzielung im Vordergrund stehen (vgl. BGH, Beschluss vom 07.12.2000, Az. 1 StR 414/00; Beschluss vom 04.10.1988, Az. 4 StR 475/88; Urteil vom 22.01.1981, 4 StR 480/80; Beschluss vom 04.10.1988, Az. 4 StR 475/88; Urteil vom 02.03.1995, Az. 1 StR 595/94).
103
Nach diesen Maßgaben hat die Kammer das Mordmerkmal der Habgier nicht feststellen können. Dabei hat die Kammer in den Blick genommen, dass sich der Beschuldigte bei seinem Erscheinen am Tatort am Morgen des 19.07.2021 gegen 08:45 Uhr im Besitz der Geldbörse und der Bankkarte des A. K. befand und den Einkaufstrolley des A. K. mit sich führte. Überdies hat die Kammer bedacht, dass der Beschuldigte zu dem A. K., wie die Zeugen A. K. jun. und S. F. berichtet haben, ein paar Monate vor dem Tod des A. K. am 19.07.2021 gesagt hatte, er werde sich den Fernseher des A. K. nehmen, wenn A. K. gestorben sei. Daraus lässt sich jedoch nicht der Schluss ziehen, dass der Beschuldigte den A. K. tötete, um sich in den Besitz der Wertsachen des A. K. zu bringen. Ein hinreichender Zusammenhang zwischen der Tötung des A. K. und einem Gewinnstreben des Beschuldigten kann nicht festgestellt werden. Eine Entwendung der Geldbörse und der Bankkarte des A. K. kann bereits vor oder erst nach der Tötung des A. K. erfolgt sein. Die Äußerung des Beschuldigten in Bezug auf den Fernseher des A. K., die in zeitlicher Hinsicht nicht näher eingeordnet werden hat können, lässt nicht hinreichend auf ein darauf gerichtetes Gewinnstreben schließen. Letztlich kann ein Gewinnstreben des Beschuldigten als tatbeherrschendes und bewusstseinsdominantes Motiv für die Tötung des A. K. nicht festgestellt werden. Vielmehr handelte der Beschuldigte unter Verlust des Realitätsbezuges in der wahnhaften Vorstellung, in dem Körper des A. K. befänden sich zwei Personen, die er aus dem Körper des A. K. herausholen müsse.
II. Niedrige Beweggründe
104
Überdies ist das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe nach den getroffenen Feststellungen nicht erfüllt.
105
Niedrige Beweggründe liegen nach ständiger Rechtsprechung vor, wenn die Motive einer Tötung nach allgemeiner sittlicher Anschauung verachtenswert sind und auf tiefster Stufe stehen, d.h. wenn die Beweggründe für die Tat in deutlich weiter reichendem Maße als bei einem Totschlag verachtenswert erscheinen (vgl. BGH, Urteil vom 02.12.1987, Az. 2 StR 559/87; Urteil vom 18.10.1995, Az. 2 StR 341/95; Urteil vom 11.01.2000, Az. 1 StR 505/99; Urteil vom 02.02.2000, Az. 2 StR 550/99; Urteil vom 03.09.2002, Az. 5 StR 139/02; Urteil vom 22.03.2017, Az. 2 StR 656/13; Beschluss vom 24.10.2018, Az. 1 StR 422/18; Urteil vom 28.11.2018, Az. 5 StR 379/18). Die Beurteilung erfordert eine Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren; hierbei sind insbesondere das Verhältnis zwischen Anlass und Tat, die Vorgeschichte der Tat, eine den Täter oder das Opfer treffende Verantwortung an einer Konflikteskalation und das unmittelbar vorherrschende Tatmotiv im Zusammenhang mit sonstigen Beweggründen, Handlungsantrieben und Einstellungen des Täters gegenüber der Person und dem Lebensrecht des Opfers zu berücksichtigen (vgl. BGH, Beschluss vom 17.04.2007, Az. 5 StR 548/06; Urteil vom 22.03.2017, Az. 2 StR 656/13; Beschluss vom 24.10.2018, Az. 1 StR 422/18; Urteil vom 28.11.2018, Az. 5 StR 379/18). Bei normalpsychologischen Tatantrieben hängt die Einordnung der Beweggründe als niedrig davon ab, ob diese Antriebsregungen ihrerseits auf einer niedrigen Gesinnung beruhen (vgl. BGH, Urteil vom 30.08.2012, Az. 4 StR 84/12; Urteil vom 22.03.2017, Az. 2 StR 656/13; Beschluss vom 24.10.2018, Az. 1 StR 422/18; Urteil vom 28.11.2018, Az. 5 StR 379/18); das ist beispielsweise der Fall, wenn die tatmotivierende Gefühlsregung jedes nachvollziehbaren Grundes entbehrt (vgl. BGH, Beschluss vom 21.12.2000, Az. 4 StR 499/00; Urteil vom 28.01.2003, Az. 5 StR 310/02). Ein spontaner Tatentschluss schließt niedrige Beweggründe nicht aus (vgl. BGH, Urteil vom 21.12.1951, Az. 1 StR 675/51; Urteil vom 04.04.1967, Az. 1 StR 103/67; Urteil vom 23.08.1995, Az. 3 StR 373/95; Beschluss vom 27.04.2006, Az. 5 StR 79/06). In subjektiver Hinsicht müssen dem Täter die der Bewertung als „niedrig“ zugrunde liegenden Umstände bekannt und die Beurteilung als sittlich besonders anstößig seiner Einsicht zugänglich gewesen sein (vgl. BGH, Beschluss vom 10.09.2003, Az. 5 StR 373/03; Beschluss vom 14.04.2004, Az. 4 StR 577/03); er muss seine gefühlsmäßigen oder triebhaften Regungen gedanklich beherrschen und willensmäßig steuern können (vgl. BGH, Urteil vom 19.10.2001, Az. 2 StR 259/01; Beschluss vom 14.04.2004, Az. 4 StR 577/03; Urteil vom 25.09.2019, Az. 5 StR 222/19).
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Nach diesen Maßgaben hat die Kammer das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe nicht feststellen können. Dabei hat die Kammer in den Blick genommen, dass für die Tat des Beschuldigten kein tatsächlicher Anlass bestand. Der Beschuldigte hat den A. K. in objektiver Hinsicht ohne jeden Grund getötet. Ein Motiv des Beschuldigten, das Gegenstand einer sittlichen Bewertung sein könnte, hat sich im Bereich der Realität jedoch nicht feststellen lassen. Vielmehr handelte der Beschuldigte unter Verlust des Realitätsbezuges in der wahnhaften Vorstellung, im Körper des A. K. befänden sich zwei Personen, die er aus dem Körper des A. K. herausholen müsse. Eine sittliche Bewertung seiner Tatantriebe war dem Beschuldigten in Anbetracht seines wahnhaften Realitätsverlustes, der bei der Begehung der Tat zu einer Aufhebung seiner Einsichtsfähigkeit geführt hat, in subjektiver Hinsicht im Ansatz nicht möglich. Der Beschuldigte war bei der Begehung der Tat nicht in der Lage, seine gefühlsmäßigen oder triebhaften Regungen gedanklich zu beherrschen und willensmäßig zu steuern.
III. Heimtücke
107
Ferner ist das Mordmerkmal der Heimtücke nach den getroffenen Feststellungen nicht erfüllt.
108
Heimtückisch handelt nach ständiger Rechtsprechung, wer eine zum Zeitpunkt des Angriffs bestehende Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tat ausnutzt (vgl. BGH, Urteil vom 22.01.1952, Az. 1 StR 485/51; Beschluss vom 02.12.1957, Az. GSSt 3/57; Urteil vom 16.02.2005, Az. 5 StR 14/04; Beschluss vom 10.01.2006, Az. 5 StR 341/05); maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs, d.h. bei Eintritt der Tat in das Versuchsstadium (vgl. BGH, Urteil vom 11.03.2021, Az. 3 StR 316/20; Urteil vom 30.08.2012, Az. 4 StR 84/12; Urteil vom 29.11.2007, Az. 4 StR 425/07; Urteil vom 03.09.2002, Az. 5 StR 139/02). Arglos ist, wer sich zum Zeitpunkt der Tat eines Angriffs auf seine körperliche Unversehrtheit nicht versieht (vgl. BGH, Urteil vom 30.05.1996, Az. 4 StR 150/96; Beschluss vom 30.10.1996, Az. 2 StR 405/96; Urteil vom 03.09.2015, Az. 3 StR 242/15). Der in der Heimtücke zum Ausdruck kommende Unrechtsgehalt liegt darin, dass der Mörder sein Opfer in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren (vgl. BGH, Urteil vom 20.10.1993, Az. 5 StR 473/93; Urteil vom 30.05.1996, Az. 4 StR 150/96). Die Überraschung des Opfers entfällt, wenn es einen Angriff des Täters für möglich hält; seine Arglosigkeit kann insbesondere dann beseitigt sein, wenn der Tat eine offene Auseinandersetzung mit feindseligem Verhalten des Täters vorangegangen ist (vgl. BGH, Urteil vom 21.12.1977, Az. 2 StR 452/77; Urteil vom 30.05.1996, Az. 4 StR 150/96). Wehrlosigkeit ist gegeben, wenn dem Opfer infolge seiner Arglosigkeit die natürliche Abwehrbereitschaft und -fähigkeit fehlt oder stark eingeschränkt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 29.04.1997, Az. 4 StR 158/97; Beschluss vom 11.09.2007, Az. 1 StR 273/07; Beschluss vom 19.06.2008, Az. 1 StR 217/08).
109
In subjektiver Hinsicht setzt das Mordmerkmal der Heimtücke nicht nur voraus, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers erkennt; erforderlich ist außerdem, dass er die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tatbegehung ausnutzt (vgl. BGH, Beschluss vom 16.08.2018, Az. 1 StR 370/18; Beschluss vom 16.05.2018, Az. 1 StR 123/18; Urteil vom 24.09.2014, Az. 2 StR 160/14). Dafür genügt es, wenn er die die Heimtücke begründenden Umstände nicht nur in einer äußerlichen Weise wahrgenommen, sondern in dem Sinne in ihrer Bedeutung für die Tatbegehung erfasst hat, dass ihm bewusst geworden ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber dem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (vgl. BGH, Beschluss vom 16.08.2018, Az. 1 StR 370/18; Beschluss vom 16.05.2018, Az. 1 StR 123/18; Urteil vom 14.06.2017, Az. 2 StR 10/17). Das Ausnutzungsbewusstsein kann bereits dem objektiven Bild des Geschehens entnommen werden, wenn dessen gedankliche Erfassung durch den Täter auf der Hand liegt (vgl. BGH, Beschluss vom 16.08.2018, Az. 1 StR 370/18; Beschluss vom 16.05.2018, Az. 1 StR 123/18; Urteil vom 15.11.2017, Az. 5 StR 338/17; Beschluss vom 30.07.2013, Az. 2 StR 5/13). Das gilt in objektiv klaren Fällen bei einem psychisch normal disponierten Täter selbst dann, wenn er die Tat einer raschen Eingebung folgend begangen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 16.08.2018, Az. 1 StR 370/18). Denn bei erhaltener Unrechtseinsicht ist die Fähigkeit des Täters, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für das Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, im Regelfall nicht beeinträchtigt (vgl. BGH, Beschluss vom 16.08.2018, Az. 1 StR 370/18; Beschluss vom 16.05.2018, Az. 1 StR 123/18; Urteil vom 15.11.2017, Az. 5 StR 338/17; Urteil vom 31.07.2014, Az. 4 StR 147/14; Urteil vom 27.02.2008, Az. 2 StR 603/07). Danach hindert nicht jede affektive Erregung oder heftige Gemütsbewegung einen Täter daran, die Bedeutung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers für die Tat zu erkennen. Allerdings kann die Spontaneität des Tatentschlusses im Zusammenhang mit der Vorgeschichte der Tat und dem psychischen Zustand des Täters ein Beweisanzeichen dafür sein, dass ihm das Ausnutzungsbewusstsein fehlte (vgl. BGH, Beschluss vom 16.08.2018, Az. 1 StR 370/18; Beschluss vom 16.05.2018, Az. 1 StR 123/18; Urteil vom 15.11.2017, Az. 5 StR 338/17).
110
Nach diesen Maßgaben hat die Kammer das Mordmerkmal der Heimtücke nicht feststellen können. Dabei hat die Kammer in objektiver Hinsicht einerseits in den Blick genommen, dass nach dem Spurenbild gewichtige Indizien bestehen, die darauf hindeuten, dass A. K. bei Beginn der Messerstiche nicht mit einem Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit gerechnet hat und er deshalb in seiner Abwehrbereitschaft und -fähigkeit erheblich beeinträchtigt gewesen ist. Es ist angesichts des Blutspurenbildes, wie der Sachverständige Prof. Dr. A. in der Hauptverhandlung plausibel ausgeführt hat, davon auszugehen, dass dem A. K. ein wesentlicher Teil seiner Verletzungen zugefügt wurde, als er sich in seinem Bett befand, wobei die Verteilung der Blutspuren und der Verletzungen am ehesten für eine liegende Position des A. K. sprechen. Zudem deuten das Blutspurenbild um das Bett und das Fehlen von Abwehrverletzungen am Körper des A. K., wie der Sachverständige Prof. Dr. A. in der Hauptverhandlung plausibel ausgeführt hat, darauf hin, dass der Angriff auf den A. K. im Bett angefangen hat und die dynamische Phase des Tatgeschehens ohne nennenswerte Verlagerung abgelaufen ist. Andererseits kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich der Beginn der Messerstiche in örtlicher Hinsicht nicht mit Sicherheit dem Bett hat zuordnen lassen, so dass der Beginn des Angriffs nicht im Bett erfolgt sein muss, sondern auch an einer anderen Stelle im Zimmer des A. K. stattgefunden haben kann. Es lässt sich nach dem Spurenbild, wie der Sachverständige Prof. Dr. A. in der Hauptverhandlung plausibel ausgeführt hat, nicht mit Sicherheit feststellen, an welcher Stelle im Zimmer des A. K. die ersten Stichverletzungen gesetzt worden sind, da die ersten Stiche nicht zu markanten Blutspuren geführt haben müssen, sondern diesbezüglich lediglich dezente Spuren zu erwarten gewesen sind. Dementsprechend ist es nicht unwahrscheinlich, dass die ersten Stichverletzungen nicht zu einem Niederschlag im Spurenbild geführt haben, sondern, so der Sachverständige Prof. Dr. A., im Spurenbild unsichtbar geblieben sind. Selbst unter der Annahme, dass bereits die ersten Stichverletzungen im Bett erfolgt sind, ist es nach der Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. A. in Anbetracht des Spurenbildes nicht ausgeschlossen, dass sich A. K. bei Beginn des Angriffs in einer sitzenden Position befand, wenngleich in einer solchen Situation, so der Sachverständige Prof. Dr. A., Abwehrverletzungen am Körper des A. K. wahrscheinlicher sein würden. Der Umstand, dass sich am Körper des A. K., wie der Sachverständige Dr. P. in der Hauptverhandlung plausibel ausgeführt hat, keine Abwehrverletzungen gefunden haben, belegt indessen allein, dass A. K. im Zeitpunkt der Messerstiche zu einer Gegenwehr nicht in der Lage gewesen ist, jedoch lässt dies weder für sich genommen noch in der Zusammenschau mit dem Spurenbild mit der gebotenen Sicherheit darauf schließen, dass seine Wehrlosigkeit auf einer Arglosigkeit beruhte (vgl. BGH, Beschluss vom 04.06.2013, Az. 4 StR 180/13). Überdies hat die Kammer als Umstand, der gegen eine Arglosigkeit des A. K. spricht, bedacht, dass Anhaltspunkte bestehen, die darauf hindeuten, dass es im Vorfeld der Tat zu einem Streit zwischen dem Beschuldigten und dem A. K. gekommen ist. So hat die Zeugin M. F., die den Beschuldigten als Psychologin im Bezirksklinikum M. betreut, angegeben, der Beschuldigte habe in einem Gespräch berichtet, er habe unmittelbar vor der Tat einen Streit mit A. K. wegen einer Geldangelegenheit gehabt, in dessen Verlauf er dem A. K. ein Messer abgenommen und auf den A. K. eingestochen habe. Überdies haben die Zeugen M. N. und S. S., die sich am 18.07.2021zwischen 18:00 Uhr und 19:00 Uhr in der Obdachlosenunterkunft aufgehalten haben, bekundet, A. K. habe, als der Beschuldigte bei ihm im Zimmer gesessen sei, „geschimpft“, wobei es um Zigaretten gegangen sei. Letztlich hat sich nach einer Gesamtwürdigung der aufgeführten Umstände und Indizien, nachdem das Kerngeschehen der Tat nicht näher aufgeklärt werden kann, in objektiver Hinsicht die Feststellung, dass A. K. infolge einer Arglosigkeit in seiner Abwehrbereitschaft und -fähigkeit erheblich beeinträchtigt gewesen ist, nicht mit der gebotenen Sicherheit treffen lassen; insbesondere hat sich nicht mit der gebotenen Sicherheit feststellen lassen, dass A. K. bei Beginn des Angriffs durch den Beschuldigten geschlafen hat, wenngleich dies in Anbetracht des Spurenbildes und der fehlenden Abwehrverletzungen nahe gelegen hat.
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Überdies lässt sich in subjektiver Hinsicht das für das Mordmerkmal der Heimtücke erforderliche Ausnutzungsbewusstsein bei dem Beschuldigten nicht feststellen. Der Beschuldigte handelte bei der Tat unter Verlust des Realitätsbezuges in der wahnhaften Vorstellung, im Körper des A. K. befänden sich zwei Personen, die er aus dem Körper des A. K. herausholen müsse. Seine Einsichtsfähigkeit war bei der Begehung der Tat gemäß § 20 StGB aufgehoben. Damit bestehen jedoch, selbst unter der Annahme, dass A. K. in objektiver Hinsicht arg- und wehrlos gewesen ist, durchgreifende Bedenken gegen die Fähigkeit des Beschuldigten, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für den A. K. realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen. Angesichts seines wahnhaften Realitätsverlustes liegt es nahe, dass dem Beschuldigten das erforderliche Ausnutzungsbewusstsein in Bezug auf eine Arg- und Wehrlosigkeit des A. K. fehlte.
IV. Grausamkeit
112
Schließlich ist das Mordmerkmal der Grausamkeit nach den getroffenen Feststellungen nicht erfüllt.
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Grausam tötet nach ständiger Rechtsprechung, wer seinem Opfer im Rahmen der Tötungshandlung in gefühlloser und unbarmherziger Gesinnung Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art zufügt, die nach Stärke und Dauer über das für die Tötung erforderliche Maß hinausgehen (vgl. BGH, Urteil vom 08.09.2005, Az. 1 StR 159/05; Beschluss vom 21.06.2007, Az. 3 StR 180/07; Urteil vom 15.08.2019, Az. 5 StR 236/19). Dabei kommt es in objektiver Hinsicht nicht darauf an, ob ein durchschnittlicher Beobachter der Tat Grauen und Abscheu empfindet, da dies bei jeder Tötung möglich ist und noch keine Tötungshandlung charakterisiert, die schwerstes Unrecht und größte Schuld einschließt; stattdessen erfordert das Mordmerkmal der Grausamkeit eine über die „bloße“ Tötung hinausgehende Leidenszufügung gegenüber dem Opfer. In subjektiver Hinsicht muss die Grausamkeit vom Tötungsvorsatz des Täters umfasst sein, d.h. der Täter muss die Umstände, aus denen sich die besonderen Leiden des Opfers ergeben, die über das für die Tötung erforderliche Maß hinausgehen, kennen und wollen; überdies muss die Tat von einer gefühllosen und unbarmherzigen Gesinnung getragen sein; das äußere Tatbild allein genügt zur Beurteilung nicht (vgl. BGH, Urteil vom 30.09.1952, Az. 1 StR 243/52; Urteil vom 27.05.1982, Az. 4 StR 200/82; Urteil vom 11.05.1988, Az. 3 StR 89/88; Urteil vom 26.06.1997, Az. 4 StR 180/97; Beschluss vom 13.03.2007, Az. 5 StR 320/06).
114
Nach diesen Maßgaben hat die Kammer das Mordmerkmal der Grausamkeit nicht feststellen können. Dabei hat die Kammer in den Blick genommen, dass der Beschuldigte den A. K. mit einer Vielzahl von schmerzhaften Messerstichen getötet hat, die zu einer Eröffnung der Brusthöhle und des Bauchraumes mit einem Heraustreten der Eingeweide, nach der Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. P. noch vor dem Eintritt des Todes, geführt haben. Die Messerstiche stellen sich bei nachträglicher Betrachtung in objektiver Hinsicht in ihrer Zahl als deutlich überschießend dar, da für die Tötung ein Bruchteil der festgestellten Messerstiche ausgereicht hätte. Überdies hat die Kammer berücksichtigt, dass A. K., wie der Sachverständige Prof. Dr. P. in der Hauptverhandlung plausibel erläutert hat, eine Vielzahl von Messerstichen in besonders schmerzempfindliche Bereiche des Körpers erlitten hat, z.B. durch Treffer im Bereich des Rippenfells und des Bauchfetts, in Leber und Nieren und gegen Knochen, deren häutige Überzüge besonders schmerzempfindlich sind. Ferner hat die Kammer in den Blick genommen, dass das Verletzungsbild, wie der Sachverständige Prof. Dr. P. in der Hauptverhandlung plausibel erläutert hat, für ein „Wegdrehen“ des A. K. zur Wand spricht, was auf ein bewusstes Erleben der Messerstiche des A. K. bis zum Eintreten der Bewusstlosigkeit hindeutet. Demgegenüber hatte die Enthauptung des A. K. bei der Bewertung der Leidenszufügung außer Betracht zu bleiben, da nach der Leichenauffindungssituation, wie der Sachverständige Prof. Dr. P. in der Hauptverhandlung plausibel erläutert hat, davon ausgegangen werden muss, dass die Abtrennung des Kopfes vom Rumpf nach dem Eintritt des Todes erfolgt ist. Jedoch hat die Kammer nicht mit der gebotenen Sicherheit feststellen können, dass der Beschuldigte dem A. K. in subjektiver Hinsicht aus einer gefühllosen und unbarmherzigen Gesinnung Schmerzen oder Qualen hat zufügen wollen, die über das für die Tötung erforderliche Maß hinausgegangen sind, d.h. ihn mehr hat leiden lassen wollen, als dies für die Tötung durch Erstechen notwendig gewesen ist. Der Beschuldigte hat bereits beim ersten Stich gegen den A. K. mit Tötungsvorsatz gehandelt und dabei ein für eine sofortige Tötung geeignetes Messer eingesetzt. Er handelte unter Verlust des Realitätsbezuges in der wahnhaften Vorstellung, im Körper des A. K. befänden sich zwei Personen, die er aus dem Körper des A. K. herausholen müsse. Dass die Messerstiche in ihrer Anzahl und Leidenszufügung das Ziel der Tötung überschritten haben, kann in Anbetracht seines wahnhaften Realitätsverlustes nicht als von seinem Vorsatz getragen angesehen werden und ihm deshalb nicht als Grausamkeit zur Last gelegt werden. Für einen Willen des Beschuldigten, das Tötungsgeschehen in die Länge zu ziehen, haben sich keine Anhaltspunkte gefunden. Dass er angesichts seines wahnhaften Realitätsverlustes bei der Tatausführung die Schmerzen und Qualen des A. K., die sich aus den Treffern der Messerstiche in besonders schmerzempfindlich Bereiche des Körpers ergeben haben, hinreichend in sein Bewusstsein aufgenommen hat, hat sich nicht mit der gebotenen Sicherheit feststellen lassen; aus dem äußeren Tatbild allein kann der Schluss, er habe erkannt, dass A. K. durch die Art der Tötung übermäßige Schmerzen und Qualen erleide, nicht gezogen werden.
E. Rechtsfolgen
I. Straflosigkeit
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Der Beschuldigte handelte bei der Begehung der Tat gemäß § 20 StGB ohne Schuld, so dass er wegen der Tat nicht bestraft werden kann.
II. Maßregeln der Besserung und Sicherung
1. Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
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Als Maßregel der Besserung und Sicherung war die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus anzuordnen, weil die Voraussetzungen des § 63 StGB vorliegen.
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Der Beschuldigte hat nach den getroffenen Feststellungen rechtswidrig den Tatbestand des Totschlags gemäß § 212 StGB verwirklicht.
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Nach den Feststellungen zur Schuldfähigkeit ist die Kammer zu dem Ergebnis gelangt, dass der Beschuldigte im Tatzeitraum an einer paranoiden Schizophrenie (ICD-10: F20.0) gelitten hat (und noch daran leidet), die bei ihm mit Sicherheit zu einer Aufhebung der Einsichtsfähigkeit gemäß § 20 StGB geführt hat (siehe oben C.II.5.).
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Dabei handelt es sich nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. R., dem sich die Kammer aus eigener Überzeugung anschließt, um eine dauerhafte und fortbestehende psychische Erkrankung, die das Merkmal der krankhaften seelischen Störung im Sinne des § 20 StGB erfüllt und die höchstwahrscheinlich einer lebenslangen Behandlung bedarf.
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Die Störung ist mit Sicherheit ursächlich gewesen für die Begehung der Tat und die fehlende Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten und lässt nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. R., dem sich die Kammer aus eigener Überzeugung anschließt, aufgrund seines derzeitigen Zustandes von dem Beschuldigten in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten mit Fremdverletzungen mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten.
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Diesbezüglich hat der Sachverständige Dr. R. in prognostischer Hinsicht ausgeführt, dass es bei dem Beschuldigten ohne stationäre Behandlung im Falle eines Absetzens oder eines Herabsetzens der neuroleptischen Medikation oder eines Suchtmittelkonsums in kurzer Zeit mit hoher Wahrscheinlichkeit erneut zu einer floriden Phase der Schizophrenie mit psychotischen Symptomen im Sinne eines wahnhaften Erlebens und eines Verlustes des Realitätsbezuges kommen würde, so dass erneute Gewalt- und Tötungsdelikte mit hoher Wahrscheinlichkeit zu gewärtigen stünden.
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Der Einschätzung des Sachverständigen Dr. R. schließt sich die Kammer nach einer Gesamtwürdigung des Beschuldigten und seiner Tat aus eigener Überzeugung an. Unter Würdigung der Person des Beschuldigten, seines bisherigen Lebensweges, seiner Lebensbedingungen, seines Vorlebens, seines derzeitigen Zustandes und der von ihm begangenen Tat besteht kein Zweifel, dass von dem Beschuldigten infolge seines Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten im Sinne von Gewalt- und Tötungsdelikten mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.
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Angesichts dessen kann der von dem Beschuldigten gegenwärtig ausgehenden Gefahr allein durch die Anordnung und den Vollzug der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB begegnet werden. Eine Behandlungsform außerhalb einer forensischen Klinik kommt derzeit nicht in Betracht.
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Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB) ist gewahrt, weil die Anlasstat von schwerwiegender Art ist und gleichgelagerte Taten von dem Beschuldigten drohen.
2. Unterbringung in einer Entziehungsanstalt
125
Die Unterbringung des Beschuldigten in einer Entziehungsanstalt war nicht anzuordnen, weil die Voraussetzungen des § 64 StGB nicht vorliegen.
3. Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
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Die Unterbringung des Beschuldigten in der Sicherungsverwahrung war nicht anzuordnen, weil die Voraussetzungen des § 66 StGB nicht vorliegen.
F. Kosten
127
Die Kostenentscheidung beruht auf § 465 Abs. 1 StPO.