Inhalt

FG München, Gerichtsbescheid v. 12.12.2022 – 7 K 463/21
Titel:

Rückforderung von Kindergeld, Hinterziehungszinsen und Säumniszuschlägen

Normenketten:
EStG § 68 Abs. 1, § 70 Abs. 2
FGO § 63 Abs. 1 Nr. 2, § 65 Abs. 1 S. 1, § 90a,§ 101 S. 2, § 136 Abs. 1, § 151 Abs. 1 S. 1 u. Abs. 3
BGB § 133, § 157
FVG § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 11 S. 1
ZPO § 708 Nr. 10, § 711 S. 1
Leitsatz:
Der Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung von Verfahrensvorschriften verpflichtet das Finanzgericht, den wirklichen Willen zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften (vgl. BFH, Urteile vom 18. September 2014 VI R 80/13, BeckRS 2014, 96250).    (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Auslegung, Arbeit, Anspruch auf Kindergeld, Familienleistungsausgleich, fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung, Gerichtsbescheid, Kindergeld, Kindergeldangelegenheit, Sachliche Zuständigkeit, Verschulden, Inkasso, Örtliche Zuständigkeit, Hinterziehungszinsen, Rückzahlung, Sicherheitsleistung, Steuerschuldverhältnis, Familienkasse, Kindergeldangelegenheiten
Fundstelle:
BeckRS 2022, 44322

Tenor

1. Der Bescheid über die Ablehnung der Stundung der Rückforderung von Kindergeld, Hinterziehungszinsen und Säumniszuschlägen vom 26. November 2020 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 3. Februar 2021 werden aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin und die Beklagte je zur Hälfte.
3. Der Gerichtsbescheid ist im Kostenpunkt für die Klägerin ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Entscheidungsgründe

I.
1
Streitig ist, ob die Stundung einer Forderung gegen die Klägerin wegen der Rückzahlung von Kindergeld nebst Hinterziehungszinsen und Säumniszuschlägen zu Recht abgelehnt wurde.
2
Die Klägerin bezog ursprünglich Kindergeld für ihren Sohn S. Mit Bescheid vom 4. Februar 2019 hob die Familienkasse B (im Folgenden: Familienkasse B) die Festsetzung des Kindergeldes für S für den Zeitraum August 2016 bis Januar 2017 und April 2017 bis Juni 2018 gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) gegenüber der Klägerin auf und forderte das überzahlte Kindergeld zurück. Im hierzu geführten Klageverfahren (Az. 7 K 1801/19) einigten sich die Beteiligten darauf, dass der Klägerin Kindergeld für die Monate August 2016 bis Januar 2017 gewährt wird. Mit Bescheid vom 29. Juli 2020 wurde für diesen Zeitraum Kindergeld festgesetzt, sodass sich das überbezahlte Kindergeld auf 2.892 € reduzierte. Der verbleibende Betrag wurde seitens der beklagten Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit R., Inkasso-Service Familienkasse (im Folgenden: Inkasso-Service) angemahnt. Mit Bescheid der Familienkasse B vom 15. September 2020 wurden ferner Hinterziehungszinsen i.H.v. 135 € festgesetzt. Bis 17. November 2020 waren zudem Säumniszuschläge i.H.v. 918,50 € aufgelaufen.
3
Die Klägerin beantragte Stundung der Forderung in Höhe von insgesamt 3.895,50 €. Diese wurde vom Inkasso-Service mit Bescheid vom 26. November 2020 abgelehnt, insbesondere da infolge der Verletzung der für die Klägerin gemäß § 68 Abs. 1 EStG bestehenden Mitwirkungspflichten eine Stundungswürdigkeit nicht gegeben sei. Der hiergegen erhobene Einspruch blieb gemäß Einspruchsentscheidung der Familienkasse ....-W. ... (im Folgenden: Familienkasse ...) vom 3. Februar 2021 ohne Erfolg.
4
Zur Begründung ihrer dagegen erhobenen Klage, trägt die Klägerin vor, dass die Behauptung der Familienkasse ..., es sei alleiniges Verschulden der Klägerin, dass sie die Beträge zurückzahlen müsse, falsch sei. Die Klägerin habe die sie betreffenden Mitwirkungspflichten nicht verletzt. Die Familienkasse ... habe vielmehr die ihr obliegende Fürsorgepflicht gegenüber dem Sohn der Klägerin massiv verletzt und sei hierdurch ihre Aufgabe nicht nachgekommen. Die Klägerin sei aufgrund ihrer finanziellen Situation nicht in der Lage den Gesamtbetrag in einer Summe zurückzuzahlen.
5
In der Klageschrift wird die „Agentur für Arbeit R., Inkasso-Service Familienkasse vertr.d.d. Familienkasse ....-W. N., ... B.“ als Beklagte aufgeführt. Gleichwohl lautet die Betreffzeile „K ./. Familienkasse B. S.“. Der Klageschrift war eine Abschrift der Einspruchsentscheidung der Familienkasse ... vom 3. Februar 2021 beigefügt. In der Rechtsbehelfsbelehrunghierzu wurde ausgeführt, dass die Klage gegen die Agentur für Arbeit R., Inkasso-Service Familienkasse, vertreten durch die Familienkasse ....-W. ..., in ... B. zu richten sei.
6
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Bescheid über die Ablehnung der Stundung vom 26. November 2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 3. Februar 2021 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Kindergeldrückzahlungsbetrag in Höhe von 2.842 € zzgl. Hinterziehungszinsen in Höhe von 135 € und Säumniszuschlägen in Höhe von 918,50 € zu stunden.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung verweist sie auf die Einspruchsentscheidung vom 3. Februar 2021.
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Die Berichterstatterin wies die Beteiligten mit Schreiben vom 8. November 2021 darauf hin, dass die vorliegende Klage nicht gegen die Familienkasse ..., sondern gegen den Inkasso-Service zu richten und daher beabsichtigt sei, das Rubrum im Wege der rechtsschutzgewährenden Auslegung entsprechend zu berichtigen. Einen Abdruck des Schreibens erhielt der Inkasso-Service.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten und die von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
II.
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Die Klage ist zulässig und teilweise begründet.
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1. Die Klage ist zulässig. Sie ist dahingehend auszulegen, dass sie sich gegen den Inkasso-Service als Beklagten richtet.
13
a) Nach § 63 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist die Klage gegen die Behörde zu richten, die den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen (§ 63 Abs. 1 Nr. 1 FGO) oder die den beantragten Verwaltungsakt oder die andere Leistung unterlassen oder abgelehnt hat (§ 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO). Dabei bedeutet die Bezugnahme auf den „ursprünglichen“ Verwaltungsakt, dass nur die Ausgangsbehörde und nicht etwa die Rechtsmittelbehörde beteiligt sein soll (BFH, Urteil vom 25. Februar 2021 III R 28/20, 19, BFH/NV 2021, 1100, Rn. 9 ff. m.w.N.). Ist vor Erlass der Entscheidung über den Einspruch eine andere als die ursprünglich zuständige Behörde für den Steuerfall örtlich zuständig geworden, so ist die Klage gegen die Behörde zu richten, welche die Einspruchsentscheidung erlassen hat (§ 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO).
14
b) Nach § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO muss die Klageschrift u.a. den Beklagten bezeichnen. Bestehen Zweifel, wer Beklagter sein soll, ist die Klageschrift auszulegen. Die Klageschrift ist eine Prozesshandlung, für die die Auslegungsregeln der §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuches gelten (BFH, Beschluss vom 16. August 2001 V B 51/01, BStBl II 2001, 767). Dabei verpflichtet der Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung von Verfahrensvorschriften (Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes – GG –) das Finanzgericht (FG), den wirklichen Willen zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften (BFH, Urteile vom 18. September 2014 VI R 80/13, BStBl II 2015, 115, Rn. 19; vom 22. Januar 2004 III R 26/02, BFH/NV 2004, 792, Rn. 9, m.w.N.). Maßgebend ist nicht nur die Wortwahl des Klägers, sondern der gesamte Inhalt seiner Willenserklärung (z.B. BFH, Beschluss vom 7. November 2007 I B 104/07, BFH/NV 2008, 799); auch außerhalb der Erklärung liegende weitere Umstände können berücksichtigt werden (vgl. BFH, Beschluss vom 16. April 2007 VII B 98/04, BFH/NV 2007, 1345). Dabei kann als Auslegungshilfe der Gesichtspunkt dienen, dass die Klage im Zweifel nicht gegen den falschen, sondern gegen den nach dem Inhalt der Klage richtigen Beklagten gerichtet sein soll (BFH, Urteil vom 22. Januar 2004 III R 26/02, BFH/NV 2004, 792, Rn 12, m.w.N.).
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c) Die Klageschrift der Klägerin ist dahingehend auszulegen, dass sich die Klage gegen den Inkasso-Service richtet. Den Antrag auf Stundung des Kindergeldrückzahlungsanspruchs abgelehnt hat nicht die Familienkasse ..., sondern der Inkasso-Service. Zwar wurde die Klägerin durch die Rechtsbehelfsbelehrungin der Einspruchsentscheidung dahingehend belehrt, dass die Klage gegen die Familienkasse ... zu richten sei. Über die sog. Passivlegitimation entscheidet jedoch nicht eine fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung, sondern die Regelung des § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO. Auch wenn sich der Klageantrag seinem Wortlaut nach gegen die Familienkasse ... richtete und die Betreffzeile abweichend hiervon auf ein Verfahren gegen die Familienkasse B deutet, ist die Klage im Wege der rechtschutzgewährenden Auslegung – gerade auch angesichts der Fehlerhaftigkeit der Rechtsbehelfsbelehrungder Einspruchsentscheidung – dahingehend zu verstehen, dass sie sich gegen die Behörde richtet, die nach § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO passiv legitimiert ist, d. h. gegen den Inkasso-Service.
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2. Die Klage ist insoweit begründet, als der ablehnende Bescheid vom 26. November 2020 und die Einspruchsentscheidung vom 3. Februar 2021 aufzuheben sind, weil sie rechtswidrig sind und die Klägerin in ihren Rechten verletzen (§ 101 Satz 1 FGO). Da sowohl der ablehnende Bescheid als auch die Einspruchsentscheidung von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurden, konnte der Senat weder eine Verpflichtung zur Vornahme der seitens der Klägerin begehrten Stundung gemäß § 101 Satz 1 FGO aussprechen, noch gemäß § 101 Satz 2 FGO die Verpflichtung aussprechen, sie unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Insoweit war die Klage abzuweisen.
17
a) Nach § 222 Satz 1 Abgabenordnung (AO) können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder teilweise stunden, wenn die Einziehung bei Fälligkeit eine erhebliche Härte für den Schuldner bedeuten würde und der Anspruch durch die Stundung nicht gefährdet erscheint. Die Zuständigkeit für die Entscheidung über die Stundung bestimmt sich nach der Verwaltungshoheit, welche sowohl die im Festsetzungsverfahren als auch die im Erhebungsverfahren zu treffenden Entscheidungen umfasst (Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, Stand: 04.2020, § 222 Rn. 17, § 227 Rn. 117). Die sachliche Zuständigkeit der Finanzbehörden richtet sich gemäß § 16 AO – soweit nichts anderes bestimmt ist – nach den einschlägigen Regelungen des Finanzverwaltungsgesetzes (FVG). Hinsichtlich des hier strittigen Stundungsbegehrens greift die Zuständigkeitsregelung in § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 1 FVG ein, die vorsieht, dass dem Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) die Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach Maßgabe der §§ 31, 62 bis 78 des Einkommensteuergesetzes (EStG) obliegt. Die Bundesagentur für Arbeit stellt dem BZSt zur Durchführung dieser Aufgaben ihre Dienststellen als Familienkassen zur Verfügung (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 2 FVG). Der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit kann innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs abweichend von den Vorschriften der AO über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten einer anderen Familienkasse übertragen (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG). Entsprechend bestimmt § 6 Abs. 2 Nr. 6 AO, dass auch die Familienkassen Finanzbehörden im Sinne der AO sind.
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Die sachliche Zuständigkeit beschreibt gegenständlich den Tätigkeitsbereich einer Behörde, also die Zuordnung einer bestimmten Aufgabe des materiellen Sachrechts an eine Verwaltungseinheit (Henneke in: Knack, VwVfG, 11. Aufl., vor § 3 Rn. 6; Maurer/Waldhoff, Allgemeines Verwaltungsrecht, 20. Aufl. 2020, § 21 Rn. 47). Sie bestimmt Gegenstand, Inhalt und Umfang der zugewiesenen Aufgaben; dabei kann es sich um die Zuordnung einer bestimmten Aufgabe oder eines beschränkten oder umfassenden Aufgabenbereichs an eine Behördenart oder an eine einzelne Behörde handeln (Schmieszek in: Gosch, AO, § 16 Rn. 2). Aus der sachlichen Zuständigkeit folgen das Recht und die Pflicht einer Behörde, innerhalb des ihr zugewiesenen Aufgabenbereichs tätig zu werden (Wackerbeck in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 16 AO, Rn. 5; Drüen in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 16 AO Rn. 3). Eine Behörde ist nur für den ihr zugewiesenen Aufgabenkreis zuständig und darf nur im Rahmen ihrer sachlichen Zuständigkeit tätig werden (BFH-Urteile vom 29. Oktober 1986 VII R 82/85, BStBl II 1988, 359, unter II.2.b und vom 26. Juli 1988 VII R 194/85, BStBl II 1989, 3).
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Die sachliche Zuständigkeit muss wegen des Vorbehalts des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) und als wesentliche Regelung des Verwaltungsverfahrens in einem grundrechtlich geschützten Bereich – wie er im Fall des Familienleistungsausgleichs vorliegt – durch Gesetz i.S. des § 4 AO geregelt werden (Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 27. November 1990 1 BvR 402/87, Neue Juristische Wochenschrift 1991, 1471, unter B.II.2.a; BFH-Urteil vom 11. Januar 2012 I R 25/10, BFHE 236, 318, Rn. 28; Schmieszek in: Gosch, AO § 16 Rn. 2; Drüen in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 16 AO Rn. 11; Wackerbeck in: Hübschmann/Hepp/Spitaler (HHSp), § 16 AO Rn 5).
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Demgegenüber ergibt sich aus den Regelungen über die örtliche Zuständigkeit, welche von mehreren sachlich zuständigen Behörden der gleichen hierarchischen Stufe eines Verwaltungsträgers die Verwaltungstätigkeit durchzuführen hat (Wackerbeck in: HHSp, § 17 AO Rn. 2; Drüen in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 17 AO Rn. 1). Die örtliche Zuständigkeit ist die Kompetenz, in einem räumlich begrenzten Wirkungsbereich (Bezirk) tätig werden zu dürfen und zu müssen, wobei sich die konkret örtlich zuständige Finanzbehörde erst anhand der Regelungen über den Sitz und den Bezirk der jeweiligen Finanzbehörde feststellen lässt (Wackerbeck in: HHSp, § 17 AO Rn. 2). Für die örtliche Zuständigkeit gilt nach neuerer Rechtsprechung des BFH der Grundsatz der Gesamtzuständigkeit (BFH-Urteil vom 19. März 2019 VII R 27/17, BStBl II 2020, 31, Rn. 18, m.w.N.; Wackerbeck in: HHSp, § 17 AO Rn. 11; Drüen in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 17 AO Rn. 5). Umfasst werden daher grundsätzlich alle Verwaltungstätigkeiten der Finanzbehörde, die sich aus dem gesamten Besteuerungsverfahren ergeben (Festsetzung, Rechtsbehelfsverfahren, Erhebung und Vollstreckung; Schmieszek in: eKomm ab 01.01.2015, § 17 AO, Rn. 2).
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Die Verletzung der Vorschriften über die sachliche Zuständigkeit im Rahmen einer Ermessensentscheidung ist ein stets beachtlicher Verfahrensfehler. § 127 AO ist insoweit nicht anwendbar (vgl. BFH, Urteil vom 19. April 2012 III R 85/11, BFH/NV 2012, 1411).
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b) Bei Anwendung dieser Grundsätze ist die Beklagte nicht für die Ablehnung der beantragten Stundung zuständig gewesen.
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Die sachliche Zuständigkeit für die Durchführung der sich im Rahmen des Familienleistungsausgleichs nach Maßgabe der §§ 31, 62 bis 78 EStG zu erfüllenden Aufgaben obliegt gemäß § 16 AO i.V.m. § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Sätze 1 und 2 FVG dem BZSt, das sich hierfür der von der Bundesagentur für Arbeit eingerichteten Dienststellen bedient. Der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit kann innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten einer anderen Familienkasse übertragen (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG). Entsprechend bestimmt § 6 Abs. 2 Nr. 6 AO, dass auch die Familienkassen Finanzbehörden im Sinne der AO sind. Der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit hat von dieser Ermächtigung durch Beschluss vom 14. April 2016 (15/2016, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2016, veröffentlicht im Internet unter www.Statistik.Arbeitsagentur.de >Statistik nach Themen< amtliche Nachrichten der BA) Gebrauch gemacht. Nach dieser Organisationsentscheidung bestanden im Zeitpunkt des Erlasses des Ausgangsbescheids 14 Familienkassen. Diese waren deshalb sachlich zuständig (vgl. BFH-Urteil vom 19. Januar 2017 III R 31/15, BStBl II 2017, 642, Rn. 15).
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Da somit für Kindergeldangelegenheiten im Allgemeinen mehrere sachlich zuständige Behörden gleicher hierarchischer Stufe vorhanden waren, bestimmen die Regelungen über die örtliche Zuständigkeit, welche die für die Klägerin im Speziellen zuständige Familienkasse ist. Örtlich zuständig ist grundsätzlich die Familienkasse, in deren Bezirk der Kindergeldberechtigte seinen Wohnsitz hat (§ 19 Abs. 1 Satz 1 AO; BFH-Urteil vom 25. September 2014 III R 25/13, BStBl II 2015, 847, Rn. 21). Im Fall der Klägerin war dies, infolge ihres Wohnsitzes in M, die Familienkasse B. Aufgrund des Grundsatzes der Gesamtzuständigkeit umfasste die Zuständigkeit der Familienkasse B nicht nur die Zuständigkeit für die Festsetzung des Kindergeldes, sondern u.a. auch für Entscheidungen im Rahmen des Erhebungsverfahrens nach dem Fünften Teil der AO, wie vorliegend für die Entscheidung über eine Stundung nach § 222 AO. Daraus folgt zugleich, dass andere Familienkassen für die Klägerin sachlich und örtlich unzuständig waren.
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Nichts anderes ergibt sich aus den auf § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG gestützten Beschlüssen des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit (BFH, Urteil vom 25. Februar 2021 III R 28/20, 19, BFH/NV 2021, 1100, Rn. 26 ff.), die auch nicht durch eine andere gesetzliche Grundlage gestützt werden (BFHUrteil vom 25. Februar 2021 – III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100, Rn. 26 ff.).
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c) Ferner war die Familienkasse ... für die Entscheidung über den Einspruch gegen die Ablehnung der Stundung sachlich nicht zuständig.
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d) Auch was die durch die genannten Beschlüsse des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit begründete Zuständigkeit der Familienkasse ... für die Bearbeitung von Rechtsbehelfen gegen die Entscheidungen des Inkasso-Services anbelangt, fehlt es an einer wirksamen Übertragung der sachlichen Zuständigkeit. Hier ist zwar die Zuständigkeitsübertragung anders als beim Inkasso-Service in den Vorstandsbeschlüssen explizit geregelt. Es fehlt aber an einer gesetzlichen Grundlage für die Übertragung der sachlichen Zuständigkeit. So wie die Ausgangsentscheidung über Fragen des Erhebungsverfahrens in die Gesamtzuständigkeit der Wohnsitz-Familienkasse fällt, tut dies auch die Rechtsbehelfsentscheidung (BFH, Urteil vom 25. Februar 2021 III R 28/20, a.a.O. Rn. 37). Insoweit wird auf die Ausführungen unter II.2.b verwiesen.
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e) Der Verstoß gegen die Regelungen über die sachliche Zuständigkeit führt nicht zur Nichtigkeit der betreffenden Verwaltungsakte nach § 125 Abs. 1 AO (BFH, Urteil vom 25. Februar 2021 III R 28/20, a.a.O. Rn. 38).
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f) Da auch die Familienkasse ... für die Rechtsbehelfsentscheidung sachlich unzuständig war, braucht der Senat nicht weiter auf die Frage einzugehen, ob eine durch die sachlich unzuständige Ausgangsbehörde getroffene Entscheidung durch eine nachfolgende sachlich zuständige Behörde getroffene Einspruchsentscheidung gemäß § 126 Abs. 2 AO geheilt werden kann.
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g) Der Aufhebung der angegriffenen Verwaltungsakte steht auch § 127 AO nicht entgegen. Danach kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der nicht nach § 125 AO nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Die Vorschrift erwähnt nur die Verletzung der Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit, nicht dagegen den Verstoß gegen die Regelungen über die sachliche Zuständigkeit. Die Regelungen über die sachliche Zuständigkeit fallen auch nicht unter die in § 127 AO genannten Verfahrensvorschriften (BFH, Urteil vom 25. Februar 2021 III R 28/20, a.a.O. Rn. 40 m.w.N.).
31
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO. Dabei hat das Gericht berücksichtigt, dass die Klägerin insoweit unterliegt, als sie über die Aufhebung der angefochtenen Bescheide hinausgehend eine Verpflichtung zur Vornahme des Erlasses begehrt hat.
32
4. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Satz 1 ZPO.
33
5. Es erschien als sachgerecht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden (§ 90a FGO).