Inhalt

OLG München, Endurteil v. 28.07.2022 – 14 U 4616/21
Titel:

Kleiner Schadensersatz als Restschadensersatzanspruch nach § 852 S. 1 BGB in einem Diesel-Fall (hier: VW Golf Plus Highline)

Normenketten:
BGB § 31, § 195, § 199, § 826, § 852
ZPO § 138 Abs. 3, § 287
Leitsätze:
1. Zum Anspruch aus § 852 BGB bei verjährten "Diesel-Fällen" vgl. auch BGH BeckRS 2022, 4174; BeckRS 2022, 4153; BeckRS 2022, 4167; BeckRS 2022, 38006; BeckRS 2022, 42085; BeckRS 2022, 25008; BeckRS 2022, 42732; OLG München BeckRS 2022, 38223 sowie BGH BeckRS 2022, 38891 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1); BGH BeckRS 2022, 32458 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1); OLG Koblenz BeckRS 2022, 25067 (mit weiteren Nachweisen in Ls. 1). (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Geltendmachung des kleinen Schadensersatzes ist auch im Rahmen des § 852 BGB möglich. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der ursprüngliche Minderwert eines mit dem Motor EA 189 ausgestatteten Fahrzeugs kann auf 10% des Kaufpreises geschätzt werden, wobei - unter Berücksichtigung des damit aufgespielten Thermofensters sowie des fortwirkenden anfänglichen Makels - der Vorteilsausgleich durch das Software-Update auf 5% geschätzt werden kann. (Rn. 43 – 50) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, EA 189, unzulässige Abschalteinrichtung, Verjährung, Neuwagen, Restschadensersatzanspruch, kleiner Schadensersatz, Minderwert, Vorteilsausgleich, Software-Update
Vorinstanz:
LG Kempten, Endurteil vom 15.06.2021 – 12 O 2169/20
Rechtsmittelinstanz:
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 02.03.2023 – VIa ZR 1268/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 44298

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 15.06.2021, Az. 12 O 2169/20, wie folgt abgeändert:
Die Beklagte wird unter Abweisung der Klage im Übrigen verurteilt, an den Kläger 1.563,55 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit 01.02.2022 zu zahlen.
2. Die weiter gehende Berufung wird zurückgewiesen.
3. Die Klagepartei trägt die Kosten des Rechtsstreits.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Gegenseite vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
5. Die Revision wird zugelassen.

Entscheidungsgründe

1
Der Kläger macht gegen die Beklagte als Fahrzeugherstellerin Schadensersatzansprüche aufgrund einer unzulässigen Abschalteinrichtung in einem ausweislich der Rechnung Anlage K 50 am 30.06.2011 bei einem Autohaus in K. zum Preis von netto 26.278,17 Euro, einschließlich Umsatzsteuer 31.271,02 Euro, erworbenen VW Golf Plus Highline, Schadstoffklasse Euro 5, mit einem Motor EA 189 geltend.
2
Das Fahrzeug wurde – ebenfalls ausweislich Anlage K 50 – am 29.09.2011 erstmals zugelassen.
3
Der streitgegenständliche Motor wurde im Jahr 2015 vom Kraftfahrtbundesamt (KBA) und seit dem Jahr 2019 durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung in Form einer sogenannten „Umschaltlogik“ beanstandet. Nach einer ersten Pressemitteilung der Beklagten am 22.9.2015 wurde ab Herbst 2015 umfangreich in sämtlichen Medien über den sogenannten Abgasskandal und Softwaremanipulationen bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug berichtet.
4
Nach dem unbestritten gebliebenen Beklagtenvortrag auf S. 46 f. der Klageerwiderung unterrichtete die Beklagte die betroffenen Halter von Fahrzeugen mit dem Motortyp EA 189 mit Schreiben vom Februar 2016 erstmals schriftlich über die Notwendigkeit eines mit dem KBA abgestimmten Software-Updates. Nach Freigabe der technischen Lösung für den entsprechenden Fahrzeugtyp wurden die Fahrzeughalter nach dem unbestrittenen Beklagtenvortrag erneut postalisch informiert.
5
Das Software-Update wurde beim klägerischen Fahrzeug aufgespielt.
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Die Beklagte hat die Einrede der Verjährung erhoben.
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Hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen wird im Übrigen auf das Ersturteil vom 15.06.2021 Bezug genommen.
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Das streitgegenständliche Fahrzeug wies am Tag der Berufungsverhandlung vom 28.04.2022 unstreitig eine Laufleistung von 129.173 km auf.
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Nachdem der Kläger erstinstanzlich nur einen Feststellungsantrag verfolgt hatte, erstrebt er mit seiner Berufung primär einen sogenannten „kleinen“ bezifferten Schadensersatzanspruch entsprechend einem behaupteten mindestens 25%-igen Minderwert des streitgegenständlichen Fahrzeugs, hilfsweise für den Fall einer vollständigen Abweisung der bezifferten Klage (so die Klarstellung im Termin vom 28.04.2022, S. 3 des Protokolls = Bl. 492 d.A.) eine Auskunft der Beklagten zu dem von ihr erlangten Kaufpreis.
10
Das Landgericht hat die Klage vom 17.12.2020, zugestellt am 15.04.2021, aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 08.06.2021 ohne Beweisaufnahme abgewiesen.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der geltend gemachte Anspruch auf Feststellung, dass die Beklagtenpartei verpflichtet sei, der Klägerpartei Schadensersatz zu leisten für Schäden, die aus der Manipulation des streitgegenständlichen Fahrzeugs resultieren, verjährt sei.
12
Der Verjährungsbeginn stimme regelmäßig mit dem Bekanntwerden des „Dieselskandals“ überein, weswegen die 3-jährige Verjährungsfrist mit Schluss des Jahres 2018, also deutlich vor der Klageerhebung, geendet habe.
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Wegen des im Zusammenhang mit dem aufgespielten Update gerügten sog. „Thermofensters“ bestünden mangels Darlegung eines sittenwidrigen Handelns der Beklagten keine Schadensersatzansprüche gegen die Beklagte.
14
Mit seiner Berufung rügt der Kläger, dass das Landgericht die Klage zu Unrecht wegen Verjährung abgewiesen habe.
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Die Verjährungsfrist habe entgegen der Ansicht des Erstgerichts nicht schon 2015 zu laufen begonnen, da es der Klagepartei – was ausführlicher dargelegt wird – zu diesem Zeitpunkt nicht zumutbar gewesen sei, Klage zu erheben.
16
Außerdem habe die Musterfeststellungsklage gegen die Beklagte die Verjährung für alle Geschädigten gehemmt.
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Jedenfalls hätte das Landgericht einen Anspruch der Klagepartei aus § 852 BGB bejahen müssen, gegen den sich die Beklagte nicht auf Entreicherung berufen könne und wobei der klägerische Anspruch auf den ursprünglichen Schadensersatzanspruch gemäß § 826 BGB begrenzt sei, der nach der aktuellen höchstrichterlichen Rechtsprechung auch den Ausgleich des Minderwerts mit umfasse.
18
Die Klagepartei habe wegen der Täuschung der Beklagten statt eines „normalen“ zulassungsfähigen Fahrzeugs ein nicht zulassungsfähiges „Teilelager“ erhalten, dessen Wert mindestens 25% geringer als der Wert eines zulassungsfähigen Fahrzeugs liege.
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Da keine einfache Ermittlungsmethode für den Minderwert existiere, dürfe das Gericht die Höhe der Minderung schätzen.
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Hilfsweise werde ein Auskunftsanspruch geltend gemacht.
21
Die Klagepartei führt in ihrer Berufungsbegründung nochmals umfangreich zu den anspruchsbegründenden Tatsachen ihres originären Anspruchs aus § 826 BGB aus und macht auch Probleme nach dem Aufspielen des Software-Updates geltend.
22
Die Beklagte habe durch das Update auch eine weitere unzulässige Abschalteinrichtung in Form eines Thermofensters installiert, das nach den Maßstäben des EuGH in seiner Entscheidung vom 17.12.2020, Az. C-393/18, auch nicht ausnahmsweise zulässig gewesen sei.
23
Auch insoweit hätten die Verantwortlichen der Beklagten vorsätzlich und in Täuschungsabsicht gehandelt.
24
Hinsichtlich der Einzelheiten der Berufungsbegründung wird auf den klägerischen Schriftsatz vom 24.01.2022, Bl. 341/406 d.A.) Bezug genommen.
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Der Kläger beantragt in der Berufung:
1. Das Urteil des Landgerichts Kempten (Allgäu) vom 15.06.2021, 12 O 2169/20 wird aufgehoben und wie folgt abgeändert.
2. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerpartei einen Betrag bezüglich des Fahrzeugs VW Golf (Fahrzeugidentifikationsnummer: …), dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, jedoch mindestens € 7.817,75 betragen muss, zu bezahlen nebst Zinsen in Höhe von 5%-Punkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit.
3. Die Beklagtenpartei wird verurteilt, die Klägerpartei von den durch die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten der Klägerpartei entstandenen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von € 1.419,08 freizustellen.
Hilfsweise, und zwar für den Fall, dass das Gericht von der Verjährung der Schadensersatzansprüche sowie von der Unbegründetheit der bezifferten Anträge ausgehen sollte, beantragt die Klägerpartei, wie folgt zu erkennen:
Die Beklagtenpartei wird verurteilt, Auskunft an die Klägerpartei zu erteilen, welchen Kaufpreis sie durch den Verkauf des Fahrzeugs VW Golf (Fahrzeugidentifikationsnummer: …), an die Erstankäuferin vereinnahmt hat und welche Nutzungen sie seither aus dem vereinnahmten Kaufpreis gezogen hat.
Für den Fall, dass dieser Antrag Erfolg hat, beantragt die Klägerpartei zusätzlich, wie folgt zu erkennen:
1. Die Beklagtenpartei wird verurteilt, die Richtigkeit der Auskunft an Eides statt zu versichern.
2. Die Beklagtenpartei wird verurteilt, an die Klägerpartei Schadensersatz in einer Höhe zu bezahlen, die nach Erteilung der Auskunft noch zu bestimmen ist, nebst Zinsen aus dem fraglichen Betrag in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit.
26
Die Beklagte beantragt
Zurückweisung der Berufung und verteidigt das Ersturteil, das zutreffend die Verjährung der geltend gemachten Ansprüche bejaht habe.
27
Der Wirksamkeit der erhobenen Verjährungseinrede stünden auch die klägerischen Behauptungen im Zusammenhang mit dem Software-Update nicht entgegen, da der Beklagten nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung insoweit kein Vorwurf einer sittenwidrigen Handlung gemacht werden könne.
28
Der Klagepartei stehe nach der obergerichtlichen Rechtsprechung auch kein Anspruch aus § 852 BGB zu, da sich der erforderliche wirtschaftliche Schaden der Klagepartei nicht feststellen lasse und sich die Klagepartei außerdem zur Verjährungshemmung dem Musterklageverfahren hätte anschließen können.
29
Die Beklagte habe durch den Kaufvertrag der Klagepartei nichts erlangt, jedenfalls käme ohnehin nur eine Gewinnabschöpfung in Betracht.
30
Die Beklagte beziehe sich auf das bereits in erster Instanz vorgelegte Gutachten des Prof. Dr. M.
31
Der Senat hatte bereits vor der Berufungserwiderung mit Verfügung vom 11.04.2022 (Bl. 412/413 d.A.) rechtliche Hinweise erteilt und am 28.04.2022 mündlich verhandelt (Protokoll Bl. 490/492 d.A.).
II.
32
Die zulässige Berufung ist nur teilweise begründet.
33
Der mit der Berufungsbegründung vom 24.01.2022, zugestellt am 31.01.2022, vollzogene Wechsel von der Feststellungszur Leistungsklage ist als gemäß § 264 Nr. 2 ZPO privilegierte Klageänderung ohne Rücksicht auf die Voraussetzungen des § 533 ZPO zulässig (vgl. BGH vom 19.03.2004 ‒ V ZR 104/03 ‒ juris Rn. 25).
34
Zwar ist ein originärer Schadensersatzanspruch des Klägers aus § 826 BGB einschließlich eventueller erstattungsfähiger vorgerichtlicher Anwaltskosten gemäß §§ 195, 199 BGB verjährt.
35
Jedoch steht dem Kläger ein sogenannter Restschadensersatzanspruch in gleicher Höhe aus § 852 Satz 1 BGB zu, der nach § 852 Satz 2 BGB noch nicht verjährt ist.
36
1. Aufgrund des Kaufs des streitgegenständlichen VW Golf mit einem Motor EA 189 der Beklagten mit der sogenannten Umschaltlogik ist ein Schadensersatzanspruch des Klägers aus § 826 BGB begründet, wobei seit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 06.07.2021, Az. VI ZR 40/20, geklärt ist, dass dieser auch in Form eines sogenannte „kleinen“ Schadensersatzanspruchs auf Ersatz des Minderwerts geltend gemacht werden kann.
37
1.1. Wie der BGH in seiner Entscheidung vom 25.5.2020 klargestellt hat (siehe BGH NJW 2020, 1962, 1963 Rn. 16 ff.), handelt es sich bei der – auch im streitgegenständlichen Fahrzeug verbauten – Motorsteuerungssoftware um eine unzulässige Abschalteinrichtung nach Art. 5 Abs. 2 S. 1 VO (EG) Nr. 715/2007 des europäischen Parlaments und des Rates vom 20.6.2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zur Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge (ABl. 2007 L 171, 1 ff.). Das auf der Grundlage einer strategischen unternehmerischen Entscheidung unter bewusster Missachtung gesundheits- und umweltschützender Rechtsvorschriften erfolgende fortgesetzte Herstellen und Inverkehrbringen derart bemakelter, von einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung bedrohter Fahrzeuge, deren Typgenehmigung durch eine Täuschung der zuständigen Behörde erschlichen worden war, stellt im Verhältnis zu arglosen Fahrzeugkäufern, zu denen auch der Kläger im vorliegenden Verfahren rechnet, ein objektiv sittenwidriges Verhalten im Sinne von § 826 BGB dar (siehe auch BGH NJW 2020, 2806, 2807 Rn. 11).
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Ferner ist auch für das streitgegenständliche Verfahren anzunehmen, dass der vormalige Vorstand der Beklagten von der Entwicklung und Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung gewusst hat und dieses Wissen der Beklagten nach § 31 BGB zuzurechnen ist.
39
Die Klageseite ist den Anforderungen an eine Substantiierung der Kenntnis des vormaligen Vorstandes der Beklagten, so wie sie der BGH in seiner Entscheidung vom 25.5.2020 präzisiert hat (siehe BGH NJW 2020, 1962 Rn. 39), nachgekommen: Danach muss der Kläger lediglich Anhaltspunkte für eine Kenntnis des Vorstandes dartun. Solche Indizien hat der Kläger aber bereits in der Klageschrift vom 17.12.2020 dargelegt, wobei er sich in zureichender Weise auf die ihm zugänglichen öffentlichen Quellen gestützt hat.
40
Die Beklagte ist auch im vorliegenden Fall mit der Rechtsfolge des § 138 Abs. 3 ZPO ihrer dadurch nach der o.g. Entscheidung des Bundesgerichtshofs ausgelösten sekundären Darlegungslast durch ihre Einlassung auf S. 24 der Klageerwiderung nicht hinreichend nachgekommen.
41
1.2. Durch das sittenwidrige Verhalten der Beklagten ist der Klageseite ein Schaden in Form eines ungewollten Vertragsschlusses entstanden, wobei der Käufer, wenn er die Sache behalten möchte, als Schaden vom Fahrzeughersteller den Betrag verlangen kann, um den er den Kaufgegenstand – gemessen an dem objektiven Wert von Leistung und Gegenleistung zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses – zu teuer erworben hat und wobei eine etwaige Aufwertung des Fahrzeugs durch eine nachträgliche Maßnahme, nämlich das Software-Update, das gerade der Beseitigung der Prüfstandserkennungssoftware dienen sollte, im Rahmen der Vorteilsausgleichung zu berücksichtigen ist (vgl. BGH, Urteil vom 06.07.2021, Az. VI ZR 40/20). Maßgeblich für die Bemessung des Schadensersatzanspruchs ist insoweit nach allgemeinen Grundsätzen der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung.
42
Für die Bemessung des kleinen Schadensersatzes ist grundsätzlich der Vergleich der Werte von Leistung (Kaufgegenstand) und Gegenleistung (Kaufpreis) im Zeitpunkt des Vertragsschlusses maßgeblich. Zu berücksichtigen sind dabei die mit der Prüfstanderkennungssoftware verbundenen Nachteile, insbesondere das Risiko behördlicher Anordnungen wie einer Betriebsuntersagung oder -beschränkung (BGH, Urteil vom 06.07.2021 – VI ZR 40/20, Rn. 23 f.). Da es sich hierbei nur um die Bemessung des verbliebenen Vertrauensschadens und nicht um die Frage einer Anpassung des Vertrags handelt, braucht der Geschädigte auch nicht nachzuweisen, dass sich der Vertragspartner auf einen Vertragsschluss zu einem niedrigeren Preis eingelassen hätte (BGH a.a.O., Rn. 16, 21).
43
1.3. Der Minderwert des Fahrzeugs bei Kaufvertragsschluss einerseits und eine etwaige Aufwertung durch das Aufspielen des Software-Updates andererseits können vom Senat im Wege der Schätzung gemäß § 287 ZPO ermittelt werden.
44
Der Senat folgt insoweit der Schätzung des 24. Senats des Oberlandesgerichts München in seinem Endurteil vom 19.05.2022, Az. 24 U 4616/21, eines ursprünglichen Minderwerts des streitgegenständlichen Fahrzeugs von 10% des Kaufpreises.
45
Zwar drohten nach dem Gesetz Betriebseinschränkungen oder gar eine Betriebsuntersagung. Angesichts der Vielzahl der betroffenen Fahrzeugs aus dem Konzern der Beklagten mit einem Motor EA 189 war jedoch mit einem sofortigen harten Durchgreifen des KBA nicht zu rechnen.
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Vorstellbare steuerliche Nachteile aufgrund der Abgasmanipulation fallen im Hinblick auf das anfängliche Stilllegungsrisiko nicht ins Gewicht.
47
Den Vorteilsausgleich durch das Software-Update schätzt der Senat auf 5%.
48
Dabei ist zu berücksichtigen, dass durch das vom KBA freigegebene Update das Stilllegungsrisiko, also den gravierendsten Nachteil der beanstandeten Motorsteuerungssoftware beseitigt hat.
49
Anderseits war das Software-Update mit dem sogenannten Thermofenster fast von Anfang an hinsichtlich seiner europarechtlichen Zulässigkeit und behaupteter Nachteile hinsichtlich des Kraftstoffverbrauchs und eines angeblichen erhöhten Verschleißes von Bauteilen aus dem Abgasreinigungssystem umstritten.
50
Zu berücksichtigen ist auch, dass das Fahrzeug aus der Sicht eines Kaufinteressenten auch nach dem Update bereits deshalb bemakelt ist, weil es ursprünglich mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehen war.
51
Es verbleibt danach ein ersatzfähiger Minderwert von 1.563,55 Euro.
52
1.4. Dieser Schadensersatzanspruch ist im vorliegenden Fall nicht durch die vom Kläger erlangten Vorteile bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung aufgezehrt.
53
Auch bei der Bemessung des kleinen Schadensersatzanspruchs sind nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung die vom Geschädigten gezogenen Nutzungen und der Restwert des Fahrzeugs, das nicht zurückgegeben werden muss, dann und insofern anzurechnen, als sie den tatsächlichen Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags übersteigen (BGH, Urteil vom 24.01.2022, Az. VI a ZR 100/21).
54
Die Beklagte hat auf S. 25 ihrer Klageerwiderung vom 27.04.2021 behauptet, dass das streitgegenständliche Fahrzeug aktuell zu einem Kaufpreis von 5.246,73 Euro an einen Gebrauchtwagenhändler veräußert werden könne. Es kommt nicht darauf an, ob der erzielbare Wert noch darunter anzusetzen wäre.
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Die Nutzungsentschädigung für die vom Kläger bis zum Termin vom 28.04.2022 gefahrenen 129.173 km Kilometer beläuft sich bei der – vom Senat in der Regel angenommenen – zu erwartenden Gesamtlaufleistung von 250.000 km auf 16.157,48 Euro.
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Die Summe der erlangten Vorteile aus Nutzungsentschädigung und Fahrzeugrestwert liegt daher bereits unter dem von der Klagepartei behaupteten tatsächlichen Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags.
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2. Dieser klägerische Schadensersatzanspruch ist jedoch gemäß §§ 195, 199 BGB spätestens seit Ablauf des Jahres 2019 verjährt.
58
Wie der Bundesgerichtshof zuletzt am 14.07.2022 im Verfahren VII ZR 422/21 entschieden hat, wäre eine Unkenntnis der anspruchsbegründenden Tatsachen bis Ende 2016 jedenfalls als grob fahrlässig i.S. von § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB zu bewerten.
59
Die Verjährung konnte daher durch die Klage aus dem Jahr 2020 nicht mehr gemäß § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB gehemmt werden.
60
Die Einrede der Verjährung ist auch nicht rechtsmissbräuchlich, da die Beklagte die Käufer nicht an der Erhebung einer Klage in unverjährter Zeit gehindert hat, und da das Software-Update mit dem Thermofenster in Abstimmung mit dem Kraftfahrtbundesamt entwickelt und installiert wurde mit der Folge, dass das ursprüngliche Risiko einer Entziehung der Zulassung des klägerischen Fahrzeugs danach entfallen ist.
61
Durch das behördlich angeordnete Software-Update hat die Beklagte nicht i.S. von § 212 Abs. 1 Nr. 1 BGB einen klägerischen Anspruch auf Rückabwicklung des Kaufvertrags mit einem Autohändler anerkannt.
62
Soweit der Kläger einen (weiteren) Schadensersatzanspruch im Hinblick auf das aufgespielte Software-Update geltend gemacht hat, hat sich das Erstgericht in seinem Endurteil vom 15.06.2021 in ausreichendem Umfang damit befasst und daraus resultierende Klageansprüche zutreffend verneint.
63
Zum einen kann der Schaden in Form eines ungewollten Vertragsschlusses im Juni 2011 nicht dadurch entstanden sein, dass die Beklagte ca. 5 Jahre danach auf Verlangen des Kraftfahrtbundesamtes ein Software-Update entwickelt und dessen Aufspielen auf das klägerische Fahrzeug veranlasst hat. Es fehlt an der Kausalität zwischen der beanstandeten Handlung und dem geltend gemachten Schaden.
64
Zu einem späteren, nach dem ursprünglichen Vertragsschluss entstandenen Schaden durch das Aufspielen des Software-Updates hat der Kläger nicht substantiiert vorgetragen.
65
Insoweit handelt es sich außerdem um einen anderen Streitgegenstand als den aufgrund des ungewollten Fahrzeugkaufs im Jahr 2011 entstandenen Schadens (BGH, Urteil vom 22.02.2022, Az. VI ZR 265/20).
66
Im übrigen hat der Bundesgerichtshof am 9.3.2021 im Verfahren VI ZR 889/20 (= VersR 2021, 661 f.) und – betreffend einen anderen Fahrzeughersteller – mit weiteren Urteilen vom 16.9.2021, Az. VII ZR 190/210, 286/20, 321/20 und 322/20 entschieden, dass die Implementierung eines „Thermofensters“ im Rahmen eines Software-Updates grundsätzlich keine sittenwidrige Schädigung darstellt.
67
Besondere Umstände, die Gegenteiliges begründen könnten, hat die Klagepartei nicht ausreichend dargelegt.
68
3. Der aus dem Tenor ersichtliche begründete Anspruch ergibt sich aus § 852 Satz 1 BGB.
69
3.1. Nach dieser Vorschrift hat der deliktsrechtlich Ersatzpflichtige auch nach Eintritt der Verjährung des originären Schadensersatzanspruchs das an den Geschädigten herauszugeben, was er auf dessen Kosten erlangt hat.
70
§ 852 BGB hält den Schadensersatzanspruch aufrecht, beschränkt seinen Umfang jedoch auf die ungerechtfertigte Bereicherung, die der Schädiger aus der unerlaubten Handlung erlangt hat (vgl. BGH, NJW 2015, 3165 f.).
71
Es handelt sich um eine Rechtsfolgenverweisung auf die §§ 818 ff. BGB.
72
Der Höhe nach ist dieser Anspruch – was hier zum Tragen kommt – begrenzt durch die Höhe des verjährten originären Schadensersatzanspruchs (BGH, Urteil vom 14.02.1978, Az. X ZR 19/76).
73
3.2. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass § 852 S. 1 BGB an eine durch die unerlaubte Handlung erfolgte Vermögensverschiebung anknüpft und auf Seiten des Schädigers einen wirtschaftlichen Vorteil voraussetzt, der sein Vermögen gemehrt hat (BGH, Urteil vom 26.03.2019, X ZR 109/16 – BGHZ 221, 342 – 352, juris, Rn. 15).
74
Diese Vermögensverschiebung muss sich nicht unmittelbar zwischen dem Schädiger und dem Geschädigten vollziehen, sondern kann auch auf andere Weise erfolgen. Das Erlangte muss dem Schädiger auch nicht vom Geschädigten selbst zugeflossen sein. Entscheidend ist aber, dass der Vermögensverlust beim Geschädigten einen entsprechenden Vermögenszuwachs beim Schädiger zur Folge hat, wobei eine wirtschaftliche Betrachtung maßgeblich ist (BGH, Urteil vom 14.02.1978, X ZR 19/76 – BGHZ 71, 86 – 101, juris, Rn. 62 f).
75
3.3. Im vorliegenden Fall hat der Kläger das streitgegenständliche Neufahrzeug (0 km Laufleistung) mit der unzulässigen Abschalteinrichtung im Juni 2011 bestellt und ausweislich der Rechnung gemäß Anlage K 50 erst Anfang September 2011 geliefert bekommen.
76
Der Kaufpreis für das Fahrzeug wurde an den Verkäufer, nämlich ein A. Autohaus bezahlt. Es ist jedoch aufgrund der Wartezeit des Klägers bis zur Auslieferung des Fahrzeugs davon auszugehen, dass die klägerische Bestellung eine Lieferkette ausgelöst hat, von der auch die Beklagte durch ein Verkaufsgeschäft mit dem Händler zunächst in Form eines Zahlungsanspruchs kausal profitiert hat. Nach der Erfüllung der Forderung der Beklagten durch den Händler setzt sich die Bereicherung der Beklagten an dem vom Händler erlangten Entgelt fort (vgl. BGH, Urteil vom 21.02.2022, Az. VIa ZR 57/21, Rn. 13 m.w.N.).
77
In dieser Konstellation hat die Beklagte den um die Händlermarge reduzierten Kaufpreis für das streitgegenständliche Fahrzeug i.S. von § 852 BGB erlangt.
78
Der Kläger hat diesen Anspruch im Schriftsatz vom 21.05.2021 dargelegt in Höhe des von ihm bezahlten Kaufpreises abzüglich einer Händlermarge, die auf S. 62 des beklagtenseits vorgelegten Gutachtens Martinek bei durchschnittlichen Neuwägen zum Preis von ca. 27.000 Euro Fahrzeugen mit 16,5% beziffert wurde.
79
3.4. Entgegen der Ansicht des 17. Senats des Oberlandesgerichts München in seinem Urteil im Verfahren 17 U 8117/21 scheidet die Anwendbarkeit des § 852 BGB im Bereich des kleinen Schadensersatzanspruchs nicht bereits deshalb aus, weil die Beklagte nicht den klägerseits geltend gemachten Minderwert erlangt hat.
80
Der als Schaden geltend gemachte Differenzbetrag zwischen tatsächlichem Kaufpreis und behauptetem objektivem Wert des mangelbehafteten Fahrzeugs beruht auf der Argumentation, dass von Seiten des Klägers aufgrund des sittenwidrigen Vorgehens der Beklagten ein überhöhter Kaufpreis verlangt und bezahlt worden sei.
81
Aufgrund des streitgegenständlichen Kaufgeschäfts wurde die Beklagte mittelbar in Höhe eines vom Händler erlangten – nach Vortrag der Klagepartei – überhöhten Kaufpreises im Sinne einer echten Vermögensvermehrung bereichert. Dem steht nicht entgegen, dass die Klagepartei sich – um das Fahrzeug behalten zu dürfen – mit der Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs in Höhe des Differenzbetrages begnügt.
82
Der Höhe nach ist der Anspruch aus § 852 BGB jedoch – was hier zum Tragen kommt – begrenzt durch die Höhe des verjährten originären Schadensersatzanspruchs (BGH, Urteil vom 14.02.1978, Az. X ZR 19/76).
83
3.4. Es besteht keine Veranlassung für eine teleologische Reduktion des Anspruchs aus § 852 BGB im Hinblick auf einen fehlenden wirtschaftlichen Schaden oder die nicht wahrgenommenen Möglichkeit einer Anmeldung zum Musterfeststellungsverfahren (BGH, a.a.O., Rn. 12).
84
Auch kann die Beklagte von dem vom Händler Erlangten nicht den ihr bei der Herstellung und Bereitstellung des Fahrzeugs entstandenen Aufwand nach § 818 Abs. 3 BGB in Abzug bringen (BGH, a.a.O., Rn. 17).
85
3.5. Der klägerische Schadenersatzanspruch auf Freistellung von vorgerichtlichen Anwaltskosten ist unbegründet.
86
Dieser Anspruch, der mangels eines vorangegangenen Verzugseintritts nicht auf §§ 280, 286 BGB gestützt werden kann, ist ebenso wie der Hauptanspruch aus § 826 BGB verjährt. Abgesehen davon, dass die Klagepartei zu einer vorgerichtlichen Tätigkeit der Klägervertreter nicht substantiiert vorgetragen hat, hat die Beklagte insoweit keinen wirtschaftlichen Vorteil i.S. von § 852 BGB erlangt (vgl. BGH, Urteil vom 21.02.2022, Az. VIa ZR 57/21, Rn. 21 f zitiert nach Juris).
III.
87
1. Der Zinsanspruch beruht auf §§ 288 Abs. 1, 291 BGB.
88
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 92 Abs. 2, 97 Abs. 2 ZPO.
89
Die erstinstanzlich erhobene Feststellungsklage war unzulässig, da es dem Kläger zumutbar war, sich bereits bei Klageerhebung zu entscheiden, ob er den großen oder einen kleinen Schadensersatzanspruch geltend machen möchte (vgl. BGH, Urteile vom 2.02.2022, Az VI ZR 415/20 und vom 02.05.2022, Az. VI ZR 122/21). Soweit sich die Klagepartei auf noch nicht abschließend bezifferbare Schadensfolgen berufen hat, stand dem die Verjährung entgegen. Der Kläger hat daher nur aufgrund der Änderung der Klage in eine bezifferte Klage im Berufungsverfahren teilweise obsiegt, so dass hinsichtlich des Berufungsverfahrens § 97 Abs. 2 ZPO zum Tragen kommt. Im Übrigen beruht die Kostenentscheidung auf § 92 ZPO.
90
3. Die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 ZPO.
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4. Die Revision wurde im Hinblick auf die höchstrichterlich noch nicht geklärte Frage der Anwendung von § 852 BGB beim sogenannten kleinen Schadensersatzanspruch zugelassen.