Titel:
Keine sittenwidrige Schädigung des Erwerbers eines Opel-Diesel-Fahrzeugs (hier: Opel Astra J Sports Tourer)
Normenketten:
BGB § 826
VO (EG) Nr. 715/2007 Art. 5 Abs. 1, Abs. 2
Leitsätze:
1. Vgl. zu Diesel-Fahrzeugen von Opel: OLG München BeckRS 2021, 52557; BeckRS 2021, 52562; BeckRS 2022, 29314; OLG Bamberg BeckRS 2021, 52538; BeckRS 2022, 19980; BeckRS 2023, 3040; BeckRS 2023, 3006; BeckRS 2023, 3010; OLG Schleswig BeckRS 2022, 8917; OLG Frankfurt BeckRS 2022, 10556; OLG Koblenz BeckRS 2022, 10605; OLG Köln BeckRS 2022, 12858; OLG Nürnberg BeckRS 2022, 29322; LG Landshut BeckRS 2021, 53844; BeckRS 2022, 20735; BeckRS 2022, 22852; LG Memmingen BeckRS 2022, 12853; LG Nürnberg-Fürth BeckRS 2022, 29316; BeckRS 2022, 29310; LG Kempten BeckRS 2022, 29315. (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Bewusstsein der etwaigen Rechtswidrigkeit auf Seiten von Opel als Voraussetzung der Sittenwidrigkeit des dortigen Handelns wegen Einbau von parametergesteuerten Emissionskontrollsystemen (hier: Abhängigkeit des Emissionskontrollsystems von den Parametern Außentemperatur, Drehzahl und Umgebungsluftdruck) kann nicht angenommen werden. (Rn. 36 und 44) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, Opel, unzulässige Abschalteinrichtung, sittenwidrig, Emissionskontrollsystem, Parameter, Außentemperatur, Drehzahl, Umgebungsluftdruck, Thermofenster
Rechtsmittelinstanzen:
LG Bamberg, Berichtigungsbeschluss vom 01.12.2022 – 43 O 528/22
OLG Bamberg, Hinweisbeschluss vom 07.02.2023 – 10 U 119/22
OLG Bamberg, Beschluss vom 22.02.2023 – 10 U 119/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 43893
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
4. Der Streitwert wird auf 9.158,32 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten um Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit dem sog. „Abgasskandal“.
2
Der Kläger erwarb am 15.09.2017 einen gebrauchten Pkw Opel Astra J Sports Tourer zum Preis von 13.000, – €. Die Erstzulassung des Fahrzeugs war am 08.12.2015, der km-Stand im Erwerbszeitpunkt betrug 30.300 km (Anlagen K 3, 4 = Kaufunterlagen, Zulassungsbescheinigung).
3
Das Fahrzeug verfügt über eine gültige Typengenehmigung nebst Zulassung und wird vom Kläger, seit Erhalt privat genutzt. Im Schluss der mündlichen Verhandlung hatte es einen km-Stand von 118.799 km.
4
Das Fahrzeug und der darin eingebaute Motor (B16DTH – Euro 6) wurden von der Rechtsvorgängerin der Beklagten – der … AG – entwickelt und produziert.
5
In Abstimmung mit dem KBA wurde von der Beklagten ein Update der Motorsteuerung entwickelt und zunächst im Rahmen einer freiwilligen Rückrufaktion auf eine Vielzahl von Fahrzeugen des gleichen Typs aufgespielt. Schließlich hat das KBA im Dezember 2021 einen Rückrufbescheid erlassen (Anlagen K 6, 7), mit dem die Aufspielung des Updates verbindlich – auch für das Fahrzeug des Klägers – angeordnet wurde. Der Rückrufbescheid ist nicht bestandskräftig und wird von der Beklagten verwaltungsgerichtlich angegriffen.
6
Mit Schreiben vom 12.05.2022 (Anlage K 8) haben die Prozessbevollmächtigten des Klägers die Beklagte außergerichtlich erfolglos zur Zahlung und Rücknahme des Fahrzeugs aufgefordert.
7
Die Beklagte hat die Einrede der Verjährung erhoben.
8
Der Kläger stützt sein Begehren insbesondere auf § 826 Abs. 1 BGB.
9
Der Kläger behauptet, ihm sei es bei Erwerb des Fahrzeugs insbesondere darauf angekommen, dass er mit dem Fahrzeug in Umweltzonen von Großstädten fahren dürfe und er habe das Fahrzeug in der Erwartung erworben, dass er ein technisch einwandfreies und gerade betreffend die Motorsteuerung den gesetzlichen Bestimmungen entsprechendes Fahrzeug erwerbe. In Kenntnis der tatsächlichen Umstände hätte er das Fahrzeug nicht gekauft.
10
Der Kläger meint, in dem Fahrzeug seien unzulässige Abschalteinrichtungen im Sinne von Art. 5 Abs. 1 VO (EG) 715/2007 eingebaut und behauptet hierzu wie folgt:
„In dem Fahrzeug sei eine Software installiert, die den Ausstoß von Stickoxiden unter den Bedingungen des NEFZ optimiere, so dass die Abgaswerte im Prüfstandsbetrieb eingehalten werden, nicht aber im alltäglichen Fahrbetrieb. Konkret arbeite das Emissionskontrollsystem (Abgasrückführung und Katalysator) in Abhängigkeit von der Umgebungstemperatur (unterhalb 17° C Reduzierung der Emissionskontrolle), des Umgebungsluftdrucks (unterhalb 91,5 kPa Reduzierung der Emissionskontrolle) und der Motordrehzahl (oberhalb 2.750 U/Min Reduzierung der Emissionskontrolle bis ein Wert von 1.250 U/Min wieder erreicht werde). Diese Emissionskontrolle sei unnötig, um den Motor vor Beschädigungen zu schützen und diene allein dazu, auf dem Prüfstand die Abgasgrenzwerte einzuhalten.“
11
Der Kläger meint, es handele sich um „offensichtlich unzulässige Abschalteinrichtungen“ – so dass auch die Beklagte von deren Unzulässigkeit ausgegangen sei. Dass die Beklagte davon überzeugt gewesen sei, gesetzeskonform zu handeln und der Einbau der Technik von der Compliance-Organisation der Beklagten überwacht worden sei, bestreitet der Kläger mit Nichtwissen.
12
Greifbare Anhaltspunkte für die Richtigkeit des Sachvortrags seien insbesondere diverse Presseberichte, Äußerungen und Rückrufaktionen des KBA in Bezug auf andere Fahrzeuge der Beklagten, laufende strafrechtliche Ermittlungen gegen die Beklagte und diverse Gutachten.
13
Folge des Vorgehens der Beklagten sei, dass die EG-Typgenehmigung erschlichen sei, ihr deshalb keine Legalisierungswirkung zukomme und mit einem Entzug der Zulassung zu rechnen sei.
14
Der Kläger behauptet schließlich, die Beklagte habe die Manipulationen allein aufgrund wirtschaftlicher Erwägungen vorgenommen und habe auf Vorstandsebene Kenntnis von dem Einbau unzulässiger Abschalteinrichtungen gehabt.
15
Eine Beseitigung der Manipulationen mittels Nachbesserung (Software-Update) sei nicht zielführend und lasse auch den Schaden nicht entfallen, da das Fahrzeug dann dauerhaft in einem Modus laufe, für den es nicht entwickelt sei, was insb. zu massiven Auswirkungen in Bezug auf die Dauerhaltbarkeit von Teilen führe.
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Der Kläger meint, ihm stehe deshalb ein Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises Zug um Zug gegen Erstattung einer Nutzungsentschädigung zu, die auf Basis einer Gesamtlaufleistung von 300.000 km zu berechnen sei.
1. die Beklagte zu verurteilen, an die Klagepartei 8.973,14 EUR zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basissatz ab dem 27.05.2022 zu zahlen, Zug-um-Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeuges Opel Astra J Sports Tourer mit der Fahrzeugidentifikationsnummer … zu zahlen.
2. festzustellen, dass sich die Beklagte mit der Annahme des in Ziffer 1. genannten Fahrzeuges in Annahmeverzug befindet.
3. die Beklagte zu verurteilen, die Klagepartei von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 973,66 EUR gegenüber der … Rechtsanwaltsgesellschaft mbH freizustellen.
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Soweit der Kläger ursprünglich einen weitergehenden Zahlungsantrag zu 1) (im Hinblick auf geringere Fahrleistung im Zeitpunkt der Klageerhebung) angekündigt hatte, hat er diesen in Höhe von 185,18 € für erledigt erklärt.
19
Die Beklagte hat sich der Erledigungserklärung nicht angeschlossen und beantragt im Übrigen,
20
Die Beklagte bestreitet die Kaufmotivation des Klägers mit Nichtwissen.
21
Zum Vorliegen unzulässiger Abschalteinrichtungen behauptet und meint die Beklagte wie folgt:
„Das Fahrzeug enthalte gerade keine Umschaltlogik wie bei Modellen des VW-Konzerns, sondern ein Emissionskontrollsystem, das anhand sachgerechter Parameter den Schutz des Motors (Versottungsgefahr) und den sicheren Fahrbetrieb gewährleiste. Eine parametergesteuerte Emissionskontrolle sei dabei absolut branchenüblich und entspreche dem Stand der Technik, im Übrigen sei die konkrete Ausgestaltung der Parameter anders als von Klägerseite vorgetragen – so sei etwa die Abgasrückführung im Temperaturfeld von 11°C – 34,5°C und werde erst ab 15,5°C schrittweise heruntergefahren und der Speicherkatalysator sei im Temperaturfeld von 11°C – 33,5°C voll aktiv.“
22
Zudem sei die Beklagte davon überzeugt gewesen, sich gesetzeskonform zu verhalten. Entwicklung und Einbau der Technik sei von der Compliance-Organisation der Beklagten überwacht und nicht beanstandet worden. Auch das – unstreitig bis 2016 in dieser Form vorhandene – Gesetzesverständnis des KBA (Anlagen AOG-2, 3), wonach „normale Betriebsbedingungen im Sinne der europäischen Normen den Betriebsbedingungen des NEFZ entsprechen, stütze das Gesetzesverständnis der Beklagten.
23
Der nicht bestandskräftige Rückrufbescheid stehe dem nicht entgegen, da dieser allenfalls abschließend kläre, ob eine unzulässige Abschalteinrichtung vorliege, jedoch keinerlei Aussage zu einem Unrechtsbewusstsein der Beklagten oder einem Schädigungsvorsatz treffe. Hierzu verweist die Beklagte auch auf Rechtsprechung des BGH.
24
Die Beklagte meint weiter, es sei dem Kläger – der sein Fahrzeug uneingeschränkt weiternutzen könne – kein Schaden entstanden und das Update führe nur dazu, dass die Parameter aufgrund der technischen Entwicklung der letzten Jahre weiter gefasst werden.
25
Schließlich sei eine etwaige Nutzungsentschädigung auf Basis einer Gesamtlaufleistung von maximal 200.000 km zu berechnen.
26
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachvortrags der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 10.10.2022 (Bl. 138 f. d.A.) und den sonstigen Akteninhalt Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
27
Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
28
Dem Kläger stehen gegen die Beklagte keine Schadensersatzansprüche wegen sittenwidriger Schädigung im Zusammenhang mit der behaupteten Manipulation der Motorsteuerungssoftware zu (§ 826 Abs. 1 BGB i.V.m. §§ 249 ff. BGB).
29
Die Voraussetzungen dieser Norm – wonach derjenige, der einem anderen in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise vorsätzlich Schaden zufügt, zum Ersatz des Schadens verpflichtet ist – liegen nicht vor.
30
Der Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 VO (EG) 715/2007 kann im Einzelfall durchaus deliktische Schadensersatzansprüche begründen.
31
Voraussetzungen hierfür sind
a) der Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 VO (EG) 715/2007 durch die Beklagte, als deliktisches Verhalten (bewusstes Inverkehrbringen eines Fahrzeugs dessen technische Gegebenheiten objektiv einer Zulassung des Fahrzeugs entgegenstehen und bei dem trotz Tatbestandswirkung des Verwaltungsakts der EG-Typengenehmigung das Erschleichen einer objektiv rechtswidrigen Genehmigung durch den Fahrzeughersteller vorliegt, als deren Folge mit Betriebsuntersagung oder dem Widerruf der erschlichenen Typengenehmigung zu rechnen ist),
b) eine darauf beruhende Schädigung des Klägers, die regelmäßig darauf beruht, dass er einen wirtschaftlich nachteiligen – weil für ihn ungewünschten – Vertrag geschlossen hat,
c) die Sittenwidrigkeit des Handels der Beklagten, einschließlich einem Bewusstsein der Rechtswidrigkeit und d) ein Schädigungsvorsatz auf Seiten der Beklagten.
32
Diese Voraussetzungen hat der Kläger hier nicht hinreichend dargetan:
33
Inwieweit der Einbau eines sog. „Thermofensters“ oder anderer parametergesteuerter Emissionskontrollsysteme – auch etwa in Bezug auf Drehzahl und Luftdruck – Ansprüche nach § 826 Abs. 1 BGB begründet, ist durch mehrere Entscheidungen des BGH bereits hinreichend geklärt:
34
1. Der BGH (Beschluss vom 19.01.2021 – VI ZR 433/19, Urteil vom 13.07.2021 – VI ZR 128/20) hat dabei für sogenannte Thermofenster folgendes ausgeführt:
„[…] reicht der Umstand, dass die Abgasrückführung im Fahrzeug des Klägers […] durch eine temperaturabhängige Steuerung des Emissionskontrollsystems bei einstelligen Positivtemperaturen reduziert und letztlich ganz abgeschaltet wird, für sich genommen nicht aus, um dem Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen ein sittenwidriges Gepräge zu geben. Dabei kann zugunsten des Klägers in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht unterstellt werden, dass eine derartige temperaturbeeinflusste Steuerung der Abgasrückführung als unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung 715/2007/EG zu qualifizieren ist (vgl. zu Art. 5 der Verordnung 715/2007/EG auch EuGH, Urteil vom 17. Dezember 2020 – C-693/18, Celex-Nr. 62018CJ0693). Wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat, wäre der darin liegende Gesetzesverstoß auch unter Berücksichtigung einer damit einhergehenden Gewinnerzielungsabsicht der Beklagten für sich genommen nicht geeignet, den Einsatz dieser Steuerungssoftware durch die für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen zu lassen. Hierfür bedürfte es vielmehr weiterer Umstände.
… ist der Einsatz einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems nicht mit der Fallkonstellation zu vergleichen, die dem Senatsurteil vom 25. Mai 2020 (VI ZR 252/19, ZIP 2020, 1179) zugrunde liegt und in der der Senat das Verhalten des beklagten Automobilherstellers gegenüber dem klagenden Fahrzeugkäufer als sittenwidrig qualifiziert hat. Dort hatte der Automobilhersteller die grundlegende strategische Frage, mit welchen Maßnahmen er auf die Einführung der – im Verhältnis zu dem zuvor geltenden Recht strengeren – Stickoxidgrenzwerte der Euro 5-Norm reagieren würde, im eigenen Kosten- und Gewinninteresse dahingehend entschieden, von der Einhaltung dieser Grenzwerte im realen Fahrbetrieb vollständig abzusehen und dem KBA stattdessen zwecks Erlangung der Typgenehmigung mittels einer eigens zu diesem Zweck entwickelten Motorsteuerungssoftware wahrheitswidrig vorzuspiegeln, dass die von ihm hergestellten Dieselfahrzeuge die neu festgelegten Grenzwerte einhalten. Die Software war bewusst und gewollt so programmiert, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte nur auf dem Prüfstand beachtet, im normalen Fahrbetrieb hingegen überschritten wurden (Umschaltlogik), und zielte damit unmittelbar auf die arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde ab (vgl. Senatsurteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19, ZIP 2020, 1179 Rn. 16-27). Die mit einer derartigen – evident unzulässigen – Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeuge hatte der Hersteller sodann unter bewusster Ausnutzung der Arglosigkeit der Erwerber, die die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben und die ordnungsgemäße Durchführung des Typgenehmigungsverfahrens als selbstverständlich voraussetzten, in den Verkehr gebracht (vgl. Senatsurteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19, ZIP 2020, 1179 Rn. 17, 23, 25). Ein solches Verhalten steht einer unmittelbaren arglistigen Täuschung der Fahrzeugerwerber in der Bewertung gleich (Senatsurteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19, ZIP 2020, 1179 Leitsatz 1 und Rn. 23, 25).
Bei dem Einsatz einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems wie im vorliegenden Fall fehlt es an einem derartigen arglistigen Vorgehen des beklagten Automobilherstellers, das die Qualifikation seines Verhaltens als objektiv sittenwidrig rechtfertigen würde. Nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts unterscheidet die im streitgegenständlichen Fahrzeug eingesetzte temperaturbeeinflusste Steuerung der Abgasrückführung nicht danach, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befindet. Sie weist keine Funktion auf, die bei erkanntem Prüfstandsbetrieb eine verstärkte Abgasrückführung aktiviert und den Stickoxidausstoß gegenüber dem normalen Fahrbetrieb reduziert, sondern arbeitet in beiden Fahrsituationen im Grundsatz in gleicher Weise. Unter den für den Prüfzyklus maßgebenden Bedingungen (Umgebungstemperatur, Luftfeuchtigkeit, Geschwindigkeit, Widerstand, etc., vgl. Art. 5 Abs. 3 a) der Verordnung 715/2007/EG i.V. m. Art. 3 Nr. 1 und 6, Anhang III der Verordnung (EG) Nr. 692/2008 der Kommission vom 18. Juli 2008 zur Durchführung und Änderung der Verordnung 715/2007/EG (ABl. L 199 vom 28. Juli 2008, S. 1 ff.) in Verbindung mit Abs. 5.3.1 und Anhang 4 Abs. 5.3.1, Abs. 6.1.1 der UN/ECE-Regelung Nr. 83 (ABl. L 375 vom 27. Dezember 2006, S. 246 ff.)) entspricht die Rate der Abgasrückführung im normalen Fahrbetrieb derjenigen auf dem Prüfstand.
Bei dieser Sachlage wäre der Vorwurf der Sittenwidrigkeit gegenüber der Beklagten nur gerechtfertigt, wenn zu dem – hier unterstellten – Verstoß gegen die Verordnung 715/2007/EG weitere Umstände hinzuträten, die das Verhalten der für sie handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen. Wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat, setzt die Annahme von Sittenwidrigkeit jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Fehlt es hieran, ist bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt. Dabei trägt die Darlegungs- und Beweislast für diese Voraussetzung nach allgemeinen Grundsätzen der Kläger als Anspruchsteller (vgl. Senatsurteil vom 25. Mai 2020 – VI ZR 252/19, ZIP 2020, 1179 Rn. 35).“
35
In weiteren Entscheidungen hat der BGH diese Grundsätze für Fälle bestätigt, in denen die Abhängigkeit der Abgasrückführungsrate von Thermofenster und Drehzahl (BGH, Beschluss vom 29.09.2021 – VII ZR 223/20 = zitiert nach juris) bzw. von Thermofenster und Umgebungsluftdruck (Seehöhe von 1.000 m) (BGH, Urteil vom 28.10.2021 – III ZR 261/20 = zitiert nach juris) behauptet worden war.
36
Die Grundsätze sind danach auch auf den vorliegenden Fall anwendbar, in dem der Kläger eine Abhängigkeit des Emissionskontrollsystems von drei unterschiedlichen Parametern (Außentemperatur, Drehzahl und Umgebungsluftdruck) behauptet bzw. die prinzipielle Abhängigkeit von diesen Parametern (bis auf die Ausgestaltung in Einzelheiten) unstreitig ist.
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2. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze – denen das Gericht folgt – ist hier die Sittenwidrigkeit des Handelns der Beklagten nicht schlüssig dargetan:
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Sittenwidrig ist ein Verhalten, das gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt, wobei dies aufgrund einer umfassenden Würdigung von Inhalt, Zweck und Beweggründen des Handels zu beurteilen ist. Nicht bei jedem Pflichtverstoß sind diese Voraussetzungen zu bejahen, sondern es muss eine besondere Verwerflichkeit hinzukommen. Dabei kann es auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Sie kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben (BGH, Urteil vom 28.6.2016 = WM 2019, 1929 Rdn. 16, juris). Bezüglich des Anstandsgefühls aller billig und gerecht Denkenden kommt es wesentlich auf die berechtigten Verhaltenserwartungen im Verkehr an.
39
Mit der Inverkehrgabe des Fahrzeugs bringt der Hersteller konkludent zum Ausdruck, dass das Fahrzeug entsprechend seines objektiven Verwendungszwecks im Straßenverkehr eingesetzt werden darf, d. h. über eine uneingeschränkte Betriebserlaubnis verfügt, deren Fortbestand nicht aufgrund bereits bei der Auslieferung des Fahrzeugs dem Hersteller bekannte, konstruktive Eigenschaften gefährdet ist. Dies setzt voraus, dass nicht nur die erforderlichen Zulassungs- und Genehmigungsverfahren formal erfolgreich durchlaufen wurden, sondern auch, dass die für den Fahrzeugtyp erforderliche EG-Typengenehmigung nicht durch eine Täuschung des zuständigen Kraftfahrtbundesamts erschlichen worden ist und das Fahrzeug den für deren Inhalt und Fortdauer enthaltenen Vorschriften tatsächlich nicht entspricht.
40
Wurde die Rechtslage fahrlässig verkannt, fehlt es an dem für die Sittenwidrigkeit in subjektiver Hinsicht erforderlichen Bewusstsein der Rechtswidrigkeit. Das auf Seiten der Beklagten das Bewusstsein eines möglichen Gesetzesverstoßes, verbunden mit einer zumindest billigenden Inkaufnahme desselben, vorhanden war, ist vom Kläger weder ausreichend dargetan noch ersichtlich.
41
Art. 5 Abs. 1 VO (EG) 715/2007 sieht vor, dass der Hersteller das Fahrzeug so ausrüstet, dass die Bauteile, die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussen, so konstruiert, gefertigt und montiert sind, dass das Fahrzeug unter normalen Betriebsbedingungen dieser Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen entspricht.
42
Der Begriff der „normalen Betriebsbedingungen“ wurde dabei unstreitig jedenfalls bis ins Jahr 2016 (d.h. deutlich nach Entwicklung, Produktion und Erstzulassung des Fahrzeugs) selbst vom Kraftfahrtbundesamt so verstanden, dass damit die Bedingungen des NEFZ gemeint sind. Dies ist ausdrücklich in der Anlage AOG-2 (Angaben des Mitarbeiters des KBA Pasleck) als die langjährige Auffassung des KBA dargestellt und wird im Rahmen des Berichts der Untersuchungskommission Volkswagen (Anlage AOG-3) als vertretbar eingestuft.
43
Inwieweit die Beklagte auf dieser Grundlage bewusst davon ausgegangen sein soll, dass die auf dem Prüfstand und im Realbetrieb in gleicher Weise arbeitende Emissionskontrolle, die dazu führt, dass auf dem Prüfstand die Abgasgrenzwerte eingehalten werden nicht den gesetzlichen Anforderungen entspricht, erschließt sich nicht. Der bloße Hinweis des Klägers darauf, dass es sich um eine „offensichtlich unzulässige Abschalteinrichtung“ handele, verfängt schon angesichts der unstreitigen Rechtsauffassung des Kraftfahrtbundesamtes nicht.
44
Nach alledem vermag das Gericht dem Vortrag des Klägers ein Bewusstsein der etwaigen Rechtswidrigkeit auf Seiten der Beklagten als Voraussetzung der Sittenwidrigkeit ihres Handelns wegen Einbau des parametergesteuerten Emissionskontrollsystems nicht zu entnehmen.
45
Anderweitige Ansprüche nach §§ 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB bzw. nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV scheiden ebenfalls aus Rechtsgründen aus (vgl. BGH, Urteil vom 30.07.2020 – VI ZR 5/20).
46
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.
47
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit richtet sich nach § 709 S. 1, 2 ZPO.
48
Der Streitwert ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
- Antrag zu 1:
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9.158,32 €
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- Antrag zu 2:
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0,00 € (BGH, MDR 2010, 1087)
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- Antrag zu 3:
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0,00 € (§ 4 ZPO)
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GESAMT:
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9.158,32 €
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