Inhalt

LG München II, Urteil v. 18.10.2022 – 6 Ns 12 Js 5385/21
Titel:

Volksverhetzung durch Vergleich von Schutzmaßnahmen in der COVID-19-Pandemie mit Völkermord unter Herrschaft des Nationalsozialismus (im Strafausspruch aufgehoben durch BayObLG BeckRS 2023, 2859) – Ausschluss von Meinungsfreiheit und Verbotsirrtum

Normenketten:
StGB § 17, § 46 Abs. 2 S. 2, § 130 Abs. 3
VStGB § 6 Abs. 1
Leitsätze:
1. Das Gleichsetzen von Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie mit als Völkermord strafbaren Handlungen während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft (hier: Verfolgung europäischer Juden durch Vernichtung und Geburtenkontrolle) stellt ein Verharmlosen iSv § 130 Abs. 3 StGB dar. (Rn. 35 – 38) (redaktioneller Leitsatz)
2. Dass sog. „Mischlinge zweiten Grades“ ab 1935 Heiratsbeschränkungen unterworfen waren, die ihre Fortpflanzung verhindern sollten, ist als Völkermord gem. § 6 Abs. 1 Nr. 4 VStGB, dass sie ab 1941 in den besetzten Ostgebieten als Juden angesehen und als solche in den Holocaust einbezogen wurden, als Völkermord gem. § 6 Abs. 1 Nr. 1 VStGB strafbar. (Rn. 36 – 37) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Verwendung des im Sprachgebrauch des Antisemitismus üblichen Begriffs "Zionist" belegt antisemitische Beweggründe iSv § 46 Abs. 2 S. 2 StGB, die eine Deckung der Äußerungen durch die Meinungsfreiheit gem. Art. 5 Abs. 1 GG ausschließt. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
4. Für jedenfalls bedingten Vorsatz einer Äußerung iSv § 130 Abs. 3 StGB reicht es aus, die Formulierung so zu wählen, dass sie beim ersten, unreflektierten Hören unmittelbar den Eindruck eines Vergleichs zwischen den Maßnahmen zum Schutz vor der Verbreitung von COVID-19 und den Maßnahmen zur Judenverfolgung unter der Herrschaft des Nationalsozialismus erweckt. (Rn. 27 – 28) (redaktioneller Leitsatz)
5. Ein Täter des § 130 Abs. 3 StGB, der nicht ohne weiteres verständliche Begriffe (hier: "Geltungsjude" und "Mischling zweiten Grades") verwendet, ohne sich zuvor über die rechtliche und tatsächliche Situation dieser Personen gehörig zu informieren, kann sich nicht auf einen Verbotsirrtum iSv § 17 StGB berufen. (Rn. 29 – 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Volksverhetzung, Verharmlosen, Antisemitismus, Völkermord, Judenverfolgung, Nationalsozialismus, Pandemie, Zionist, Meinungsfreiheit, Verbotsirrtum, Rede
Vorinstanz:
AG Ebersberg, Urteil vom 15.03.2022 – 1 Cs 12 Js 5385/21
Rechtsmittelinstanz:
BayObLG, Beschluss vom 17.02.2023 – 207 StRR 32/23
Fundstelle:
BeckRS 2022, 43841

Tenor

1. Die Berufungen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Amtsgerichts Ebersberg vom 15.03.2022 werden als unbegründet verworfen.
2. Die durch die Berufung der Staatsanwaltschaft veranlassten Kosten und notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.
Im Übrigen hat der Angeklagte die Kosten des Berufungsverfahrens und seine Auslagen zu tragen.
Angewandte Vorschrift:
§ 130 Abs. 3 StGB -

Entscheidungsgründe

1
I. Mit Urteil des Amtsgerichts Ebersberg vom 15.03.2022 wurde der Angeklagte der Volksverhetzung schuldig gesprochen und deswegen zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 40,00 € verurteilt.
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Gegen dieses Urteil haben der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft jeweils form- und fristgerecht Berufung eingelegt. Die Berufung der Staatsanwaltschaft ist mit der Einlegung auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt worden.
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II. Die statthaften Berufungen sind zulässig, §§ 312, 314 Abs. 1 StPO. In der Sache hatten beide Berufungen keinen Erfolg.
III. Die Berufungsverhandlung hat ergeben:
1. Persönliche Verhältnisse:
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Der Angeklagte wurde am ... 1967 in Berlin geboren, zum Zeitpunkt der Berufungshauptverhandlung war er 55 Jahre alt.
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Der Angeklagte wuchs bis zu seinem 16. Lebensjahr in Westberlin auf und erlangte dort die mittlere Reife.
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Nach der Schule ging der Angeklagte mit seiner Familie nach A.. Er absolvierte eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. In der Folge arbeitete er in einem Teppichgeschäft, bei der Wach- und Schließgesellschaft und bei einer Diskothek. 2009 bestand er die Sachkundeprüfung für den Sicherheitsdienst. Aktuell arbeitet er bei der Einlasskontrolle im .... Je nach gearbeiteter Stundenzahl erhält der Angeklagte bis zu 1.900 € im Monat netto.
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Der Angeklagte ist seit 2013 verheiratet. Seine Ehefrau ist Frührentnerin und erhält 900 bis 1000 € Rente im Monat. Der Angeklagte hat keine Kinder.
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Die Mietkosten des Angeklagten und seiner Frau belaufen sich auf 800 € zuzüglich Nebenkosten.
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Der Angeklagte ist nicht vorbestraft.
2. Strafbares Verhalten:
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a) Am 28.01.2021 fand eine Versammlung unter dem Titel „Wahrheit, Friede, Freiheit“ in der ... in P. statt. Dort äußerte der Angeklagte im Rahmen einer von ihm gehaltenen Rede Folgendes:
„Ich frag mich noch eine Sache: Es heißt doch immer, ja, die Frau Knobler, Knoblauch, also die ist die Leiterin der Zionisten – neinneinneinnein, nicht Zionisten, von der jüdischen Kultusgemeinde, und die hat sich beschwert, dass die Querdenker die Sache mit den Juden im Dritten Reich vergleichen. Okay, ich habe mir überlegt, mit was kann man die Lage jetzt vergleichen. Mit der DDR nicht: Die DDR ist dagegen rechtlich freiheitlich. Die haben, die hatten, FKK, keine Masken auf [Gelächter unter den Zuhörern] und konnten draußen auf der Straße Bier saufen. [Applaus] Also habe ich überlegt, also Drittes Reich, was nehmen wir denn. Und jetzt habe ich den genauen Satz, wie man sich fühlen könnte in der heutigen Zeit. Man fühlt sich im Dritten Reich wie ein Mischling zweiten Grades, der kein Geltungsjude ist. Ich glaube, dies ist politisch korrekt gesprochen. Man kann auch viele Sachen verschweren. Aber warum sagen zum Beispiel Kinder, sie fühlen sich wie die Anne Frank. Weil uns das ständig als das Schlimmste, ja, vorgeführt ist, denn das ist schrecklich. Aber die Kinder hatten ja keinen anderen Vergleich, deshalb sagen sie das. Und jetzt…“ (Hier bricht die vorhandene Aufzeichnung ab.)
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Der Angeklagte hielt seine Rede über ein Mikrophon durch einen Lautsprecher verstärkt in einem als Art Bühne fungierenden, im Freien stehenden offenen Veranstaltungszelt. Auf der vorhandenen Videoaufnahme der Rede sind sechs weitere Personen sichtbar. Eine dieser Personen hält eine Gitarre und zwei weitere sichern die Zeltstangen am Eck gegen Windstöße. Weitere Zuhörer waren anwesend.
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Durch den Inhalt seiner Rede zog der Angeklagte einen Vergleich zwischen der bestehenden COVID19-Pandemie und den zur Eindämmung angeordneten Schutzmaßnahmen und der Behandlung von damals so genannten „Mischlingen zweiten Grades“ während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Durch diese Parallele verharmloste der Angeklagte, wie er zumindest billigend in Kauf nahm, den auch an sogenannten „Mischlingen zweiten Grades“ unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangenen Völkermord.
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b) Sogenannte „Mischlinge zweiten Grades“ (Personen mit einem jüdischen Großelternteil) waren schon vor 1935 als sog. Nicht-Arier umfassender beruflicher Diskriminierung ausgesetzt, sie durften z.B. keine Beamten, Ärzte oder Rechtsanwälte sein. Auch waren sie Schul- und Ausbildungsbeschränkungen unterworfen.
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Mit den Nürnberger Gesetzen 1935 wurden Heiratsbeschränkungen gegen die sogenannten „Mischlinge zweiten Grades“ erlassen um zu verhindern, dass sie eine Ehe eingingen und Kinder bekamen: Sie durften nicht untereinander heiraten, sie durften keine Parteimitglieder, keine Staatsdiener und Offiziere heiraten. 40 bis 50% der männlichen Bevölkerung kamen damit als Heiratspartner nicht mehr in Frage. Sie sollten als Gruppe vom Rest der sog. „deutschblütigen“ Bevölkerung isoliert werden, um sie aussterben zu lassen.
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„Mischlinge zweiten Grades“, die jüdischen Glaubens waren, wurden wie Juden behandelt (sog. „Geltungsjuden“) und waren als solche in der Folge den gegen Juden bestehenden Repressalien und später der Deportation in die Vernichtungslager ausgesetzt.
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Ab dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und insbesondere auch auf der Wannseekonferenz gab es Bestrebungen, die deutschen „Mischlinge zweiten Grades“ generell den Juden zuzurechnen, um sie dementsprechend deportieren und letztlich ermorden zu können. Hierzu kam es in Deutschland bis 1945 nicht. Hingegen wurden in den besetzten Ostgebieten beim Vorgehen der deutschen Truppen ab 1941 diese Personengruppe gemeinsamen mit anderen Juden unterschiedslos zusammengetrieben und erschossen, auch auf Grundlage von Anordnungen der Zivilverwaltung, dass der Kreis von Personen, die als Juden anzusehen sind, möglichst weit zu ziehen sei. Dort waren die sogenannten „Mischlinge“ somit in den Holocaust einbezogen.
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Beschlossen wurde auf der Wannseekonferenz die Zwangssterilisation der „Mischlinge zweiten Grades“, die jedoch aus praktischen Gründen während des Krieges nicht vollzogen werden konnte.
3. Beweiswürdigung:
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a) Der Angeklagte hat eingeräumt, die fragliche Rede gehalten zu haben.
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Er gab an, er sie geschockt, als Antisemit hingestellt zu werden, der er „in keinster Weise“ sei. Er habe weder das jüdische Volk „runtermachen“ noch den Holocaust leugnen wollen. Er habe das nicht verharmlosen wollen, sondern mit „markigen Worten“ die Leute zum Denken bringen, wie die Hygienemaßnahmen seien.
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Den fraglichen tatbestandsrelevanten Satz („Man fühlt sich im Dritten Reich wie ein Mischling zweiten Grades, der kein Geltungsjude ist.“) habe er im Vorfeld bei einem Gespräch von einem Anwesenden aufgeschnappt und sich gemerkt; er habe den Satz „markig“ gefunden. Er habe im Internet geschaut, was ein Mischling 2. Grades sei, nämlich ein „Vierteljude“, und was ein Geltungsjude sei. Er habe festgestellt, dass ein „Mischling 2. Grades“ „die Steuer“ nicht habe zahlen müssen (der Angeklagte meinte möglicherweise die Judenvermögensabgabe in der NS-Zeit), dass sie keinen (Juden-)Stern tragen mussten, nicht studieren durften, nicht zur Wehrmacht durften. Das mit dem Geltungsjuden habe er angehängt, weil er gehört habe, das sei besonders wichtig gewesen, denn wenn man die jüdische Religion ausgeübt habe, sei man eingesperrt worden. Heute finde er es selber sehr zerfahren. Erst im Nachhinein habe er ernsthaft recherchiert. Er habe nicht gegen Juden hetzen wollen, sondern er habe die Maßnahmen (zum Schutz vor COVID-19) nicht gemocht, und ihm sei nichts Besseres eingefallen, er sei kein Intellektueller.
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Er habe sich noch echauffiert, dass die Leute das kleine Mädchen aus Hannover schlecht machten. (Gemeint war offensichtlich der Vergleich junger Demonstrationsteilnehmerinnen mit Anne Frank.) Er habe viel gefährliches Halbwissen gehabt und sei fest davon überzeugt gewesen, dass den „Mischlingen zweiten Grades“ nichts passiert sei. In den Ostgebieten hätten die Wehrmacht und die Waffen-SS furchtbar gehaust, er glaube, die hätten alle erschossen, derer sie habhaft geworden seien. Seine Intention sei gewesen, etwas Markiges zu sagen, dass die Leute begreifen, dass die Hygienemaßnahmen nicht in Ordnung seien. Mit dem heutigen Wissen würde er das nicht mehr wiederholen. Es täte ihm furchtbar leid.
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Zu seiner Äußerung zu Charlotte Kn. gab er an, er finde den Namen spaßig; den billigen Lacher habe er in Kauf genommen, aber er habe nicht über sie herziehen wollen.
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Der Angeklagte führte nicht näher aus, auf welchen Websites er im Internet recherchiert habe („irgendwas mit Zeitgeschichte“); es sei jedoch nicht Wikipedia gewesen, dem er nicht traue.
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b) Die Kammer erachtet die Einlassung des Angeklagten über das „Aufschnappen“ der Bemerkung und seine Internetrecherche unmittelbar vorher als eine unwahre Schutzbehauptung: Der Angeklagte schrieb sich selbst ein eher niedriges intellektuelles Niveau zu (er erklärte selbst, seine in Berlin erworbene mittlere Reife entspreche einem bayerischen Hauptschulabschluss) und zeigte sich auch in der Berufungshauptverhandlung in dieser Weise, indem er nach Worte und Formulierungen suchte und mit manchen Fremdwörtern Schwierigkeiten hatte. Vor diesem Hintergrund erscheint es der Kammer fernliegend, dass der Angeklagte den fraglichen Satz über „Mischlinge“ und „Geltungsjuden“ aufgeschnappt und dann diese beiden – nicht ohne Weiteres verständlichen – Begriffe noch schnell recherchiert haben will. Vielmehr ist die Kammer davon überzeugt, dass der Angeklagte seine ganze Rede längere Zeit vorbereitet hat. Dies ergibt sich aus der Aneinanderreihung seiner Pointen, die in dem fraglichen Satz gipfeln. Die Kammer ist danach davon überzeugt, dass der Angeklagte den fraglichen Satz gezielt als Höhepunkt seiner Darstellung wählte in der Meinung, in dieser Weise könne er straflos die Schutzmaßnahmen gegen COVID-19 in Bezug zum Massenmord an Juden während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft setzen.
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c) Der wiedergegebene Wortlaut und die Umstände der Rede ergeben sich zudem aus der von der Rede vorhandenen Videoaufnahme, die in Augenschein genommen wurde. Dem Video ist auch zu entnehmen, dass die Rede öffentlich auf einer Versammlung gehalten wurde, und sich der Angeklagte an eine Zuhörerschaft wendet, aus deren Perspektive die Aufnahme erfolgt ist. Die genaue Größe dieser Zuhörerschaft konnte nicht festgestellt werden. Aufgrund der Gelächter- und Applausgeräusche und der Notwendigkeit der Verwendung von Mikrophon und Lautsprecher schätzt die Kammer, dass es sich um mindestens ca. 20 Zuhörer gehandelt hat.
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d) Die unter III. 2. b) dargestellten Feststellungen beruhen auf dem in der Hauptverhandlung erstatteten Gutachten des Sachverständigen Prof. B. vom Institut für Zeitgeschichte in .... Er schilderte die rechtliche und tatsächliche Situation von sog. „Mischlingen zweiten Grades“ während der Zeit des Nationalsozialismus so wie oben dargestellt. An seiner Sachkunde bestehen keine Zweifel, da der Sachverständige wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien ist.
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e) Der Angeklagte handelte jedenfalls mit bedingtem Vorsatz:
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Der Angeklagte hat seine Worte planvoll gewählt. Er mag sich zwar eingeredet haben, durch die von ihm gewählte Formulierung der Strafbarkeit des § 130 Abs. 3 StGB nicht zu unterliegen, weil er irrig davon ausging, „Mischlinge zweiten Grades“ seien keiner Verfolgung ausgesetzt gewesen. Der Angeklagte hat seine Formulierung jedoch so gewählt, dass sie beim ersten, unreflektierten Hören unmittelbar den Eindruck eines Vergleichs zwischen den Maßnahmen zum Schutz vor der Verbreitung von COVID-19 und den Maßnahmen zur Judenverfolgung unter der Herrschaft des Nationalsozialismus erweckte. Auf diesen Eindruck kam es dem Angeklagten nach der Überzeugung der Kammer gerade an, sie war der Kern der Aussage seiner Rede. Soweit der Angeklagte geltend machte, er sei nicht davon ausgegangen, dass „Mischlinge zweiten Grades“ in dieser Weise verfolgt worden seien, widerspricht er damit dem, was er mit seiner Rede eigentlich ausdrücken wollte. Der Angeklagte ging somit lediglich davon aus, aufgrund des Wortlauts seiner Rede werde man ihm die Straftat nicht nachweisen können.
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f) Der Angeklagte unterlag auch keinem unvermeidbaren Verbotsirrtum (§ 17 StGB):
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Der Angeklagte hätte sich jedenfalls, wenn er mit nicht ohne weiteres verständlichen Begriffen wie „Mischling zweiten Grades“ und „Geltungsjude“ argumentierte, sich über die rechtliche und tatsächliche Situation dieser Personen gehörig informieren müssen. Der Angeklagte räumte jedoch selbst ein er habe erst im Nachhinein ernsthaft recherchiert.
31
Der vom Angeklagten geltend gemachte Verbotsirrtum wäre daher in jedem Fall vermeidbar gewesen.
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Dem steht nicht entgegen, dass die Kammer in der Hauptverhandlung die Hilfe eines Sachverständigen zu diesen Begriffen in Anspruch nahm: Denn die Kammer hatte über die vom Angeklagten verwendeten Begriffe „Mischling zweiten Grades“ und „Geltungsjude“ zuverlässige Kenntnis verschaffen müssen, um deren objektiven Inhalt beurteilen zu können. Der Angeklagte hat jedoch nicht einmal nach seinen Angaben versucht, taugliche Informationen hierzu zu gewinnen, indem er bereits unproblematisch zugängliche Erkenntnisquellen wie Wikipedia ausblendete. Er damit billigend in Kauf genommen, dass die von ihm verwendeten Begriffe auch ihrem wörtlichen Sinn nach den Holocaust verharmlosten und damit auch im wörtlichen Sinn wiedergaben, wie der Angeklagte ohnehin verstanden werden wollte.
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Im Übrigen hat der Angeklagte keine konkreten Angaben zu seiner angeblichen Recherche gemacht, denen die Kammer hätte nachgehen können.
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g) Die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen beruhen auf den Angaben des Angeklagten und dem Auszug aus dem Bundeszentralregister.
4. Rechtliche Würdigung:
35
a) Der Angeklagte hat sich durch sein Verhalten der Volksverhetzung in Form des Verharmlosens des der unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangenen Verfolgung der europäischen Juden durch Vernichtung und Geburtenkontrolle schuldig gemacht (§ 130 Abs. 3 StGB).
36
aa) Die sog. „Mischlinge zweiten Grades“ waren ab 1935 Heiratsbeschränkungen unterworfen, die ihre Fortpflanzung verhindern sollten. Eine solche Maßnahme ist strafbar als Völkermord gem. § 6 Abs. 1 Nr. 4 VStGB.
37
bb) Darüber hinaus wurden sie ab 1941 in den besetzten Ostgebieten als Juden angesehen und wurden als solche in Holocaust einbezogen, strafbar als Völkermord gem. § 6 Abs. 1 Nr. 1 VStGB.
38
b) Durch seine Äußerung setzte der Angeklagte die – als Völkermord strafbaren – Handlungen, die an sog. „Mischlinge zweiten Grades“ während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft begangen wurden, mit den Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie gleich, und verharmloste dadurch diese Handlungen. Ein Verharmlosen liegt auch in den Fällen vor, in denen die Verbrechen gegen die Juden nicht negiert werden, sondern mit der gegenwärtigen (oder eigenen) Situation verglichen werden, um die gegenwärtigen politischen Entscheidungen zu kritisieren, da die als Völkermord strafbaren Handlungen gegenüber den hier genannten „Mischlingen zweiten Grades“ eine ganz andere Kategorie haben als die kritisierten staatlichen Maßnahmen. Auch Personen, die COVID-19-Schutzmaßnahmen (Ausgangsbeschränkungen; Anordnung zum Maskentragen; Notwendigkeit einer Impfung in bestimmten Bereichen) ablehnen, sind nicht im Ansatz staatlichen Maßnahmen ausgesetzt, die die Zerstörung einer Gruppe iSd. § 6 Abs. 1 VStGB zum Gegenstand hätten.
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c) Die Äußerung des Angeklagten war nicht durch die Meinungsfreiheit gem. Art. 5 GG gedeckt, auch nicht im Rahmen der politischen Auseinandersetzung über die Angemessenheit oder der Kritik an den Pandemie-Schutzmaßnahmen. Im Kontext der Rede erschöpft sich deren Sinn nicht im Vergleich der Situation von „Mischlingen zweiten Grades“ mit der unter den gegenwärtigen Pandemie-Schutzmaßnahmen. Vielmehr verband der Angeklagte seine Äußerung über „Mischlinge 2. Grades“ damit, sich über die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde in München und Oberbayern Charlotte Kn. lustig zu machen und diese als „Leiterin der Zionisten“ zu apostrophieren. Diese Äußerung des Angeklagten greift den Begriff „Zionist“ als Umschreibung für „Jude“ auf, wie er im Sprachgebrauch des Antisemitismus üblich ist, und ist damit als antisemitisch zu beurteilen. Die Kammer hat danach keine Zweifel, dass der Angeklagte – neben der Kritik an den COVID-19Schutzmaßnahmen – auch antisemitische Beweggründe für seine Äußerung hatte.
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d) Der Angeklagte hielt seine Rede öffentlich, nämlich im Freien, zudem im Rahmen einer Versammlung und verstärkt durch Lautsprecher. Aus den Publikumsreaktionen ergibt sich zusätzlich, dass die Äußerungen des Angeklagten von den Zuhörern wahrgenommen wurden.
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e) Die vom Angeklagten getätigte Äußerung war geeignet, den öffentlichen Frieden zu stören:
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Störung des öffentlichen Friedens meint, dass konkrete Tatumstände bei genereller Betrachtung zu der Befürchtung Anlass geben, dass das Vertrauen in die öffentliche Rechtssicherheit durch die Äußerung erschüttert werde. Hierfür ist hinreichend, dass in empfänglichen Kreisen die Neigung zu Rechtsbrüchen geweckt oder verstärkt werden könnte (BeckOK StGB/Rackow, 47. Ed. 1.8.2020, StGB § 130, Rn. 22).
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Zu dieser Befürchtung geben die Äußerungen des Angeklagten Anlass, denn der Angeklagte verband seine Äußerung über „Mischlinge zweiten Grades“, wie oben dargelegt, mit antisemitischen Bemerkungen.
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f) Ein in §§ 130 Abs. 7, 86 Abs. 4 StGB genannter Zweck ist für die Äußerung des Angeklagten nicht ersichtlich.
5. Strafzumessung:
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Bei der Strafzumessung war vom Strafrahmen des § 130 Abs. 3 StGB auszugehen.
46
a) Eine Strafrahmenverschiebung wegen vermeidbaren Verbotsirrtums (§§ 17 S. 2, 49 Abs. 1 StGB) hat die Kammer nicht vorgenommen: Der Angeklagte hat seine Worte gezielt so gewählt, dass sie als Verharmlosung des Holocaust verstanden werden sollten. Wenn er (irrig) meinte, bei streng wörtlicher Auslegung hätten sie diesen Sinn nicht, veranlasst dies keine Strafrahmenverschiebung.
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b) Bei der Strafzumessung im engeren Sinne wurde zugunsten des Angeklagten berücksichtigt, dass er den Sachverhalt einräumte, wobei der äußere Sachverhalt durch die vorliegende Videoaufzeichnung schwerlich zu leugnen war. Zugunsten wurde des Weiteren berücksichtigt, dass der Angeklagte sein Bedauern über seine Äußerungen ausdrückte und sich in der Berufungshauptverhandlung von einer antisemitischen Einstellung distanzierte. Auch wurde berücksichtigt, dass der Angeklagte nicht vorbestraft ist. Zugunsten hat die Kammer schließlich zugrunde gelegt, dass der Zuhörerkreis nicht allzu groß war.
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Zu Lasten wurde gewertet, dass sich der Angeklagte – neben seiner Kritik an den COVID-19-Schutzmaßnahmen – zum Zeitpunkt der Äußerung auch antisemitische Beweggründe für seine Äußerung hatte (§ 46 Abs. 2 S. 2 StGB).
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Unter Abwägung dieser Strafzumessungsgesichtspunkte hält die Kammer die auch vom Amtsgericht verhängte Geldstrafe von 100 Tagessätzen für tat- und schuldangemessen. Die Kammer hat dabei berücksichtigt, dass der Angeklagte mit dieser Strafe einen Eintrag im Führungszeugnis erhalten wird, und seine Arbeitsstelle im Sicherheitsdienst des Verwaltungsgerichts voraussichtlich verlieren wird. Die vom Angeklagten begangene Tat rechtfertigt jedoch diese Konsequenzen. Insbesondere geht es nicht an, dass eine Person, die sich auf einer Versammlung volksverhetzend und antisemitisch äußert, im Sicherheitsbereich eines Gerichts tätig ist.
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Auch die vom Amtsgericht verhängte Tagessatzhöhe entspricht den wirtschaftlichen Verhältnissen des Angeklagten, unter Berücksichtigung der etwas geringeren Renteneinkünfte seiner Ehefrau.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 StPO.