Titel:
Abschiebungsverbot für männliche Rückkehrer nach Afghanistan
Normenketten:
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3
Leitsatz:
Einem männlichen leistungsfähigen Rückkehrer aus dem westlichen Ausland droht in Afghanistan nach der Machtübernahme durch die Taliban eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung, wenn er über kein äußerst stabiles und verlässliches soziales oder familiäres Netz verfügt, sodass er einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG hat. (Rn. 19 und 33) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Herkunftsland Afghanistan, Folgeantrag, Abschiebungsverbot bejaht, Machtübernahme durch Taliban, Afghanistan, Abschiebungsverbot, Machtübernahme, Taliban, menschenunwürdige Behandlung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 09.02.2023 – 13a B 22.31201
Fundstelle:
BeckRS 2022, 43755
Tenor
I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23. Oktober 2020 wird in der Ziffer 2 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
III. Von den Kosten des Verfahrens tragen der Kläger ¾ und die Beklagte ¼.
IV.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der am ... geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger vom Volk der Tadschiken und islamisch-sunnitischen Glaubens. Er reiste am 5. Mai 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 8. Mai 2015 vertreten durch seinen Vormund einen Asylantrag (Erstantrag) bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), welcher mit Bescheid vom 13. November 2017 unter Androhung der Abschiebung nach Nigeria vollumfänglich abgelehnt wurde. Die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage vom 8. Dezember 2017 (Az. M 16 K 17.70077) ist mit Gerichtsbescheid vom 21. November 2018 als unzulässig wegen Versäumens der Klagefrist abgewiesen worden. Rechtskraft ist am 13. Dezember 2018 eingetreten.
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Bei der Anhörung am 12. Juli 2017 hatte er angegeben, er habe von 2012 bis 2013 mit den Amerikanern zusammengearbeitet als Fahrer, diese Arbeit aber abbrechen müssen und sei weiter als Fahrer für Öl-Transporte zwischen Iran und Afghanistan tätig gewesen. Dabei sei ihm einmal falsches bzw. gefälschtes Öl in den Transporter gefällt worden. Er habe dies gemeldet. Die verantwortliche Person, ein reicher Afghane sei daraufhin festgenommen worden. Der Kläger habe Probleme mit ihm bekommen. Als er einmal nachts unterwegs gewesen sei, sei er von vermummten Personen festgenommen und gefesselt worden. Zufällig sei er vom Militär oder der Polizei befreit worden. Daraufhin habe er das Land verlassen. 20 Tage habe es gedauert, bis er das Geld für die Flucht beisammen hatte. Wegen seiner Zusammenarbeit mit den Amerikanern befürchte er Probleme in Afghanistan. Er habe deswegen auch auf der Flucht Schwierigkeiten gehabt. Sein Vater sei verstorben, die Mutter habe einen Iraner geheiratet und lebe nun im Iran. Kontakt bestehe nicht, da der Stiefvater dagegen sei.
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Mit Schriftsatz vom 27. August 2020 stellte die Bevollmächtigte des Klägers einen Asylfolgeantrag und trug zu dessen Begründung vor, die Verhältnisse in Afghanistan hätten sich durch die Corona-Pandemie gravierend verschlechtert, sodass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG erfüllt seien.
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Am 25. März 2020 war gegen den Kläger ein Haftbefehl erlassen worden. Eine persönliche Anhörung hat wegen der Untersuchungshaft nicht stattgefunden.
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Mit Bescheid vom 23. Oktober 2020 wurde der Asylfolgeantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1). Der Antrag auf Abänderung des Bescheides vom 13.11.2017 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes wurde ebenfalls abgelehnt (Ziffer 2).
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Die geltend gemachten neuen Umstände im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie könnten sich lediglich bei möglichen Abschiebungsverboten auswirken, aber nicht zu einem Wiederaufgreifen des Asylverfahrens hinsichtlich der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, der Anerkennung als Asylberechtigter oder der Gewährung subsidiären Schutzes führen. Hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungsverboten sei dies angesichts der humanitären Bedingungen auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie nicht gerechtfertigt.
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Gegen diesen Bescheid, dem Kläger zugestellt am 4. November 2020, richtet sich die Klage vom 19. November 2020, erhoben mit Schriftsatz vom selben Tag und dem Antrag, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 23. Oktober 2020 zu verpflichten, das Vorliegen von Abschiebungshindernissen gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festzustellen. Mit Schriftsatz vom 28. Juli 2022 wurde die Klage unter Erklärung einer Klagerücknahme im Übrigen beschränkt auf
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die Feststellung der Abschiebungsverbote
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und mit Schriftsatz vom 5. August 2022 zur familiären Situation des Klägers vorgetragen.
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Die Beklagte hat am 26. November 2020 die Akten vorgelegt.
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Mit Beschluss vom 2. Juni 2022 ist der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen worden.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und auf die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
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1. Soweit der Klageantrag nachträglich beschränkt und die Klage somit teilweise zurückgenommen wurde, war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
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2. Im Übrigen erweist sich die zulässige Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten, erklärt durch Schriftsätze vom 2. Juni und vom 28. Juli 2022, gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, nach Prüfung durch die aufgrund entsprechender Beschlussfassung gemäß § 76 Abs. 1 AsylG zur Entscheidung berufene Einzelrichterin als begründet.
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3. Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO, da er im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, § 77 Abs. 1 Satz 1 HS. 2 AsylG einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hat.
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a. Ein Ausländer darf nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S.685; Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Umfasst wird davon auch das hier allein noch streitgegenständliche Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung i.S.v. Art. 3 EMRK droht (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 11). Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden ergeben (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12).
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Soweit ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12; B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 9: „nur in besonderen Ausnahmefällen“). Die Voraussetzungen können erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 11). Der EuGH stellt in seiner neueren Rechtsprechung zu Art. 4 Grundrechte-Charta darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und Unterkunft zu finden, und die ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EUGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.). Die dargestellte Rechtsprechung macht letztlich deutlich, dass von einem sehr hohen Gefahrenniveau auszugehen ist; nur dann liegt ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 21; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 51; BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 10; OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 111f.). Auch im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich, aber auch ausreichend, ist daher die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer unmenschlichen Behandlung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 22). Bei der Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung an dem Ort droht, an dem die Abschiebung endet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 26; BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 22; OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 43 ff.; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 43).
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Aus der zuletzt ergangenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. April 2022 (1 C 10.21 – juris) ergibt sich kein veränderter Maßstab für die Gefahrenprognose: Eine Gefahr ist auch hiernach in dem Sinne konkret, wenn die drohende menschenrechtswidrige Beeinträchtigung in einem derart engen zeitlichen Zusammenhang zu der Rückkehr eintritt, dass bei wertender Betrachtung noch eine Zurechnung zu dieser – in Abgrenzung zu späteren Entwicklungen im Zielstaat oder Verhaltensweisen des Ausländers – gerechtfertigt ist.
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Hiervon ausgehend droht dem Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung. Die erkennende Einzelrichterin ist davon überzeugt, dass der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland und angesichts der derzeitigen Verhältnisse in Afghanistan nicht imstande sein wird, seine elementarsten Bedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Hygiene auf legalem Weg zu sichern.
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aa. Die wirtschaftliche und damit einhergehende humanitäre Situation in Afghanistan ist aktuell und auf unabsehbare Zeit, vor allem für Rückkehrer, besorgniserregend.
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Bereits vor der Machtübernahme durch die Taliban am 15. August 2021 zählte Afghanistan zu einem der ärmsten Länder der Welt. Die Armutsrate in den Städten lag 2019/2020 bereits bei mehr als 45%. Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie haben hier für eine weitere Verschärfung und für eine Steigerung der Lebensmittelpreise um 10% gesorgt, sodass die tägliche Existenzsicherung (Unterkunft, Trinkwasser, Nahrung, medizinische Versorgung) schon für den Einzelnen – Binnenvertriebene und insbesondere Rückkehrer – und die Regierung ohne humanitäre Hilfe aus dem Ausland schon vorher eine Herausforderung darstellte (vgl. ACAPS, thematic report, Afghanistan, humanitarian impact and trend analysis, 23.8.2021; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan v. 15.7.2021, S. 20ff und 24; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatdokumentation, Afghanistan, Stand 11.6.2021, S. 356ff).
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Dennoch war in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs in der Zeit vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 davon auszugehen, dass trotz der Covid-19-Pandemie für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende volljährige, alleinstehende und arbeitsfähige afghanische Staatsangehörige angesichts der damaligen Auskunftslage im Allgemeinen insbesondere bei Berücksichtigung der finanziellen Rückkehrhilfen weiterhin nicht von einer Gefahrenlage auszugehen, die ohne Weiteres zur Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG oder eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (BayVGH, U.v. 7.6.2021 – 13a B 21.30342 – juris Rn. 47; B.v. 5.1.2021 – 13a ZB 20.30103 – mit Verweis auf U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087 – juris Rn. 23). Von der Erlangbarkeit von Rückkehrhilfen zur vorübergehenden Existenzsicherung kann jedoch im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Halbsatz 1 AsylG) nicht mehr ausgegangen werden, da diese in der Folge der Machtübernahme durch die Taliban ab dem 17. August 2021 bis auf Weiteres „eingefroren“ wurden (https://www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan/). Somit kommt es, da derzeit kein Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen kann, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, auf die vom Bundesverwaltungsgericht in o.g. Entscheidung als entscheidungserheblich angesehene Frage nicht an, ob bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht.
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bb. Die erkennende Einzelrichterin gelangt unter Berücksichtigung der vorliegenden aktuellen Erkenntnismittel (vgl. etwa EASO Country Guidance: Afghanistan, Common analysis and guidance note, November 2021; Bericht des Auswärtigen Amts über die Lage in Afghanistan v. 22.10.2021; BAMF, Briefing Notes; UNHCR, Positions on return to Afghanistan, August 2021 und Guidance Note Februar 2022; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 17.8.2021; UNOCHA, Strategic situation reports; Afghanistan analysts network, report v. 6.9.2021; WFP, Countrywide market price bulletin) sowie der genannten Grundsätze ungeachtet fehlender, besonderer individueller Umstände des Klägers zu der Überzeugung, dass der Kläger den hohen Anforderungen, denen er im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan im gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt ausgesetzt wäre, nicht gewachsen und damit ein Ausnahmefall im Sinne der oben genannten Rechtsprechung zu bejahen ist, weil sich die Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen Behandlung wegen der durch die Machtübernahme verschärften Situation beträchtlich erhöht hat.
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Mit der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban über nahezu das gesamte Land, zuletzt durch die Einnahme der Stadt Kabul am 15. August 2021, und der Ausrufung des Islamischen Emirats Afghanistan haben sich die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan in kürzester Zeit grundlegend geändert (vgl. etwa Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 17.8.2021), was Folgen für die humanitären Verhältnisse und hier vor allem entscheidend für die Situation von Rückkehrern, insbesondere aus westlichen Staaten, hat. Bei der derzeitigen angespannten Wirtschaftslage und dem drohenden vollständigen Kollaps der afghanischen Republik verfügen Rückkehrende aufgrund des gewaltsamen Konflikts und der damit verbundenen Binnenflucht der Angehörigen nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan, 21.10.2021, Seite 14). Es ist nicht anzunehmen, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein wird, etwa durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten.
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Die durch die Machtübernahme der Taliban ausgelöste politische Instabilität und der Nachfragedruck bei Fremdwährungen führten zu einem deutlichen Anstieg des Wechselkurses und der Afghani fiel auf ein neues Rekordtief. Der Wertverlust führt zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise, da die meisten Nahrungsmittel importiert werden müssen. Zwischenzeitlich unternommene Anstrengungen zur Kursstabilisierung haben den weiteren Kursverfall zumindest gestoppt und für leicht sinkende Preise gesorgt, wobei der Preisanstieg gegenüber Juni 2021 immer noch signifikant ist (WFP vam Food Security Analysis 7.2.2022). Gleichzeitig sind die Beschäftigungsmöglichkeiten gegenüber Juni 2021 um beinahe 50% auf etwa 1,3 Tage/Woche und auch der Lohn für Tagelöhner gesunken (vgl. UN, World Food Programm, Afghanistan, Countrywide Market Price Bulletin, 21.9.2021; WFP vam Food Security Analysis 7.2.2022).
Insgesamt werden die Auswirkungen von Dürre, der Covid-19-Pandemie, des Konflikts und der humanitären Zugangsbeschränkungen die Ernährungssicherheit im Land noch weiter verschlechtern (vgl. ACAPS, thematic report, Afghanistan, humanitarian impact and trend analysis, 23.8.2021). Es wird befürchtet, dass es im Laufe des Jahres 2022 dazu kommen wird, dass bis zu 97% der Bevölkerung ihr Leben unterhalb der Armutsgrenze werden bestreiten müssen (UNHCR Guidance Note Februar 2022). Stadt- und Landbevölkerung sind gleichermaßen betroffen sowie auch Haushalte, die von einer Person mit weiterführendem Schulabschluss oder Hochschuldbildung geführt werden (WFP, Pressemitteilung vom 22. September 2021, abrufbar unter Pressemitteilungen | World Food Programme (wfp.org)).
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Der Internationale Währungsfonds erklärte, dass Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern haben wird (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 20.8.2021) und die Bundesregierung setzte als Reaktion auf den Machtwechsel die staatliche Entwicklungshilfe aus, so dass sich die oben beschriebene äußerst angespannte humanitäre Lage weiter – und voraussichtlich drastisch – verschlechtern wird (Situation Report v. 2.9.2021, abrufbar unter https://reliefweb.int/report/afghanistan/wfp-afghanistan-situation-report-2-2-september2021 und Afghanistan: Complex Emergency Response Situation report #1-15 September 2021, abrufbar unter https://reliefweb.int/report/afghanistan/afghanistan-complex-emergency-response-situation-report-1-15-september-2021 und WFP, Pressemitteilung vom 22. September 2021, abrufbar unter Pressemitteilungen | World Food Programme (wfp.org)).
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Eine im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführte Studie ergab, dass eine ökonomische Krise herrsche und beinahe niemand in der Lage ist, ausreichend Lebensmittel für seine Familie zu beschaffen und auch der Zugang zu Trinkwasser stark limitiert und teilweise nicht gegeben ist (ATR/STDOK – ATR Consulting (Autor) / veröffentlicht von Staatendokumentation des BFA [Österreich] (18.1.2022): Dossier: Socio-Economic Surveys, Country of Origin Information (COI), https://www.ecoi.net/en/document/2066706.html). In den ländlichen Gebieten stellt sich die Situation schon länger als extrem zugespitzt dar. Aufgrund der kombinierten Auswirkungen von Dürre, Konflikten, der Corona-Pandemie und einer Wirtschaftskrise, die sich durch die Unruhen nach der Machtübernahme der Taliban im Land noch verschärft haben, steht nach Einschätzung des World Food Program (WFP), der Food and Agriculture Organization (FAO), der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) sowie der Integrated Food Security Phase Classification (IPC) für fast 23 Millionen Afghanen im Jahr 2022 eine „akute Ernährungsunsicherheit“ zu befürchten, wobei bei knapp 9 Millionen Zustände wie bei einer Hungersnot zu befürchten sind. Das UN-Welternährungsprogramm (WFP) berichtet am 10. Mai 2022, dass nach wie vor ca. die Hälfte der Bevölkerung (19,7 Mio.) von Ernährungsunsicherheit bedroht ist. Nur ca. 7% der Bevölkerung hätten täglich ausreichend Nahrung (vgl. BAMF Briefing Note v. 16. Mai 2022). Dies gilt unterschiedslos für alle Provinzen (vgl. mit Einzelnachweisen: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Staatendokumentation Afghanistan Version 6 v. 28.1.2022; WFP Afghanistan Situation Report 10.2.2022).
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Ob und inwieweit humanitäre Hilfe hier zeitnah und wirkungsvoll umgesetzt werden kann, ist offen. Insoweit haben bilateral mit den Taliban geführte Gespräche keine konkreten Ergebnisse gebracht. Seitens der UN wurde zwar ein Transitional Engagement Framework auf den Weg gebracht. Allerdings benötigt dieses nach Angaben des UNHCR noch weitere 3,6 Milliarden US-Dollar, um eine wirkliche Stabilisierung der Lage herbeizuführen. Für eine fortbestehende Nahrungsmittelknappheit spricht beispielsweise auch, dass die Taliban laut Berichten Weizenlieferungen aus humanitären Hilfslieferungen verwenden, um Regierungsangestellte zu bezahlen. Bei einem Treffen zwischen Vertretern der EU und der Taliban-Regierung in Doha hat die EU weitere humanitäre Unterstützung zugesagt. Deborah Lyons, die Sonderbeauftragte des UNGeneralsekretärs für Afghanistan, sagte am 2. März 2022 vor dem UNSicherheitsrat, dass man 20 Mio. Afghanen in 397 von 401 Distrikten über den Winter mit humanitärer Hilfe versorgt habe. Dies habe aber nur etwas Zeit gekauft und sei noch keine langfristige Lösung. Es ist also angesichts der derzeit desaströsen Lage weder absehbar, inwieweit die bisherige Hilfe ausreichen wird noch inwieweit die internationalen Hilfsorganisationen, deren Mitarbeiter in der Vergangenheit bevorzugt Ziel von Gewalt gerade der Taliban waren, auf absehbare Zeit in der humanitären Krise effektive Unterstützung werden leisten können (vgl. BAMF, Briefing Notes, 17.1.2022, 21.2.2022 und 7.3.2022, Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan, 21.10.2021, S. 5; VG München, U.v. 20.9.2021 – M 16 K 17.41335, Rn. 29). Am 15. März 2022 warnte der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, Filippo Grandi, vor schwindender Aufmerksamkeit für die humanitäre Katastrophe in Afghanistan. Laut dem Welternährungsprogramm steigt die Zahl der akut hungerleidenden Menschen weiter auf aktuell 23 Mio. Gleichzeitig wirkt sich der Krieg in der Ukraine schon auf die Mehlpreise aus (BAMF Briefing Note, KW 12 vom 21. März 2022). Dass am 31. März 2022 eine virtuelle UN-Geberkonferenz unter Leitung von Deutschland, Großbritannien und Katar insgesamt 2,4 Mrd. USD statt der anvisierten 4,4 Mrd. USD für humanitäre Hilfe für das Jahr 2022 erbracht hat (BAMF Briefing Note, KW 14 vom 4. April 2022), macht die zugespitzte Lage nochmals deutlicher.
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Binnenvertriebene und Rückkehrer sind von der humanitären Krise mit am stärksten betroffen. Auch wenn dem Auswärtigen Amt keine Fälle bekannt sind, in denen Rückkehrende aus Europa nachweislich aufgrund ihres dortigen Aufenthalts Opfer von Gewalttaten wurden, wurden sie doch nach den vorliegenden Erkenntnissen bereits vor der Machtübernahme der Taliban von der afghanischen Gesellschaft teilweise misstrauisch wahrgenommen und es haftete ihnen insbesondere innerhalb ihrer Familie oftmals der Makel des Scheiterns an. Es war im Falle eines langen Aufenthalts im Ausland wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existierten oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt war, wodurch die Reintegration stark erschwert werden konnte. Die größte Schwierigkeit stellte für einen Großteil der Rückkehrer der Mangel an Arbeitsplätzen dar, da der Zugang zum Arbeitsmarkt maßgeblich von lokalen Netzwerken abhing (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan v. 15.7.2021, S. 24 und Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, 28.1.2022, S. 178f).
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Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR hat aufgrund der volatilen Lage die Staaten aufgefordert, die Rückführung afghanischer Flüchtlinge so lange zu stoppen, bis sich die Sicherheitslage und die Menschenrechtsbedingungen dahin verbessert haben, dass eine sichere und menschenwürdige Rückkehr möglich ist (UNHCR, Position on returns to Afghanistan, August 2021) und diese Position bislang nicht geändert (UNHCR, Guidance Note on Afghanistan, Februar 2022).
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cc. Derzeit kann schon aus tatsächlichen Gründen keine Abschiebung aus Deutschland erfolgen, die Rückführungen aus Deutschland und anderen EU- Staaten sind gegenwärtig ausgesetzt (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan, 21.10.2021, S. 14). Auch die dringend erforderlichen internationalen und nationalen Hilfsleistungen zur Rückkehr und Reintegration werden auf unabsehbare Zeit ausbleiben (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 17.8.2021; Afghanistan – Länderinformationen (returningfromgermany.de)).
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dd. Eine andere Beurteilung ergibt sich hiernach auch nicht im Hinblick auf die individuellen Umstände des Klägers.
33
Während vor der Machtübernahme durch die Taliban in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs noch davor auszugehen war, dass junge, gesunde und arbeitsfähige Männer sich zumindest ein Existenzminimum würden sichern können, wobei es auch auf einen vorherigen Aufenthalt im Heimatland nicht ankomme, es vielmehr ausreichend sei, dass eine Verständigung in einer der Landessprachen möglich ist (BayVGH, U.v. 7.6.2021 – 13a B 21.30342 – juris Rn. 47; B.v. 5.1.2021 – 13a ZB 20.30103 – mit Verweis auf U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087 – juris Rn. 23), hat sich die Situation nunmehr gewandelt (vgl. oben). Ohne ein äußerst stabiles und verlässliches soziales oder familiäres Netz wird es auch einem leistungsfähigen Rückkehrer derzeit nicht gelingen, in Afghanistan unmittelbar Fuß zu fassen und ein Einkommen zu erzielen, das ihm ein Leben auch nur knapp oberhalb des Existenzminimums erlaubt. Wegen der völligen Überlastung des Arbeitsmarktes drängen immer mehr Personen auf den Tagelöhnermarkt, von dem im Übrigen unklar ist, in welchem Umfang er gegenwärtig überhaupt noch existiert. Rückkehrer haben dort wegen der ihnen gegenüber bestehenden Ressentiments ohnehin keine Perspektive. Nach etlichen im Ausland verbrachten Jahren gelten sie als „verwestlicht“ und haben dem ihnen generell entgegen gebrachten Misstrauen und den Vorurteilen der Bevölkerung, insbesondere potentieller Arbeitgeber, kaum etwas entgegenzusetzen (vgl. dazu auch EASO Country Guidance: Afghanistan, Common analysis and guidance note, November 2021, S. 85, 100; Schweizer Flüchtlingshilfe: Afghanistan: Rückkehrgefährdung aufgrund von «Verwestlichung» – 26. März 2021).
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Nachdem der Kläger nach seinen plausiblen Angaben über keinen aufnahmebereiten bzw. aufnahmefähigen Familienverband oder soziale Kontakte in Afghanistan mehr verfügt, ist überwiegend wahrscheinlich, dass auch er nicht in der Lage sein wird, sich eine auch nur minimale Existenzgrundlage zu sichern.
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ee. Da es sich bei dem national begründeten Abschiebungsschutz um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen handelt (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – juris Rn. 17), bedurfte es keiner Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
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b. Nachdem der Kläger somit einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hat ist er durch Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids in seinen Rechten verletzt. Dieser war insoweit aufzuheben und eine Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots auszusprechen, § 113 Abs. 5 VwGO.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und, soweit die Klage zurückgenommen wurde, § 155 Abs. 2 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. B.v. 29.6.2009 – 10 B 60.08 – juris). Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
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5. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung.