Titel:
Untätigkeitsklage auf Einstellung eines Widerrufsverfahrens
Normenketten:
VwGO § 75, § 161 Abs. 2
AsylG § 73c
Leitsätze:
1. Ein Rechtsschutzinteresse besteht nicht, wenn das Rechtsschutzbegehren nutzlos ist oder auf einfacherem und schnellerem Weg ohne Inanspruchnahme der Gerichte realisiert werden kann. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Widerruf und Rücknahme einer asylrechtlichen Statusentscheidung wirken ex nunc. Erst mit ihrer Bestandskraft endet die mit der Erstentscheidung dokumentierte Rechtsstellung, weshalb die Einstellung eines Widerrufsverfahrens grundsätzlich auch keinen Einfluss auf den zuvor gewährten aufenthaltsrechtlichen Status hat. (Rn. 19 – 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asyl, Untätigkeitsklage auf Einstellung eines Widerrufsverfahrens, Asylrecht, Einstellung eines Widerrufsverfahrens, Bekanntgabe, Untätigkeitsklage, Rechtsschutzbedürfnis, asylrechtlicher Status, aufenthaltsrechtlicher Status
Fundstelle:
BeckRS 2022, 43500
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt die Verpflichtung des Beklagten das Widerrufsverfahren einzustellen.
2
Der nicht zur Person ausgewiesene Kläger ist eigenen Angaben zufolge am …1999 geboren und afghanischer Staatsbürger mit hazarischer Volks- und muslimischer Glaubenszugehörigkeit. Er reiste auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Auf seinen Asylantrag vom 18.11.2015 wurde ihm als Minderjährigen mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 16.08.2016 ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zuerkannt.
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Mit Schreiben vom 05.01.2021 an den Kläger hörte das Bundesamt diesen zum beabsichtigen Widerruf des zuerkannten Abschiebungsverbotes an, woraufhin sich der Prozessbevollmächtigte mit Schreiben vom 25.01.2021 als Bevollmächtigter anzeigte. Mit Schreiben vom 03.03.2021 wies er auf die Sozialisierung des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland und die fehlende Existenzgrundlage in Afghanistan hin. Familiäre Bindung habe er dort keine.
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Den Akten ist ein möglicherweise unvollständiges Schreiben unbekannten Datum des Prozessbevollmächtigen zu entnehmen, worin er die Beklagte aufforderte, bis 31.03.2022 schriftlich zu bestätigen, dass das Widerrufsverfahren eingestellt ist.
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Mit Schriftsatz vom 05.04.2022, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am 08.04.2022, erhob der Prozessbevollmächtigte des Klägers Klage. Er beantragt,
Die Beklagte wird verpflichtet, das Widerrufsverfahren des Klägers einzustellen.
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Zur Begründung ist ausgeführt, dass die Voraussetzungen des § 75 VwGO vorlägen. Dem Kläger sei nicht zuzumuten, auf unbestimmte Zeit in der Schwebe zu hängen. Derzeit werde lediglich die Fiktionsbescheinigung verlängert; die Aufenthaltserlaubnis des Klägers werde nicht verlängert. Dies begründe sein Rechtsschutzbedürfnis (Schriftsatz vom 04.05.2022). Das Rechtsschutzbedürfnis ergebe sich aus der unterbliebenen Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Dies ergebe eine systematische Auslegung des Asyl- und Aufenthaltsgesetzes. Das von der Beklagten festgestellte Abschiebungsverbot bestehe bis zur Bestandskraft der Widerrufsentscheidung, das dahin vom Fortbestand der Statusgewährung auszugehen sei. Damit sei der Kläger bis zur Bestandskraft einer (hier nicht erfolgten) Widerrufsentscheidung und erst recht während eines Verfahrens zur Prüfung der Voraussetzungen des Widerrufs so zu behandeln, als wäre ein Widerruf des Status nicht erfolgt (Schriftsatz vom 23.08.2022).
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Die Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 14.04.2022,
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Zur Begründung führt sie sinngemäß aus, dass nicht klar sei, was der Kläger mit seiner Untätigkeitsklage erreichen möchte. Es fehle bereits das Rechtsschutzbedürfnis.
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Das Gericht hörte mit Schriftsatz vom 22.07.2022 die Beteiligten zum Erlass eines Gerichtsbescheids an und machte Ausführungen zum Rechtsschutzbedürfnis.
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Die Beklagte erklärte mit Schriftsatz vom 26.07.2022, dass das Widerrufsverfahren mit Schreiben vom 25.07.2022 formlos eingestellt worden sei.
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Mit Schriftsatz vom 09.08.2022 erklärte der Prozessbevollmächtigte das Verfahren für erledigt. Dieser Erledigungserklärung widersetzte sich die Beklagte mit der Begründung (Schriftsatz vom 12.08.2022), dass mangels eines Rechtsschutzinteresses keine Erledigung eintreten könne. Es handele sich vielmehr um eine verdeckte Rücknahme, bei der der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen habe.
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Dem widersprach der Prozessbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 23.08.2022. Durch den nun endgültig nicht erfolgten Widerruf habe der schwebende Zustand beendet werden und der Rechtsstreit für erledigt erklärt werden können. Es liege deshalb keine Klagerücknahme vor, auch keine verdeckte.
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Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 23.11.2022 wurde der Rechtsstreit der Berichterstatterin zur Entscheidung übertragen.
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Hinsichtlich weiterer Einzelheiten des Sachverhaltes wird gemäß § 117 Abs. 3 S. 2 VwGO analog auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakten (Asylerstverfahren und Widerrufsverfahren) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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1. Über die Klage kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid, der als Urteil wirkt, entschieden werden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Halbsatz 1 VwGO). Die Beteiligten wurden gemäß § 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid gehört.
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2. Die Untätigkeitsklage gemäß § 75 VwGO ist unzulässig. Es fehlt das erforderliche Rechtschutzbedürfnis. Darüber hinaus ist fraglich, ob die Voraussetzungen für eine Untätigkeitsklage vorliegen.
17
2.1 Für die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes erfordert das für jede Klage notwendige Rechtsschutzbedürfnis nach Art und Umfang ein berechtigtes Interesse, um die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes auf das zur Durchsetzung subjektiver Rechte erforderliche Maß zu beschränken und einem Missbrauch prozessualer Rechte vorzubeugen. Dies gilt auch für die Erhebung einer Untätigkeitsklage. Kein Rechtsschutzinteresse besteht, wenn das Rechtsschutzbegehren nutzlos ist oder auf einfacherem und schnellerem Wege ohne Inanspruchnahme der Gerichte realisiert werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 11.07.2018 – 1 C 18/17 – juris Rn. 24 ff. unter Verweis auf BVerwG, U.v. 17.01.1989 – 9 C 44.87 – BVerwGE 81, 164, 165 f.).
18
Ein solches Rechtsschutzbedürfnis besteht für die erhobene Klage angesichts der konkreten Umstände des Einzelfalls nicht. In Bezug auf das durch den Antrag und die Begründung formulierte Rechtsschutzziel bringt die begehrte Entscheidung für den Kläger keinen Nutzen.
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Denn die begehrte Einstellung des Verfahrens vermittelt dem Kläger keinen rechtlichen Vorteil gegenüber seinem bisherigen rechtlichen Status. Solange ein Widerruf seines asylrechtlichen Status nicht tatsächlich ausgesprochen ist, bleibt dieser bestehen. Damit hat die Einstellung des Verfahrens weder einen Einfluss auf seinen asyl- noch auf seinen aufenthaltsrechtlichen Status.
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Die kritisierte fehlende Verlängerung des Aufenthaltstitels beruht rechtlich gerade nicht auf der lange nicht erfolgten Einstellung des Widerrufsverfahrens. Hierzu hat der Prozessbevollmächtigte selbst zutreffend ausgeführt, dass bis zur Bestandskraft einer Widerrufsentscheidung vom Fortbestand der Statusgewährung auszugehen ist. Widerruf und Rücknahme wirken ex nunc. Erst mit ihrer Bestandskraft endet die mit der Erstentscheidung dokumentierte Rechtsstellung (Bergmann/Dienelt/Bergmann, 14. Aufl. 2022, AsylG § 73 Rn. 26).
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Jedenfalls lässt sich das vom Kläger eigenen Angaben zufolge verfolgte Ziel, die Sicherung seines Aufenthaltsstatus, d.h. die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis (vgl. Schriftsätze vom 04.05.2022 und 23.08.2022), mit dem gewählten Rechtsbehelf gegenüber der Beklagten nicht erreichen. Hierfür ist lediglich die Ausländerbehörde entscheidungsbefugt. Aus diesem Grund wäre ein Rechtsbehelf gegenüber der Ausländerbehörde zielführend gewesen.
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Dabei kann dahinstehen, ob das Bundesamt über das Widerrufsverfahren ohne zureichenden Grund nach unangemessen langer Zeit noch nicht entschieden hatte, da dies alleine das Rechtsschutzbedürfnis nicht zu begründen vermag.
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Dass mit der Untätigkeitsklage im Übrigen auch ein vorbeugender Rechtsschutz mit der Zielrichtung, dass kein Widerruf erfolgen soll, verbunden ist, spricht zusätzlich gegen das Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses. Denn gegen eine Widerrufsentscheidung wären die üblichen zureichenden Rechtsbehelfe gegeben.
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2.2 Aus den o.g. Gründen kann offenbleiben, ob die Voraussetzungen nach § 75 Satz 1 VwGO gegeben sind. Danach ist die Klage ohne Durchführung des in den §§ 68 ff. VwGO vorgeschriebenen Vorverfahrens zulässig, wenn über einen Widerspruch oder – was im vorliegenden Rechtsstreit wegen des Ausschlusses des Vorverfahrens (§ 11 AsylG) allein in Betracht zu ziehen ist – über einen Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsaktes ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht entschieden worden ist (Untätigkeitsklage).
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Es erscheint zumindest fraglich, ob die vorliegende Klage, die auf die Einstellung des Widerrufsverfahrens gerichtet ist, diese Voraussetzungen erfüllt, insbesondere ob die begehrte Einstellung einen Verwaltungsakt (§ 35 VwVfG) darstellt, weil damit gerade keine unmittelbare Rechtswirkung nach außen verbunden ist (s.o.). Aus diesem Grund bedarf die Beendigung eines Widerrufsverfahrens auch keiner förmlichen Entscheidung. Sobald das Bundesamt zu dem Ergebnis gelangt, das Widerrufsverfahren oder Rücknahmeverfahren nicht mehr fortzusetzen, wird das Verfahren an dieser Stelle beendet. Der Betroffene sollte zwar, wenn er zur Stellungnahme aufgefordert worden war, darüber informiert werden. Aber eine förmliche Einstellung des Verfahrens ist nicht erforderlich (vgl. Dörig MigrationsR-HdB, § 19 Nationales Asyl- und Asylverfahrensrecht Rn. 552, beck-online; Hocks/Leuschner in NK-AuslR AsylG § 73 Rn. 50).
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2.3 Nur ergänzend wird darauf hingewiesen, dass sich aus den oben genannten Gründen das Klageverfahren nach der formlosen Mitteilung des Bundesamtes vom 25.07.2022 über die Einstellung des Widerrufsverfahrens nicht erledigt hat und auch eine Feststellung der Erledigung nicht erfolgreich wäre.
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Unter welchen Voraussetzungen die Hauptsache erledigt ist, sagt das Prozessrecht nicht. Vielmehr setzt § 161 Abs. 2 VwGO die Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache als Prozessrechtsinstitut voraus. Allgemein lässt sich jedoch Folgendes festhalten: Stellt sich im Verlauf des Verfahrens heraus, dass das Rechtsschutzersuchen auf Grund veränderter Umstände nunmehr unweigerlich erfolglos bleiben muss, dann macht die Fortführung des Rechtsstreits mit derselben Zielsetzung wie bisher keinen Sinn mehr; diese Situation kennzeichnet die Erledigung der Hauptsache (Schoch/Schneider/Clausing, 42. EL Februar 2022, VwGO § 161 Rn. 9).
28
Da im vorliegenden Verfahren das Klagebegehren bereits aus den oben genannten Gründen mangels eines Rechtsschutzbedürfnisses von Anfang an erfolglos bleiben musste, ist die Fortführung des Klagebegehrens nicht erst durch diese Mitteilung sinnlos geworden. Die Voraussetzungen einer Erledigung liegen damit nicht vor.
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Im Übrigen lässt sich dem Gesetz auch kein Anspruch auf Bekanntgabe einer Einstellungsentscheidung im Widerrufsverfahren entnehmen. Geregelt ist in § 73 Abs. 5 AsylG lediglich eine Zustellungspflicht für Entscheidungen, die eine Frist in Lauf setzen.
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Trotz allem ist die Befriedungsfunktion einer formlosen Mitteilung über ein nicht weiterverfolgtes Widerrufsverfahren vom Beklagten nicht zu vernachlässigen.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 30 RVG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.