Titel:
Außerordentliche Kündigung - Zustimmung des Integrationsamts
Normenkette:
SGB IX § 174
Leitsätze:
1. Solange der Kündigungsberechtigte die zur Aufklärung des Sachverhalts nach pflichtgemäßem Ermessen notwendig erscheinenden Maßnahmen mit der gebotenen Eile durchführt, ist der Beginn der Zwei-Wochen-Frist des § 174 Abs. 2 SGB IX gehemmt. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Fehlen eines Präventionsverfahrens nach § 167 SGB IX ist keine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit einer Kündigung und hat auch sonst keine unmittelbaren Folgen. Eine Zustimmung des Integrationsamts allein wegen eines Versäumnisses nach § 167 SGB IX ist nicht gleichsam automatisch ermessenswidrig. (Rn. 43) (redaktioneller Leitsatz)
3. Das Integrationsamt hat in den Fällen, in denen kein Zusammenhang zwischen der Behinderung und dem Grund aus dem die Kündigung erfolgt besteht, im Regelfall die Zustimmung zu erteilen, sofern nicht ein atypischer Fall vorliegt. Die Nachteile und Gefahren, die der Gruppe der Schwerbehinderten durch eine außerordentliche Kündigung allgemein für ihre Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft entstehen, können die Annahme eines atypischen Falles nicht begründen. Die außerordentliche Kündigung muss vielmehr den Schwerbehinderten in einer die Schutzzwecke des Schwerbehindertengesetzes berührenden Weise besonders hart treffen, ihm im Vergleich zu den der Gruppe der Schwerbehinderten im Falle außerordentlicher Kündigung allgemein zugemuteten Belastungen ein Sonderopfer abverlangen. (Rn. 51) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
kein Zusammenhang von Behinderung und verhaltensbezogener Kündigung, Außerordentliche Kündigung, Verhaltensbezogene Kündigung, Integrationsamt, Zustimmung, kein Zusammenhang, Behinderung, Schwerbehinderten, Nachteile und Gefahren, atypischer Fall
Fundstelle:
BeckRS 2022, 43497
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt die Aufhebung der mit Bescheid des Beklagten vom 16.09.2020 bestätigten fiktiven Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung der Klägerin durch die Beigeladene.
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1. Die Klägerin ist unstreitig seit 2006 Regionalleiterin der … bei der Beigeladenen im Großraum Niedersachsen und führte zuletzt ein Team, bestehend aus rund zehn Mitarbeitern.
3
Das Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie stellte mit Bescheid vom 21.03.2012 (Blatt 155 Beiakte) fest, dass ab dem 23.06.2010 der Grad der Behinderung (GdB) 30 beträgt. Es bestehe eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit.
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Die Entscheidung stützt sich auf folgende Funktionsbeeinträchtigung:
1. psychosomatische Syndrom (Einzel-GdB: 20)
2. chronisch obstruktive Lungenerkrankung, Histaminunverträglichkeit (Einzel-GdB: 20)
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Weitere aufgeführte Funktionsbeeinträchtigungen wirkten sich nicht erhöhend aus. Daneben bestehende weitere Gesundheitsstörungen erreichten keinen Einzel-GdB und seien deshalb für die Bildung des Gesamt-GdB ohne Bedeutung.
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Mit Bescheid vom 23.03.2012 wurde die Klägerin gemäß § 2 Abs. 3 SG IX einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt, weil sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung – bezogen auf die von ihr ausgeübte Tätigkeit als Regionalleiterin – in ihrer Wettbewerbsfähigkeit gegenüber nicht behinderten Menschen benachteiligt und auch die übrigen Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 SGB XI erfüllt seien.
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2. Mit Fax vom 01.09.2020 beantragte die Beigeladene bei dem Beklagten die Zustimmung zur außerordentlichen fristlosen Kündigung. Das Original in Papierform ging am 02.09.2020 bei dem Beklagten ein. In der dem Antrag beigelegten Anlage sind die Gründe für die außerordentliche fristlose, verhaltensbedingte Kündigung ausgeführt.
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Danach verletze die Klägerin durch ihr Verhalten in einem Maße den im Betrieb bestehenden Wertekodex, sodass die weitere Zusammenarbeit mit ihr untragbar sei. Sie verhalte sich respektlos und anmaßend gegenüber dem Vorgesetzten und bezichtigte diesen ohne sachlichen Grund des Lugs und Betrugs sowie des Missbrauchs seiner hierarchisch höheren Stelle. Ein solches Verhalten einer Führungskraft mit Vorbildfunktion sei untragbar und führe auch ohne vorherige Abmahnung zur fristlosen Kündigung. Die Klägerin habe ihren Interims-Vorgesetzten in diversen E-Mails teils despektierlich behandelt, teils habe sie in anmaßender Weise organisatorische bzw. funktionale Zuständigkeiten zu ihren Gunsten bzw. zugunsten ihres Teams geändert und damit Pläne zu einer neuen Regionsstruktur infrage gestellt. In weiteren E-Mails sei der Ton der Klägerin eskaliert und sie habe schließlich offen mit einem Rechtsstreit gedroht und ihren Vorgesetzten weiter provoziert. Die Basis für eine weitere Zusammenarbeit sei in einer weiteren E-Mail vom 21.08.2020 schließlich zerstört worden, als weitere Schritte angedroht und Vorwürfe über Lug und Betrug, Misstrauen sowie Missbrauch der hierarchisch höheren Stelle gegenüber Schwächeren geäußert worden seien. Auf die ausführliche Begründung der Beigeladenen samt den in Bezug genommenen E-Mails (Beiakte Bl. 118 bis 128) sowie auf die beigelegte Ermahnung der Beigeladenen vom 05.03.2019 samt Einspruch hiergegen vom 14.03.2019 (Beiakte Bl. 115 und 240) wird Bezug genommen.
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Die Schwerbehindertenvertretung äußerte in ihrer Stellungnahme vom 02.09.2020 Bedenken (Bl. 149 Beiakte). Sie ist der Ansicht, dass es einer vorherigen Abmahnung bedurft hätte. Ferner sei die Frist nach § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB nicht gewahrt worden. Die E-Mail vom 31.07.2020 reiche nicht aus, um eine Ablehnung des Vorgesetzten erkennen zu lassen. Ebenso weise die E-Mail vom 14.08.2020 keine negative Wortwahl auf. Dass es sich hierbei gegebenenfalls um eine flapsige Antwort ohne ordnungsgemäße Anrede gehandelt habe, sei kein Kündigungsgrund, gerade wenn sich die Gesprächspartner durchaus bekannt seien. In der E-Mail vom 17.08.2020 habe die Klägerin lediglich klargestellt, dass ihr Team mit der Entscheidung nicht einverstanden sei. Die Schwerbehindertenvertretung widerspreche auch der hilfsweise beantragten ordentlichen Kündigung aus den genannten Gründen.
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Der Betriebsrat der Beigeladenen äußerte in seiner Stellungnahme vom 10.09.2020 Bedenken (Bl. 135 Beiakte). Diese ist im Übrigen gleichlautend mit der Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung vom 02.09.2020.
11
Der Klägervertreter rügte mit Schreiben vom 08.09.2020 (Bl. 150 Beiakte) die Zuständigkeit des Inklusionsamtes München. Auch seien die genannten E-Mails keine Respektlosigkeit. Dabei habe es sich um einen Schriftwechsel gehandelt, der innerhalb eines Planspiels (Konzept der Selbstorganisation) zustande gekommen sei.
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Die Beigeladene erklärte im Schriftsatz vom 10.09.2020 (Bl. 164 Beiakte), dass das Unternehmen in München den Betrieb, zu dem der …-Außendienst gehöre, unterhalte. Der dort gebildete Betriebsrat sei auch für den Vertriebsaußendienst zuständig. Eine Betriebstätte an der Heimatadresse der Klägerin existiere nicht. Damit sei das Inklusionsamt München zuständig (§ 70 SGB IX). Die beantragte fristlose Kündigung stehe in keinerlei Zusammenhang mit der Gleichstellung der Antragsgegnerin. Die Einlassungen der Klägerin seien Schutzbehauptungen. Die Existenz eines Planspiels werde ausdrücklich bestritten. Es gebe auch kein „Konzept der Selbstorganisation“; dies entstamme der Phantasie der Klägerin. Der Vorgesetzte der Klägerin, der Business-Unit-Leiter …, habe diese Rolle erst seit dem 01.07.2020 kommissarisch inne. Richtig sei lediglich, dass eine neue Organisation in der Business-Unit … umgesetzt habe werden sollen. Weiterhin wurde auf die E-Mail vom 13.08.2020 verwiesen. Darin seien die geplanten Veränderungen kurz dargestellt.
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Einem Aktenvermerk des Beklagten vom 15.09.2020 zufolge, bedingten die Gesundheitsstörungen keine Defizite in der Einsichtsfähigkeit oder Verhaltenssteuerung. Ein solcher Zusammenhang werde von der Klägerin auch nicht vorgetragen. Basierend auf dem Akteninhalt ergebe sich somit eine Entscheidung nach § 174 Abs. 3 und Abs. 4 SGB IX.
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Mit Bescheid vom 16.09.2020 (Bl. 180 Beiakte) gab der Beklagte bekannt, dass das Inklusionsamt innerhalb von zwei Wochen nach Eingang des Antrags der Beigeladenen auf Zustimmung zur außerordentlichen (fristlosen), verhaltensbedingten Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit der Klägerin keine Entscheidung getroffen habe. Die Zustimmung gelte deshalb als erteilt. Sie werde hiermit schriftlich bestätigt.
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Ausweislich des Empfangsbekenntnisses erhielt die Klägerin diesen Bescheid am 16.09.2020 (Bl. 188 Beiakte).
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Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 14.10.2020 Widerspruch (Bl. 189 Beiakte), der mit Schreiben vom 15.01.2021 (Bl. 198 Beiakte) begründet wurde. So sei der verhaltensbedingte Kündigungsgrund offensichtlich vorgeschoben. Die angesprochenen Umstrukturierungen nehme die Beigeladene in unregelmäßigen Abständen vor. Die Klägerin zähle zu den „unbequemen“ Arbeitnehmern, die Auseinandersetzungen mit dem Arbeitgeber nicht scheue und könne nur schwer unter Druck gesetzt werden. Sie sei vielmehr eine vorbildliche Führungskraft. Selbstverständlich hätte sie ihre Kommunikation umgehend eingestellt, wenn sie darauf hingewiesen worden wäre, dass ihr Testverhalten nicht erwünscht sei. Eine einfache Ansprache und Klärung der Situation hätten genügt. Es sei vollkommen unverständlich, dass die Beigeladene „über zwei Wochen Zeitablauf (!)“ eine außerordentliche fristlose Kündigung des Arbeitsverhältnisses ausspreche.
17
Die Beigeladene erklärte im Schreiben vom 26.10.2020 an den Beklagten, dass das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin am 16.09.2020 fristlos und am 13.10.2020 höchstvorsorglich ordentlich gekündigt worden sei.
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Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 20.05.2021 (Bl. 269 ff. Beiakte) zurückgewiesen.
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Zur Begründung ist ausgeführt, dass die Kündigungserklärungsfrist des § 174 Abs. 2 SGB IX vorliegend gewahrt sei, da die Frist erst mit Abschluss der eigenen Bewertung des Vorganges zu laufen beginne. Da der vorgebrachte Kündigungsgrund in keinem Zusammenhang mit der anerkannten Schwerbehinderung stehe, habe die Zustimmung gemäß § 174 Abs. 4 SGB IX erteilt werden sollen. Atypische Gründe seien keine ersichtlich. Die angegebenen Kündigungsgründe seien auch nicht lediglich vorgeschoben oder arbeitsrechtlich offensichtlich unwirksam. Eine besondere Betroffenheit der Klägerin sei nicht ersichtlich. Auf die weiteren Ausführungen wird Bezug genommen.
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Der Widerspruchsbescheid wurde dem Klägerbevollmächtigten ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 02.06.2021 (Bl. 273 Beiakte) zugestellt.
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Mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 02.07.2021 (Bl. 1 ff. Gerichtsakte), beim Verwaltungsgericht Bayreuth am gleichen Tag eingegangen, erhob die Klägerin Klage. Sie beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 16.09.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 20.05.2021 aufzuheben und den zugrundeliegenden Antrag zurückzuweisen.
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Zur Begründung führt sie im Schriftsatz vom 26.08.2021 (Bl. 54 ff. Gerichtsakte) aus, dass die Kündigungsgründe offensichtlich lediglich vorgeschoben seien. Eine betriebsbedingte Kündigung oder eine Änderungskündigung wären nur sehr schwer durchsetzbar gewesen. Die Beigeladene habe im Übrigen keine milderen Mittel in Betracht gezogen. Und gerade weil ein Verfahren nach § 167 SGB IX unterblieben sei, hätte das Inklusionsamt auf eine gütliche Einigung hinwirken müssen. Der Sachverhalt sei weitgehend unstreitig. Die Kündigung sei jedoch arbeitsrechtlich unwirksam, was sich dem Beklagten geradezu aufdrängen hätte müssen. Ein Kommunikationsproblem könne keine Kündigung rechtfertigen. Die Fürsorgepflicht hätte ein Präventionsverfahren erfordert. Es sei rechtswidrig, gleich die schwerste Sanktion zu verhängen. Die Klägerin erleide auch besondere Nachteile, da immerhin der Klägerin und nicht dem nichtbehinderten Herrn … gekündigt worden sei (Schriftsatz vom 11.11.2021).
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Der Beklagte beantragt mit Schriftsatz vom 20.07.2021 (Bl. 25 Gerichtsakte),
24
Auf die Begründung wird Bezug genommen.
25
Mit Beschluss vom 26.07.2021 lud das Bayerische Verwaltungsgericht Bayreuth den Arbeitgeber der Klägerin zum Verfahren bei. Dieser wies darauf hin (Schriftsatz vom 01.10.2021), dass zwischen Kündigungsgrund und Schwerbehinderung kein Zusammenhang bestehe.
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Das Arbeitsgericht … hat die Kündigungsschutzklage der Klägerin mit Versäumnisurteil vom 28.01.2021 abgewiesen (Bl. 213 Beiakte). Der Einspruch sei verspätet eingelegt worden. Das Landesarbeitsgericht … hat mit Urteil vom 26.02.2022 die Berufung gegen dieses Urteil zurückgewiesen (Bl. 110 Gerichtsakte).
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Mit Schreiben vom 12.04.2022 fasste die Berichterstatterin den Sach- und Streitstand zusammen und verwies auf die vorläufige Rechtsauffassung des Gerichts. Auch wurde die Entscheidung durch Gerichtsbescheid gemäß § 84 Abs. 1 VwGO angekündigt, soweit die Klage aufrechterhalten werde, und eine Frist zur Stellungnahme und Äußerung bis zum 09.05.2022 gesetzt. Alle Verfahrensbeteiligten erklärten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO.
Entscheidungsgründe
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1. Über die Klage kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid, der als Urteil wirkt, entschieden werden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Halbsatz 1 VwGO). Die Beteiligten wurden gemäß § 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid gehört.
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2. 2.1 Die Klage ist zulässig.
31
Die Zuständigkeit des Bayerischen Verwaltungsgerichts Bayreuth ergibt sich aus § 52 Nr. 3 Satz 3 i.V.m. § 52 Nr. 5 VwGO.
32
2.2 Die Klage hat jedoch keinen Erfolg. Der angegriffene Bescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheides ist formell und materiell rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO). Es gibt keinen erdenklichen Zusammenhang zwischen der Schwerbehinderung der Klägerin und den geltend gemachten, verhaltensbedingten Kündigungsgründen, sodass im Regelfall eine Zustimmung des Inklusionsamtes erfolgen soll. Ein atypischer Fall liegt nicht vor. Auch andere Gründe, die zur Rechtswidrigkeit der streitgegenständlichen Zustimmung zur Kündigung durch den Beklagten führen könnten, sind nicht gegeben.
33
Rechtsgrundlage für die streitgegenständliche Zustimmung zur Kündigung der Klägerin durch den Beklagten ist § 168 ff. SGB IX. Danach bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes (§ 168 SGB IX). Die Zustimmung zur Kündigung beantragt der Arbeitgeber beim zuständigen Integrationsamt schriftlich oder elektronisch (§ 170 Abs. 1 SGB IX). Das Integrationsamt holt eine Stellungnahme des Betriebsrates oder Personalrates und der Schwerbehindertenvertretung ein und hört den schwerbehinderten Menschen an. Es wirkt in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Einigung hin (§ 170 Abs. 2 und 3 SGB IX).
34
Bei einer außerordentlichen Kündigung gelten diese Vorschriften im Wesentlichen ebenso, soweit sich aus den besonderen Bestimmungen nicht Abweichendes ergibt (§ 174 Abs. 1 SGB IX). Bei einer außerordentlichen Kündigung kann die Kündigung nur innerhalb von zwei Wochen beantragt werden. Diese Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt (§ 174 Abs. 2 SGB IX). Das Integrationsamt trifft die Entscheidung innerhalb von zwei Wochen vom Tag des Eingangs des Antrags an. Wird innerhalb dieser Frist eine Entscheidung nicht getroffen, gilt die Zustimmung als erteilt (§ 174 Abs. 3 VwGO). Das Integrationsamt soll die Zustimmung erteilen, wenn die Kündigung aus einem Grund erfolgt, der nicht im Zusammenhang mit der Behinderung steht (§ 174 Abs. 4 SGB IX).
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2.2.1 Formelle Fehler des Bescheides sind nicht ersichtlich.
36
Der Beklagte, Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS), Inklusionsamt bzw. der Widerspruchsausschuss beim ZBFS Inklusionsamt ist eine zentrale Landesbehörde mit Sitz in Bayreuth. Regionalstellen befinden sich in Augsburg, Bayreuth, Landshut, München, Nürnberg, Regensburg und Würzburg. Der Beklagte war sachlich und örtlich zuständig (§§ 185 Abs. 1 Nr. 2 und 170 SGB IX, sowie §§ 73 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 VwGO, i.V.m. §§ 201 und 202 SGB X).
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Dem Bescheid liegt ein ordnungsgemäßer Antrag auf Erteilung der Zustimmung gemäß § 170 Abs. 1 SGB IX zugrunde.
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Die Beigeladene hat die Zustimmung auch innerhalb der Zwei-Wochen-Frist gemäß § 174 Abs. 3 SGB IX beantragt.
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Zu den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen gehören sowohl die für, als auch die gegen die Kündigung sprechenden Umstände; damit muss sich der Arbeitgeber ein vollständiges Bild verschaffen und bewerten. Solange der Kündigungsberechtigte die zur Aufklärung des Sachverhalts nach pflichtgemäßem Ermessen notwendig erscheinenden Maßnahmen mit der gebotenen Eile durchführt, ist der Beginn der Zwei-Wochen-Frist des § 174 Abs. 2 SGB IX gehemmt (Ascheid/Preis/Schmidt, SGB IX § 174 Rn. 7a, beck-online; mit weiteren Nachweisen). Da die Beigeladene die letzte E-Mail der Klägerin vom 21.08.2020, worin diese von „Lug und Betrug, Misstrauen, Missbrauch der hierarchisch höheren Stelle gegenüber Schwächeren“ gesprochen hat, zum Anlass für die Kündigung genommen hat, hat die Beigeladene mit ihrem Antrag an das Integrationsamt vom 01.09. bzw. 02.09.2020 die Frist von zwei Wochen gewahrt.
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Betriebsrat als auch Schwerbehindertenvertretung wurden angehört.
41
Der Entscheidung wurde rechtsfehlerfrei der der Kündigung zugrundeliegende historische Sachverhalt zugrunde gelegt. Spätere Entwicklungen haben unberücksichtigt zu bleiben (NPGWJ/Neumann, 14. Aufl. 2020, SGB IX § 168 Rn. 69 und 71; BVerwG, B.v. 07.03.1991 – 5 B 114/89, NZA 1991, 511; OVG NW, U.v. 23.01.1992 – 13 A 297/91 –, NZA 1992,844; BayVGH U.v. 31.01.2013 – 12 B 12.860 – BayVBl 2014, 44, Rn. 26).
42
Die Klägerin hatte auch umfassend Gelegenheit, ihre Belange im Rahmen der Anhörung vorzutragen.
43
Ergänzend wird noch darauf hingewiesen, dass das Fehlen eines Präventionsverfahrens nach § 167 SGB IX nach dem Gesetzeswortlaut keine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit einer Kündigung ist und auch sonst keine unmittelbaren Folgen hat (Greiner in Neumann/Pahlen/Greiner/Winkler/Jabben, 14. Aufl. 2020, Kommentar zum SGB IX § 167 Rn. 18). Eine Zustimmung allein wegen eines Versäumnisses nach § 167 SGB IX ist nicht gleichsam automatisch ermessenswidrig (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 23.01.2013 – OVG 6 B 35.11 –, juris).
44
Dieselben Erwägungen gelten hinsichtlich der fehlenden Hinwirkung des Beklagten auf eine gütliche Einigung. Auch ihr Fehlen lässt – jedenfalls dann, wenn wie vorliegend die wesentlichen Kündigungsgründe in keinem erdenklichen Zusammenhang mit der Behinderung stehen – die Zustimmung nicht automatisch rechtswidrig werden. Es besteht nach § 170 Abs. 3 SGB IX zwar eine Pflicht des Integrationsamts, in jeder Lage des Verfahrens auf eine gütliche Einigung hinzuwirken. Jedoch würde ein einklagbares Recht auf Einhaltung von Verfahrensvorschriften auch in den Fällen, in denen der Kündigungsgrund in keinerlei Zusammenhang mit der Behinderung steht, der gesetzlichen Intention (Sonderkündigungsschutz, um den schwerbehinderten Menschen vor den besonderen Gefahren, denen er wegen seiner Behinderung auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt ist, zu bewahren und sicherzustellen, dass er gegenüber den gesunden Arbeitnehmern nicht ins Hintertreffen gerät, vgl. BVerwG vom 12.01.1966 BVerwGE 23, 123/127 und vom 28.2.1968 BVerwGE 29, 140/141) entgegenstehen.
45
Darüber hinaus gibt das Gericht zu bedenken, dass § 170 Abs. 3 SGB IX keine subjektiven Verfahrensrechte der Beteiligten enthält. Das Fehlen der Hinwirkung auf eine Einigung mag zwar eine Amtspflicht des Integrationsamts verletzen, das Fehlen allein berechtigt aber grundsätzlich nicht zur Anfechtung der Entscheidung (LPK-SGB IX/Franz Josef Düwell, 6. Aufl. 2022, SGB IX § 170 Rn. 42; VG Karlsruhe 09.03.2004 – 5 K 3302/02 –, BehindertenR 2004, 114; aA Gallner in KR, 11. Aufl. 2016, SGB IX §§ 85-90 Rn. 84; Vossen in APS SGB IX § 87 Rn. 17: Anfechtungsgrund).
46
2.2.2 Materiell-rechtliche Fehler des Bescheides sind nicht festzustellen.
47
a. Für die Annahme, dass die geltend gemachten Kündigungsgründe lediglich vorgeschoben seien, sind keine Anhaltspunkte dargelegt oder sonst den Akten zu entnehmen. Selbst wenn der Beigeladene sich seit längerer Zeit von der Klägerin trennen hätte wollen, würde dies nicht denknotwendig darlegen, dass die vorliegenden ehrverletzenden Äußerungen der Klägerin im Zusammenhang mit der ebenfalls als Kündigungsgrund genannten Ermahnung vom 05.05.2019 als Kündigungsgrund nur vorgeschoben worden wären.
48
Selbst wenn der Beigeladene sich schon einmal von der Klägerin trennen hätte wollen, würde auch dies ebenfalls noch keinen Zusammenhang zwischen der Behinderung und dem hier streitgegenständlichen Kündigungsgrund begründen können.
49
b. Ein Zusammenhang zwischen der Behinderung der Klägerin (s.o.) und dem geltenden gemachten, verhaltensbedingten Kündigungsgrund ist nicht ersichtlich. Ein solcher wurde auch nicht geltend gemacht.
50
In diesem Falle sieht § 174 Abs. 4 SGB IX im Regelfall eine Zustimmung des Integrationsamtes vor („soll“).
51
Das Integrationsamt hat in den Fällen, in denen kein Zusammenhang zwischen der Behinderung und dem Grund aus dem die Kündigung erfolgt besteht, im Regelfall die Zustimmung zu erteilen, sofern nicht ein atypischer Fall vorliegt (vgl. BVerwG, U.v. 02.07.1992 – 5 C 39.90 –, BVerwGE 90, 275, zur mit § 174 Abs. 4 SGB IX inhaltsgleichen Vorgängervorschrift des § 21 Abs. 4 SchwbG). Zweck des Sonderkündigungsschutzes für Schwerbehinderte ist, den Schwerbehinderten vor den besonderen Gefahren, denen er wegen seiner Behinderung ausgesetzt ist, zu bewahren und sicherzustellen, dass er gegenüber den nichtbehinderten Arbeitnehmern nicht ins Hintertreffen gerät (vgl. BVerwG, Beschluss vom 31.07.2007 – 5 B 81.06 – juris, zu § 21 SchwbG). Der Regelfall, in dem das Integrationsamt nach dem Willen des Gesetzgebers die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung zu erteilen hat, ist dadurch gekennzeichnet, dass die Kündigung einen Schwerbehinderten trifft, aber aus einem Grund erfolgt, der nicht in Zusammenhang mit der Behinderung steht. Dem ist die gesetzliche Wertung zu entnehmen, die Gruppe der schwerbehinderten Arbeitnehmer bei derartigen Fallgestaltungen nicht stärker gegen außerordentliche Kündigungen zu schützen als Nichtbehinderte. Die Nachteile und Gefahren, die der Gruppe der Schwerbehinderten durch eine außerordentliche Kündigung allgemein für ihre Eingliederung in Arbeit, Beruf und Gesellschaft entstehen, können demnach die Annahme eines atypischen Falles nicht begründen. Die außerordentliche Kündigung muss vielmehr den Schwerbehinderten in einer die Schutzzwecke des Schwerbehindertengesetzes berührenden Weise besonders hart treffen, ihm im Vergleich zu den der Gruppe der Schwerbehinderten im Falle außerordentlicher Kündigung allgemein zugemuteten Belastungen ein Sonderopfer abverlangen. Allgemeine Schwierigkeiten eines schwerbehinderten Arbeitnehmers bei der Arbeitsplatzsuche, ein fortgeschrittenes Lebensalter und eine langjährige Betriebszugehörigkeit reichen nicht aus (Ascheid/Preis/Schmidt/Vossen, 6. Aufl. 2021, SGB IX § 174 Rn. 17 mit weiteren Nachweisen).
52
Ob ein atypischer Fall vorliegt, der eine Ermessensentscheidung ermöglicht und gebietet, ist als Rechtsvoraussetzung im Rechtsstreit von den Gerichten zu überprüfen und zu entscheiden. Ein atypischer Fall liegt vor, wenn die außerordentliche Kündigung den Schwerbehinderten in einer die Schutzzwecke des Schwerbehindertengesetzes berührenden Weise besonders hart trifft, ihm im Vergleich zu den der Gruppe der Schwerbehinderten im Falle außerordentlicher Kündigung allgemein zugemuteten Belastungen ein Sonderopfer abverlangt (BVerwG, a.a.O.).
53
Gegenstand der insoweit erforderlichen Folgenbetrachtung ist damit die Klärung, ob die außerordentliche Kündigung im Fall der Klägerin zu einem Nachteil führt, der in seinen Auswirkungen so deutlich über die Konsequenzen hinausreicht, die für schwerbehinderte Arbeitnehmer typischerweise mit einer außerordentlichen Kündigung verbunden sind, dass insoweit noch eine gesonderte und ungeschmälerte Ermessenbetätigung zu erfolgen hat.
54
Nach Maßgabe der o.g. Maßstäbe sind vorliegend Anhaltspunkte für das Vorliegen eines atypischen Falles nicht gegeben.
55
Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Sonderopfers (s.o.) im Vergleich zur Gruppe schwerbehinderter Menschen sind den bisherigen Ausführungen nicht zu entnehmen. Soweit der Klägerbevollmächtigte im Schriftsatz vom 11.11.2021 auf die nicht erfolgte Kündigung eines nicht behinderten Beteiligten verweist, lässt dies zumindest keinen Rückschluss auf eine besondere Betroffenheit der Klägerin im Vergleich zur Gruppe schwerbehinderter Menschen zu.
56
2.2.3 Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der von der Beigeladenen geltend gemachte außerordentliche, verhaltensbedingte Kündigungsgrund offensichtlich arbeitsrechtlich unzulässig ist und somit der Beklagte gehindert ist, die Zustimmung zur einer darauf gestützten Kündigung zu erteilen.
57
Der zugrundeliegende Sachverhalt ist insofern unstreitig und durch die Vorlage des E-Mail-Verkehrs dargelegt. Es bestehen nach Aktenlage auch keine Zweifel an der Urheberschaft der Klägerin an den herabsetzenden und ehrverletzenden Äußerungen gegenüber ihrem Vorgesetzten. Ob dieser Grund – eventuell in Verbindung mit der Abmahnung vom 05.05.2019 – nach arbeitsrechtlicher Bewertung ausreicht, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen, ist durchaus von der Bewertung des jeweiligen Einzelfalles und der konkreten Umstände abhängig und lässt damit die Kündigung nach arbeitsrechtlichen Kriterien jedenfalls nicht offensichtlich missbräuchlich oder offensichtlich rechtswidrig erscheinen.
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Im Übrigen werden im Arbeitsrecht auch ordentliche Kündigungen aus verhaltensbedingten Gründen in bestimmten Fallkonstellationen ohne vorherige Abmahnung für möglich erachtet (z.B. wenn der Vertragsverstoß so schwerwiegend ist, dass der Arbeitnehmer weiß oder wissen musste, dass der Arbeitgeber sein Verhalten unter keinen Umständen hinnehmen würde, vgl. Mues in: Mues/Eisenbeis/Laber, Handbuch Kündigungsrecht, 2. Aufl. 2010, Teil 1 Kündigung eines Arbeitsverhältnisses Allgemeines, Rn. 527), so dass allein aus dem Fehlen einer Abmahnung nicht auf die offensichtliche Unwirksamkeit der Kündigung geschlossen werden kann. Ob vorliegend eine Fallkonstellation gegeben ist, die eine Abmahnung entbehrlich macht, können deshalb nur die Arbeitsgerichte entscheiden (vgl. BVerwG, U.v. 02.07.1992 – 5 C 51/90 – juris Rnr. 25).
59
Damit aber obliegt nach summarischer Prüfung die Entscheidung über die Frage der hier streitigen außerordentlichen Kündigung im Ergebnis allein den Arbeitsgerichten. Die Verwaltungsgerichte sind nicht befugt, eine aus welchen Gründen auch immer nicht erfolgte inhaltliche Entscheidung der Arbeitsgerichtsbarkeit in eigener Entscheidungshoheit nachzuholen.
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3. Als Unterlegene hat die Klägerin gemäß § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten zu tragen. Da sich die Beigeladene umfassend am Rechtsstreit beteiligt und auch Anträge gestellt hat, entspricht es der Billigkeit gemäß § 162 Abs. 3 VwGO, dass die Klägerin auch deren außergerichtliche Kosten trägt.
61
Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 709 Satz 2, § 711 ZPO.