Inhalt

VG Bayreuth, Urteil v. 16.08.2022 – B 10 K 20.1487
Titel:

Kostenerstattung, Interessenwahrungsgrundsatz

Normenketten:
SGB VIII § 89c Abs. 1 S. 1
SGB VIII § 10 Abs. 1 S. 2
Schlagworte:
Kostenerstattung, Interessenwahrungsgrundsatz
Fundstelle:
BeckRS 2022, 43479

Tenor

1. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die für ... in der Zeit von 22. August 2016 bis 5. Juli 2018 aufgewendeten Kosten der Ausbildungsmaßnahme in Höhe von insgesamt 45.067,45 EUR zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 23. Dezember 2020 zu erstatten. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist für den Kläger gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt als früherer örtlich zuständiger Jugendhilfeträger vom Beklagten Kostenerstattung für dem Hilfeempfänger … (C.) gewährte Jugendhilfeleistungen in der Form der Übernahme der Ausbildungskosten.
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Der Hilfeempfänger, geb. am … 1999, war seit dem 25. Januar 2016 im Berufsbildungswerk … im Rahmen der U-Haftvermeidung nach § 71 JGG in der Maßnahme … untergebracht. Er teilte dem Kläger mit Brief vom 30. Mai 2016 mit, dass er gerne die Schule nachholen und eine Ausbildung beginnen möchte. Am 2. Juni 2016 stellte die allein sorgeberechtigte Kindsmutter für den Hilfeempfänger beim Kläger einen Antrag auf „Heimerziehung oder sonstige betreute Wohnform (§ 34 bzw. § 35a Achtes Buch Sozialgesetzbuch – SGB VIII)“.
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Im Hilfeplan des Klägers vom 23. Juni 2016 ist ausgeführt (Seite 4), dass C. geäußert habe, dass er Unterstützung brauche, um einen Beruf zu erlernen und ein eigenständiges Leben zu führen. Seit er in der Einrichtung sei, lebe er drogenfrei, was regelmäßig durch Drogenscreenings überprüft werde. Unter dem Punkt: Notwendige Hilfe wurde „Heimerziehung nach § 34 SGB VIII“ vom Kläger angenommen. Es ist ausgeführt, dass die Hilfe vom Berufsbildungswerk … erbracht werde. Im Entscheidungsprotokoll vom 30. Juni 2016 (Blatt 13 der Behördenakte des Klägers) wurde die Hilfe zur Erziehung als „Heimerziehung oder sonstige betreute Wohnform (§ 34 bzw. § 35a SGB VIII)“ angekreuzt.
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Mit E-Mail vom 8. Juli 2016 bat das Berufsbildungswerk (BBW) für C. auch die Finanzierung der Ausbildung zum Hochbaufacharbeiter zu bestätigen und die Ausbildungskosten hierfür zu übernehmen, da kein Reha-Status vorliege. Die Ausbildung würde am 22. August 2016 beginnen. Vorgelegt wurde ein psychologischer Test vom 1. Februar 2016 durchgeführt von einem Psychologen des BBW mit folgender Gesamtbeurteilung: „Hinsichtlich des erfassten intellektuellen Potentials erscheint C. unter den Rahmenbedingungen eines Berufsbildungswerks für eine Fachpraktikerausbildung nach § 66 Berufsbildungsgesetz (BBiG) geeignet. Er wird hierbei auf intensive umfassende Lernfördermaßnahmen angewiesen sein. Von Tätigkeiten mit anspruchsvollen Mustern und Formen ist abzuraten.“ Hinsichtlich der intellektuellen Fähigkeiten ist angemerkt: abstrakt-logisches Denken: knapp durchschnittlich; sprachlogisches Denken: deutlich unterdurchschnittlich, zahlenlogisches Denken: deutlich unterdurchschnittlich.
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Laut interner E-Mail des Klägers (Blatt 24 der Behördenakte des Klägers) könne C. nach Angabe des Berufsbildungswerkes nur dann in dieses aufgenommen werden, wenn im Vorfeld eine Zusage für die Kostenübernahme der Gesamtkosten gegeben sei.
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In der Akte befinden sich folgende Besprechungsvermerke (von Frau S.) über Telefonate des Klägers:
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19. Juli 2016: Gespräch mit BBW …: Reha-Status wurde noch nicht gemacht.
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20. Juli 2016: Bundesagentur für Arbeit …: Reha-Status bekommt man, wenn man eine Lernbehinderung hat oder körperlich oder psychisch behindert ist. Dies muss allerdings geprüft werden. (…) Kollegin kommt am Montag, dann werde man alles besprechen. Gesprächspartner besorgt sich das Testergebnis vom BBW. Kostensplitting: Bundesagentur für Arbeit zahlt den beruflichen Teil und JA die heilpädagogische Unterbringung. … muss in jedem Fall getestet werden, sonst keine Übernahme seitens der Bundesagentur für Arbeit.
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21. Juli 2016: Anruf bei BBW: Bis zur Klärung des Status wird Landratsamt in Vorleistung gehen und dann gegebenenfalls Kostenerstattung bei der Bundesagentur für Arbeit beantragen. Die Kosten für die Unterbringung belaufen sich auf 152,12 EUR pro Tag und die für die tagesstrukturierende Maßnahme/Ausbildung auf 52,81 EUR. Eine schriftliche Kostenzusage durch den Kläger wurde zugesichert.
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2. August 2016: Bundesagentur für Arbeit …: Bezüglich der Testung des Reha-Status teilt Gesprächspartner (Frau K.) mit, dass der zuständige Fachdienst eingeschaltet ist, es aber dauern kann bis das Ergebnis vorliegt. Sie schätzt den Fall so ein, dass seitens der Bundesagentur für Arbeit eine Berufsvorbereitung angedacht ist. Nach dem Umzug der Mutter könnte es zu einem Wechsel der Bundesagentur kommen, aber die Bundesagentur für Arbeit … wird definitiv alles in die Wege leiten.
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Eine Verurteilung des Hilfeempfängers zu einer Haftstrafe erfolgte nicht (Urteil vom 11. August 2016).
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Mit Schreiben vom 21. Juli 2016 bestätigte der Kläger die Übernahme der Kosten gegenüber dem BBW … „für die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Wohngruppe“ mit folgendem Passus: „Sollte nach Klärung des Reha-Status feststehen, dass ein anderer Träger zur Leistung verpflichtet ist, so werden wir anschließend von diesem Kostenerstattung beantragen. Das Amt für Jugend (…) wird bis zur Klärung des Reha-Status die Kosten für die Unterbringung und Ausbildung von C. übernehmen.“
13
Die Kindsmutter verzog am 17. August 2016 in den Landkreis … Mit Bescheid vom 29. August 2016 bewilligte der Kläger ab 11. August 2016 die „Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27, 34 SGB VIII durch Übernahme der Kosten der Unterbringung in der Einrichtung BBW“. Zur Begründung ist ausgeführt, dass C. umfassende Unterstützung zur Entwicklung seiner Persönlichkeit, zur Erlangung eines ihm möglichen Ausbildungsabschlusses, zur Verselbständigung und einer eigenständigen Lebensführung im Rahmen der gesellschaftlichen Normen benötige.
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In der Akte befindet sich ein Gesprächsvermerk mit der Bundesagentur für Arbeit …, dass nun die Bundesagentur für Arbeit … zuständig sei.
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Telefonnotiz über einen Anruf der Bundesagentur für Arbeit … vom 14. Oktober 2016:
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Da kein Antrag gestellt worden sei, könne nichts veranlasst werden. Den Antrag hätte C. oder der gesetzliche Vertreter stellen müssen. Die Leistung wurde vor der Antragstellung begonnen. Im Nachhinein ist eine Festsetzung nicht möglich.
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Der Kläger beantragte beim Beklagten mit Schreiben vom 29. August 2016 die Fallübernahme und Kostenerstattung ab dem Zeitpunkt des Umzugs der Kindsmutter gemäß § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII. Der Beklagte bat den Kläger mit Schreiben vom 24. Oktober 2016 um Mitteilung, ob der Reha-Status geklärt sei und somit die vorrangige Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit.
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Laut Vermerk vom 25. Oktober 2016 teilte die Bundesagentur für Arbeit … mit, dass sie keine Unterlagen von der Bundesagentur für Arbeit … erhalten habe.
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Der Kläger äußerte gegenüber der Bundesagentur für Arbeit … mit Schreiben vom 28. Oktober 2016, dass der Antrag nach § 323 Abs. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) nur verfahrensrechtliche, nicht aber materiell-rechtliche Bedeutung habe. Der Antrag müsse nur erkennen lassen, dass eine Arbeitsförderung gewünscht sei (§ 9 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – SGB X i.V.m. § 2 Abs. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch – SGB I). Dem sei durch den Anruf von Frau S. am 19. Juli 2016 bei der Bundesagentur für Arbeit … Rechnung getragen worden. Dies sei als rechtzeitiger Antrag nach § 16 Abs. 1 Satz 2 SGB I zu werten. Sie habe die Auskunft erhalten, dass die Bundesagentur für Arbeit … zuständig gewesen sei. Bei diesem Telefonanruf habe Frau S. deutlich dargelegt, dass sie eine Überprüfung des Reha-Status wünsche. Frau K. von der Bundesagentur für Arbeit … habe dann am 2. August 2016 den zuständigen Fachdienst eingeschaltet und auch mitgeteilt, dass es wegen des Wohnortwechsels zu einem Wechsel der Bundesagentur für Arbeit kommen werde. Sie werde aber einen reibungslosen Ablauf garantieren. Anträge könnten auch formlos (somit auch telefonisch) gestellt werden (§ 9 SGB X). Der Antrag sei von der Bundesagentur auch als solcher gewertet worden, da die Bundesagentur für Arbeit … einen Facharzt mit der Gutachtenserstellung beauftragt habe. Die Bundesagentur sei zudem verpflichtet, Anträge an den zuständigen Leistungsträger weiterzuleiten. Bei Unklarheiten wäre sie verpflichtet gewesen, den Kläger aufzufordern, den Antrag näher zu konkretisieren (§ 16 Abs. 3 SGB I). Der Antrag sei bei dem Anruf bei der Bundesagentur für Arbeit … am 19. Juli 2016 gestellt worden und somit vor Beginn der Maßnahme. Die Bundesagentur für Arbeit … werde aufgefordert, die Prüfung, ob der Reha-Status gegeben sei, fortzusetzen und das Ergebnis mitzuteilen; anderenfalls werde um eine rechtsmittelfähige Entscheidung gebeten. Sollte sich herausstellen, dass für den Hilfeempfänger ein Reha-Status vorliege, werde gleichzeitig Antrag auf Kostenerstattung gemäß § 102 Abs. 1 SGB X gestellt (Fallübernahme der Berufsausbildung zum nächstmöglichen Zeitpunkt). Das Schreiben enthielt als Anhang das Schreiben von C. vom 30. Mai 2016 und den Psychologietest vom 1. Februar 2016 des Psychologen des BBW.
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Mit Schreiben vom 7. November 2016 lehnte die Bundesagentur für Arbeit … den Antrag auf Anerkennung der Kostenerstattung gemäß § 102 SGB X ab. Sie berief sich darauf, dass der Rehabilitationsträger innerhalb von 2 Wochen feststellen müsse, ob er zuständig sei. Stelle er fest, dass er nicht zuständig sei, so müsse er den Antrag unverzüglich an den zuständigen Rehabilitationsträger weiterleiten. Werde der Antrag nicht weitergeleitet, so stelle der Träger, bei dem der Antrag eingegangen sei, den Rehabilitationsbedarf fest. Dies sei in der Gemeinsamen Empfehlung der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation in der Fassung vom 28. September 2010 zur Ausgestaltung des in § 14 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) bestimmten Verfahrens näher geregelt worden. Da der Kläger auf die Weiterleitung des Schreibens verzichtet habe, liege die Zuständigkeit bei ihm.
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Der Beklagte äußerte mit E-Mail vom 25. Januar 2017, dass man nicht verstehen könne, warum die Bundesagentur für Arbeit den Reha-Status abgelehnt habe. Der Hilfeempfänger sei lernbehindert und befinde sich in einer sozialtherapeutischen Gruppe. Man bitte um Vorlage der schriftlichen Begründung der Bundesagentur.
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In einer E-Mail vom 1. Februar 2017 vertrat der Beklagte die Ansicht, dass ein Erstattungsanspruch gegen die Bundesagentur für Arbeit bestehe (§ 104 SGB X). Dies wurde zudem in einem Schreiben an den Kläger vom 17. Februar 2017 ausgeführt. Es stelle sich zudem die Frage, warum, wenn eine seelische Behinderung im Raum gestanden sei, keine Prüfung der Voraussetzungen des § 35a SGB VIII vorgenommen worden sei (mit entsprechender Begutachtung und Prüfung des Teilhaberisikos). Eine notwendige Eingliederungshilfe decke auch einen zusätzlichen erzieherischen Bedarf ab. Es werde die Vorlage fachlicher Unterlagen erbeten, warum ein Bedarf nach § 35a SGB VIII ausgeschlossen worden sei.
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Der Beklagte sandte mit Schreiben vom 15. März 2017 einen Antrag von C. vom 6. Februar 2017 (Hilfe für junge Volljährige) an den Kläger mit der Begründung, dass die Hilfe vom Beklagen noch nicht übernommen worden sei.
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In der Fortschreibung des Hilfsplans vom 13. Juni 2017 führt der Kläger aus: C. befinde sich im ersten Ausbildungsjahr zum Facharbeiter für Hochbau (Maurer). Seit 1. April 2017 nehme er an der verzahnten Ausbildung (Kooperation des BBW mit örtlichen Betrieben) teil. Die Berufsschule absolviere er im BBW. C. sei in lebenspraktischen Dingen „fit“, wenn er wolle. Da liege das Problem. Er neige zu Bequemlichkeit, ziehe Dinge in die Länge, es bestehe die Gefahr der falschen Prioritätensetzung. Deshalb benötige er strukturelle Vorgaben. Als weiterer Schritt zur Verselbständigung werde C. zum Probewohnen in den Internatsbereich wechseln. Aus sozialpädagogischer Sicht benötige er weitere Hilfe zur Persönlichkeitsentwicklung und zur eigenverantwortlichen Lebensführung. Ohne weitere Steuerung sei das Ausbildungsziel gefährdet, ebenso die Gefahr von Rückfällen in alte Verhaltensweisen. C. brauche das klare Feedback Erwachsener. Ergebnis: Die Hilfe sei weiterhin notwendig und geeignet und werde fortgesetzt.
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Im Entwicklungsbericht des BBW vom 12. Juni 2017 wird der bisherige Betreuungsverlauf in der Sozialtherapeutischen Wohngruppe (STWG) geschildert. Die Einrichtung verstehe sich als eingriffsintensive und engmaschig strukturierte Jugendhilfemaßnahme in Verbindung mit beruflicher Vorbereitung und Ausbildung von Jugendlichen und Heranwachsenden mit delinquentem Hintergrund bzw. expansivem Störungsbild und intensivem Betreuungsbedarf. Es wird das Verhalten in der STWG dargestellt. Im schulischen Bereich habe C. einen erhöhten Förderbedarf. Es sei eine spezielle Lernförderung angefordert worden, die demnächst in Kraft trete. Sein Fokus liege auf vor der Unterbringung im BBW existierender Freundschaften. Daran lasse sich erkennen, dass Bindungsfähigkeit und soziale Ressourcen vorhanden seien, die für eine produktive Zusammenarbeit wichtig seien. In der Zusammenfassung ist für den schulischen Bereich vermerkt: C. benötige große Unterstützung, Lernförderung in Mathematik, Vereinbarung von Lernmethoden mit der Bezugserzieherin, Erklären und Abfragen durch die Wohngruppe. C. sei es gelungen, Eigeninitiative zu zeigen. Er bespreche Anliegen, Wünsche und Ziele mit der Bezugserzieherin. Er müsse sich künftig darauf konzentrieren, Prioritäten zu setzen und sich nicht von anderen Teilnehmern ablenken zu lassen. Er müsse an seiner Kritikfähigkeit arbeiten und nehme einmal die Woche am Sozialkompetenztraining teil. Es werde ein weniger eng strukturiertes Setting vorbereitet und ein Probewohnen in der Internatswohngruppe empfohlen.
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Mit Bescheid vom 28. Juni 2017 gewährte der Kläger Hilfe für junge Volljährige in Form der Unterbringung in der Einrichtung BBW … Rechtsgrundlage für die Hilfegewährung sei § 41 i.V.m. §§ 27, 34 SGB VIII. Am 30. August 2016 wurde ein psychologisches Gutachten der Bundesagentur für Arbeit erstellt, welches dem Kläger am 4. August 2017 vorgelegt wurde.
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Bei der Fragestellung ist unter anderem aufgeführt, dass das Jugendamt die Überprüfung des Reha-Status wünsche. Das allgemeine intellektuelle Leistungsvermögen und das logische Denken siedelten sich im unterdurchschnittlichen Bereich an, im sprachlogischen Denken werde ein weit unterdurchschnittliches Ergebnis erzielt. Verschiedene andere Fähigkeiten werden als durchschnittlich bewertet. Division werde nicht beherrscht, Rechtschreibeleistung sei unterdurchschnittlich vorhanden. Aufgrund der geringen Beschulungszeit werde davon ausgegangen, dass Einschränkungen im Lernverhalten und in der Ausdauer existierten. Die Testuntersuchung weise auf ein unterdurchschnittliches bis knapp durchschnittliches Hauptschulniveau hin (tendenzielle Stärke: räumliche Vorstellungskraft). Aufgrund von vorhandenen Einschränkungen und der geringen schulischen Sozialisierung werde von einer Lernbehinderung ausgegangen. Für eine Ausbildung zum Maurer könne ein hinreichendes Durchhaltevermögen erkannt werden. Die Ausbildungsreife für eine Vollausbildung sei aber zum Zeitpunkt der Gutachtenserstellung nicht vorgelegen. Mit einer theoriereduzierten Ausbildungsform könne jedoch die Ausbildungsreife als gegeben angesehen werden. Hierfür werde eine intensive sozial- und sonderpädagogische Unterstützung sowie ein Stütz- und Förderunterricht benötigt. Weiterhin werde eine objektivierte Rückmeldung zum Arbeits- und Lernverhalten benötigt, sodass dieses verbessert werden könne. Ein Training des Arbeits- und Lernverhaltens werde als zielführend betrachtet.
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Der Kläger beantragte bei dem Beklagten mit Schreiben vom 8. August 2017 Fallübernahme und Kostenerstattung gemäß § 89c SGB VIII. Mit Bescheid vom 7. September 2019 gewährte der Kläger Hilfe für Volljährige, nachdem C. am 5. September 2017 in die Internatsgruppe gewechselt war.
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Mit Schreiben vom 6. Dezember 2017 beantragte der Kläger bei der Bundesagentur für Arbeit … die Kostenerstattung gemäß § 14 Abs. 4 SGB IX mit der Begründung, dass eine Lernbehinderung festgestellt worden sei, die einen Reha-Status begründe.
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In einer Telefonnotiz mit der Bundesagentur für Arbeit … ist vermerkt, dass diese die Ansicht vertrete, dass eine Lernbehinderung nicht automatisch ein Reha-Fall sei. C. mache eine normale Ausbildung und keine spezifische für Behinderte. Er habe Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe (BAB). Sie werte die Kontaktaufnahme als Antrag, was vor Ausbildungsbeginn liege und werde rückwirkend BAB erstatten. Mit Schreiben vom 18. Januar 2018 vertrat die Bundesagentur für Arbeit … die Ansicht, dass der Antrag vom 30. Mai 2016 nicht weitergeleitet worden sei. Die Feststellung eines Reha-Bedarfs obliege dem Träger, bei dem der Antrag gestellt worden sei. Der Träger der Jugendhilfe sei auch für Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zuständig (§ 6 Abs. 1 Nr. 5 SGB IX). C. sei seit dem 22. August 2016 in einer Ausbildung als Hochbaufacharbeiter. Hierbei handele es sich um einen anerkannten Ausbildungsberuf mit einer Ausbildungsdauer von 24 Monaten. Es sei keine besondere Ausbildung für Menschen mit Behinderung gemäß § 42m Handwerksordnung (HwO) oder § 66 BBiG. Ein Auszubildender, der während der Ausbildungsdauer außerhalb des Haushalts der Eltern untergebracht sei, habe gemäß § 60 SGB III Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe. Wenn diese Hilfe beantragt werde, so könne der Kontakt am 19. Juli 2016 als Antragsdatum gewertet werden.
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Dem Kläger wurde ein weiterer Entwicklungsbericht des BBW vom 17. Januar 2018 vorgelegt. Die Abschlussprüfung zum Hochbaufacharbeiter finde im Juli/August 2018 statt. Bei gutem Abschluss wäre es von Vorteil, wenn C. die Ausbildung zum Maurer machen könne. Bei Abschluss der Maßnahme im Sommer wäre C. auf sich gestellt, da er nicht auf ein tragfähiges soziales Netz zurückgreifen könne. Er wäre mit Stressfaktoren konfrontiert. Es werde bezweifelt, dass er nach seiner Persönlichkeit soweit gefestigt sei, um dem standzuhalten. In der Fortschreibung des Hilfeplans wurde der erfolgreiche Ausbildungsabschluss zum Hochbaufacharbeiter als Ziel festgelegt. Es sei mit der Bundesagentur für Arbeit zu klären, ob diese die Weiterqualifizierung als Maurer fördere.
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Der Kläger beantragte beim Beklagten mit Schreiben vom 31. Januar 2018 abermals Kostenerstattung und Fallübernahme unter Verweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 22.6.2017 – 5 C 3.16).
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Mit Schreiben vom 29. März 2018 erkannte der Beklagte seine örtliche und sachliche Zuständigkeit für die Unterbringung in der sozialtherapeutischen Gruppe des BBW bis zum Abschluss der Ausbildungsmaßnahme im Sommer 2018 an, verweigerte aber die Anerkennung der sachlichen Zuständigkeit für die Ausbildungsmaßnahme. Die Fallübernahme wurde nach Abschluss der Ausbildungsmaßnahme in Aussicht gestellt. Man könne aus dem Gutachten der Bundesagentur für Arbeit und dem Schreiben vom 18. Januar 2018 nicht erkennen, dass ein Reha-Status nach SGB III nicht vorliege. Man sehe den Interessenwahrungsgrundsatz verletzt, da die Prüfung des Reha-Status nicht rechtzeitig beantragt worden sei und der Beklagte nun eine Prüfung nicht mehr vornehmen könne.
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In der Fortschreibung des Hilfeplans am 27. Juni 2018 ist vermerkt, dass die stationäre Unterbringung im Wohnbereich des BBW zum 5. Juli 2018 ende. Das Ende der Hilfegewährung wurde beschlossen (Bescheid vom 6. Juli 2018).
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Der Kläger forderte vom Beklagten insgesamt einen Betrag in Höhe von 115.371,09 EUR (Jugendhilfekosten in Höhe von 91.330,82 EUR und Ausbildungskosten in Höhe von 45.067,45 EUR) mit Schreiben vom 18. Juli 2019. In dem Schreiben wurde darauf hingewiesen, dass für C. ein Anspruch auf Berufsausbildungsbeihilfe gemäß § 60 SGB III bestanden habe, welche die Bundesagentur für Arbeit bezahlt habe (12.267,67 EUR). Dieser Betrag sowie ein Kostenbeitrag in Höhe von 4.371,51 EUR sowie das Kindergeld in Höhe von 4.388,00 EUR wurden in Abzug gebracht.
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Der Beklagte erkannte mit Schreiben vom 19. November 2019 einen Erstattungsbetrag von 70.047,64 EUR an (Jugendhilfekosten abzüglich 21.027,18 Einnahmen, abzüglich restl. Kostenbeitrag 256,00 EUR).
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Nachdem dem Beklagten aufgefallen war, dass die Berechnung auf den Beginn der Maßnahme bezogen waren, der Beklagte aber erst ab dem 17. August 2016 zuständig war, forderte der Kläger mit Schreiben vom 27. November 2019 einen Betrag in Höhe von 114.068,08 EUR. Der Beklagte erstattete 68.744,63 EUR (Jugendhilfekosten 89.940,92 EUR abzüglich Einnahmen 20.940,29 EUR abzüglich Kostenbeitrag 256 EUR).
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Der Beklagte wurde mit Schreiben vom 17. Juli 2020 gebeten, die Kosten der Ausbildungsmaßnahme in Höhe von 45.067,45 EUR zu erstatten. Dies wurde von dem Beklagten mit Schreiben vom 11. August 2020 abgelehnt. Darauf angesprochen, dass vom Beklagten die Berufsausbildungsbeihilfe abgezogen worden sei, verwies der Beklagte auf seinen Erstattungsanspruch nach § 93 Abs. 1 Satz 3 SGB VIII. Mit Schreiben vom 17. Dezember 2020, eingegangen beim Verwaltungsgericht Bayreuth am 23. Dezember 2020, erhob der Landkreis … Klage mit dem Antrag:
1. der Beklagte wird verpflichtet, seine Kostenerstattungspflicht gemäß § 89c Abs. 1 SGB VIII für die Kosten der Ausbildungsmaßnahme für C. anzuerkennen.
2. der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die aufgewendeten Kosten der Ausbildungsmaßnahme für C. in Höhe von 45.067,45 EUR im Zeitraum vom 22. August 2016 bis 5. Juli 2018 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten.
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Zur Begründung wird ausgeführt, dass sich der Kostenerstattungsanspruch des Klägers aus § 89c Satz 1 SGB VIII ergebe. Der Kläger habe in seiner Eigenschaft als bisher zuständiger örtlicher Träger der öffentlichen Jugendhilfe (§ 86c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII) im Rahmen seiner Verpflichtung dem Minderjährigen zunächst Hilfe zur Erziehung gemäß § 34 SGB VIII und ab Volljährigkeit gemäß § 41 SGB VIII zu gewähren. Im Erstattungszeitraum vom 17. August 2016 bis zum 5. Juli 2018 habe er die Kosten aufgewendet. Erstattungspflichtig sei der Beklagte, der nach dem Umzug der Kindsmutter gemäß § 86 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII zuständig geworden sei, die betreffende Leistung aber nicht fortgesetzt hat. § 89f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII statuierte das Gebot der Gesetzeskonformität der aufgewendeten Kosten (BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30.12). Die Voraussetzungen des § 34 SGB VIII seien gegeben. Es habe ein Erziehungsdefizit bestanden (wird ausgeführt). Die stationäre Unterbringung sei die notwendige und geeignete Hilfe gewesen. Aus den Entwicklungsbögen der Einrichtung, den Verselbständigungsbögen und den Hilfeplänen sei ersichtlich, dass auch über die Volljährigkeit hinaus eine weitere Hilfegewährung in Form der stationären Unterbringung erforderlich gewesen sei. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII seien nicht erfüllt. Hinsichtlich der Abweichung der seelischen Gesundheit habe der Träger der Jugendhilfe die Stellungnahme eines in § 35a Abs. 1a SGB VIII benannten Arztes oder Psychotherapeuten einzuholen. Für C. liege eine solche Stellungnahme nicht vor und sei auch nicht angefordert worden, da lediglich Hilfe zur Erziehung beantragt worden sei, um das Erziehungsdefizit der Mutter auszugleichen. Aus dem Gutachten der Bundesagentur für Arbeit vom 30. August 2016 gehe lediglich hervor, dass eine Lernbehinderung vorgelegen habe. Man sei von einer Teilleistungsstörung ausgegangen. Dies stelle keine seelische Behinderung dar, könne eine solche aber auslösen. Des Weiteren habe C. Einschränkungen im mathematisch schulischen Kenntnisstand (angewandtes Textrechnen, Grundrechenarten). Hinweise darauf, dass die Beeinträchtigung bei C. in Form einer Mathematik-Schwäche oder einer Lese-Rechtschreibproblematik zu einer weitergehenden seelischen Behinderung geführt habe, hätten sich im Laufe der Hilfegewährung nicht ergeben. Eine Prüfung der Teilhabebeeinträchtigung am Leben in der Gesellschaft durch den Allgemeinen Sozialen Dienst (§ 35a Abs. 1 Satz 1 Nummer 2 SGB VIII) sei deshalb nicht vorgenommen wurden.
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Es könne auch nicht eingewandt werden, dass der Interessenwahrungsgrundsatz verletzt worden sei. Der Kläger habe am 19. Juli 2016 Kontakt zur Bundesagentur für Arbeit aufgenommen, um festzustellen, ob eine Reha-Status festgestellt werden könne. Die Bundesagentur für Arbeit habe sich auf den Standpunkt gestellt, dass ein Antrag nicht gestellt worden sei. Beim Versuch der Bundesagentur für Arbeit zu erläutern, dass die Telefonate am 19. und 20. Juli 2020 als Antragstellung zu werten gewesen seien, habe diese die Ansicht vertreten, dass das Schreiben von C. vom 30. Mai 2016 die Antragstellung darstelle, und habe auf die verstrichene Weiterleitungspflicht des § 14 Abs. 1 Satz 2 SGB IX hingewiesen. Nachdem C. nicht dem Personenkreis des § 35a SGB VIII zugeordnet worden sei und für ihn Hilfe zur Erziehung notwendig gewesen sei, sei eine Weiterleitung an die Bundesagentur für Arbeit als zweitangegangener Träger nicht möglich gewesen. Zudem ergebe sich aus dem Gutachten der Bundesagentur für Arbeit vom 30. August 2016, dass ein Reha-Status nicht vorgelegen habe.
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Obwohl der Reha-Status nicht festgestellt worden sei, sei durch den Kläger mit Schreiben vom 6. Dezember 2017 ein Antrag auf Kostenerstattung gemäß § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX gestellt worden. Auch dieser Antrag sei mit der Begründung abgelehnt worden, dass C. eine „normale“ Ausbildung absolviere und keine besondere Ausbildung für Menschen mit Behinderung gemäß § 42m HwO oder § 66 BBiG. Da es nicht möglich gewesen sei, einen Reha-Status feststellen zu lassen, sei auch keine vorrangige Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit gemäß § 10 Abs. 4 SGB VIII gegeben. Folglich sei auch ein Kostenerstattungsanspruch aus § 104 SGB X ausgeschlossen. In der Rechtsprechung sei zudem geklärt, dass der Erstattungsanspruch nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII nicht voraussetze, dass der leistende Jugendhilfeträger etwaige Erstattungsansprüche gegen einen etwaigen vorrangig zuständigen Leistungsträger geltend mache. Dies sei Aufgabe des infolge Ortswechsels örtlich zuständig gewordenen Jugendhilfeträgers (BVerwG, B.v. 22.5.2008 – 5 B 203.07 und U.v. 22.6.2017 – 5 C 3.16 Rn. 26).
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Der Kostenerstattungsanspruch aus § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII werde auch nicht durch die Kostenerstattungsregelung des § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX (ab 23.12.2016: § 16 SGB IX) verdrängt, da die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen würden. Es fehle an einer für das Bestehen des Erstattungsanspruchs erforderlichen „Bewilligung der Leistung durch einen Rehabilitationsträger nach § 14 Abs. 1 Satz 2 bis 4 SGB IX. Die Voraussetzungen für die Hilfegewährung in Form der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII hätten nicht vorgelegen. Seitens der Bundesagentur für Arbeit sei kein Reha-Status festgestellt worden. Es sei damit kein weiterer Rehabilitationsträger vorhanden gewesen, sodass § 16 Abs. 1 SGB IX als Kostenerstattungsregelung nicht einschlägig sei.
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Mit Schreiben vom 17. Februar 2021 beantragte der Beklagte
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Klageabweisung.
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Zur Begründung wird ausgeführt, dass das Ergebnis einer Testung vom 1. Februar 2016 durch einen Psychologen des BBW … vorliege. Im Bereich sprachlogischen Denkens sei die Leistung deutlich unterdurchschnittlich und im Bereich zahlenlogisches Denken ebenfalls deutlich unterdurchschnittlich eingestuft worden. In der Gesamtbeurteilung sei die Eignung für eine Fachpraktiker-Ausbildung nach § 66 BBiG festgestellt worden, also eine Ausbildung für einen Menschen mit Behinderung. Das Erfordernis von intensiven und umfassenden Lernfördermaßnahmen sei hierbei attestiert worden. Es werde an der Ansicht in den Schreiben vom 17. Februar 2017 und 29. März 2018 festgehalten, dass es der Kläger versäumt habe, rechtzeitig den Rehabilitationsstatus und eine mögliche seelische Behinderung klären zu lassen und deshalb den Interessenswahrungsgrundsatz gegenüber dem Beklagten verletzt habe. Der Kostenerstattungsanspruch sei aus diesem Grund nicht gegeben. Der Kläger habe prüfen müssen, ob nicht nur ein Bedarf auf Hilfe zur Erziehung sondern auch ein Eingliederungsbedarf wegen seelischer Behinderung gemäß 35a SGB VIII vorgelegen habe. Bei der Ausbildung zum Fachpraktiker nach § 66 BBiG handele es sich um eine Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben, die dazu geeignet sei, die Erwerbsfähigkeit des seelisch behinderten Jugendlichen herzustellen. Der Träger der Jugendhilfe (§ 6 Abs. 1 Nummer 6 SGB IX) sei gegenüber der Bundesagentur für Arbeit (§ 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB IX) gemäß § 10 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII nachrangig verpflichtet.
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Der Kläger habe mit Bescheid vom 29. August 2016 nur Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27, 34 SGB VIII in Form der Übernahme der Kosten der Unterbringung in der Einrichtung bewilligt. Zu einer Bewilligung der Maßnahme der Arbeitsförderung werde in diesem Bescheid keine Aussage getroffen. Dennoch habe der Kläger dem Einrichtungsträger die Kosten für die Ausbildungsmaßnahme gezahlt. Der Kläger hätte das Schreiben von C. vom 30. Mai 2016, da es als Antrag auf Eingliederungshilfe gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX zu werten gewesen sei, innerhalb der 2-wöchigen Frist an die Bundesagentur für Arbeit weiterleiten müssen. Dies sei erst am 28. Oktober 2016 erfolgt. Aus diesem Grund habe die Bundesagentur für Arbeit den Antrag abgelehnt (Schreiben vom 2. November 2016).
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Der Kläger hätte spätestens mit Eingang einer E-Mail einer Mitarbeiterin der Einrichtung vom 8. Juli 2016, in welcher das Wort Reha-Status das erste Mal genannt worden sei, die Möglichkeit gehabt, eine Klärung herbeizuführen. Dies sei sechs Wochen vor Maßnahmebeginn (22. August 2016) gewesen. Nachdem die Mutter aus dem Zuständigkeitsbereich gezogen sei, sei dies aber nicht weiterverfolgt worden.
52
Gemäß § 14 Abs. 2 SGB „IV“ (gemeint wohl IX) hätte der Kläger nach unterlassener Weiterleitung des Antrags an die Bundesagentur für Arbeit jedoch den Rehabilitationsbedarf unverzüglich und umfassend selbst feststellen lassen müssen. Dies sei nicht geschehen.
53
Dem Beklagten sei nicht bekannt, wann das psychologische Gutachten vom 30. August 2016 dem Kläger vorgelegt worden sei. Jedenfalls werde in diesem Gutachten auch nicht festgestellt, dass definitiv kein Reha-Status vorliege. Es fänden sich sogar Hinweise auf ein Teilhaberisiko. Auch hier sei eine Ausbildung zum (Hochbau-)Fachpraktiker empfohlen worden, also eine Ausbildung für behinderte Menschen. Es werde davon ausgegangen, dass C. eine solche Ausbildung auch tatsächlich durchlaufen und abgeschlossen habe. Es wäre deshalb geboten gewesen, noch einmal bei der Bundesagentur für Arbeit nachzufragen und auf eine konkrete Aussage zum Reha-Status zu bestehen. Das Versäumnis, den Reha-Status vor Beginn der Ausbildungsmaßnahme feststellen zu lassen, könne jetzt nicht mehr nachgeholt werden. Es liege ein Verstoß gegen den Interessewahrungsgrundsatz vor, da es dem Beklagten im Nachhinein nicht möglich sei, den Reha-Status feststellen zu lassen. Der Fall sei vorliegend auch anders gelagert als der in der vom Kläger zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Der Reha-Status sei hier vor Ausbildungsbeginn pflichtwidrig nicht geklärt worden. Dieser Umstand könne dem Beklagten nicht angelastet werden. Zur Wahrung der Interessen hätte es der Kläger zumindest versuchen müssen, die Kostenerstattungsklage gegenüber der Bundesagentur für Arbeit als vorrangig zuständigen Rehabilitationsträger gerichtlich geltend zu machen (BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30.12).
54
Der Kläger führte mit Schreiben vom 30. April 2021 aus, dass er es nicht versäumt habe, rechtzeitig den Reha-Status klären zu lassen. Zudem sei bereits am 30. August 2016 eine Testung durch die Bundesagentur für Arbeit durchgeführt worden. Es sei ein ausreichendes Durchhaltevermögen sowie eine Ausbildungsreife für eine theoriereduzierte Ausbildungsform attestiert worden. Nach Ansicht der Bundesagentur für Arbeit führe eine Lernbehinderung nicht automatisch zu einem Reha-Fall (Blatt 129 der Behördenakte des Klägers). Die tatsächliche Aufnahme der Ausbildung, das Durchhaltevermögen und der erfolgreiche Abschluss widerlegten die Argumentation des Beklagten hinsichtlich des Bestehens einer Behinderung. Für den Kläger habe es keinen Grund gegeben, die fachliche Richtigkeit des Gutachtens der Bundesagentur für Arbeit vom 30. August 2016 anzuzweifeln. Nach der zweijährigen Ausbildung zum Hochbaufacharbeiter habe C. ein 3. Ausbildungsjahr zum Maurer angeschlossen, obwohl die Jugendhilfe nach Abschluss der 2-jährigen Ausbildung am 5. Juli 2018 beendet wurde. Die tatsächliche Entwicklung widerlege die Zweifel an dem Gutachten. Auch wenn aus dem Gutachten nicht deutlich genug hervorgehe, dass kein Reha-Status festgestellt wurde, belege die Weiterentwicklung von C. das Gegenteil. Die Bundesagentur für Arbeit habe durch die Zahlung der Berufsausbildungsbeihilfe signalisiert, dass eine „normale“ Ausbildung vorliege, die nicht zu einer Ausbildung nach § 66 BBiG führe. Dies habe der Beklagte auch mit seinem Schreiben vom 11. August 2020 deutlich gemacht, indem er die Berufsausbildungsbeihilfe eingefordert habe. Die Prüfung des Reha-Status sei in die Wege geleitet worden, wenn auch erst zwei Wochen nach Ausbildungsbeginn. Wäre ein Reha-Status festgestellt worden, hätte es eine Rechtsgrundlage gegeben mit der die Bundesagentur für Arbeit zur Fallübernahme und Kostenerstattung zumindest ab 30. August 2016 hätte verpflichtet werden können. Dann wäre auch die Möglichkeit einer Kostenerstattungsklage gegenüber der Bundesagentur für Arbeit eröffnet gewesen. Da der Reha-Status nicht festgestellt worden sei, habe eine Kostenerstattung nicht eingeklagt werden können. Nach dem Gutachten der Bundesagentur für Arbeit hätte eine Klage auch keine Aussicht auf Erfolg gehabt. Schließlich sei festzuhalten, dass sehr zeitnah nach dem Umzug am 29. August 2016 ein Antrag auf volle Übernahme gestellt worden sei. Bei einer zügigen Fallübernahme durch den Beklagten hätte dieser in eigener Verantwortung die Feststellung des Reha-Status vorantreiben können. Dies sei nicht erfolgt. Der Beklagte habe durch Anforderungen weiterer Unterlagen die Fallübernahme verzögert, bis die Jugendhilfe im Jahr 2018 beendet worden sei.
55
Der Kläger und der Beklagte erklärten jeweils mit Schreiben vom 29. Juni 2022 das Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung.
56
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogenen Behördenakten und die Gerichtsakte Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).

Entscheidungsgründe

57
I. Über die Klage konnte aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.
58
II. Die Klage im Klageantrag zu 1) ist unzulässig, da ihr das Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Eine Feststellungsklage dahin, dass der Beklagte zur Anerkennung einer Erstattungspflicht verpflichtet ist, ist nicht mehr nötig, da die Ausbildungsmaßnahme zum 5. Juli 2018 beendet wurde und Folgekosten nicht zu erwarten sind (zur Möglichkeit einer Feststellungsklage im Fall von Folgekosten vgl. Lange in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. Stand: 30.7.2021, § 86c Rn. 33). Der konkret bezifferte Erstattungsantrag in Form der Leistungsklage (Klageantrag zu 2) ist gegenüber dem Feststellungsbegehren vorrangig (§ 42 Abs. 2 Satz 1 VwGO).
59
Die Klage im Klageantrag zu 2) ist zulässig und begründet.
60
Der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch steht dem Kläger gemäß § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII i.V. m. § 86c SGB VIII gegen den Beklagten für die beantragte Zeit in Höhe von insgesamt 45.067,45 EUR zu.
1. § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII bestimmt, dass Kosten, die ein örtlicher Träger der Jugendhilfe im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86c SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten sind, der nach dem Wechsel der örtlichen Zuständigkeit zuständig geworden ist. Zwischen den Beteiligten ist dem Grunde nach unstrittig, dass die alleinerziehende Kindsmutter ab dem 17. August 2016 im Zuständigkeitsbereich des Beklagten ihren gewöhnlichen Aufenthalt begründet hatte und damit der Beklagte dem Grunde nach örtlich zuständiger Jugendhilfeträger geworden ist (§ 86 Abs. 2 SGB VIII). Der Beklagte war auch für die ab Eintritt des Hilfeempfängers geleistete Hilfe für junge Volljährige gemäß § 86a Abs. 4 Satz 1 SGB VIII zuständig.
61
Unstreitig hat der Kläger in der Zeit des Beginns der Ausbildung ab 22. August 2016 bis zum 5. Juli 2018 Ausbildungskosten in Höhe von 45.067,45 EUR aufgewendet. Die von der Bundesagentur für Arbeit geleistete Berufsausbildungsbeihilfe wurde vom Beklagten bereits bei den Jugendhilfekosten (die der Beklagte in voller Höhe anerkannt hat – 89.940,92 EUR) in Abzug gebracht und war daher nicht noch einmal in Abzug zu bringen.
62
Die aufgewendeten Kosten sind zu erstatten, soweit es der Erfüllung der Aufgaben den Vorschriften des SGB VIII entspricht (§ 89f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII).
63
64
Die Voraussetzungen in Form der Hilfe zur Erziehung in einer stationären Einrichtung § 34 SGB VIII lagen nach Ansicht des Beklagten insofern unstreitig vor, da die Jugendhilfekosten bereits erstattet wurden. Dies betraf auch die Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII i.V.m. §§ 27, 34 SGB VIII. 2. Streitig zwischen den Beteiligten ist, ob die Ausbildungskosten ebenfalls vom Beklagten zu tragen sind oder ob die Ausbildungskosten von der Bundesagentur für Arbeit zu tragen gewesen wären und es sich somit nicht um Jugendhilfekosten gehandelt hat, mithin ob ein Nachrang der Jugendhilfe gegenüber vorrangig von der Bundesagentur für Arbeit zu erbringenden Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben besteht und ob der Kläger sich deshalb auf Grund des Interessenwahrungsgrundsatzes (der aus Treu und Glauben hergeleitet wird) für den Erstattungsanspruch an die Bundesagentur für Arbeit (anstelle des Beklagten als örtlich zuständigen Jugendhilfeträger) hätte wenden müssen.
65
a) Diese Frage ist für das Verhältnis kostenerstattungspflichtiger Jugendhilfeträger und Sozialhilfeträger bereits hinreichend in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung geklärt. So führt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im Beschluss vom 12. August 2014 (12 B 14.805 – juris Rn. 27 ff.) unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aus:
„Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht jüngst festgestellt, dass der aus dem Grundsatz von Treu und Glauben folgende Interessenwahrungsgrundsatz es einem kostenerstattungsberechtigten Jugendhilfeträger nach § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII primär gebieten kann, statt des nach § 89a Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erstattungspflichtigen Jugendhilfeträgers, den erstattungspflichtigen Sozialhilfeträger vorrangig in Anspruch zu nehmen (vgl. U.v. 13.6.2013 – 5 C 30/12 –, NVwZ-RR 2013, 1003 [1004 f.], Rn. 19 und 22). Allerdings gilt dies nur im Hinblick auf Erstattungsansprüche aus § 89a und § 89e SGB VIII, nicht aber für solche aus § 89c SGB VIII (vgl. hierzu bereits Schönecker/Eschelbach, JAmt 2010, 1 [4]). Eine Berufung auf den Interessenwahrungsgrundsatz ist dem erstattungspflichtigen Träger der öffentlichen Jugendhilfe nämlich dann versagt, wenn, wie hier, offenkundig ist, dass es ihm – bei rechtzeitiger Übernahme des Falles – ebenso wie dem erstattungsberechtigten Jugendhilfeträger möglich gewesen wäre, einen vorrangig verpflichteten Sozialleistungsträger mit Aussicht auf Erfolg auf Erstattung in Anspruch zu nehmen (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.2013 – 5 C 30/12 –, NVwZ-RR 2013, 1003 [1004], Rn. 20).
(…) hätte den Fall, wie § 86 Abs. 1 Sätze 3 und 1 SGB VIII dies ausdrücklich vorsehen, lediglich „übernehmen“ müssen, statt geltend zu machen, der Kläger habe mögliche Ansprüche gegen den Beigeladenen nicht in der gebotenen Intensität verfolgt.
Nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat der erstattungspflichtige Träger vielmehr in eigener Verantwortung zu prüfen, ob er sachlich (nachrangig) zuständig ist und deshalb einen Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X gegen den Sozialhilfeträger besitzt, weil der nach § 86c SGB VIII leistungsverpflichtete Träger ansonsten ein doppeltes Prozessrisiko trüge (so BVerwG, B.v. 22.5.2008 – 5 B 203/07 –, JAmt 2008, 438). § 10 SGB VIII ist folglich für das Verhältnis der einzelnen Jugendhilfeträger untereinander ohne Belang. Dies wiederum bedeutet, dass der gemäß § 86 SGB VIII zur Leistung verpflichtete Jugendhilfeträger dem Erstattungsanspruch des tatsächlich leistenden Jugendhilfeträgers nicht entgegenhalten kann, dass er sich wegen der Kostenübernahme unmittelbar an den Sozialhilfeträger hätte wenden müssen (so zutreffend OVG Lüneburg, U.v. 25.7.2007 – 4 LB 90/07 – juris, Rn. 47 ff.; VG Aachen, U.v. 25.2.2010 – 1 K 2415/08 – juris, Rn. 20).
Den gesetzlichen Bestimmungen lässt sich nämlich nichts dafür entnehmen, dass der Anspruch eines örtlich nicht mehr zuständigen, nachrangig verpflichteten Jugendhilfeträgers gegen einen vorrangig verpflichteten Sozialhilfeträger auf Kostenerstattung dem Anspruch nach § 89c SGB VIII vorgehen sollte. Für einen solchen Vorrang gibt es keinen sachlichen Grund. Vielmehr ist im Gegenteil davon auszugehen, dass dem Anspruch aus § 89c SGB VIII der Vorrang zukommt. Andernfalls müsste nämlich nicht der örtlich zuständige, sondern der nicht mehr in eigener Zuständigkeit tätige, ausschließlich im Interesse des Hilfeempfängers zur Leistung verpflichtete Jugendhilfeträger sowohl prüfen, ob die Voraussetzungen für einen Erstattungsanspruch gegen den Sozialhilfeträger vorliegen, als auch das Prozessrisiko bei einem Rechtsstreit mit dem Sozialhilfeträger tragen. Es liegt auf der Hand, dass dies sachlich nicht gerechtfertigt wäre, weil der früher örtlich zuständige Jugendhilfeträger nur aufgrund der unberechtigten Weigerung des örtlich zuständig gewordenen Jugendhilfeträgers nach § 86c SGB VIII zur Leistung verpflichtet gewesen ist. Dass bei einem Vorrang des Anspruchs aus § 89c SGB VIII gegebenenfalls zwei Erstattungsverfahren durchzuführen sind, rechtfertigt es ebenfalls nicht, dem örtlich nicht mehr zuständigen Jugendhilfeträger den Erstattungsanspruch gegen den zuständig gewordenen Jugendhilfeträger nach § 89c SGB VIII unter Hinweis auf eine Erstattungspflicht des Sozialhilfeträgers zu versagen (so zutreffend OVG Lüneburg, U.v. 25.7.2007 – 4 LB 90/07 – juris, Rn. 47; VG Ansbach, U.v. 29.7.2010 – AN 14 K 08.00789 – juris, Rn. 50).“
66
Diese Rechtsprechung wurde vom Bundesverwaltungsgericht durch eine spätere Entscheidung bestätigt (U.v. 22.6.2017 – 5 C 3/16 – juris: Leitsatz: Gegenüber dem Erstattungsanspruch aus § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII kann grundsätzlich nicht eingewandt werden, der zur Weitergewährung verpflichtete Jugendhilfeträger habe die Interessen des nunmehr zuständigen Jugendhilfeträgers dadurch verletzt, dass er es unterlassen habe, die Durchsetzung von Erstattungsansprüchen gegenüber einem etwaig vorrangig zuständigen Sozialhilfeträger zu betreiben).
67
Die Kammer schließt sich dieser Rechtsprechung an. Zwar geht es vorliegend nicht um das Verhältnis von Sozialhilfeträger zu Jugendhilfeträger, sondern um das Verhältnis der Leistungen der Bundesagentur für Arbeit nach den §§ 64 ff. BBiG zu Leistungen der Jugendhilfe. Für diese wird in § 10 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII der Grundsatz aufgestellt, dass Leistungen nicht deshalb versagt werden dürfen, weil nach dem SGB VIII entsprechende Leistungen vorgesehen werden. Die vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Grundsätze können aber auch für dieses Verhältnis zur Anwendung kommen. Der Zweck, den zur fortdauernden Leistung verpflichteten örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe nachträglich von der Kostentragung zu entlasten und den zuständig gewordenen örtlichen Träger der öffentlichen Jugendhilfe davon abzuhalten, Leistungen aus fiskalischen Gründen nicht oder nur verzögert zu erbringen (BVerwG, U.v. 22.6.2017 – 5 C 3/16 – juris Rn. 30), greift hier ebenso.
68
b) Der Umstand, dass eine Inanspruchnahme der Bundesagentur für Arbeit aufgrund der Ausschlussfrist des § 111 SGB X nicht mehr möglich ist, begründet keine Verletzung des Interessenwahrungsgrundsatzes. Der Beklagte hat die Übernahme des Falls ohne rechtfertigenden Grund abgelehnt. Der Kläger hat den Beklagten unverzüglich nach Zuständigkeitswechsel unterrichtet (Schreiben vom 29. August 2016). Im Zeitpunkt der Anzeige des Zuständigkeitswechsels war die Ausschlussfrist noch nicht abgelaufen. Der Beklagte hätte somit den Erstattungsanspruch gegenüber der Bundesagentur für Arbeit noch geltend machen können. Dem Beklagten war dies auch bewusst, da er den Kläger mit E-Mail vom 1. Februar 2017 hierauf verwies.
69
c) Nicht entscheidungserheblich ist, ob der Antrag des Hilfeempfängers vom Kläger rechtzeitig an die Bundesagentur für Arbeit weitergeleitet wurde.
70
Mit § 14 SGB IX soll nur im Außenverhältnis (behinderter Mensch gegenüber Rehabilitationsträger) rasch die Leistungspflicht festgestellt werden. Im Innenverhältnis der Rehabilitationsträger bleibt es jedoch nicht bei der Zuständigkeitsverteilung nach § 14 Abs. 1 und 2 SGB IX. Im Verhältnis der Reha-Träger untereinander ist eine Lastenverschiebung ohne Ausgleich nicht bezweckt. Den Ausgleich bewirkt der Anspruch nach § 14 Abs. 4 Satz 1 SGB IX, bei dessen Prüfung es auf die tatsächlichen Zuständigkeiten nach dem SGB ankommt (LSG BW U.v. 11.7.2012 – L 2 SO 2400/10 – juris Rn. 34 mit weiteren Nachweisen).
71
3. Die aufgewendeten Kosten entsprechen der Erfüllung der Aufgaben des SGB VIII (§ 89 f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII).
72
Dass der Kläger kein Gutachten im Sinne des § 35a Abs. 1a SGB VIII hat einholen lassen, führt nicht automatisch zu der Annahme, dass die aufgewendeten Kosten nicht der Erfüllung der Aufgaben des SGB VIII entsprechen. Der Kläger ging von Anfang an davon aus, dass die Voraussetzungen des § 35a SGB VIII auf Grund der Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit nicht zu prüfen sind. Demgemäß wies der Kläger in seinem Schreiben an das BBW vom 21. Juli 2016 (Blatt 45 der Akte) darauf hin, dass er bis zur Klärung des Reha-Status die Kosten für die Unterbringung und Ausbildung übernehmen werde. Sollte die Klärung ergeben, dass ein anderer Träger zur Leistung verpflichtet sei, werde man die Kostenerstattung bei diesem beantragen.
73
Das Gutachten der Bundesagentur für Arbeit vom 30. August 2016 wurde tatsächlich auch auf Veranlassung des Klägers durch die Bundesagentur für Arbeit … in Auftrag gegeben. Dies steht ausdrücklich auf Seite 1 des Gutachtens. Insofern verfängt auch das Argument des Beklagten nicht, dass ein Gutachten zum Reha-Status nicht vorliege. Das Gutachten wurde erstellt, allein über den Inhalt des Gutachtens besteht zwischen den Beteiligten und der Bundesagentur für Arbeit eine unterschiedliche Auffassung. So vertritt die Bundesagentur für Arbeit … die Ansicht, ein Reha-Status sei in diesem Gutachten nicht festgestellt worden, der Beklagte vertritt die Ansicht, dass der Reha-Status gerade nicht verneint worden sei. Jedenfalls kann aus dieser Vorgehensweise nicht geschlossen werden, dass der Kläger in materieller Hinsicht rechtswidrig über die Gewährung der Ausbildungskosten entschieden hätte. Aus den Telefonnotizen mit der Bundesagentur für Arbeit … (Telefonat am 20. Juli 2016 und 2. August 2016) kann geschlossen werden, dass die Maßnahme mit dieser abgestimmt wurde. Zu einer anderen Auffassung kam die Bundesagentur dann allerdings infolge des Zuständigkeitswechsels. Dass der Kläger treuwidrig gehandelt habe, da er keine Klage gegen die Bundesagentur für Arbeit geführt hat, kann nicht erkannt werden. Der Kläger hat sich bemüht, die Ausbildungskosten außergerichtlich gegenüber der Bundesagentur für Arbeit geltend zu machen (Schreiben vom 28. Oktober 2016). Der Kläger hat sich bereits mit Schreiben vom 29. August 2016 an den Beklagten gewandt. Dieser verwies mit Schreiben vom 24. Oktober 2016 und E-Mail vom 25. Januar 2017 auf die vorrangige Zuständigkeit der Bundesagentur für Arbeit. Mit E-Mail vom 1. Februar vertrat der Beklagte sogar die Ansicht, dass das Jugendamt auf Grund der nicht fristgerechten Weiterleitung des Antrags zuständig geworden sei, die Bundesagentur für Arbeit dürfe sich nicht auf eine Unzuständigkeit nach § 14 SGB IX zurückziehen. Es sei ungünstig, dass die Maßnahme nicht nach § 35a SGB VIII gelaufen sei. Da der Beklagte von Anfang an die Probleme des Falles erkannt hatte, ist es ihm aus Treu und Glauben verwehrt, sich nun darauf zu berufen, dass vorrangig der Anspruch gegenüber der Bundesagentur für Arbeit geltend zu machen wäre oder ein Gutachten nach § 35a SGB VIII in Auftrag zu geben gewesen wäre. Dies hätte er alles in eigener Zuständigkeit erledigen können und die dann erforderlichen Maßnahmen in die Wege leiten können. Stattdessen blieb der Beklagte nicht nur untätig, sondern leitete auch den erneuten Antrag des Hilfeempfängers vom 6. März 2017 an den Kläger mit Schreiben vom 15. März 2017 weiter.
74
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat zum Umfang des Kostenerstattungsanspruchs im Hinblick auf § 89f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII folgendes ausgeführt: „Der zur Kostenerstattung verpflichtete Jugendhilfeträger hat die Grundsätze anzuerkennen, die für den tätig gewordenen örtlichen Jugendhilfeträger zum Zeitpunkt des Tätigwerdens maßgebend waren (§ 89f Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Zu diesen Grundsätzen gehören verwaltungsinterne Festlegungen, Richtlinien und eine in allen gleich gelagerten Fällen zugrunde gelegte Praxis. Die Entscheidung über die individuell erforderlichen Hilfemaßnahmen ist vom erstattungsberechtigten Träger in eigener Verantwortung zu treffen; dessen Einschätzung und Beurteilungsspielraum ist für den erstattungspflichtigen Träger verbindlich (vgl. Kunkel/Pattar, in: Kunkel, LPK-SGB VIII, 5. Aufl. 2014, § 89f Rn. 21 m.w.N.). Voraussetzung für die Kostenerstattung ist allein, dass die Leistungserbringung den materiell-rechtlichen Vorschriften des Kinder- und Jugendhilferechts entspricht (vgl. Eschelbach/Schindler, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 7. Aufl. 2012, § 89f Rn. 1 m.w.N.). Die Nichteinhaltung von formellen Verfahrensvorschriften (z.B. Aufstellung, Fortschreibung des Hilfeplans, Dokumentation usw.) hingegen ändert an der Rechtmäßigkeit der Leistungserbringung im Sinne von § 89f SGB VIII grundsätzlich nichts (vgl. Eschelbach/Schindler, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 7. Aufl. 2012, § 89f Rn. 1 m.w.N.). Die Darlegungs- und Beweisführungslast für das Vorliegen einer (beachtlichen) Rechtswidrigkeit der Hilfe liegt allein beim kostenerstattungspflichtigen Träger (Kunkel/Pattar, in: Kunkel, LPK-SGB VIII, 5. Aufl. 2014, § 89f Rn. 16).“ (BayVGH, B.v. 12.8.2014 – 12 B 14.805 – juris Rn. 34).
75
Insofern hat es der Beklagte vorliegend nicht geltend gemacht, dass ein Hilfebedarf nicht vorgelegen wäre oder wie er in anderer adäquater Weise hätte erbracht werden müssen.
76
Dass die Ausbildungsmaßnahme notwendig war, kann dem Gutachten der Bundesagentur für Arbeit vom 30. August 2016 entnommen werden. In diesem wurde ein intellektuelles Potential des Hilfeempfängers festgestellt, welches sich im leicht unterdurchschnittlichen bzw. knapp durchschnittlichen Bereich der Hauptschulnorm bewegt. Es wurde von einer Teilleistungsstörung in der Sprachbeherrschung und der Rechtschreibung ausgegangen. Auf Grund der Schwächen ist nach dem Gutachten von einer Lernbehinderung auszugehen. Es wurde die Ausbildungsreife für eine theoriereduzierte Ausbildungsform festgestellt. Hierfür bedarf der Hilfeempfänger nach dem Gutachten eine intensive sozial- und sonderpädagogische Unterstützung sowie Stütz- und Förderunterricht sowie Rückmeldung zum Arbeits- und Lernverhalten. Die Erforderlichkeit der Maßnahme ergibt sich somit aus diesem Gutachten und den Hilfeplänen des Klägers vom 23. Juni 2016, 13. Juni 2017 und 31. Januar 2018. Dies wird vom Beklagten auch nicht in Frage gestellt. Der Beklagte verweist sogar darauf, dass im Gutachten vom 30. August 2016 „eine Teilleistungsstörung in den Bereichen Sprachbeherrschung und Rechtschreibung festgestellt und von einer Lernbehinderung ausgegangen wurde“ (…) und eine theoriereduzierte Ausbildung zum Hochbau-Fachpraktiker empfohlen wurde, „also einer Ausbildung für behinderte Menschen.“ Es lägen verdichtete Hinweise auf eine seelische Behinderung vor und somit für einen Eingliederungsbedarf ins Arbeitsleben (Klageerwiderung vom 12. Februar 2021, Seite 3).
77
Der Beklagte macht auch nicht geltend, dass eine andere geeignete Form der Unterbringung hätte gewählt werden müssen. Die vom Kläger geltend gemachten Jugendhilfekosten für die Maßnahme nach § 34 SGB VIII wurden anerkannt. Es wäre in diesem Fall Sache des Beklagten gewesen, ggf. ablehnend über die Hilfegewährung zu entscheiden (vgl. ebenso BayVGH, B.v. 12.8.2014 – a.a.O. Rn. 35), insbesondere da eine Aufnahme des Hilfeempfängers in das Berufsbildungswerk von der Kostenübernahme der Gesamtkosten (also einschließlich Ausbildungsmaßnahme) abhängig gemacht wurde (interne E-Mail des Klägers vom 20. Juli 2016 – Blatt 24 der Behördenakte des Klägers).
78
Jedenfalls handelte es sich bei der gewährten Hilfe für die Ausbildungskosten um Kosten, die der Erfüllung der Aufgaben des SGB VIII entspricht (§ 89f Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Dies ergibt sich entweder aus § 35a SGB VIII oder aus § 34 SGB VIII (die Heimerziehung war auch nach Ansicht des Beklagten erforderlich), da hier durch die gewählte Heimerziehung automatisch zusätzliche Kosten für eine Ausbildungsmaßnahme anfielen. In diesem Zusammenhang wäre auch denkbar, dass die Kosten für die Ausbildungsmaßnahme nach §§ 13 Abs. 2, 41, 27 Abs. 3 SGB VIII zu tragen sind, da nach dem Gutachten vom 30. August 2016 die psychosoziale Betreuung des Hilfeempfängers erforderlich war (BayVGH, U.v. 2.12.2020 – 12 BV 20.1951 – juris Rn. 31 f.; VG Berlin, B.v. 10.5.2006 – 18 A 904.05 – juris Rn. 9 zum Verhältnis Kosten, die vom Träger der Jugendhilfe zu tragen sind in Abgrenzung zur Kostentragungspflicht der Bundesagentur für Arbeit).
79
Der Beklagte verhält sich hinsichtlich der Anerkennung der Voraussetzungen des SGB VIII widersprüchlich. So erkannte er zwar die Kosten für die Heimerziehung an (und bejahte insofern seine Zuständigkeit), zog aber gleichzeitig die von der Bundesagentur für Arbeit geleistete Berufsausbildungsbeihilfe ab. Diese wurde aber gerade für die Ausbildungskosten und nicht für die Heimerziehung geleistet. Dem Beklagten ist es aus Treu und Glauben verwehrt nach der Rosinentheorie die für ihn günstigsten Rechtsgrundsätze anzuwenden.
80
4. Für öffentlich-rechtliche Geldforderungen sind Prozesszinsen unter sinngemäßer Anwendung des § 291 BGB zu entrichten (BVerwG, U.v. 22.2.2001 – 5 C 34/00 – BVerwGE 114, 61-68, Rn. 6 und 22 und BayVGH, B.v. 12.8.2014 – 12 B 14.805 – juris Rn. 42).
81
III. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Hinsichtlich des Klageantrags zu 1) ist von einem geringfügigen Unterliegen auszugehen. Das Verfahren ist nicht gerichtskostenfrei (§ 188 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).
82
IV. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 709 ZPO.