Inhalt

VGH München, Beschluss v. 13.06.2022 – 4 B 20.487
Titel:

Mangelndes Rechtsschutzbedürfnis bei Anfechtungsklage gegen mittlerweile aufgehobene Bescheide (hier: Zweitwohnungsteuer)

Normenkette:
VwGO § 42 Abs. 2
Leitsatz:
Hat die Gemeinde eine Entscheidung aufgrund einer neuen Satzung getroffen (hier: bzgl. Zweitwohnungsteuer), und wird dadurch deutlich, dass sie keinesfalls an der ursprünglichen Steuerfestsetzung aufgrund der nicht mehr geltenden, früheren Satzung festhalten wollte, so enthält der neue Bescheid konkludent die Aufhebung des alten Bescheids. Einer Anfechtungsklage gegen die ursprünglichen Bescheide fehlt dann das Rechtsschutzbedürfnis und ist unzulässig. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
von Amts wegen, berechtigtes Interesse, Berechnung, Steuerfestsetzung, Satzung, Feststellung, Verletzung, Widerspruch, Festsetzungen, Streitwertfestsetzung, Aufhebung, Verwaltungsakt, Widerspruchsbescheid, Beschwerde, Berufung, Bescheid, Änderung, neue Sachentscheidung, Zweitwohnungsteuer, neue Satzung, Rechtsschutzbedürfnis
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 23.05.2019 – M 10 K 18.4551
Rechtsmittelinstanz:
BVerwG Leipzig, Beschluss vom 17.01.2023 – 9 B 23.22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 43448

Tenor

I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Berufungsverfahrens als Gesamtschuldner.
III. Der Beschluss ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, sofern nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
V. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 3.619,83 Euro fest-gesetzt.

Gründe

I.
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Die Kläger sind als Eheleute gemeinsame Eigentümer einer Ferienwohnung im Gemeindegebiet der Beklagten. Sie wenden sich gegen Zweitwohnungsteuerbescheide der Beklagten vom 17. September 2014 (für die Jahre 2010 bis 2014; jährlich 436,11 Euro) und vom 15. Januar 2018 (für das Jahr 2018 und die Folgejahre; jährlich 479,76 Euro), die auf eine Zweitwohnungsteuersatzung vom 27. April 2005 gestützt waren. In dieser Satzung war die Steuerbemessung nach der indexierten Jahresrohmiete als Mietwert vorgesehen.
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Das Verwaltungsgericht wies die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene Klage gegen die streitgegenständlichen Bescheide sowie bezüglich eines weiteren Zweitwohnungsteuerbescheids vom 16. Januar 2015 (für die Jahre 2015 bis 2017; jährlich 436,11 Euro) mit Urteil vom 23. Mai 2019 ab.
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Mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 5. März 2020 wurde die Berufung gegen das Urteil insoweit zugelassen, als das Verwaltungsgericht die Klage gegen die Bescheide vom 17. September 2014 und 15. Januar 2018 als unbegründet abgewiesen hat (Ziff. I.). Im Übrigen (soweit die Klage gegen den Bescheid vom 16.1.2015 als unzulässig abgewiesen wurde) wurde der Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt (Ziff. II.).
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Mit ihrer Berufung verfolgen die Kläger ihr Rechtsschutzziel weiter. Sie beantragen (sinngemäß),
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die Bescheide vom 17. September 2014 und vom 15. Januar 2018, insoweit den Widerspruchsbescheid des Landratsamtes Traunstein vom 9. August 2018 sowie insoweit das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 23. Mai 2019 aufzuheben sowie
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festzustellen, dass die Beklagte auf den bestandskräftigen Bescheid vom 16. Januar 2015 keine Belastungen mehr gegen die Kläger stützen darf, und den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 5. März 2020 in Ziff. II. aufzuheben.
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Die Beklagte teilte mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 30. Juni 2020 mit, dass eine neue Zweitwohnungsteuersatzung erlassen worden sei, deren Steuermaßstab jetzt die Jahresnettokaltmiete sei. In § 11 der Satzung sei für noch nicht bestandskräftige Steuerfälle eine Rückwirkung zum 1. Januar 2010 angeordnet worden. Der Rechtsstreit habe sich damit erledigt. Der noch zu erlassende Aufhebungsbescheid werde alsbald vorgelegt.
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Mit Bescheid vom 22. April 2021 setzte die Beklagte die Zweitwohnungsteuer für die Ferienwohnung der Kläger für die Jahre 2010 bis einschließlich 2019 fest. Unter den Zeilen mit den Zweitwohnungsteuer-Beträgen für die Jahre 2010 bis einschließlich 2018 findet sich folgender Hinweis: „Dieser Bescheid ändert die Bescheide vom 17. September 2014 und 15. Januar 2018.“ In einem Begleitschreiben gleichfalls vom 22. April 2021 teilte die Beklagte den Klägern u.a. mit, sie erlasse nun aufgrund der neuen Zweiwohnungsteuersatzung vom 1. Juli 2020 mit der Rückwirkungsanordnung zum 1. Januar 2010 entsprechend § 11 der Satzung den beiliegenden Zweitwohnungsteuerbescheid. Dieser Bescheid ändere die Bescheide vom 17. September 2014 und 15. Januar 2018 und setzte erstmals die Steuer für 2019 bis 2021 fest. Ihres Erachtens habe sich zwar die Berufung beim Bayer. Verwaltungsgerichtshof erledigt, es sei aber möglich, den Rechtsstreit bezogen auf den neuen Bescheid weiterzuführen, d.h. wenn die Klage aufrechterhalten werde.
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Nach erfolgloser Durchführung eines Widerspruchsverfahrens erhoben die Kläger am 23. August 2021 Klage gegen den Bescheid vom 22. April 2021 zum Verwaltungsgericht München. Ein zugleich gestellter Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 7. Dezember 2021 abgelehnt (Az. M 10 S 21.4517). Eine Beschwerde der Kläger wurde mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 11. April 2022 verworfen (Az. 4 CS 22.495).
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Auf gerichtliche Anfrage teilte die Bevollmächtigte der Beklagten mit Schriftsatz vom 9. Juni 2021 mit, dass die Bescheide vom 17. September 2014 und vom 15. Januar 2018 mit dem Bescheid vom 22. April 2021 aufgehoben worden seien und aus diesen folglich keinerlei Rechte und Pflichten mehr abgeleitet würden.
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In einem Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 13. Juli 2021 erklären die Kläger im Wesentlichen, die Aufhebung der streitgegenständlichen Bescheide sei noch nicht „rechtskräftig“, da der Bescheid vom 22. April 2021 noch nicht bestandskräftig geworden sei. Der gegen diesen Bescheid eingelegte Widerspruch sei nicht verfristet. In einem Schreiben des Landratsamts Traunstein vom 25. Juni 2021 werde die Meinung vertreten, dass durch den Bescheid vom 22. April 2021 die streitgegenständlichen Bescheide nicht aufgehoben worden seien. Die Erklärung der Beklagten, aus diesen Bescheiden keine Rechte mehr herzuleiten, sei wenig glaubwürdig. Eine ausdrückliche Aufhebung der streitgegenständlichen Bescheide sei aus Gründen der Rechtsklarheit weiterhin geboten. Die Kläger hätten ein berechtigtes Interesse an der Feststellung, dass der Bescheid vom 16. Januar 2015 bestandskräftig sei, die Beklagte jedoch keine Rechte daraus herleiten dürfe. Dies ergebe sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach nach dem Ende einer Fortgeltungsfrist keine Belastungen auf eine nichtige Satzung gestützt werden dürften. Der Rechtsstreit werde nicht für erledigt erklärt.
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Ein weiterer Schriftsatz der Klägerbevollmächtigten vom 13. Mai 2022 mit geänderten Anträgen wurde am selben Tag als Original in Papier beim Verwaltungsgerichtshof eingereicht. Damit sollten insbesondere auch bezüglich der Bescheide vom 17. September 2014 und vom 15. Januar 2018 Feststellungsanträge gestellt und der Bescheid vom 22. April 2021 sowie ein Bescheid vom 6. September 2021 einbezogen werden.
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Bezüglich weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
II.
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1. Über die Berufung kann durch Beschluss entschieden werden, weil der Senat sie gemäß § 130a VwGO einstimmig für unbegründet erachtet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Parteien wurden hierzu gemäß § 130a Satz 2 i.V.m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO angehört.
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2. Die zulässige Berufung der Kläger gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 23. Mai 2019 im zugelassenen Umfang hat keinen Erfolg. Die Anfechtungsklage gegen die Bescheide vom 17. September 2014 und vom 15. Januar 2018 ist unzulässig.
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a) Dabei sind die mit Schriftsatz der Kläger vom 19. Mai 2020 gestellten Berufungsanträge zugrunde zu legen. Die mit dem Schriftsatz vom 13. Mai 2022 beabsichtigte Stellung geänderter Anträge ist nicht wirksam, weil die ab 1. Januar 2022 u.a. für Rechtsanwälte gemäß § 55d Satz 1 VwGO gesetzlich vorgeschriebene elektronische Übermittlung eines vorbereitenden und bestimmenden Schriftsatzes nicht erfolgt ist. Die von Amts wegen zu beachtende Verletzung der vorgeschriebenen elektronischen Form führt zur Unwirksamkeit der Prozesserklärung (vgl. BayVGH, B.v. 6.5.2022 – 10 ZB 22.827 – juris Rn. 2 m.w.N.).
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Unabhängig davon und ungeachtet der Voraussetzungen einer Klageänderung nach § 91 VwGO wären die von der Klägerbevollmächtigten formulierten Feststellungsanträge nicht nach § 43 VwGO oder – soweit sie als Fortsetzungsfeststellungsanträge auszulegen sind (§ 88 VwGO) – nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO zulässig. Der Bescheid vom 16. Januar 2015 kann bereits deshalb nicht zulässiger Gegenstand einer gerichtlichen Feststellung sein, weil er bestandskräftig geworden ist (vgl. Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 5.3.2020 im Verfahren 4 ZB 19.1883; § 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO). Eine Klageänderung in der Berufungsinstanz würde eine insoweit zulässige Berufung, also die wenigstens teilweise Weiterverfolgung der ursprünglichen Klage voraussetzen und könnte damit erst nach deren Zulassung erfolgen (vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 91 Rn. 33); dies ist in Bezug auf den Bescheid vom 16. Januar 2015 nicht der Fall, da die Berufungszulassung insoweit gerade abgelehnt wurde. Einem Feststellungsantrag hinsichtlich des Bescheides vom 22. April 2021 stünde bereits die anderweitige Rechtshängigkeit infolge der am 23. August 2021 zum Verwaltungsgericht erhobenen Klage entgegen (§ 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17 Abs. 1 S. 2 GVG und § 261 Abs. 3 Nr. 1 ZPO). Hinsichtlich des Bescheides vom 6. September 2021 (Änderung der Zweitwohnungsteuer für 2021; vorläufige Verpflichtung zu Zahlungen für 2022 und Folgejahre) wäre (ggf. innerhalb der Klagefrist) allenfalls eine Anfechtungsklage zum Verwaltungsgericht als statthafte Klageart in Betracht gekommen. Hinsichtlich der streitgegenständlichen Bescheide vom 17. September 2014 und vom 15. Januar 2018, die sich mittlerweile erledigt haben (vgl. dazu unter 2. b), sind keine Anhaltspunkte für ein (Fortsetzungs-)Feststellungsinteresse der Kläger geltend gemacht worden oder sonst ersichtlich. Soweit die Kläger selbst von der Erledigung der vorgenannten Bescheide ausgehen sollten, wäre hierzu keine gerichtliche Feststellung statthaft. Die (deklaratorische) Feststellung, dass das angefochtene Urteil insoweit unwirksam geworden ist (§ 173 VwGO, § 269 Abs. 3 ZPO analog), würde voraussetzen, dass die Kläger den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt hätten, was gerade nicht ihrem geäußerten Willen entspricht.
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b) Die zulässige Berufung ist unbegründet.
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aa) Die Anfechtungsklage betreffend die Bescheide vom 17. September 2014 und vom 15. Januar 2018 ist unzulässig, da die Kläger kein Rechtsschutzbedürfnis geltend machen können.
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Durch den Bescheid vom 22. April 2021 wurden die streitgegenständlichen Bescheide vom 17. September 2014 und 15. Januar 2018 aufgehoben und durch eine Neuregelung ersetzt. Es handelt sich nicht lediglich um einen sogenannten wiederholenden Verwaltungsakt (Zweitakt) ohne eigenen Regelungsgehalt, der ohne neue Sachaufklärung, Begründung oder erneute Sachentscheidung ergangen wäre (vgl. BFH, U.v. 6.8.1996 – VII R 77/95 – BFHE 181, 107 Rn. 25). Vielmehr stellt er einen sogenannten Zweitbescheid dar, der auf Grundlage einer erneuten Prüfung der Sach- und Rechtslage ergangen ist. Der Bescheid vom 22. April 2021 beruht auf einer eigenständigen Berechnung unter Anwendung der neuen Zweitwohnungsteuersatzung vom 1. Juli 2020; die Berechnung wird auf Seite 2 des Begleitschreibens zum Bescheid erläutert. Dem steht nicht entgegen, dass jedenfalls in Bezug auf die Festsetzungen im Bescheid vom 17. September 2014 im Ergebnis derselbe Steuerbetrag erneut festgesetzt wurde. Erst recht kommt es nicht darauf an, dass im Bescheid vom 22. April 2021 davon gesprochen wird, dieser Bescheid „ändere“ die Bescheide vom 17. September 2014 und 15. Januar 2018. Zum einen kommt es nicht maßgeblich auf die bloße Bezeichnung, sondern auf den Regelungsgehalt nach objektivem Empfängerhorizont an. Zum anderen lässt der Begriff der „Änderung“ insoweit keine eindeutigen Rückschlüsse zu. Im Hinblick darauf, dass die Beklagte eine Entscheidung aufgrund der neuen Satzung getroffen hat, wird gleichfalls deutlich, dass sie keinesfalls an der ursprünglichen Steuerfestsetzung aufgrund der nicht mehr geltenden Satzung vom 27. April 2005 festhalten wollte; neben der Neufestsetzung der Steuerbeträge enthält der Bescheid vom 22. April 2021 konkludent die Aufhebung der Bescheide vom 17. September 2014 und 15. Januar 2018, wodurch die Kläger nicht beschwert sind.
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bb) Der Berufungsantrag mit dem Ziel, die Beklagte zu verpflichten, auf den Bescheid vom 16. Januar 2015 „keine Belastungen mehr gegen die Kläger zu stützen“, geht ins Leere, da die mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 5. März 2020 zugelassene Berufung nicht diesen Bescheid umfasst; insoweit wurde die Zulassung der Berufung gerade abgelehnt. Für eine Überprüfung dieser Zulassungsentscheidung im Berufungsverfahren besteht im Übrigen keine verfahrensrechtliche Grundlage.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 i. V. m. § 52 Abs. 3 GKG i.V.m. Nr. 3.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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Die Revision war nicht zuzulassen, weil kein Zulassungsgrund nach § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.