Titel:
Aufhebung eines Widerrufsbescheids – Mutter mit drei Kindern aus Nigeria
Normenketten:
AsylG § 73, § 73a
AufentG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Die Aufhebung eines Widerrufsbescheids setzt nach § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO seine objektive Rechtswidrigkeit voraus. Er ist vom Gericht umfassend auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen, wobei auch vom Kläger nicht geltend gemachte Anfechtungsgründe sowie von der Behörde nicht angeführte Widerrufsgründe einzubeziehen sind. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es bestehen zwar in Nigeria für alleinstehende Frauen mit Kindern je nach Region besondere Schwierigkeiten; jedoch ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Möglichkeit gegeben ist, ökonomisch eigenständig allein zu leben und mit oder ohne Hilfe Dritter zu überleben. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nigeria, Widerruf eines Abschiebungsverbots, Mutter wieder alleinerziehend, Asylrecht, Widerrufsbescheid, alleinerziehende Mutter, Existenzminimum
Fundstelle:
BeckRS 2022, 43170
Tenor
I. Der Bescheid vom 2. Dezember 2019 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Tatbestand
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Die Klägerinnen sind nigerianische Staatsangehörige. Die Klägerin zu 1 ist die Mutter der am ... 2017 in Italien geborenen Klägerin zu 2. Der Vater der Klägerin zu 2 ist … … Die Klägerin hat bei ihrer Anhörung am 9. Januar 2018 angegeben, Nigeria verlassen zu haben, da er von Mitgliedern eines Geheimbundes bedroht worden sei. Das Verfahren des Mannes und Kindsvaters ist noch unter dem Aktenzeichen M 13 K 19.30421 bei Gericht anhängig. Im Asylstreitverfahren eines weiteren Kindes der Klägerin zu 1 und des Vaters der Klägerin zu 2, also des Bruders der Klägerin zu 2 ist die Klage gegen den ablehnenden Bescheid vom 14. Mai 2020 mit Urteil vom 24. März 2022 abgewiesen worden.
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Mit Bescheid vom 19. Januar 2018 ist zu Gunsten der Klägerinnen unter Ziff. 4 festgestellt worden, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt, mit der Begründung, die Klägerin zu 1 als ledige Frau wäre bei einer Rückkehr nach Nigeria nicht in der Lage, den Lebensunterhalt für sich und die Klägerin zu 2 sicherzustellen.
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Mit weiterem, hier gegenständlichen Bescheid vom 2. Dezember 2019 hat das Bundesamt diese Feststellung widerrufen (Ziffer 1) und festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Lebensgefährte der Klägerin zu 1 und Vater der Klägerin zu 2 selbst mittlerweile mit diesen in einer Lebensgemeinschaft lebe, die Vaterschaft für die Kinder anerkannt habe und auch über ein gemeinsames Sorgerecht verfüge. Bei einer gemeinsamen Rückkehr nach Nigeria könne dieser auch diese existenzsichernd mitversorgen.
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Gegen diesen Bescheid richtet sich die Klage vom 15. Mai 2020 erhoben mit Schriftsatz vom selben Tag und dem Antrag:
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1. Der Bescheid der Beklagten vom 11. Mai 2020 wird aufgehoben.
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2. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Die Beklagte hat am 28. Mai 2020 die Akten vorgelegt.
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Mit Beschluss vom 12. September 2022 ist der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen worden.
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In der mündlichen Verhandlung vom 28. November 2022, in der die Beklagte nicht vertreten war, ist die Klägerin zu 1 informatorisch gehört worden. Sie hat angegeben, inzwischen vom Vater ihrer mittlerweile drei Kinder getrennt zu sein und Ende Oktober eine neue Unterkunft bezogen zu haben. Der Trennung lägen Betrug und Gewalt seitens des Vaters der Kinder zugrunde. Er mache eine Ausbildung, beteilige sich aber nicht an den Kosten für die Kinder. Die Mutter und Schwester lebten in Nigeria auf einer Farm mit gepachtetem Land. Dorthin könnten sie aber aus diversen, näher ausgeführten Gründen, nicht. Sie habe die P. School im Dorf besucht, könne aber nicht lesen oder schreiben.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und auf die vorgelegten Behördenakten sowie auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung verwiesen.
Entscheidungsgründe
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I. Die nach Beschlussfassung gemäß § 76 Abs. 1 AsylG zur Entscheidung berufene Einzelrichterin konnte über die Klage entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten gemäß § 102 Abs. 2 VwGO ausweislich der Ladung ausdrücklich hingewiesen.
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II. Die hiernach zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO und verletzt die Kläger in ihren Rechten, da im gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen.
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1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf eine Abschiebung nicht erfolgen, soweit sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. In diesem Zusammenhang kommt vor allem eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Betracht. Nach Art. 3 EMRK darf nicht abgeschoben werden, wem im Zielstaat Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Das Verbot kann eingreifen, wenn die Rückkehrer ihren existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern könnten, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten. Schlechte sozio-ökonomische und humanitäre Verhältnisse im Bestimmungsland können nur in ganz außergewöhnlichen Fällen Art. 3 EMRK verletzen; dies ist dann der Fall, wenn die gegen die Abschiebung sprechenden humanitären Gründe „zwingend“ sind (vgl. VGH BW, U.v. 17.7.2019 – A 9 S 1566/18, juris, Rn. 28). Dies würde voraussetzen, dass ein Mindestmaß an Schwere erreicht wird, ohne dass schon eine Extremgefahr i.S.d Rechtsprechung zu § 60 Abs. 7 Satz 5 vorliegen muss. Art. 3 EMRK verpflichtet die Staaten nicht, verschiedene Niveaus bei der medizinischen Behandlung sowie Unterschiede in sozialen und wirtschaftlichen Standards durch freie und unbegrenzte Versorgung von Ausländern ohne Bleiberecht auszugleichen (EGMR (Große Kammer), U.v. 27.5.2008 – 26565/05 N./Vereinigtes Königreich – NVwZ 2008, 1334, Rn. 44).
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Insoweit bedarf es der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (Bergmann/Dienelt/Dollinger, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 60 Rn. 85). Auch in diesem Zusammenhang gebietet die prozessuale Mitwirkungspflicht gem. § 25 Abs. 1 und 2 AsylG und § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO es dem um Rechtsschutz Ersuchenden, die Gründe für drohende Gefahren schlüssig und vollständig vorzutragen. Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung die behauptete Bedrohung ergibt. Mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a., Ibrahim, Rn. 89 ff. und C-163/17, Jawo, Rn. 90 ff. zitiert nach BVerwG, U.v. 4. Juli 2019 – 1 C 45/18, juris, Rn. 12) isz darauf abzustellen, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden („Brot, Bett, Seife“), und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
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Nach der neuesten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 21.4.2022 – 1 C 10.21) ist Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist (vgl. zur früheren Diskussion um diese Frage: OVG NRW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3741/18.A – juris Rn. 76 m.w.N.). Kann der Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, so kann Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht. Nach neuerer obergerichtlicher Rechtsprechung ist für die Beantwortung der Frage, welche (Begleit-)Personen im Rahmen der Prüfung nationaler Abschiebungsverbote in die Gefahrenprognose bei hypothetischer Rückkehr einzustellen sind, regelmäßig im Sinne einer realitätsnahen Rückkehrsituation von einer gemeinsamen Rückkehr mit Familienangehörigen auszugehen, falls ein Asylbewerber auch in Deutschland mit ihnen als Familie zusammenlebt, selbst dann, wenn einzelne Familienmitglieder bereits Abschiebungsschutz genießen (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 u.a. – juris; vgl. zur früheren Diskussion um diese Frage: OVG NRW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3741/18.A – juris, Rn. 76 m.w.N.).
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2. Die Aufhebung eines Widerrufsbescheids als gebundene Entscheidung setzt nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO seine objektive Rechtswidrigkeit voraus. Er ist vom Gericht umfassend auf seine Rechtmäßigkeit zu prüfen, wobei auch vom Kläger nicht geltend gemachte Anfechtungsgründe sowie vom Bundesamt nicht angeführte Widerrufsgründe einzubeziehen sind. Liegt der im Widerrufsbescheid allein angeführte Widerrufsgrund nicht vor, so ist eine Klage erst dann begründet, wenn der Bescheid auch unter anderen rechtlichen Gesichtspunkten nicht haltbar ist und er den Adressaten in seinen Rechten verletzt, insbesondere also wenn auch andere in Betracht kommende Widerrufsgründe ausscheiden (Bergmann/Dienelt/Bergmann, 13. Aufl. 2020, AsylG § 73c Rn. 5).
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Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Widerrufs- oder Rücknahmeentscheidung ist gem. § 77 Abs. 1 die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht oder – im Falle einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung – dessen Entscheidung (BeckOK AuslR/Fleuß, 31. Ed. 1.7.2021, AsylG § 73c Rn. 19). Daraus folgt, dass der Widerruf nach § 73c Abs. 2 nicht nur auf solche Tatsachen, die schon bei Erlass des Widerrufsbescheides vorgelegen haben, sondern im Weiteren auch auf nachfolgend eingetretene Tatsachen gestützt werden kann. Damit ist grundsätzlich auch das Auswechseln des einem Bescheid zu Grunde liegenden Sachverhaltes jedenfalls dann möglich, wenn die Entscheidungsformel unverändert bleibt (BVerwG, U.v. 29.6.2015 – 1 C 2/15 – NVwZ-RR 2015, 790, Rn. 15; zur Umdeutung des Widerrufs einer Asylanerkennung in eine Rücknahme bei Täuschung über die Staatsangehörigkeit s. auch: BVerwG, B.v. 29.4.2013 – 10 B 40.12 – BeckRS 2013, 50921).
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All dies hat zur Konsequenz, dass bei Vorliegen eines Abschiebungsverbots bei gleichzeitigem Entbehren von Widerrufsgründen im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung der Widerrufsausspruch keinen Bestand haben kann.
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3. Hiernach hätte der Widerruf in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids nicht erfolgen dürfen und ist die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen in Ziffer 2 aufzuheben.
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Die Einzelrichterin stellt hypothetisch auf eine Rückkehr der Kläger mit den Geschwistern des Klägers zu 2, jedoch ohne den Vater ab, da nach dem klägerseitigen Vorbringen schon keine gelebte Kernfamilie im Bundesgebiet besteht und auch bei realitätsnaher Betrachtung nicht zu erwarten ist, dass der Vater, der keine Beziehung mit der Mutter führt, sie nach Nigeria begleiten würde. Nach Angaben der Klägerin zu 1 absolviert er eine Ausbildung und hat auf dieser Basis, die Möglichkeit auf ein länger währendes Aufenthaltsrecht. Nach der Beschreibung des Verhältnisses in der mündlichen Verhandlung zu urteilen, ist das Moment des Füreinandereinstehenwollens in der Beziehung nicht so stark ausgeprägt, dass er trotzdem mit der Klägerin zu 1 und den gemeinsamen Kindern nach Nigeria zurückkehren würden, um dort für sie zu sorgen. Es stellt sich vielmehr so dar, dass sich der Kontakt auf das für die Ermöglichung des Umgangs mit den Kindern und organisatorische Fragen beschränkt. Gegenüber der bei Bescheidserlass zugrunde gelegten Sachlage hat sich diese damit insoweit verändert, als die Klägerin zu 1 nunmehr mit ihren drei Kindern wieder auf sich allein gestellt wäre. Die Einlassung, dass die Familieneinheit nun endgültig nicht mehr besteht, wirkte glaubhaft und überzeugend. Insbesondere durch die nun vollzogene räumliche Trennung hat sich dies nun auch manifestiert. Angesichts der ebenfalls glaubhaft dargelegten Gewalttätigkeit des Partners kann der Klägerin zu 1 auch nicht zugemutet werden, einen Versöhnungsversuch zu unternehmen.
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4. Der Widerruf kann auch nicht aus anderen Gründen Bestand haben.
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a. Die Situation für Zurückkehrende ist in allen Teilen Nigerias alles andere als einfach. 45% der nigerianischen Bevölkerung leiden unter extremer Armut, d.h. sie leben von weniger als 1,9 USD am Tag leben müssen und die Arbeitslosenquote mit 23% bzw. 35% bei den unter 35-Jährigen sehr hoch ist (AA Lagebericht, S. 20). Die Situation hat sich durch den Ölpreisverfall Anfang 2020 und die Auswirkungen der weltweiten Covid-Pandemie noch zusätzlich verschärft. Zur Eindämmung der Pandemie sind Beschränkungen des öffentlichen Lebens verfügt worden in Nigeria und den Nachbarländern, die sich dort unter anderem auf die wirtschaftliche Lage, die Arbeits- und Wohnungssuche, die Lebensmittelversorgung und somit die Existenzsicherung ausgewirkt haben und auch immer noch auswirken. Dies bestätigen der zuletzt aktualisierte EASO-Sicherheitsbericht (Nigeria – Security Situation Country of Origin Information Report, Version 1.1 vom June 2021, S. 20) und die Allgemeine Lagebeschreibung von EASO (Common Analysis Nigeria, October 2021, S. 163), denen zufolge die auf die Pandemie zurückzuführende Teuerung bei den Lebensmittelpreisen die Lebenshaltungskosten in die Höhe getrieben und den Zugang zu elementaren Versorgungsgütern für die besonders Schutzbedürftigen erschwert hätten. Noch keinen Niederschlag in den Erkenntnismitteln gefunden haben die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine, die sich bei den unteren Bevölkerungsschichten in Gestalt einer erheblichen Teuerung insbesondere bei den Grundnahrungsmitteln niederschlägt und somit die Lebenshaltungskosten in die Höhe treibt. Unterschiedlichen Quellen zufolge befindet sich die Inflation mit ca. 20% auf dem höchsten Stand seit 17 Jahren, wobei für (Grund-)Nahrungsmittel ein Wert von 23% erreicht wird (vgl. z.B. www.tradingeconomics.com/nigeria/inflation-cpi). Unabhängig davon ist die Situation für alleinstehende Frauen in Nigeria – und damit auch für deren Kinder – nach den vorliegenden Erkenntnismitteln besonders schwierig ist. So ist davon auszugehen, dass sie vielen Arten von Diskriminierung ausgesetzt sind. Beispielsweise finden sie meist nur schwer Zugang zu einer beruflichen Tätigkeit in Nigeria, dies umso weniger, je geringer die Schul- bzw. Berufsausbildung ist, bei der Mädchen bzw. Frauen ebenfalls diskriminiert werden. Da es in Nigeria keine staatliche finanzielle oder soziale Unterstützung gibt, sind alleinstehende Frauen meist von finanziellen Zuwendungen durch die Familie, Nachbarn oder Freunde abhängig. Jedoch ist es auch für den Personenkreis der alleinstehenden Frauen nicht gänzlich unmöglich bzw. ausgeschlossen, sich eine wirtschaftliche Grundexistenz zu schaffen, so etwa im Südwesten des Landes und in den Städten, in denen alleinstehende Frauen eher akzeptiert werden (vgl. AA, Lagebericht Nigeria, S. 15; Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation, Situation alleinstehender Frauen vom 14.7.2010; Austrian Centre for Country of Origin & Asylum Research and Documentation, Frauen, Kinder, sexuelle Orientierung, Gesundheitsversorgung vom 21.6.2011; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nigeria: Update vom 12.4.2010). Vor diesem Hintergrund kann nicht grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass die Abschiebung von alleinstehenden Frauen mit Kindern nach Nigeria stets gegen die EMRK verstieße. Es bestehen zwar in Nigeria – in ihrem Ausmaß insbesondere auch abhängig von der Region – für alleinerziehende Mütter besondere Schwierigkeiten. Jedoch ist grundsätzlich davon auszugehen, dass auch in Nigeria für alleinstehende Frauen mit Kind(ern) die Möglichkeit gegeben ist, ökonomisch eigenständig alleine zu leben und auch mit oder ohne Hilfe Dritter zu überleben. Üblicherweise ist es für alleinstehende Mütter möglich, Arbeit zu finden. Es bestehen unterschiedlichste Verdienstmöglichkeiten (bspw. in der Landwirtschaft, dem Kleingewerbe, als Reinigungskraft oder Haushaltshilfe oder durch das Betreiben einer mobilen Küche (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumenten Nigeria, Stand: 31.1.2022, S. 47). In Nigeria ist es nicht unüblich Kinder jedenfalls teilweise bzw. zu bestimmten beruflichen Tätigkeiten, insbesondere im informellen Sektor, mitzunehmen (vgl. z.B. VG München, U.v. 13.1.2020 – M 8 K 18.33216 – Rn. 76; U.v. 3.9.2019 – M 8 K 18.31864 – Rn. 49). Trotz der schlechten wirtschaftliche Situation in Nigeria, wo der größte Teil der Bevölkerung von informellem Handel und Subsistenzwirtschaft abhängig ist, ist davon auszugehen, dass es seiner volljährigen und erwerbsfähigen Frau gelingen wird, durch eine eigene Erwerbstätigkeit, familiären Rückhalt, die Unterstützung durch Nichtregierungsorganisationen sowie Rückkehrhilfen, den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder zu sichern (VGH München Urt. v. 24.1.2022 – 10 B 20.30598, BeckRS 2022, Rn. 36).
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b. Insbesondere ein hinreichender familiärer Rückhalt ist aber im Falle der Kläger nicht gegeben.
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aa. Es ist zum einen nicht zu erwarten, dass der ehemalige Partner der Klägerin zu 1 und Vater des Klägers zu 2 die Familie in Nigeria von Deutschland aus unterstützen würde, nachdem dies bereits im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht der Fall ist.
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bb. Ferner ist nicht anzunehmen, dass sich die Ressourcen, auf die die Klägerin zu 1 zurückgreifen kann gegenüber der Situation bei Bescheidserlass maßgeblich verbessert hätten, sodass sie in der Lage wäre, in Nigeria wirtschaftlich Fuß zu fassen. Zwar leben dort noch ihre Mutter und die Schwester auf einer Farm. Allerdings dürften die dortigen Verhältnisse es nicht erlauben, die Klägerin zu 1 mit drei Kindern aufzunehmen und mit zu versorgen. Die Befragung in der mündlichen Verhandlung hat ergeben, dass es sich um eine kleinere, einfache Behausung mit zwei Räumen auf gemietetem Farmland handelt. Die Erträge genügen nach Angaben der Klägerin zu 1, um die Mutter und Schwester zu ernähren. Das kleine Dorf, aus dem die Klägerin stammt ist mit keiner der aktenkundigen Schreibweisen mittels Google Maps-Suche auffindbar; ebensowenig die … P. School, die die Klägerin zu 1 angab besucht zu haben. Dies spricht dafür, dass auch die Aussage der Klägerin zu 1 zutrifft, das Dorf sei weit entlegen von der nächsten größeren Stadt (wohl U* …*), als dass sie dort eine Erwerbstätigkeit aufnehmen und gleichzeitig auf der Farm wohnen bleiben könnte. Erschwerend hinzu kommt ihre mangelhafte Schulbildung. Die im Falle einer freiwilligen Rückreise erlangbaren Rückkehrhilfen würden unter diesen Rahmenbedingungen verbraucht sein, ehe es der Klägerin zu 1 gelingt, die Basis für die Erzielung eines Erwerbseinkommens gelegt zu haben und somit nur einen Aufschub hinsichtlich der drohenden Verelendung bewirken.
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5. Dementsprechend muss für die Kläger auf Grund ihrer individuellen Voraussetzungen und konkreten Lebenssituation bei einer Rückkehr nach Nigeria weiterhin eine mit hoher Wahrscheinlichkeit eintretende besondere – außergewöhnliche – Gefahrenlage angenommen werden.
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6. Da es sich bei dem national begründeten Abschiebungsschutz um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen handelt (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – juris Rn. 17), bedurfte es keiner Entscheidung über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
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3. Nachdem die Kläger somit weiterhin einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG haben, sind sie durch den angefochtenen Bescheid in ihren Rechten verletzt. Dieser war aufzuheben, § 113 Abs. 5 VwGO.
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III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
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IV. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung stützt sich auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung.