Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 16.11.2022 – Au 4 K 22.1057
Titel:

Klage auf Baugenehmigung für Werbeanlage

Normenkette:
BayBO Art. 14 Abs. 2, Art. 68 Abs. 1 S. 1 Hs. 2
Leitsätze:
1. Die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs wird bereits dann iSv Art. 14 Abs. 2 BayBO konkret gefährdet, wenn nach den Erfahrungen des täglichen Lebens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass durch die Anlage ein Verkehrsunfall verursacht oder der Verkehr in seinem Ablauf behindert wird, insbesondere ein Durchschnittskraftfahrer durch sie abgelenkt wird. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Fachliche Stellungnahmen der Straßenverkehrsbehörde sind zwar weder für die Genehmigungsbehörde noch für das Gericht bindend. Sie haben jedoch namentlich angesichts der Sach- und Problemnähe gerade der örtlichen (polizeilichen) Dienststellen eine nicht unerhebliche Aussagekraft. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
doppelseitig beleuchtete Werbeanlage, Gefährdung der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs, Baugenehmigung, Werbetafel, Leichtigkeit des Verkehrs, Gefährdungsbeurteilung, Verkehrsunfallrisiko
Fundstelle:
BeckRS 2022, 43001

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

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Die Klägerin begehrt eine Baugenehmigung zur Errichtung einer Werbeanlage.
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Mit Formblatt vom 26. November 2021 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung einer freistehenden doppelseitig beleuchteten Werbeanlage in der Größe von Breite 3,89 m x Höhe 2,87 m und einer Sockelhöhe von 1,6 m auf dem Grundstück Fl.Nr. ... der Gemarkung ... (Allgäu) (... Straße). Das Vorhabengrundstück liegt im unbeplanten Innenbereich.
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Mit Bescheid vom 29. März 2022 lehnte die Beklagte die beantragte Baugenehmigung ab. Das Vorhaben widerspreche den gemäß Art. 59 Satz 1 Nr. 1 bis 3 BayBO geprüften öffentlich-rechtlichen Vorschriften, weshalb die Genehmigung nicht erteilt werden könne. Die beantragte Werbeanlage halte die erforderlichen Abstandsflächen gemäß Art. 6 BayBO nicht ein. Die Abstandsflächen der geplanten Werbeanlage würden sich mit den Abstandsflächen der bereits errichteten Werbeanlage auf dem Grundstück Fl.Nr. ... überdecken. Gründe für die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 BayBO seien nicht ersichtlich. Zudem gefährde die Errichtung der Anlage am streitgegenständlichen Standort die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs. Am geplanten Standort bestehe eine komplexe Verkehrssituation an den Knotenpunkten ...straße/ … Straße sowie ... Straße/.... Dort befänden sich vier Fahrspuren, wobei nur zwei weitergeführt würden. Diese beiden Fahrspuren würden unmittelbar nach dem Kreuzungsbereich auf eine Fahrspur verengt werden. Da diese Verengung beschildert und hinlänglich bekannt sei, finde bereits vor dem Knotenpunkt Verflechtungsverkehr statt. Eine Unfallauswertung der Polizei habe ergeben, dass sich von 2018 bis 2021 dort dreizehn Verkehrsunfälle ereigneten, wobei allein sechs Unfälle auf den Verflechtungsvorgang zurückzuführen seien. Da im Rahmen der polizeilichen Unfallaufnahme ein Unfallverursacher der sechs relevanten Unfälle angab, dass er durch die vorhandene Spritpreistafel abgelenkt gewesen sei, sei die tatsächliche Möglichkeit der Verkehrsbeeinträchtigung gegeben. Bei der Gesamtwürdigung aller Umstände, insbesondere den Unfallzahlen aus den Vorjahren sowie der komplexen und gefahrenträchtigen Verkehrssituation, sei bei Hinzutreten der beantragten Werbeanlage von einer konkreten Gefährdung der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs auszugehen.
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Die Klägerin erhob am 27. April 2022 beim Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg Klage und beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Versagungsbescheides vom 29. März 2022, Az.:, zu verpflichten, die beantragte Baugenehmigung zur Errichtung einer doppelseitigen beleuchteten Werbetafel auf dem Grundstück ... Straße, Gemarkung, Flst. ... in ... nach Maßgabe der eingereichten Pläne zu erteilen.
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Zur Begründung wird ausgeführt, dass das zur Genehmigung gestellte Werbevorhaben genehmigungsfähig sei. Die beantragte Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften sei vorliegend zu erteilen. Durch das Vorhaben trete auch keine Gefährdung der Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs ein. Die Werbeanlage werde außerhalb der Sichtachse des Verkehrsteilnehmers angebracht. Verkehrszeichen oder -einrichtungen, die durch die Werbeanlage beeinträchtigt oder tangiert werden könnten, seien nicht ersichtlich. Vielmehr handle es sich um eine vom Standort des potentiell gefährdeten Verkehrsteilnehmers aus hinter die vorhandenen Verkehrszeichen und -einrichtungen deutlich in den Hintergrund tretende „normale“ Werbeanlage. Die Straße verlaufe im Bereich des Vorhabens zudem in einem geraden Verlauf.
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Die Beklagte trat mit Schreiben vom 19. Mai 2022 der Klage entgegen. Für sie ist beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Dem Vorhaben stehe Art. 6 BayBO entgegen. Ferner werde durch die geplante Werbeanlage die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs gefährdet. Das im dortigen Bereich vorhandene Straßengeflecht erfordere bereits die erhöhte Aufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer. Die vorhandene Situation sei schwierig, was auch die Unfallzahlen belegten. Es dürfe daher keine weitere Verschlechterung durch Ablenkung stattfinden. Es solle vermieden werden, dass Verkehrsteilnehmer durch Ablenkung gegebenenfalls nicht mehr rechtzeitig auf einen Lichtzeichenwechsel oder eine Rückstausituation reagieren könnten. Das zusätzliche Ablenkungspotential durch die geplante Werbeanlage könne einen Verkehrsunfall begünstigen. Außerdem verstoße das streitgegenständliche Vorhaben gegen Art. 8 Satz 3 BayBO.
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Am 17. Oktober 2022 fand ein Augenscheinstermin durch die Berichterstatterin statt. Dort verzichteten die Beteiligten übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Im Übrigen wird auf die hierbei gefertigte Niederschrift und die Lichtbilder Bezug genommen.
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Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtssowie die vorgelegte Behördenakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Über die Klage konnte aufgrund des Einverständnisses der Parteien ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden werden, § 101 Abs. 2 VwGO.
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Die zulässige Klage ist nicht begründet, denn das Vorhaben verstößt gegen sonstige öffentlich-rechtliche Vorschriften, auf die sich die Beklagte berufen hat (vgl. Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 BayBO). Der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 29. März 2022 ist daher rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung der begehrten Baugenehmigung (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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1. Der von der Klägerin beantragten Werbetafel steht Art. 14 Abs. 2 BayBO entgegen, wonach die Sicherheit und Leichtigkeit des öffentlichen Verkehrs durch bauliche Anlagen nicht gefährdet werden darf. Die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs wird nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH, B.v. 27.10.2011 – 15 ZB 10.2409 – juris Rn. 6; B.v. 24.2.2003 – 2 CS 02.2730 – juris Rn. 16; U.v. 30.5.2018 – 2 B 18.681 – juris Rn. 24; B.v. 9.2.2021 – 9 ZB 19.1582 – juris Rn. 19) bereits dann – konkret – gefährdet, wenn nach den Erfahrungen des täglichen Lebens mit hinreichender oder – anders ausgedrückt – „bloßer“ Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass durch die Anlage ein Verkehrsunfall verursacht oder der Verkehr in seinem Ablauf behindert wird, insbesondere ein Durchschnittskraftfahrer durch sie abgelenkt wird. Der Nachweis, dass jederzeit mit einem Schadenseintritt zu rechnen ist oder eine hohe Wahrscheinlichkeit hierfür besteht, ist nicht erforderlich. Zur Annahme einer Gefahrenlage genügt daher die Feststellung, dass die konkrete Situation die Befürchtung nahelegt, dass – möglicherweise durch Zusammentreffen mehrerer gefahrenträchtiger Umstände – irgendwann in überschaubarer Zukunft mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die zu bekämpfende Gefahrenlage eintritt. Geht es dabei – wie hier – um die Gefährdung von Leben und Gesundheit, sind an die Feststellung der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts keine übermäßig hohen Anforderungen zu stellen.
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Bei Anwendung dieser Grundsätze stellt die verfahrensgegenständliche Werbeanlage bei der Gesamtwürdigung aller Umstände eine konkrete Gefahr für die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs dar. Zu berücksichtigen waren dabei neben dem Vorbringen der Parteien – darunter die fachliche Stellungnahme der Straßenverkehrsbehörde vom 22. März 2022 – insbesondere die Eindrücke der gerichtlichen Inaugenscheinnahme sowie die auf dem gerichtlichen Augenscheinstermin in Anwesenheit der Beteiligten mündlich erläuterte polizeiliche Einschätzung der örtlichen Polizeiinspektion. Derartige Stellungnahmen sind zwar weder für die Genehmigungsbehörde noch für das Gericht bindend; sie haben jedoch namentlich angesichts der Sach- und Problemnähe gerade der örtlichen (polizeilichen) Dienststellen eine nicht unerhebliche Aussagekraft (VG Augsburg, U.v. 31.1.2018 – Au 4 K 17.1683 – juris Rn. 25; U.v. 16.12.2015 – Au 4 K 15.869 – juris Rn. 41).
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Unter Berücksichtigung dessen liegen nach Überzeugung der Kammer hier mehrere Umstände vor, nach denen jedenfalls in einer Zusammenschau von einer komplexen Verkehrssituation auszugehen ist, aus welcher sich eine konkrete Gefährdung der Sicherheit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs bei Hinzutreten der beantragten Werbeanlage ergibt.
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Die ... Straße ist als Ortsdurchfahrt durch ... eine stark befahrene Straße in beide Fahrtrichtungen. Die geplante Werbeanlage befindet sich in unmittelbarer Nähe zu der vorhandenen Lichtzeichenanlage im Kreuzungsbereich ... Straße/.... Stadtauswärts stellt sich eine komplexe Verkehrssituation dar, da die zweispurige Fahrbahn unmittelbar vor der Werbeanlage durch Hinzutreten zweier Abbiegespuren vierspurig wird. Auf Höhe der Werbeanlage befindet sich sodann die Einmündung zu einem Getränkemarkt sowie im Bereich der Lichtzeichenanlage eine Einmündung zur dortigen Tankstelle. Erschwerend kommt hinzu, dass im Bereich dieser Einmündungen auch Radverkehr in beide Richtungen stattfindet. Zusätzlich wird die Verkehrssituation noch dadurch verschärft, dass die beiden Fahrspuren, die geradeaus weitergeführt werden, unmittelbar nach dem Kreuzungsbereich auf eine Fahrspur verengt werden. Da diese Verengung beschildert und zudem auch nach Aussage der Straßenverkehrsbehörde und der örtlichen Polizeidienststelle bekannt ist, findet bereits vor dem Knotenpunkt Verflechtungsverkehr statt. Wie die beim Ortstermin anwesende Polizeibeamtin nachvollziehbar ausführte, liegt die Werbeanlage inmitten einer für den Verkehrsteilnehmer durch mehrere gefahrenträchtige Umstände komplexen Verkehrssituation, sodass durch das zusätzliche Ablenkungspotential durch die geplante Werbeanlage Verkehrsteilnehmer gegebenenfalls nicht mehr rechtzeitig auf einen Lichtzeichenwechsel bzw. auf eine Rückstausituation reagieren können. Es sind daher Auffahrunfälle zu befürchten, denn in Abbiegebereichen und Bereichen mit komplexen Verkehrssituationen gelten erhöhte Aufmerksamkeitsanforderungen. Dass es sich bei dem Bereich des Vorhabenstandorts um eine gefahrenträchtige Verkehrssituation handelt, zeigt auch die Unfallstatistik der örtlichen Polizeidienststelle. Der nähere Bereich des Vorhabenstandorts stellt bereits ein Unfallschwerpunkt dar. Im Zeitraum von 2018 bis November 2021 ereigneten sich dreizehn Unfälle im unmittelbaren Bereich des streitgegenständlichen Standorts, allein sieben davon sind nach Aussage der örtlichen Polizeidienststelle auf den Verflechtungsvorgang zurückzuführen. Auch die nicht durch Lichtzeichenanlage geregelte Einmündungssituation stadteinwärts von ... auf die ... Straße erfordert, nicht zuletzt aufgrund der starken Frequentierung der ... Straße, die volle Aufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer. Zudem liegt die nächste große Kreuzung … Straße nicht weit entfernt vom streitgegenständlichen Standort, sodass sich die Verkehrsteilnehmer bereits auf Höhe des Vorhabenstandorts hinsichtlich der weiteren Fahrtrichtung entscheiden und entsprechend einordnen müssen.
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Es besteht nach Auffassung des Gerichts demnach eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass durch die Werbeanlage ein Verkehrsunfall verursacht wird. Unter Berücksichtigung all dessen fällt bei der gebotenen Gesamtwürdigung hier nicht maßgeblich ins Gewicht, dass Verkehrsteilnehmer grundsätzlich in innerörtlichen, gewerblich geprägten Lagen an das Vorhandensein von Werbeanlagen gewöhnt sind. Die vorliegend in Rechnung zu stellenden Umstände, insbesondere hinsichtlich der Komplexität und Gefahrenträchtigkeit der Verkehrssituation, reichen aus, um unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte eine Gefährdung i.S.d. Art. 14 Abs. 2 BayBO anzunehmen.
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2. Insofern kommt es vorliegend auf einen etwaigen Verstoß gegen die Abstandsflächen gemäß Art. 6 BayBO sowie auf eine Unzulässigkeit des Vorhabens aufgrund einer störenden Häufung von Werbeanlagen im dortigen Bereich gemäß Art. 8 Satz 3 BayBO nicht mehr an.
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Die Klage war daher insgesamt mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.