Titel:
Herausgehobene Stellung in der A.D.P.F begründet Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Iran
Normenketten:
AsylG § 3, § 4, § 28 Abs. 1a
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsatz:
Herausgehobener politische Tätigkeiten für die A.D.P.F. machen eine Rückkehr in den Iran nicht zumutbar. (Rn. 67) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Herkunftsland: Iran, Flüchtlingseigenschaft (bejaht), Demokratische Volksfront, Ahwaz (Ahwazi Democratic-Popular Front A.D.P.F.), Asylrelevante Verfolgung wegen Mitgliedschaft in der A.D.P.F. (verneint), Asylrelevante Verfolgung in Gesamtschau (bejaht), Iran, Flüchtlingseigenschaft, Ahwaz, A.D.P.F., Nachfluchtgrund, herausgehobene Stellung
Fundstelle:
BeckRS 2022, 42983
Tenor
1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 21. Dezember 2016, Az.: ..., wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.
3. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
4. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger betreibt ein Verfahren (Erstantrag) nach dem Asylgesetz (AsylG).
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Der am … 1989 geborene Kläger ist nach Aktenlage iranischer Staatsangehöriger mit arabischer Volkszugehörigkeit. Als Religion gibt er „Sunniten“ an. Als seine erste Sprache führt er Arabisch, als weitere Sprache Persisch an.
3
Nach eigenen Angaben verließ der Kläger Iran am … 2015, reiste auf dem Landweg am … 2015 über die Republik Österreich in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am … 2016 einen Asylantrag bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt).
4
Bei seiner Anhörung gemäß § 25 AsylG am 18. November 2016 vor dem Bundesamt in Zirndorf gab der Kläger im Wesentlichen an:
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Der Kläger sei kein Iraner, sondern „Ahwazer“. Ahwaz habe 1925 seine Unabhängigkeit verloren.
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Er habe zusammen mit zwei Freunden Flugblätter verteilt. Nachdem der Kläger mitbekommen habe, dass seine Freunde verhaftet worden seien, sei er in das Dorf seiner Schwester geflohen. Aus Sicherheitsgründen hätten der Kläger und seine Freunde vereinbart, sich jede Nacht um 22:00 Uhr in einer Parkanlage zu treffen. In jener Nacht seien die Freunde des Klägers nicht gekommen und der Kläger habe Angst bekommen und sei zu seiner Schwester geflohen.
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Am nächsten Tag habe der Kläger seinen Schwager zu seiner Familie geschickt. Der Schwager habe erfahren, dass bereits um 4:00 Uhr in der Früh Ettelaat nach dem Kläger gefragt hätte und das Elternhaus des Klägers, wo er noch gewohnt habe, durchsucht worden sei. Zudem hätten sie den Vater des Klägers und einen älteren Bruder mitgenommen. Am nächsten Tag sei ein Bruder zu dem Kläger gekommen und habe gesagt, dass der Kläger nicht im Iran bleiben könne. Der Bruder habe einen Schleuser organisiert und dieser habe den Kläger abgeholt.
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Auf Rückfrage durch das Bundesamt konkretisierte der Kläger seinen Vortrag im Wesentlichen wie folgt:
„Der Kläger sei politisch nicht aktiv gewesen, er habe nur diese Blätter verteilt. Einer politischen Partei habe er nicht angehört.“
9
Der Kläger sei momentan Mitglied in der Demokratischen Volksfront Ahwaz („Ahwazi Demo-cratic-Popular Front“; nachfolgend: A.D.P.F.). Hierzu legte er zwei englischsprachige Dokumente vor, die zu den Behördenakten genommen wurden. Der Kläger sei ein bis zwei Monate nach seiner Einreise in Deutschland dort Mitglied geworden. Zuvor habe der Kläger seine Identität nachweisen müssen, die von der Partei geprüft worden sei.
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In Ahwaz würden Parteien und Organisationen sehr heimlich agieren und der Kläger hätte niemanden kennengelernt.
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Der Kläger habe etwa ein Jahr vor seiner Ausreise begonnen, die Flugblätter zu verteilen, wohl ab September 2014. Den Verfasser kenne er nicht. Einer der Freunde habe die Flugblätter geholt. In den Flugblättern sei u.a. über die Geschichte von Ahwaz berichtet worden und dass sie für ihre Rechte eintreten und kämpfen müssten. Die Inhalte der Flugblätter hätten sich verändert. Zuletzt habe der Kläger im Oktober 2015 Flugblätter verteilt. Insgesamt habe er weniger als 15-mal Flugblätter verteilt.
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Der Kläger habe auch an Demonstrationen teilgenommen und patriotische Parolen ausgerufen.
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Zudem seien Gedichtsitzungen (Lesungen) in Häusern abgehalten worden. Dort sei zum Kampf für die Kultur ermutigt worden. Da dies keine geheimen Treffen gewesen seien, seien öfter Teilnehmer verhaftet worden.
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… sei ein Freund des Klägers gewesen und habe vorgeschlagen, die Flugblätter zu verteilen. Er habe diese auch beschafft. Seit dem im September 2014 gefassten Beschluss Flugblätter zu verteilen, hätten sie sich jeden Tag um 22:00 Uhr im Park getroffen, außer man habe sich entschuldigt. Zu unvorhergesehenen Verhinderungen sei es nicht gekommen. Zuletzt sei ein Treffen am 8. November 2015 gewesen, am 9. November 2015 seien die beiden Freunde nicht gekommen.
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Auf die Frage, weshalb der Kläger den Aufwand der täglichen Treffen auf sich genommen habe, erwiderte er, dass dies normal gewesen sei, da die Freunde nahe beieinander gewohnt hätten.
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Auf die weitere Frage, was der Kläger unternommen habe, um Organisationen kennen zu lernen, antwortete er, dass die Organisationen auf einen zukämen, da diese verdeckt arbeiten würden. Der Kläger habe seinen Freund … zu den Flugblättern befragt, jedoch habe dieser keine weiteren Informationen preisgegeben.
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Sie hätten jedes Mal 400 bis 500 Flugblätter verteilt. Sein Freund … habe die Flugblätter gebracht und ein weiterer Freund hätte diesen mit dem Auto abgeholt. Danach hätten sie den Kläger von einem zuvor vereinbarten Treffpunkt abgeholt und seien gemeinsam zu dem Standort gefahren, an dem sie die Flugblätter verteilt hätten. Es sei immer an anderen Stellen gewesen. Eine Verteilaktion habe ungefähr zwei Stunden gedauert. … sei im Auto geblieben und der Kläger und sein Freund seien in eine Straße gegangen und der eine habe links, der andere rechts verteilt. Als Sicherheitsvorkehrung hätten sie die Straße gewechselt, wenn Autos vorbeigefahren oder Personen in die Häuser ein- oder ausgegangen seien. Brenzlige Situationen habe es nicht gegeben. Für den Fall einer Festnahme sei vereinbart worden, dass man nicht in seine Wohnung gehe und aus seinem Telefon die SIM-Karte und Batterie entferne.
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Der Kläger gehe davon aus, dass er verraten worden sei und daher habe er das Land verlassen müssen.
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Das Dorf der Schwester sei 40 bis 45 km von Ahwaz entfernt. Der Kläger sei mit dem Taxi dorthin gefahren und habe sich zwei Tage bei seiner Schwester aufgehalten. Seine Eltern habe der Kläger nicht gewarnt, da man sonst vermutlich seinen Standort festgestellt hätte. Außerdem würden seine Eltern nicht zur Rechenschaft gezogen.
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In Deutschland mache der Kläger Videoaufzeichnungen. Seine Reden und Beiträge würden auf YouTube veröffentlicht. Der Kläger sei provisorischer Medienzuständiger für Deutschland bei der A.D.P.F. Bisher habe der Kläger deshalb keine Probleme bekommen.
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Das Bundesamt erkannte mit Bescheid vom 21. Dezember 2016 die Flüchtlingseigenschaft und der subsidiäre Schutzstatus in Ziffer 1 und 2 des Bescheides nicht zu. Es wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 3). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides zu verlassen. Die Abschiebung in den Iran oder in jeden anderen zur Aufnahme bereiten oder zur Aufnahme verpflichteten Staat wurde angedroht (Ziffer 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde in Ziffer 5 auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
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Mit Schreiben vom 27. Dezember 2016, am selben Tag per Fax bei Gericht eingegangen, ließ der Kläger durch seine anwaltliche Bevollmächtigte Klage erheben.
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Mit weiterem Schreiben vom 23. Januar 2017 wurde beantragt,
- 1.
-
Der Bescheid des Bundesamtes vom 21. Dezember 2016 wird aufgehoben.
- 2.
-
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, hilfsweise dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen und weiter hilfsweise festzustellen, dass bei dem Kläger Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen und weiter hilfsweise über das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.
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Dem Schreiben war eine Bescheinigung der A.D.P.F. vom 1. Januar 2017 beigefügt, gemäß der der Kläger „…“ der „Ahwazi Youth Union“ sei.
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Im weiteren Verfahren wurde mit mehreren Schreiben (u.a. vom 31.1.2017, 6.4.2017, 9.6.2017, 21.7.2020, 16.11.2020, 23.2.2021, 28.9.2021, 27.10.2021, 14.3.2022 und 22.3.2022) Unterlagen vorgelegt, die Aktivitäten des Klägers in sozialen Medien, die Teilnahme an Demonstrationen, u.a. vor der Botschaft des Iran, die Veröffentlichung von Artikeln und das Halten von Reden belegen sollen.
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Die A.D.P.F. bestätigte, dass der Kläger gewisse Funktionen in der Partei übernahm.
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Mit weiterem Schreiben vom 11. August 2020 führte die anwaltliche Bevollmächtigte aus, dass der Kläger in exponierter Weise exilpolitisch für die A.D.P.F. tätig sei. Zum Nachweis seien entsprechende Unterlagen über die politischen Aktivitäten des Klägers vorgelegt worden.
28
Der Kläger sei in der Partei für das Mobilisierungs- und Organisationskomitee verantwortlich. Er kümmere sich um neue Mitglieder und Bestandsmitglieder. Er sei als „Beamter des Mobilisierungs- und Organisationskomitees“ gewählt worden und damit Mitglied im Politbüro.
29
Der Kläger habe zudem Demonstrationen organisiert.
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Da der Kläger auf Demonstrationen auch Reden gehalten habe, hebe er sich von der Masse der Demonstranten ab. Zudem sei der Kläger als Mitglied des Politbüros in einer exponierten Stellung exilpolitisch aktiv, weshalb ihm die Flüchtlingseigenschaft anzuerkennen sei.
31
Ergänzend wurde mit Schreiben vom 25. November 2021 ausgeführt, welche Funktionen bzw. Ämter der Kläger bei der A.D.P.F. innehatte.
32
Mit Schreiben vom 5. Januar 2017 trat die Beklagte dem, unter Verweis auf den streitgegenständlichen Bescheid, entgegen und beantragte,
33
Mit Beschluss vom 4. Juni 2020 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter übertragen.
34
Mit weiterem Beschluss vom 12. Juni 2020 wurde ein Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe abgelehnt.
35
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift zur mündlichen Verhandlung sowie auf die Gerichts- und die beigezogenen elektronischen Behördenakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
36
Die Klage konnte trotz Ausbleiben der Beklagten verhandelt und entschieden werden, da die Beteiligten auf diese Möglichkeit in der ordnungsgemäßen Ladung hingewiesen worden sind, § 102 Abs. 2 VwGO.
37
Die Beklagte hat zudem auf die Einhaltung der Ladungsfrist sowie die Zustellung der Ladung mittels Empfangsbekenntnis mit Allgemeiner Prozesserklärung des Bundesamtes vom 27. Juni 2017 verzichtet.
38
Die zulässige Klage ist begründet.
39
Der Bescheid des Bundesamts vom 21. Dezember 2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 VwGO).
40
Der Kläger hat einen Rechtsanspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG bzw. auf Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG.
41
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, wenn er sich
1. aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe
2. außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
a) dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
b) in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
42
Mit der zum 1. Dezember 2013 in Kraft getretenen Neuregelung des § 3 Abs. 1 AsylG durch das Gesetz zur Umsetzung der RL 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 wurden die europarechtlichen Vorgaben für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als Teil der Gewährung internationalen Schutzes aus der RL 2011/95/EU (nachfolgend: RL), welche die RL 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie) abgelöst hat, im Asylverfahrensgesetz umgesetzt. Für die in der Neufassung inhaltlich geänderten Bestimmungen war den Mitgliedstaaten eine Umsetzungsfrist bis zum 21. Dezember 2013 eingeräumt worden (Art. 39 Abs. 1 RL).
43
Nach § 3a Abs. 1 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 1 RL) gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die
1. aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist oder
2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.
44
Als Verfolgung in diesem Sinne können nach § 3a Abs. 2 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 2 RL) unter anderem die folgenden Handlungen gelten:
- 1.
-
die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt,
- 2.
-
gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden,
- 3.
-
unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
- 4.
-
Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung,
- 5.
-
Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 fallen,
- 6.
-
Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.
45
Nach § 3a Abs. 3 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 3 RL) muss zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den in Absätzen 1 und 2 als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
46
Bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist gemäß § 3b AsylG Folgendes zu berücksichtigen:
1. der Begriff der Rasse umfasst insbesondere die Aspekte Hautfarbe, Herkunft und Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe;
2. der Begriff der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind;
3. der Begriff der Nationalität beschränkt sich nicht auf die Staatsangehörigkeit oder das Fehlen einer solchen, sondern bezeichnet insbesondere auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die durch ihre kulturelle, ethnische oder sprachliche Identität, gemeinsame geografische oder politische Herkunft oder ihre Verwandtschaft mit der Bevölkerung eines anderen Staates bestimmt wird;
4. eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn a) die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und b) die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird;
als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft;
5. unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist.
47
Durch § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG wird insbesondere klargestellt, dass auch jegliche an das Geschlecht anknüpfende Verfolgung eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe darstellt (sog. geschlechtsspezifische Verfolgung; vgl. Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, Rn. 13 f. zu § 3b AsylG).
48
Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind gemäß § 3c AsylG
- 1.
-
der Staat,
- 2.
-
Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder
- 3.
-
nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
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Nichtstaatlichen Akteure i.S. von § 3c Nr. 3 AsylG können auch private Personen sein (z.B. Familienmitglieder). Das Bundesverwaltungsgericht hat zu der inhaltsgleichen Bestimmung des § 60 Abs. 1 Satz 4c AufenthG a.F. entschieden, dass unter diese schon ihrem Wortlaut nach einschränkungslos alle nichtstaatlichen Akteure, insbesondere also auch Einzelpersonen, von denen Verfolgungshandlungen ausgehen, fallen (BVerwG, U.v. 18.7.2006 – 1 C 15/05 – juris).
50
Die Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) ist begründet, wenn dem Ausländer die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen.
51
Der in dem Tatbestandsmerkmal „… aus der begründeten Furcht vor Verfolgung …“ des Art. 2 Buchst. d) RL enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG übernommen worden ist, orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er stellt bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. nur EGMR, Große Kammer, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi – NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 18.4.1996 – 9 C 77.95 – juris; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33/07 – juris; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris; U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris).
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Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris).
53
Die Tatsache, dass ein Drittstaatsangehöriger bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betroffene erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL).
54
Diese Vorschrift greift sowohl bei der Entscheidung über die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz für einen Vorverfolgten (bzw. von Verfolgung unmittelbar Bedrohten) als auch bei der Prüfung der Gewährung subsidiären Schutzes zugunsten desjenigen, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. davon unmittelbar bedroht war. In beiden Varianten des internationalen Schutzes privilegiert sie den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare tatsächliche Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht sind.
55
Art. 4 Abs. 4 RL ist Ausdruck des auch der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zum Asylgrundrecht zugrunde liegenden Gedankens, die Zumutbarkeit der Rückkehr danach differenzierend zu beurteilen, ob der Antragsteller bereits verfolgt worden ist oder nicht (grundlegend BVerfG, B.v. 2.7.1980 – 1 BvR 147/80 – juris; dem folgend BVerwG, U.v. 31.3.1981 – 9 C 237/80 – juris). Die Nachweiserleichterung, die einen inneren Zusammenhang zwischen erlittener Vorverfolgung und befürchteter erneuter Verfolgung voraussetzt (BVerwG, U.v. 18.2.1997 – 9 C 9/96 – juris), beruht zum einen auf der tatsächlichen Erfahrung, dass sich Verfolgung nicht selten und Pogrome sogar typischerweise in gleicher oder ähnlicher Form wiederholen (BVerwG, U.v. 27.4.1982 – 9 C 308/81 – juris). Zum anderen widerspricht es dem humanitären Charakter des Asyls, demjenigen, der das Schicksal der Verfolgung bereits erlitten hat, wegen der meist schweren und bleibenden – auch seelischen – Folgen das Risiko einer Wiederholung aufzubürden (BVerwG, U.v. 18.2.1997 – 9 C 9/96 – juris). Diese zum Asylgrundrecht entwickelte Rechtsprechung (zusammenfassend BVerwG, U.v. 25.9.1984 – 9 C 17/84 – juris; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris) wurde auf den Flüchtlingsschutz (Abschiebungsschutz aus politischen Gründen) gemäß § 51 Abs. 1 AuslG 1990 (BVerwG, U.v. 3.11.1992 – 9 C 21/92 – juris), nicht jedoch auf die Abschiebungsverbote des § 53 AuslG 1990 übertragen (BVerwG, U.v. 17.10.1995 – 9 C 9/95 – juris; U.v. 4.6.1996 – 9 C 134/95 – juris).
56
Art. 4 Abs. 4 RL privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten jedoch auf andere Weise: Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (vgl. EuGH, U.v. 2.3.2010 – C-175/08, C-176/08, C-178/08 und C-179/08 – juris). Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Es gelten nicht die strengen Maßstäbe, die bei fehlender Vorverfolgung anzulegen sind (EGMR, Große Kammer, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi – NVwZ 2008, 1330). Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung. Die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL kann im Einzelfall selbst dann widerlegt sein, wenn nach herkömmlicher Betrachtung keine hinreichende Sicherheit im Sinne des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes bestünde. Dieser Maßstab hat bei der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung und des subsidiären Schutzes keine Bedeutung mehr (zum Ganzen: BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris).
57
Für das Eingreifen der Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie ist nicht nur im Rahmen des Flüchtlingsschutzes, sondern auch im Rahmen des subsidiären Schutzes erforderlich, dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem früher erlittenen oder unmittelbar drohenden Schaden und dem befürchteten künftigen Schaden besteht. Denn die der Vorschrift zu Grunde liegende Vermutung, erneut von einer solchen Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht zu sein, beruht wesentlich auch auf der Vorstellung, dass eine Verfolgungs- oder Schadenswiederholung – bei gleichbleibender Ausgangssituation – aus tatsächlichen Gründen naheliegt (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 4/09 – juris).
58
Bei Prüfung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind alle Akte zu berücksichtigen, denen der Kläger ausgesetzt war oder ausgesetzt zu werden droht, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne § 3a Abs. 1 AsylG (Art. 9 Abs. 1 RL) gelten können (vgl. EuGH, U.v. 5.9.2012 – C-71/11 und C-99/11 – juris Rn. 68). Liegt keine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 AsylG vor, ist weiter zu prüfen, ob sich eine solche aus einer Gesamtbetrachtung nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 1 Buchst. b RL) ergibt.
59
§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG erfasst Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG kann auch eine Kumulation unterschiedlicher Maßnahmen die Qualität einer Verletzungshandlung haben, wenn der Ausländer davon in ähnlicher Weise betroffen ist wie im Falle einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung nach Nr. 1. Die Maßnahmen im Sinne von Nr. 2 können Menschenrechtsverletzungen, aber auch Diskriminierungen sein, die für sich allein nicht die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen.
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In Nr. 1 beruht die Schwere der Eingriffshandlungen auf ihrer Art oder Wiederholung („nature or repetition“). Während die „Art“ der Handlung ein qualitatives Kriterium beschreibt, enthält der Begriff der „Wiederholung“ eine quantitative Dimension (so auch Hailbronner/Alt in Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 2010, S. 1072 Rn. 30).
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Setzt die Erfüllung des Tatbestandes von Nr. 1 mithin eine bestimmte gravierende Eingriffshandlung oder die Wiederholung gleichartiger Handlungen voraus, ermöglicht die Tatbestandsalternative der Nr. 2 in einer erweiterten Perspektive die Berücksichtigung einer Kumulation unterschiedlicher Eingriffshandlungen, wie sie beispielhaft in § 3a Abs. 2 AsylG (Art. 9 Abs. 2 RL) aufgeführt sind. Die Kumulationsbetrachtung entspricht auch dem Verständnis des UNHCR vom Verfolgungsbegriff in Art. 1 A Genfer Flüchtlingskonvention (vgl. Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft, 1979, Rn. 53). In die nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG (Art. 9 Abs. 1 Buchst. b RL) erforderliche Gesamtbetrachtung können insbesondere verschiedenartige Diskriminierungen gegenüber den Angehörigen einer bestimmten Glaubensgemeinschaft einbezogen werden, z.B. beim Zugang zu Bildungs- oder Gesundheitseinrichtungen, aber auch existenzielle berufliche oder wirtschaftliche Einschränkungen (vgl. UNHCR Richtlinie vom 28. April 2004 zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund religiöser Verfolgung, HCR/GIP/04/06 Rn. 17). Die einzelnen Eingriffshandlungen müssen nicht für sich allein die Qualität einer Menschenrechtsverletzung aufweisen, in ihrer Gesamtheit aber eine Betroffenheit des Einzelnen bewirken, die der Eingriffsintensität einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung im Sinne von Buchstabe a entspricht.
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Mit Rücksicht darauf, dass sich der Schutzsuchende vielfach hinsichtlich asylbegründender Vorgänge außerhalb des Gastlandes in einem gewissen sachtypischen Beweisnotstand befindet, genügt bezüglich dieser Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, die aber den Anforderungen des § 108 Abs. 1 VwGO entsprechen muss, wohingegen für Vorgänge innerhalb des Gastlandes grundsätzlich der volle Nachweis auf Grund von Tatsachen zu fordern ist (vgl. BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109.84 – juris).
63
Bei der Feststellung der für eine Verfolgung im Herkunftsland im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG sprechenden Umstände kommt dem Vorbringen des Schutzsuchenden deshalb besondere Bedeutung zu. Er ist auf Grund der ihm obliegenden Mitwirkungspflichten gehalten, die in seine Sphäre fallenden tatsächlichen Umstände substantiiert und in sich stimmig zu schildern. Das Gericht muss sich die feste Überzeugung vom Wahrheitsgehalt des klägerischen Vorbringens verschaffen können (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109/84 – juris; U.v. 12.11.1985 – 9 C 27/85 – juris). Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann dem Schutzsuchenden nur geglaubt werden, wenn diese Unstimmigkeiten überzeugend aufgelöst werden (BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109/84 – juris Rn. 18; U.v. 23.2.1988 – 9 C 32/87 – juris Rn. 9).
64
Hiervon ausgehend kann der Kläger die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG beanspruchen.
65
Der Kläger konnte zwar nicht glaubhaft machen, im Iran Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a AsylG ausgesetzt gewesen zu sein, womit ihm auch nicht die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 RL zu Gute kommt. Seine diesbezüglichen Angaben erscheinen dem Gericht nicht als glaubhaft, worauf auch das Bundesamt in seinem Bescheid zutreffend hingewiesen hat, weshalb auf die dortigen Ausführungen verwiesen werden kann, § 77 Abs. 2 AsylG. Ergänzend dazu ist für das Gericht auch nicht nachvollziehbar, weshalb der Kläger das Risiko eingegangen sein möchte, für eine ihm unbekannte Organisation wegen dem Verteilen von Flugblättern verhaftet zu werden und weshalb er sich täglich mit seinen Freunden getroffen haben möchte, obwohl nicht täglich Verteilaktionen von Flugblättern stattfanden.
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Er kann sich jedoch auf einen Nachfluchtgrund im Sinne des § 28 Abs. 1a AsylG berufen.
67
Dem Kläger ist aufgrund seiner politischen Tätigkeiten für die A.D.P.F. eine Rückkehr in sein Heimatland nicht zuzumuten. Ihm drohenden dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (real risk) Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 3a AsylG.
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Hinsichtlich der Verfolgung aufgrund von exilpolitischen Aktivitäten kann aufgrund der vorliegenden Erkenntnis- und Auskunftslage davon ausgegangen werden, dass die exilpolitischen Organisationen im Ausland sowie deren Aktivitäten durch die iranischen Sicherheitsdienste genauestens überwacht werden. Dies ist allgemein bekannt und unstreitig. Entscheidend für die Frage, ob eine Verfolgungsgefahr vorliegt oder nicht, ist nach übereinstimmenden Auskünften, ob die Aktivitäten dem Geheimdienst bekannt geworden sind, etwa weil der Asylbewerber über die massentypischen und niedrig profilierten Erscheinungsformen exilpolitischer Proteste hinaus Funktionen wahrgenommen und/oder Aktivitäten entwickelt hat, welche ihn aus der Masse der mit dem Regime in Teheran Unzufriedenen heraushebt und als ernsthaften und gefährlichen Regimegegner erscheinen lässt. Die Indizien hierfür sind Tätigkeiten in herausgehobener Position, öffentliche Aktivitäten, namentliche Kennzeichnung von Publikationen, das Auftreten als Organisator von Demonstrationen, Kundgebungen und Veranstaltungen, Dauer, Kontinuität und Intensität der Aktivitäten (VG Würzburg, U.v. 31.1.2022 – W 8 K 21.31264 – juris Rn. 48 ff. m.w.N.)
69
Nach der aktuellen Auskunftslage wird die A.D.P.F. vom iranischen Staat als terroristisch eingestuft. Dem Auswärtigen Amt liegen aber weder Informationen darüber vor, ob schon eine einfache Mitgliedschaft zu staatlichen Repressionen führen kann, noch ob es zu Verhaftungen von Mitgliedern kam (Auswärtiges Amt, Auskunft an das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach vom 2.3.2020, Gz.: 508-516.80/52172).
70
Da der Kläger keine Angaben zu Mitgliederzahlen der A.D.P.F. machte, kann diesbezüglich kein Rückschluss auf deren Bedeutung gezogen werden. Nach den in dem Internet zugänglichen Informationen, scheint die Bedeutung der A.D.P.F. jedoch nicht besonders groß zu sein. Dies wird aus Sicht des Gerichts auch durch die Tätigkeiten in den Sozialen Medien belegt. Nach der Homepage der Partei (mit Stand 24.3.2022) existierten 419 Fans auf Facebook, 3.001 Anhänger auf Twitter und 975 Abonnenten auf YouTube. Dies spricht aus Sicht des Gerichts eher für eine geringe Bedeutung der Partei, zumal der Kläger angab, dass sich 99% deren Tätigkeiten online abspielen würden (S. 6 VG-Niederschrift).
71
Die geringe Bedeutung der A.D.P.F. wird aus Sicht des Gerichts auch dadurch belegt, dass bei bundesweit organisierten Demonstrationen, an denen sich sogar auch andere Parteien beteiligt hätten, lediglich 20 bis 40 Personen teilgenommen hätten (S. 7 und 10 VG-Niederschrift).
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Vor diesem Hintergrund geht das Gericht nicht davon aus, dass schon die einfache Mitgliedschaft in der Partei geeignet ist, die Gefahr einer staatlichen Verfolgung zu begründen. Es müssen vielmehr weitere und gewichtige Umstände hinzutreten, um die Flüchtlingseigenschaft begründen zu können.
73
Anders als bei anderen kleinen Oppositionsparteien, hinsichtlich derer auch bei einer herausgehobenen Stellung keine asylrelevante Verfolgung droht, wie beispielsweise bei den Monarchisten (zu dem „Iranische Monarchistische Patrioten e.V.“: VG Düsseldorf, U.v. 6.4.2010 – 22 K 8514/08.A; VG Ansbach, U.v. 18.2.2019 – AN 1 K 17.31758; VG Ansbach, U.v. 3.8.2020 - AN 1 K 17.35196; VG Ansbach, U.v. 21.2.2022 – AN 1 K 17.36007; die „Monarchisten“ werden von dem iranischen Staat nicht mehr als ernstzunehmende Opposition angesehen und haben keinen Rückhalt im Volk), geht das Gericht aber aufgrund des Umstandes, dass die Partei von den iranischen Behörden als terroristisch eingestuft wird, davon aus, dass bei einer exponierten Tätigkeit für die Partei durchaus die Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung bestehen kann, wobei die konkreten Umstände des Einzelfalles zu würdigen sind.
74
Alleine die von dem Kläger nachgewiesene Mitgliedschaft in der A.D.P.F. ist daher für eine asylrelevante Verfolgung noch nicht ausreichend.
75
Allerdings begründen die von dem Kläger wahrgenommenen Funktionen in der A.D.P.F. eine herausgehobene Stellung des Klägers. Er hat nachvollziehbar darlegen können, wie er Kontakt zu der Partei aufgenommen hat und sich anschließend seine Aufnahme in die A.D.P.F. gestaltete (S. 3 VG-Niederschrift). Zudem stellte er seinen politischen Werdegang sowie die Ziele der Partei dar und hat überzeugend darlegen können, dass er sich in unterschiedlichen Funktionen innerhalb der Partei bewähren konnte und so zuletzt in die Führungsebene der Partei aufstieg und derzeit Leiter des Mobilisations- und Organisationskomitees ist (S. 4 f. VG-Niederschrift). Zudem arbeitet er auch für den Generalsekretär und organisiert u.a. Termine für diesen (S. 5 VG-Niederschrift). Da der Kläger über mehrere Jahre in der Parteihierarchie aufstieg, spricht dies gegen ein Engagement aus rein asyltaktischen Gründen. Der Kläger hebt sich durch sein mehrjähriges politisches Engagement von den übrigen Parteimitgliedern ab und investiert auch einen nicht unerheblichen Teil seiner Freizeit in diese Arbeit (S. 8 VG-Niederschrift).
76
Da es sich bei der A.D.P.F. um eine kleine Partei handelt, sind auch Online-Aktivitäten für diese nicht generell geeignet, eine asylrelevante Verfolgungsgefahr zu begründen, selbst wenn die betreffende Person ihre Personalien offenlegen sollte.
77
Im konkreten Fall des Klägers ist aber zu berücksichtigen, dass er für die Partei über die Sozialen Medien veröffentlichte Interwies führte und somit für die iranischen Sicherheitsbehörden identifizierbar ist, da unterstellt werden muss, dass die Onlinetätigkeiten der A.D.P.F. überwacht werden und zumindest in den Sozialen Medien häufiger auftretende Personen, wie der Kläger, der auch seine Personalien angab, durchaus das Interesse der iranischen Sicherheitsbehörden wecken können, v.a. wenn diese nicht nur einfaches Mitglied der Partei sind. Der Kläger hat somit der Partei „ein Gesicht gegeben“ und konnte daher als Parteimitglied identifiziert werden. Erschwerend kommt im Falles des Klägers hinzu, dass er auch drei Interviews für Satelliten-TV-Sender gegeben hat und auch dies aus Sicht des Gerichts dazu beitragen kann, dass die iranischen Sicherheitsbehörden auf den Kläger aufmerksam wurden.
78
Auch wenn die isolierte Betrachtung der Teilnahme an Demonstrationen wohl noch keine asylrelevante Verfolgung zu begründen vermag, so ist doch in dem konkreten Fall des Klägers weiter zu berücksichtigen, dass er an mehreren Demonstrationen teilgenommen hat. Nach seinem Vorbringen, an dem für das Gericht keine Zweifel bestehen, hat der Kläger diese mitorganisiert und deren geordneten Ablauf sichergestellt. Zudem trat er dort auch als Redner auf, wobei der Kläger einräumte, dass nicht er, sondern andere vor Ort lebende Parteimitglieder jeweils die Versammlungen angemeldet haben. Nachdem die Versammlungen auch vor Einrichtungen des iranischen Staates, u.a. der iranischen Botschaft (S. 3 und 7 VG-Niederschrift) stattfanden, muss davon ausgegangen werden, dass die Demonstrationen von den iranischen Behörden wahrgenommen wurden und hierbei zumindest auch die Personen, die durch das Abhalten von Reden besonders hervortraten, ein besonderes Interesse der Sicherheitsbehörden erweckten. Es kann deshalb auch unterstellt werden, dass zu diesen Personen Nachforschungen angestellt werden. Da aufgrund der Auftritte in den Sozialen Medien der Kläger mit seinen Personalien identifizierbar ist, steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass man den Kläger durchaus als eine Persönlichkeit aus dem erweiterten Führungskreis der A.D.P.F. ansehen kann und die iranischen Sicherheitsbehörden den Kläger auch als solchen einschätzen.
79
Hinzukommt, dass der Kläger glaubhaft in der mündlichen Verhandlung darstellen konnte, dass seine Familie im Iran aufgrund seiner politischen Tätigkeiten in Deutschland Kontakt zu den iranischen Sicherheitsbehörden gehabt habe (S. 8 VG-Niederschrift), was auch durch ein Schreiben der A.D.P.F. vom 27. September 2021 thematisiert wurde. Auch wenn die Familienangehörigen selbst nicht in einer asylrelevanten Weise behandelt worden sind, so kann diesem Umstand durchaus entnommen werde, dass der iranische Staat zumindest ein Verfolgungsinteresse an dem Kläger entwickelt hat.
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Somit kann zwar nicht eine isolierte Betrachtung der politischen Aktivitäten des Klägers, aber doch eine Gesamtschau seiner Tätigkeiten, zu denen der Kläger eine Vielzahl an Nachweisen vorgelegt hat, aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalles die Gefahr einer staatlichen Verfolgung begründen.
81
Ausgehend von der geschilderten Sachlage drohen dem Kläger bei einer Rückkehr in den Iran – alleine aufgrund einer Gesamtschau der konkreten Umstände des Einzelfalles – mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des § 3a AsylG.
82
Der Kläger hat somit einen Anspruch auf Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG vorliegen. Auf den hilfsweise gestellten Antrag, ihm subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 AsylG zu gewähren bzw. das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festzustellen, kam es daher nicht mehr an (vgl. auch § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG; BVerwG, U.v. 26.6.2002 – 1 C 17/01 – juris).
83
Die im angefochtenen Bescheid verfügte Abschiebungsandrohung und Ausreisefristbestimmung ist ebenfalls rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn das Bundesamt erlässt nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. §§ 59 und 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung nur, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird. Umgekehrt darf im Fall der Flüchtlingszuerkennung eine Abschiebungsandrohung nicht ergehen. Letzteres ist im gerichtlichen Verfahren – wenn auch noch nicht rechtskräftig – festgestellt.
84
Da für den Kläger kein gesetzliches Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG besteht, ist auch die Ziffer 5 des angefochtenen Bescheides gegenstandslos und damit aufzuheben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 1 VwGO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
86
Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 b AsylVfG).