Inhalt

LG München I, Beschluss v. 04.11.2022 – 14 HK O 10300/15
Titel:

Besorgnis der Befangenheit bei unvollständigem Urteil

Normenkette:
ZPO § 43, § 44
Leitsatz:
Die fehlende Erwähnung und Begründung von Klageanträgen im Urteil ist nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit des Richters zu begründen, da die Befangenheitsablehnung kein Instrument zur Fehler- und Verfahrenskontrolle darstellt. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Besorgnis der Befangenheit, Unparteilichkeit, Urteil, Unvollständigkeit, Klageanträge, Begründung
Rechtsmittelinstanzen:
OLG München, Beschluss vom 01.02.2023 – 7 W 16/23
OLG München, Beschluss vom 06.03.2023 – 7 W 16/23 e
Fundstelle:
BeckRS 2022, 42765

Tenor

Der Befangenheitsantrag gegen den Vorsitzenden Richter am Landgericht … wird als unbegründet zurückgewiesen.

Gründe

I.
1
Am 30.08.2022 erging in der Sache ein Teilurteil (Bl. 835 ff d.Akten) durch Vorsitzenden Richter am Landgericht …, mit welchem die Beklagte zur Abrechnung über Abschlussprovisionen aus dem vom Kläger vermittelten Lebensversicherungsgeschäft für den Zeitraum 01.01.2011 bis 30.04.2015, zur Abrechnung über alle durch den Kläger aus dem Handelsvertretervertrag verdienten Provisionen für den Zeitraum 01.04.2015 bis 03.04.2015 sowie zur Abrechnung über die sogenannte Günstigerprüfung für das Kalenderjahr 2014 verurteilt wurde. Das Urteil wurde den Parteivertretern am 31.08.2022 zugestellt.
2
Vorausgegangen war dem Urteil die letzte Verhandlung vom 28.03.2022 (Bl. 770 ff), in welcher der abgelehnte Vorsitzende Beweis gemäß Beweisbeschluss vom 30.12.2021 (Bl. 761 ff) über den Umfang der Abreden zwischen den Parteien über Abrechnungsmodalitäten durch Vernehmung der Zeugen … und … erhoben hatte. In dieser Verhandlung hatte der Klägervertreter den Antrag aus dem Schriftsatz vom 20.10.2021 gestellt sowie die Abweisung der Widerklageanträge beantragt. Der Beklagtenvertreter hatte Klageabweisung beantragt und die Anträge aus der Widerklage vom 27.10.2015 mit den Änderungen aus den Schriftsätzen vom 07.03.2016 und vom 25.05.2020 gestellt. Zudem hatte der Beklagtenvertreter in dieser Verhandlung während der Einvernahme des Zeugen J… den Vorsitzenden Richter am Landgericht … wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Dieser Befangenheitsantrag war mit Beschluss vom 13.05.2022 (Bl. 823 ff d.Akten) als unbegründet zurückgewiesen worden.
3
Mit Schriftsatz vom 05.09.2022 (Bl. 845 ff d.Akten) lehnte die Beklagte den Vorsitzenden Richter am Landgericht … erneut wegen Besorgnis der Befangenheit ab.
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Zur Begründung bezieht sich der Beklagtenvertreter auf den ursprünglichen Befangenheitsantrag vom 11.04.2022 (Bl. 788 ff d.Akten) und sieht die Hinweise auf eine Befangenheit des Vorsitzenden Richters durch das Urteil vom 30.08.2022 als erhärtet an. Darüber hinaus rügt er, dass ohne mündliche Verhandlung über Klageanträge zum Nachteil der Beklagten entschieden worden sei. Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 28.03.2022 sei nur der Klageantrag über die Abrechnung der Dynamikprovisionen gewesen. Das Urteil enthalte auch keine Begründung zu den unter Ziffer 2. und 3. tenorierten Anträgen des Klägers. Im unstreitigen Tatbestand des Urteils sei dagegen zum Nachteil der Beklagten ausgeführt, dass das Vertragsverhältnis spätestens zum 18.03.2015 beendet worden sei, obwohl dieser Aspekt einen Kernpunkt der streitigen Auseinandersetzung darstelle. Fehlerhaft sei in dem Urteil zudem ausgeführt, dass das „Team der Beklagten“ nach Zeugenauskunft 32 Mitarbeiter umfasse, ohne dass ersichtlich sei, woher diese Kenntnis stamme. Dagegen sei unstreitiger Sachverhalt zum Nachteil der Beklagten als streitig betrachtet worden, wie die Absprache zwischen den Parteien über eine Nichtabrechnung der Dynamikprovisionen und eine pauschale Abgeltung. Vielmehr werde der Beklagten unterstellt, sie habe den Vermittlern die Dynamikprovisionen verschwiegen und es werde ihr durch den Hinweis auf § 35 Gewerbeordnung eine mögliche gewerberechtliche Unzuverlässigkeit unterstellt.
5
Das Urteil enthalte darüber hinaus unsachliche und unwahre Behauptungen zum Nachteil der Beklagten. Der Vortrag der Beklagten zur Verjährung der geltend gemachten Ansprüche sei dagegen in dem Urteil nicht berücksichtigt worden.
6
Der abgelehnte Vorsitzende gab am 28.09.2022 eine dienstliche Stellungnahme zu dem Antrag auf Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit ab, zu welchem beide Parteivertreter Gelegenheit zur Stellungnahme erhielten.
7
Der Beklagtenvertreter nahm hierzu mit Schriftsatz vom 25.10.2022 (Bl. 869 ff d.Akten) Stellung und moniert, dass zu der Mehrzahl der für die Ablehnung vorgetragenen Gründe keine Stellung durch den Vorsitzenden genommen worden sei.
8
Der Klägervertreter nahm mit Schriftsatz vom 27.10.2022 (Bl. 875 ff d.Akten) Stellung.
II.
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1) Der Ablehnungsantrag ist zulässig, er wurde form- und fristgerecht gemäß §§ 43, 44 ZPO eingereicht.
10
2) Der erneute Ablehnungsantrag erweist sich jedoch ebenfalls als unbegründet.
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Auch mit dem weiteren Ablehnungsantrag wurden keine Tatsachen glaubhaft gemacht, welche die Unparteilichkeit des Richters objektiv in Frage stellen.
a) Hinweise auf Befangenheit aus Schriftsatz vom 11.04.2022
12
Soweit die Beklagte mit ihrem erneuten Befangenheitsantrag auf ihre erste Ablehnung mit näherer Begründung vom 11.04.2022 Bezug nimmt, wurde über diesen Antrag bereits abschließend mit Beschluss vom 13.05.2022 entschieden. Rechtsmittel wurden hiergegen nicht eingelegt.
b) Entscheidung über Klageanträge ohne mündliche Verhandlung und ohne Entscheidungsgründe
13
Nicht gefolgt werden kann der Behauptung der Beklagten, Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 28.03.2022 sowie der Klageanträge sei allein die Abrechnung über Dynamikprovisionen gewesen.
14
Aus dem Protokoll vom 25.10.2021 ergibt sich zwar, dass in dieser Verhandlung der Antrag I. der Klägerseite eingehender besprochen worden war und diesbezüglich eine Beweisaufnahme für erforderlich gehalten wurde. Der Hinweis vom 27.10.2021 bezog sich dann ebenfalls auf die Frage der Erforderlichkeit einer Beweisaufnahme. Mit Beweisbeschluss vom 30.12.2021 wurde sodann sowohl Termin zur Beweisaufnahme als auch zur Fortsetzung der mündlichen Verhandlung auf den 28.03.2022 bestimmt. Am Ende der Verhandlung vom 28.03.2022 wurden sodann ebenso wie in der Verhandlung vom 25.10.2021 sämtliche Anträge der Parteien gestellt und im Protokoll aufgenommen. Eine Beschränkung der mündlichen Verhandlung findet sich weder bei der Terminierung noch im Protokoll des Verhandlungstermins und wird auch nicht durch die zitierte Formulierung auf Seite 2 des Urteils bestätigt.
15
Soweit die Beklagte zutreffend rügt, die Klageanträge II. und III. seien in den Entscheidungsgründen des Urteils nicht erwähnt und begründet worden, ist festzuhalten, dass es sich bei der Befangenheitsablehnung nicht um ein Instrument zur Fehler- und Verfahrenskontrolle handelt (vgl. Zöller, 33. Auflage, § 42 ZPO, Rdnr. 28). Ob es sich hierbei im vorliegenden Fall tatsächlich um einen nach § 538 II Nr. 1 ZPO relevanten Verfahrensfehler handelt, ist daher im Rahmen der bereits eingelegten Berufung zu prüfen.
c) Obiter dictum über Gegenansprüche der Beklagten in einem Nebensatz
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Ein Obiter dictum über Gegenansprüche der Beklagten lässt sich dem Teilurteil nicht entnehmen. Das Urteil enthält weder im Tatbestand noch in den Entscheidungsgründen Ausführungen zu den von der Beklagten geltend gemachten Gegenansprüchen. Die Formulierung „Spätestens zum 18.03.2015 ist dieser Vertrag durch fristlose Kündigung des Klägers beendet worden.“ ist Gegenstand eines Tatbestandsberichtigungsantrages.
d) Zugrundelegung eigenen Wissens durch abgelehnten Richter
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Bei der Behauptung, das Team der Beklagten umfasse 32 Mitarbeiter und die Ermittlung der Dynamikprovisionen wäre mit einer kleinen Kaskade von Taschenrechnern möglich gewesen, stellt kein eigenes Wissen des abgelehnten Richters dar, sondern wurde ausdrücklich als Zeugenauskunft deklariert und findet sich im Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 28.03.2022 in der Aussage des Zeugen … (dort Seite 3: „Heute haben wir 32 Mitarbeiter“ sowie Seite 4: „Zeuge bestätigt, dass eine Dynamikprovision als Vermittlungsleistung für den einzelnen Berater mit dem Taschenrechner errechenbar wäre.“).
e) Weiterer Sachvortrag des VorsRiLG … zum Vorteil des Klägers und zum Nachteil der Beklagten
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Dieser Vorwurf war bereits Gegenstand des ersten Ablehnungsantrages, über welchen mit Beschluss vom 13.05.2022 entschieden worden war.
f) Unterstellungen zum Nachteil der Beklagten (strafrechtlich und gewerberechtlich)
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Die Aussage, die Beklagte hätte den für sie tätigen Vermittlern Dynamikprovisionen verschwiegen, stellt die Wiedergabe der Aussage des Zeugen … dar und findet sich auf Seite 13 des Protokolls vom 28.03.2022: „Dynamikprovisionen gab es für mich nicht. Ich wusste damals gar nicht, dass es so etwas gibt.“
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Der Hinweis auf § 35 GewO in den Gründen des Urteils bezieht sich nicht auf die Frage, ob Absprachen über die Nichtabrechnung bzw. Nichtauszahlung von Dynamikprovisionen zulässig sind, sondern auf den eigenen Einwand der Beklagten, dass deren Berechnung aufgrund ihrer Software nicht möglich sei. Dieser Einwand wurde durch den abgelehnten Richter als nicht durchgreifend erachtet.
g) Unsachliche Anmerkungen und unwahre Behauptungen
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Mit der zitierten Formulierung auf Seite 5 des Urteils begründet der Vorsitzende Richter lediglich seine eigene Einschätzung zur Abrechnungsmöglichkeit der Dynamikprovisionen, zum einen durch die Bezugnahme auf die Aussage des Zeugen … und zum anderen aus dem Rückschluss aus dem Namen der Beklagten.
22
Die Ausführungen zu der Erstellung des Buchauszuges sind nicht unwahr. Der Vortrag der Beklagten zur Unmöglichkeit der Erstellung eines vollständigen Buchauszuges findet sich unter anderem in deren Klageerwiderung vom 05.08.2015 (Bl. 21 ff d.Akten), dort Seite 11 und 12.
h) Bewusste Nichtberücksichtigung weiteren Sachvortrags der Beklagten
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Der abgelehnte Vorsitzende hat sich auf Seite 6 seines Teilurteils vom 30.08.2022 ausdrücklich mit der von der Beklagten erhobenen Einrede der Verjährung auseinandergesetzt. Ob er hierbei zu einem zutreffenden Ergebnis gelangt ist, wird Gegenstand des bereits anhängigen Berufungsverfahrens sein.