Titel:
Italien, Unanfechtbarkeit, Mitgliedstaat, Fahrzeug, Frist, Verweisungsantrag, Bindungswirkung, Verfahren, Verweisung, Schriftsatz, Klage, Verweisungsbeschluss, Stellungnahme, Stilllegung, Verweisung des Rechtsstreits, Gelegenheit zur Stellungnahme
Schlagworte:
Italien, Unanfechtbarkeit, Mitgliedstaat, Fahrzeug, Frist, Verweisungsantrag, Bindungswirkung, Verfahren, Verweisung, Schriftsatz, Klage, Verweisungsbeschluss, Stellungnahme, Stilllegung, Verweisung des Rechtsstreits, Gelegenheit zur Stellungnahme
Rechtsmittelinstanz:
BayObLG, Berichtigungsbeschluss vom 21.02.2023 – 101 AR 141/22
Fundstelle:
BeckRS 2022, 42681
Tenor
(Örtlich) zuständig ist das Landgericht Würzburg.
Gründe
1
Mit seiner zum Landgericht Ingolstadt erhobenen Klage begehrt der in dessen Bezirk wohnhafte Kläger von der in Italien ansässigen Beklagten Ersatz des Schadens, der ihm wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung aus dem Kauf eines gebrauchten Wohnmobils des Modells … entstanden sei. Er behauptet, in dem streitgegenständlichen Basisfahrzeug, dessen Herstellerin die Beklagte sei, seien mehrere unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut, insbesondere ein sogenanntes „Zeitfenster“. Das streitgegenständliche Fahrzeug sei deshalb von einer Stilllegung oder anderweitigen staatlichen Maßnahmen bedroht.
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Mit Verfügung vom 21. Juni 2022 ordnete das Landgericht Ingolstadt die Durchführung eines schriftlichen Vorverfahrens an und wies unter Berufung auf die Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 9. Februar 2022, 101 AR 173/21, auf Bedenken gegen seine örtliche Zuständigkeit hin. Der Kläger wohne zwar im Bezirk des angerufenen Gerichts, habe das Fahrzeug aber im Bezirk des Landgerichts Würzburg erworben, dort liege „im unionsrechtlichen Kontext“ der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs gemäß Art. 7 Nr. 2 Brüssel-Ia-VO.
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Der Kläger erhielt Gelegenheit, sich bis zum 12. Juli 2022 zu äußern, insbesondere dazu, ob ein Verweisungsantrag gestellt werde. Die Beklagte erhielt Gelegenheit, sich binnen gleicher Frist dazu zu äußern, ob bei einem Verweisungsantrag der Klägerseite Einverständnis mit einer Verweisung des Rechtsstreits bestehe.
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Der Kläger beantragte darauf mit Schriftsatz vom 11. Juli 2022, den Rechtsstreit an das Landgericht Würzburg zu verweisen. Er habe den Kaufpreis am Sitz des Verkäufers in bar bezahlt. Ort der Bezahlung und Eintritt des Vermögensschadens lägen somit „ebenfalls“ am Sitz des Verkäufers. Das Landgericht Würzburg sei demnach „gemäß § 32 ZPO“ örtlich zuständig. Dieser Schriftsatz wurde an die Beklagte erst zusammen mit dem Verweisungsbeschluss am 22. August 2022 herausgegeben.
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Nachdem die Beklagte mit Schriftsatz vom 30. Juni 2022 ihre Verteidigungsbereitschaft angezeigt hatte, beantragte sie mit Schriftsatz vom 16. August 2022, die Klage als unbegründet abzuweisen. Zur Frage der örtlichen Zuständigkeit des angerufenen Gerichts äußerte sie sich in der Klageerwiderung nicht.
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Mit Beschluss vom 19. August 2022 hat sich das Landgericht Ingolstadt für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Landgericht Würzburg verwiesen. Die Entscheidung beruhe auf § 281 Abs. 1 ZPO. Das angegangene Gericht sei örtlich unzuständig. Auf Antrag des Klägers sei der Rechtsstreit an das örtlich zuständige Gericht zu verweisen. Zwar befinde sich der Wohnort des Klägers im Bereich des Landgerichts Ingolstadt, der Sitz der Beklagten liege aber in Turin / Italien. Der Wohnort des Käufers stelle nach der Rechtsprechung des Bayerischen Obersten Landesgerichts keinen Erfolgsort im Sinne von Art. 7 Nr. 2 Brüssel-Ia-VO dar. Vielmehr handele es sich bei dem „Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs“ um den Ort, an dem der Käufer des Fahrzeugs dieses erworben habe. Dieser Ort liege vorliegend im Bezirk des Landgerichts Würzburg.
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Das Landgericht Würzburg hat das Verfahren mit Verfügung vom 12. September 2022 nicht übernommen und an das Landgericht Ingolstadt zurückgeleitet. Dieses habe in grob willkürlicher Weise verkannt, dass es infolge rügelosen Einlassens nach Art. 26 Abs. 1 Brüssel-Ia-VO örtlich zuständig geworden sei. Eine Einlassung im Sinne dieser Vorschrift liege vor, wenn der Beklagte die Zuständigkeitsrüge nicht spätestens in der Stellungnahme erhebe, die nach dem innerstaatlichen Recht als das erste Verteidigungsvorbringen vor dem angerufenen Gericht anzusehen sei. Dies sei regelmäßig mit Einreichung der Klageerwiderung der Fall (vgl. BGH NJW 2015, 2667). Vorliegend habe die Beklagte – trotz Hinweises des Gerichts vom 21. Juni 2022 – die fehlende örtliche Zuständigkeit weder im Schriftsatz vom 30. Juni 2022 noch im Schriftsatz vom 16. August 2022 gerügt, in dem die Beklagte ausführlich auf die Sache eingegangen sei. Damit sei das Landgericht Ingolstadt nach Art. 26 Abs. 1 Brüssel-Ia-VO offensichtlich örtlich zuständig geworden. Insoweit unterscheide sich der vorliegende Fall von dem der Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 9. Februar 2022 zugrundeliegenden Fall, in dem die örtliche Zuständigkeit ausdrücklich gerügt worden sei.
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Mit Beschluss vom 21. Oktober 2022 hat das Landgericht Ingolstadt den Rechtsstreit dem Bayerischen Obersten Landesgericht zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt.
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Die Parteien hatten Gelegenheit zur Stellungnahme, haben sich aber nicht mehr geäußert.
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Auf die zulässige Vorlage ist die Zuständigkeit des Landgerichts Würzburg auszusprechen.
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1. Die Voraussetzungen für die Bestimmung der (örtlichen) Zuständigkeit gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2 ZPO (vgl. Schultzky in Zöller, ZPO, 34. Aufl. 2022, § 36 Rn. 34 ff. m. w. N.) durch das Bayerische Oberste Landesgericht liegen vor.
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a) Das Landgericht Ingolstadt und das Landgericht Würzburg haben sich für unzuständig erklärt, das Landgericht Ingolstadt durch unanfechtbaren Verweisungsbeschluss vom 19. August 2022 und das Landgericht Würzburg mit Verfügung vom 12. September 2022. Diese Entscheidungen sind den Prozessbeteiligten jeweils mitgeteilt worden. Die jeweils ausdrücklich ausgesprochene Leugnung der eigenen Zuständigkeit erfüllt mithin das Tatbestandsmerkmal „rechtskräftig“ im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO (vgl. BGH, Beschluss vom 15. August 2017, X ARZ 204/17, NJW-RR 2017, 1213 Rn. 12; Beschluss vom 19. Februar 2013, X ARZ 507/12, NJW-RR 2013, 764 Rn. 5; Beschluss vom 10. Dezember 1987, I ARZ 809/87, BGHZ 102, 338 [juris Rn. 6]; Schultzky in Zöller, ZPO, § 36 Rn. 35).
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b) Zuständig für die Bestimmungsentscheidung ist nach § 36 Abs. 2 ZPO i.V. m. § 9 EGZPO das Bayerische Oberste Landesgericht, weil die Bezirke der am negativen Kompetenzkonflikt beteiligten Gerichte zum Zuständigkeitsbereich unterschiedlicher Oberlandesgerichte gehören (München und Bamberg), sodass das gemeinschaftliche im Rechtszug zunächst höhere Gericht der Bundesgerichtshof ist. An dessen Stelle entscheidet das Bayerische Oberste Landesgericht, weil das mit der Sache zuerst befasste Gericht in Bayern liegt.
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2. Das Landgericht Würzburg ist örtlich zuständig, weil der Verweisungsbeschluss des Landgerichts Ingolstadt gemäß § 281 Abs. 2 Satz 4 ZPO bindend ist.
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a) Der Gesetzgeber hat in § 281 Abs. 2 Sätze 2 und 4 ZPO die grundsätzliche Unanfechtbarkeit von Verweisungsbeschlüssen und deren Bindungswirkung angeordnet. Dies hat der Senat im Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu beachten. Im Falle eines negativen Kompetenzkonflikts innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist daher grundsätzlich das Gericht als zuständig zu bestimmen, an das die Sache in dem zuerst ergangenen Verweisungsbeschluss verwiesen worden ist. Demnach entziehen sich auch ein sachlich zu Unrecht ergangener Verweisungsbeschluss und die diesem Beschluss zugrunde liegende Entscheidung über die Zuständigkeit grundsätzlich jeder Nachprüfung.
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Nach ständiger Rechtsprechung kommt einem Verweisungsbeschluss allerdings dann keine Bindungswirkung zu, wenn dieser schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann, etwa weil er auf der Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich betrachtet werden muss (st. Rspr.; vgl. BGH NJW-RR 2017, 1213 Rn. 15; Beschluss vom 9. Juni 2015, X ARZ 115/15, NJW-RR 2015, 1016 Rn. 9; Beschluss vom 10. September 2002, X ARZ 217/02, NJW 2002, 3634 [juris Rn. 13 f.]; Greger in Zöller, ZPO, § 281 Rn. 16). Objektiv willkürlich ist ein Verweisungsbeschluss, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BGH NJW-RR 2015, 1016 Rn. 9 m. w. N.). Als willkürlich zu werten ist insbesondere, wenn sich ein nach geltendem Recht unzweifelhaft zuständiges Gericht über seine Zuständigkeit hinwegsetzt und den Rechtsstreit an ein anderes Gericht verweist, etwa weil es eine klare Zuständigkeitsnorm nicht beachtet oder nicht zur Kenntnis nimmt (BGH, Beschluss vom 17. Mai 2011, NJW-RR 2011, 1364 Rn. 11; BayObLG, Beschluss vom 8. April 2020, 1 AR 23/20, juris Rn. 24). Eine Verweisung ist aber nicht stets als willkürlich anzusehen, wenn das verweisende Gericht sich mit einer seine Zuständigkeit begründenden Norm nicht befasst hat, etwa weil es die Vorschrift übersehen oder deren Anwendungsbereich unzutreffend beurteilt hat. Denn für die Bewertung als willkürlich genügt es nicht, dass der Verweisungsbeschluss inhaltlich unrichtig oder sonst fehlerhaft ist. Es bedarf vielmehr zusätzlicher Umstände, die die getroffene Entscheidung als schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar erscheinen lassen (vgl. BGH NJW-RR 2015, 1016 Rn. 11; BayObLG, Beschluss vom 26. Juli 2022, 102 AR 65/22, juris Rn. 18, jeweils m. w. N.). Solche liegen etwa vor, wenn sich eine Befassung mit dem Gerichtsstand nach den Umständen, insbesondere dem Parteivortrag dazu, derart aufdrängt, dass die getroffene Verweisungsentscheidung als nicht auf der Grundlage von § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann (vgl. BGH NJW-RR 2015, 1016 Rn. 11 u. 15; NJW-RR 2011, 1364 Rn. 12).
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b) Bei Anlegung dieses Maßstabs entfaltet der Verweisungsbeschluss des Landgerichts Ingolstadt Bindungswirkung.
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aa) Zwar hat sich das Landgericht Ingolstadt nicht mit der Frage befasst, ob seine örtliche Zuständigkeit durch rügelose Einlassung gemäß Art. 26 Abs. 1 Brüssel-IaVO begründet wurde, obwohl es zutreffend von der Anwendbarkeit der Brüssel-IaVO ausgegangen ist, deren zeitliche, sachliche und räumliche Anwendungsvoraussetzungen vorliegen (vgl. Nordmeier in Thomas/Putzo, ZPO, 43. Aufl. 2022, Vorb. EuGVVO Rn. 15 – 17). Diese Prüfung hat sich jedoch nicht derart aufgedrängt, dass der Verweisungsbeschluss als willkürlich anzusehen wäre.
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(1) Art. 26 Abs. 1 Brüssel-Ia-VO ist allerdings in einer Fallkonstellation wie der vorliegenden auf die örtliche Zuständigkeit anwendbar.
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Nach dieser Norm wird das Gericht eines Mitgliedsstaats zuständig, sofern es nicht bereits nach einer anderen Vorschrift dieser Verordnung zuständig ist, wenn sich der Beklagte vor ihm auf das Verfahren einlässt. Dieser Subsidiaritätsvorbehalt steht der Begründung der örtlichen Zuständigkeit des Landgerichts Ingolstadt durch rügeloses Einlassen nicht entgegen, auch wenn die internationale und örtliche Zuständigkeit eines anderen deutschen Gerichts nach Art. 7 Nr. 2 Brüssel-Ia-VO gegeben ist.
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Der Wortlaut des Art. 26 Abs. 1 Satz 1 Brüssel-Ia-VO („das Gericht des Mitgliedsstaats“ und nicht „die Gerichte des Mitgliedsstaats“) spricht dafür, dass es nicht darauf ankommt, ob ein anderes Gericht des Mitgliedsstaats nach Normen der Verordnung, die sowohl die internationale als auch die örtliche Zuständigkeit regeln, zuständig ist. Allein maßgeblich ist vielmehr, ob die Zuständigkeit des konkret angerufenen Gerichts nach anderen Normen zu bejahen ist, womit ein Rückgriff auf Art. 26 Brüssel-Ia-VO entbehrlich ist (zu den Auswirkungen etwa auf die Kognitionsbefugnis des Gerichts vgl. Koechel, IPRax 2020, 524 ff.).
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Dieses Verständnis entspricht sowohl der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urt. v. 11. April 2019, C-464/18 – Ryanair, IPRax 2020, 560 Rn. 25 ff.) als auch der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Urt. v. 17. März 2015, VI ZR 11/14, NJW-RR 2015, 941 Rn. 20 – zu Art. 24 LugÜ II) und des österreichischen Obersten Gerichtshofs (OGH, Beschluss vom 4. April 2006, 1 Ob 73/06a, juris [Leitsatz], abrufbar über www.ris.bka.gv.at). Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in der Ryanair-Entscheidung (IPRax 2020, 560 Rn. 25 ff.) nur näher geprüft, ob für die Klage auf Ausgleichszahlung für einen ausgefallenen Flug bei dem vorlegenden Handelsgericht Gerona (Spanien), also dem angerufenen Gericht, eine Zuständigkeit nach Art. 7 Nr. 5 Brüssel-Ia-VO begründet war. Die nach Aktenlage naheliegende Zuständigkeit gemäß Art. 7 Nr. 1 b) BrüsselIa-VO eines an einem anderen Ort in Spanien, nämlich in Barcelona befindlichen Gerichts, in dessen Bezirk der Ankunftsort des Flugs lag (vgl. EuGH, Urt. v. 9. Juli 2009, C- 204/08 – Rehder, juris Rn. 43), hat der Gerichtshof der Europäischen Union zwar angesprochen, aber betont, dass die Klage bei diesem – anderen – Gericht des Mitgliedsstaats nicht erhoben worden sei. Auch im Übrigen hat er mögliche vorrangige Zuständigkeitsnormen nur in Bezug auf das vorlegende Gericht geprüft. Nach deren Ablehnung hat er eine Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts nach Art. 26 Abs. 1 Satz 1 Brüssel-Ia-VO aus prozessualen Gründen, nämlich mangels Vorliegens einer Einlassung, verneint und damit die Voraussetzungen der Norm inhaltlich geprüft und nicht aus Gründen der Subsidiarität deren Anwendbarkeit ausgeschlossen. Der Bundesgerichtshof hat hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit Art. 24 LugÜ II für anwendbar gehalten, obwohl der Erfolgsort in Deutschland lag (NJW-RR 2015, 941 [juris Rn. 15 und 20]), und der Oberste Gerichtshof hat ausgeführt, dass Art. 24 Brüssel-I-VO lediglich die Zuständigkeit bzw. Unzuständigkeit eines bestimmten Gerichts eines Mitgliedsstaats im Auge habe und nicht etwa auf die Unzuständigkeit sämtlicher Gerichte dieses Mitgliedstaats abstelle (Beschluss vom 4. April 2006, 1 Ob 73/06a, abrufbar über www.ris.bka.gv.at).
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Ebenso wird in der Kommentarliteratur wohl einhellig vertreten, Art. 26 Brüssel-IaVO sei „isoliert“ hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit anwendbar, wenn die beklagte Partei ihren (Wohn-)Sitz nicht in dem Mitgliedstaat des angerufenen Gerichts habe und Gerichte dieses Mitgliedstaats zwar nach Art. 7 ff. Brüssel-IaVO international zuständig seien, aber nicht das von der Verordnung auch als örtlich zuständig vorgesehene Gericht angerufen worden sei (vgl. Staudinger in Rauscher, Europäisches Zivilprozess und Kollisionsrecht, 5. Aufl. 2021, Art. 26 Brüssel-Ia-VO Rn. 8 Fn. 41; Geimer in Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, 4. Aufl. 2020, Art. 26 EuGVVO Rn. 32; Wagner, EuZW 2021, 572 [578]; Koechel, IPRax 2020, 524 [526] jeweils m. w. N.).
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(2) Art. 26 Brüssel-Ia-VO verdrängt in seinem Anwendungsbereich die nationalen Vorschriften zur rügelosen Einlassung (vgl. BGH, Beschluss vom 27. Juni 2007, X ZR 15/05, BGHZ 173, 40 [juris Rn. 16] – zu Art. 18 LugÜ; Gottwald in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2022, Brüssel Ia-VO Art. 26 Rn. 5).
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(3) Nach ganz überwiegender Ansicht bedarf es im Gegensatz zu § 39 ZPO für eine – autonom auszulegende – rügelose Einlassung nach Art. 26 Abs. 1 Brüssel-Ia-VO keiner Einlassung in der mündlichen Verhandlung. Ist – wie hier – das schriftliche Vorverfahren gemäß § 276 Abs. 1 ZPO angeordnet worden, stellt die schriftliche Klageerwiderung eine Einlassung im Sinne des Art. 26 Brüssel-Ia-VO dar; erfolgt diese rügelos, so führt bereits dies zur stillschweigenden Prorogation (vgl. BGH, Urt. v. 19. Mai 2015, XI ZR 27/14, NJW 2015, 2667 Rn. 17 – zu Art. 24 Brüssel-IVO; OLG Braunschweig, Beschluss vom 10. Juni 2020, 3 W 6/18, juris Rn. 59; Gottwald in Münchener Kommentar zur ZPO, Brüssel Ia-VO Art. 26 Rn. 7 f.; E. Peiffer/M. Peiffer in Geimer/Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen, 65. EL Stand: Mai 2022, VO [EG] 1215/2012 Art. 26 Rn. 31; Staudinger in Rauscher, Europäisches Zivilprozess und Kollisionsrecht, Art. 26 Brüssel-Ia-VO Rn. 49; vgl. auch BayObLG, Beschluss vom 15. September 2020, 101 AR 101/20, juris Rn. 43 – zu Art. 24 Satz 1 LugÜ jeweils m. w. N.; auf ein „Verhandeln“ abstellend dagegen: Patzina in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 39 Rn. 15). Es genügt eine Einlassung zur Sache ohne Erhebung einer
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Zuständigkeitsrüge, wobei es eine Frage der Umstände des Einzelfalls ist, ob sich die Rüge auf die internationale und/oder (nur) auf die örtliche Zuständigkeit beziehen muss und wie sie im konkreten Fall auszulegen ist.
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Trotz des richterlichen Hinweises vom 21. Juni 2022 hat die Beklagte im vorliegenden Fall in der Klageerwiderung inhaltlich zur Klageschrift Stellung genommen, ohne die Zuständigkeit des Landgerichts Ingolstadt in Frage zu stellen, womit sie sich rügelos im Sinne von Art. 26 Abs. 1 Satz 1 Brüssel-Ia-VO eingelassen hat.
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(4) Dass das verweisende Gericht, das seine örtliche Zuständigkeit zu Recht verneint hat, weil der Erwerbsort des Fahrzeugs nicht in seinem Bezirk lag (vgl. BayObLG, Beschluss vom 9. Februar 2022, 101 AR 173/21, juris Rn. 22), Art. 26 Abs. 1 Brüssel-Ia-VO nicht in dem Blick genommen hat, begründet jedoch nicht den Vorwurf der Willkür.
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Im Zusammenhang mit der Prüfung der internationalen und örtlichen Zuständigkeit nach Art. 26 Brüssel-Ia-VO stellen sich vielfältige, häufig umstrittene und schwierige Fragen (vgl. Wagner, EuZW 2021, 572 [577 f]). Dass die Norm Anwendung findet, wenn – wie hier – ein anderes als das angerufene Gericht aufgrund einer besonderen Zuständigkeitsvorschrift der Brüssel-Ia-VO international und örtlich zuständig ist, versteht sich nicht ohne weiteres von selbst (vgl. Koechel, IPRax 2020, 524 [526]). Zwar wird am Ende der vom Landgericht Ingolstadt zitierten Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 9. Februar 2022 (101 AR 173/21, juris Rn. 28) Art. 26 Abs. 1 Brüssel-Ia-VO erwähnt, die Anwendung der Norm jedoch nicht näher begründet.
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Auch der Umstand, dass sich die Anforderungen, die im Anwendungsbereich dieser Vorschrift an eine rügelose Einlassung gestellt werden, von denjenigen des § 39 ZPO unterscheiden, musste sich dem Landgericht Ingolstadt angesichts der knappen Ausführungen am Ende der zitierten Entscheidung nicht in einer Weise aufdrängen, dass der Verweisungsbeschluss als schlechthin unhaltbar anzusehen wäre. Auch der Kläger, der vorrangig ein Interesse daran haben könnte, an seinem Wohnortgericht zu klagen, hat weder Art. 26 Brüssel-Ia-VO thematisiert noch den Standpunkt vertreten, das Landgericht Ingolstadt sei jedenfalls örtlich zuständig, weil die Beklagte in ihrer Klageerwiderung dessen Zuständigkeit nicht gerügt hätte. Er hat im Schriftsatz vom 11. Juli 2022 Verweisung an das „nach § 32 ZPO“ zuständige Gericht beantragt und damit auf die innerstaatlichen Zuständigkeitsvorschriften abgestellt. Im Anwendungsbereich des § 39 Abs. 1 ZPO ist jedoch anerkannt, dass das Gericht dem Beklagten nicht stets die Möglichkeit einräumen muss, die Zuständigkeit durch rügeloses Verhandeln zur Hauptsache zu begründen, wenn der Kläger schon vor der mündlichen Verhandlung die Verweisung an das zuständige Gericht beantragt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 27. August 2013, X ARZ 425/13, juris Rn. 9).
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Die mangelnde Erörterung einer Zuständigkeit nach Art. 26 Brüssel-Ia-VO durch das Landgericht Ingolstadt – sei es infolge eines Übersehens der Norm oder einer Fehlinterpretation der Voraussetzungen – stellt im konkreten Einzelfall somit lediglich einen einfachen Rechtsfehler dar, der mangels Hinzutretens weiterer Umstände noch nicht die Bindungswirkung des § 281 ZPO entfallen lässt.
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bb) Der Verweisungsbeschluss beruht auch nicht auf der Verletzung rechtlichen Gehörs (vgl. BayObLG, Beschluss vom 17. Oktober 2022, 101 AR 80/22, NJW-RR 2023, 68 Rn. 17 [juris Rn. 18]). Der Beklagten wurde der Verweisungsantrag zwar erst mit dem Verweisungsbeschluss übermittelt, ihr wurde jedoch vorher die Möglichkeit gegeben, sich zur örtlichen Zuständigkeit des angerufenen Gerichts zu äußern.