Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 21.12.2022 – AN 3 K 21.01882
Titel:

Erfolgreiche baurechtliche Nachbarklage gegen eine nach einer Abstandsflächenübernahmeerklärung erteilte Baugenehmigung für die Erweiterung eines Zweifamilienhauses 

Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
BayBO Art. 6 Abs. 2 S. 3, Art. 59
Leitsatz:
Hinsichtlich des völlig neuen Aufwerfens der Abstandsflächenfrage bzw. der Abstandsflächenrelevanz kann es nicht lediglich darauf ankommen, ob das neue Vorhaben den durch die Abstandsflächenübernahmeerklärung gesetzten Rahmen der übernommenen Abstandsflächen einhält. Vielmehr ist entsprechend des Zwecks des Abstandsflächenrechts zu beurteilen, ob sich im Vergleich zum bisherigen Zustand hinsichtlich der durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange der Belichtung, Belüftung, Besonnung und des nachbarlichen Wohnfriedens spürbare nachteilige Auswirkungen ergeben können. (Rn. 44) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Baurecht, Nachbarklage, Erweiterung Bestandsgebäude, Abstandsflächenübernahmeerklärung vorhabenbezogen (bejaht), Abstandsflächen, Auslegung einer Abstandsflächenübernahmeerklärung, Abstandsflächenfrage
Fundstelle:
BeckRS 2022, 42431

Tenor

1. Der Bescheid des Landratsamts … vom 16. September 2021 wird aufgehoben.
2. Der Beklagte und die Beigeladenen tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte; letztere als Gesamtschuldner.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte und die Beigeladenen können jeweils die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 100% des jeweils zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger jeweils vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen eine den Beigeladenen durch den Beklagten erteilte Baugenehmigung hinsichtlich der Erweiterung des Zweifamilienhauses auf dem Grundstück der Beigeladenen mittels Anbaus eines Esszimmers im Erdgeschoss und eines Balkons im Obergeschoss.
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Der Kläger ist Eigentümer des Grundstücks FlNr. … (…) der Gemarkung … (nachfolgend wird auf die Angabe der Gemarkung verzichtet; alle erwähnten Flurnummern beziehen sich auf die Gemarkung …). Das Grundstück ist mit einem Wohngebäude bebaut und grenzt in nördlicher Richtung an die Grundstücke FlNrn. …, … und … an. Das Wohngebäude auf dem klägerischen Grundstück weist eine ostwestliche Firstrichtung auf und ist in einem Abstand von circa 5 m zur nördlichen Grundstücksgrenze errichtet.
3
Die Beigeladenen sind Eigentümer des Grundstücks FlNr. … (…). Das Grundstück grenzt in südlicher Richtung an das klägerische Grundstück und in westlicher Richtung an das Grundstück FlNr. … (…) an. Das Grundstück der Beigeladenen ist mit einem Wohngebäude mit nordsüdlicher Firstrichtung bebaut. In Richtung des klägerischen Grundstücks verfügt das Gebäude über eine nachträglich errichtete Kellergeschosswohnung, die - ab der natürlichen Geländeoberfläche gemessen - eine Wandhöhe von 3 m aufweist und mit einer Tiefe von 4 m aus dem Bestandsgebäude hervortritt. Die Breite des Anbaus von 7,99 m entspricht dabei der Breite des übrigen Gebäudes. Der Anbau weist im von Westen nach Osten abfallenden Gelände - gemessen ab der nachträglich künstlich geschaffenen Geländeoberkante - eine (sichtbare Höhe) von circa 1,2 m und 1,8 m auf. Auf diesem Anbau ist eine Freiterrasse vorhanden, die mit einer umlaufenden Einfriedung durch einen Holzlattenzaun versehen ist.
4
Das klägerische Grundstück und das Grundstück der Beigeladenen liegen im unbeplanten Innenbereich.
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Die Beigeladenen begehrten mit Antrag vom 2. Juni 2021 die Erteilung einer Baugenehmigung für das Vorhaben „Erweiterung des Zweifamilienhauses mit Anbau von Esszimmer im Erdgeschoss und Balkon im Obergeschoss“ auf dem Grundstück der Beigeladenen.
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Ausweislich der eingereichten Unterlagen soll das Bestandsgebäude im Bereich über der aus dem Gelände herausragenden Kellergeschosswohnung um ein Esszimmer mit circa 15 qm erweitert werden, welches vom Erdgeschoss des Bestandsgebäudes aus betreten werden können soll. Über dem Esszimmer soll ein Balkon entstehen, welcher über ein im Obergeschoss befindliches Kinderzimmer zugänglich sein soll. Der Anbau soll eine Breite von 4,5 m sowie eine Tiefe von 4 m aufweisen und im östlichen Teil der derzeit dort vorhandenen Terrasse über der Kellergeschosswohnung bündig mit der östlichen Fassade des Bestandsgebäudes errichtet werden. Die Gesamthöhe des Anbaus soll - gemessen ab der natürlichen Geländeoberfläche -5,9 m betragen. Der auf dem Anbau entstehende Balkon soll eine 1,2 m hohe Absturzsicherung als Umwehrung erhalten.
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Dem eingereichten Abstandsflächenplan ist zu entnehmen, dass die Abstandsflächen nicht auf dem Grundstück der Beigeladenen zum Liegen kommen, sondern sich zum Teil auf das klägerische Grundstück erstrecken. Die durch das Vorhaben ausgelöste Abstandsfläche wird mit einer Breite von 7,99 m und einer Tiefe von 3 m angegeben, wobei zur Berechnung der Abstandsfläche auf die Höhe des Anbaus von 5,9 m abgestellt wurde. Das klägerische Grundstück wird dabei im Bereich der Grenze zwischen den Grundstücken auf einer Breite von 7,99 m mit einer Tiefe von 1 m (westlich) bis 1,2 m (östlich) für die Abstandsflächen des Vorhabens in Anspruch genommen.
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Dem Bauantrag wurde eine undatierte Abstandsflächenübernahmeerklärung des Klägers beigelegt, welche dieser im Vorfeld der geplanten Erweiterung der Kellergeschosswohnung im Wohngebäude der Beigeladenen abgab. Die Erklärung trägt einen Eingangsstempel des Landratsamts … vom 30. April 1997. Als Bauherr ist der Beigeladene zu 1) eingetragen. Die Erklärung besteht aus drei Seiten. Auf der ersten Seite ist unter der Ziffer 1 eine Darstellung der Abstandsflächen im Maßstab 1:1000 abgebildet; die dritte Seite enthält die gleiche Darstellung im Maßstab 1:200. Hierbei ist jeweils grafisch eine Abstandsfläche mit einer Breite von 7,99 m und einer Tiefe von 3 m dargestellt, wobei die Abstandsfläche mit einer Tiefe von 1 m (westlich) und 1,2 m (östlich) auf das klägerische Grundstück ragt. Das die Abstandsfläche auslösende Vorhaben ist grafisch vom Bestandsgebäude abgesetzt und mit einer Tiefe von 4 m dargestellt. Die letzte Seite der Erklärung enthält im oberen Bereich handschriftliche Ergänzungen. Auf der linken Seite ist der Name und die Anschrift der Beigeladenen vermerkt und auf der rechten Seite ist Folgendes zu lesen: „Erweiterung der Einliegerwohnung; Ihr Zeichen: …“. Auf der zweiten Seite unter der Ziffer 2 „Beschreibung“ heißt es wörtlich:
„ …, beabsichtigt, auf dem Grundstück FlNr. … an der Grenze zum Nachbargrundstück FlNr. … ein Gebäude zu errichten. Das geplante Gebäude ist im Lageplan rot eingezeichnet. Es wird an der der Nachbargrenze zugewandten Seite 7,99 m lang und verläuft mit einem minimalen Abstand von 2,00 m und einem maximalen Abstand von … zur Grenze des Nachbargrundstücks. Dieses Gebäude erfordert zur Grundstücksgrenze gegenüber dem Nachbargrundstück auf seiner ganzen diesem zugewandten Länge gemäß Art. 6, 7 Bayer. Bauordnung eine Abstandsfläche mit einer Tiefe von 3,00 m. Auf dem Grundstück kann (nur) eine Abstandsflächentiefe von 2,00 m eingehalten werden.“
9
Auf Seite 2 unter Ziffer 3 Buchst. b steht geschrieben, dass sich der verfügungsberechtigte Eigentümer des Grundstücks FlNr. … gegenüber dem Bauwerber verpflichte, die unter Ziffer 1 dargestellte und unter Ziffer 2 beschriebene Abstandsfläche auf dem Grundstück FlNr. … zu dulden, soweit sie auf diesem zu liegen komme, also mit einer Tiefe von 1,00 m. Dem verfügungsberechtigten Eigentümer des Grundstücks FlNr. … sei weiter bekannt, dass diese Fläche nicht überbaut werden dürfe sowie ein Gebäude auf seinem Grundstück die zusätzlich erforderliche Abstandsfläche einzuhalten habe und dass die Zustimmung für und gegen den Rechtsnachfolger gelte.
10
Mit Beschluss vom 27. Juli 2021 erteilte die Standortgemeinde das erforderliche gemeindliche Einvernehmen zu dem Vorhaben.
11
Mit Bescheid des Beklagten vom 16. September 2021 - dem Kläger am 22. September 2021 zugestellt - wurde die begehrte Baugenehmigung für das Vorhaben „Erweiterung des Zweifamilienhauses mit Anbau von Esszimmer im Erdgeschoss und Balkon im Obergeschoss“ erteilt.
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Der Kläger hat am 22. Oktober 2021 Klage gegen diese Baugenehmigung erhoben.
13
Zur Begründung wird in tatsächlicher Hinsicht vorgetragen, dass der Anbau auf dem Grundstück der Beigeladenen zur Herstellung einer Souterrainwohnung mit Terrasse erinnerlich vor rund 24 Jahren von den Beigeladenen errichtet worden sei. Für dieses Vorhaben habe der Kläger im Jahr 1997 eine Abstandsflächenübernahmeerklärung abgegeben. Die Beigeladenen seien damals auf den Kläger zugekommen und hätten diesen gebeten, die Abstandsfläche an der gemeinsamen Grenze auf Länge des geplanten Vorhabens von 1 m zu übernehmen. Darüber, dass künftig auf dieses Vorhaben aufgesetzt und weitere Anbauten hätten errichtet werden sollen oder können, sei damals nicht gesprochen worden. Es sei nur und alleine um den Kelleranbau gegangen. Der Kläger habe die Zustimmung mit dem Wissen und der ausschließlichen Absicht erteilt, dieses Vorhaben beschränkt auf den Kelleranbau zu ermöglichen und durch einen Anbau, der nicht oder nur unwesentlich aus dem Erdreich herausstehe, nicht erheblich auf seinem Grundstück beeinträchtigt zu sein. Dass es seinerzeit ausschließlich um den vor rund 24 Jahren errichteten Anbau gegangen sei, ergebe sich aus der damals eingereichten Eingabeplanung und vor allem aus der handschriftlichen Ergänzung des Bauherren „Erweiterung der Einliegerwohnung Ihr Zeichen …“. Sodann sei 24 Jahre lang auf dieser Gebäudeseite durch die Beigeladenen nicht weiter an- oder ausgebaut worden.
14
In rechtlicher Hinsicht wird im Wesentlichen vorgetragen, dass das genehmigte Vorhaben gegen das Abstandsflächenrecht verstoße. Der Abstand des geplanten Bauvorhabens zu der gemeinsamen Grundstücksgrenze betrage nur rund 2,5 m. Die erforderliche Mindestabstandsfläche werde demnach nicht eingehalten. Dieser Verstoß werde auch nicht durch die im Jahr 1997 durch den Kläger abgegebene Abstandsflächenübernahmeerklärung geheilt. Die diesbezügliche Rechtsauffassung des Beklagten sei grob fehlerhaft. So habe die Eintragung in das Baulastenverzeichnis keine rechtsbegründende, sondern lediglich deklaratorische Bedeutung. Es bestehe - im Gegensatz zu Eintragungen im Grundbuch - demnach lediglich die tatsächliche Vermutung der Richtigkeit seiner Eintragungen, welche jedoch widerlegt werden könne. Dieser Anscheinsbeweis sei vorliegend aufgrund der Umstände des Lebenssachverhalts widerlegt (wird weiter ausgeführt). Im Übrigen hätte die Genehmigungsbehörde bei der Prüfung des Inhalts der Erklärung zu dem Ergebnis kommen müssen, dass sich der Kläger auf Bitten der Nachbarn, einen sich aus der Genehmigungsplanung ergebenden Kelleranbau durch eine Abstandsflächenübernahme überhaupt erst zu ermöglichen, nicht bewusst dazu entschließe, die Abstandsfläche auf seinem Grund in dem Umfang zu übernehmen, später auch weitere Anbaumaßnahmen als Aufsatz auf die damals genehmigte Maßnahme zu ermöglichen.
15
Es sei auch das Gebot der Rücksichtnahme verletzt. Das Heranrücken des von der Geländeoberkante bis zum Giebel rund 8 m hohen Nachbargebäudes über sodann ein weiteres Geschoss mit einem Abstand von zum Teil weniger als 2,5 m zur gemeinsamen Grundstücksgrenze und einem weiteren Balkon auf Höhe des 1. Obergeschosses führe auf dem klägerischen Grundstück mit dem dort rund 4 m entfernten eigenen Gebäude und sechs Fenstern auf dieser Nordseite zu einer unerträglichen erdrückenden Situation und schränke Belichtung und Belüftung auf dieser Grundstücksseite unzumutbar ein.
16
Der Kläger beantragt,
Der Baugenehmigungsbescheid vom 16. September 2021, Az. …, dem Kläger zugestellt am 22. September 2021, wird aufgehoben.
17
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
18
Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass die zulässige Klage unbegründet sei, da der Kläger durch die erteilte Baugenehmigung nicht in seinen Rechten verletzt werde. Dabei sei zunächst zu erkennen, dass es in Bayern kein Baulastenverzeichnis gebe. Im Übrigen seien die Vorschriften des Abstandsflächenrechts nicht verletzt, da der Kläger im Jahr 1997 eine Abstandsflächenübernahmeerklärung abgegeben habe. Nach Ansicht des Beklagten habe diese Erklärung auch heute noch Gültigkeit. Zum einen verfange das Argument der Klagepartei, dass die Abstandsflächenübernahmeerklärung ausschließlich für das damalige Bauvorhaben erklärt worden sei, nicht. Das damalige Vorhaben möge vielleicht Anlass der Übernahmeerklärung gewesen sein, zum Inhalt der erklärten Abstandsflächenübernahme sei es jedoch nicht geworden. Eine Verknüpfung zwischen Bauantrag und Übernahmeerklärung sei nicht gegeben. Eindeutiger Inhalt sei lediglich die Lage und Tiefe der Abstandsflächen, die auf dem Grundstück des Klägers liegen dürfen. Das handschriftlich eingetragene Aktenzeichen des Bauantrags ändere hieran nichts. Zum anderen müsse denklogisch die Abstandsflächenübernahmeerklärung auch weiterhin Geltung besitzen, sofern das Vorhaben nicht in abstandsflächenrelevanter Weise geändert worden sei. Sie erlösche lediglich, wenn die Baugenehmigung abgelehnt, von ihr nicht Gebrauch gemacht werde oder das Bauwerk nicht mehr bestehe, was hier nicht zutreffe (mit Verweis auf Hahn in Busse/Kraus BayBO Art. 6 Rn. 130). Im vorliegenden Fall liege eben keine abstandsflächenrelevante Änderung vor. Durch die BayBO-Novelle habe sich das Abstandsflächenrecht dahingehend geändert, dass nunmehr vor allen Außenwänden lediglich 0,4 H, jedoch mindestens 3 m, gelte. Die Abstandsflächen des hier in Streit stehenden Vorhabens lägen innerhalb der erklärten Abstandsflächenübernahmeerklärung. Mithin gälten die Abstandsflächen als eingehalten bzw. es ergebe sich durch das neue Vorhaben keine abstandsflächenrechtliche Änderung zulasten des Klägers.
19
Höchst hilfsweise werde darauf hingewiesen, dass wohl auch eine Abweichung erteilt werden könnte. Aufgrund des eher kleinen, recht langgezogenen Grundstücks sei dieses baulich bereits fast voll ausgenutzt. Einzig sinnvoll sei die hier streitgegenständliche Aufstockung auf der Südseite, um Wohnraum zu schaffen. Eine sogenannte Atypik sei nach Ansicht des Beklagten gegeben. Des Weiteren müssten die Interessen des Klägers als Nachbarn hinter den Interessen der Bauherren zurücktreten. Zum einen, da - unterstellt, die Abstandsflächenübernahmeerklärung hätte nur Geltung für das damalige Bauvorhaben - der Kläger verpflichtet sei, die Fläche der Abstandsflächenübernahmeerklärung freizuhalten, sie für ihn somit keinen Nutzen mehr habe. Zum anderen liege das streitgegenständliche Vorhaben auf der Nordseite des klägerischen Grundstücks, womit eine Verschattung oder Ähnliches ausgeschlossen werden könne. Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme sei nicht ersichtlich und nur pauschal behauptet worden.
20
Die Beigeladenen beantragen,
die Klage abzuweisen.
21
Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass es im vorliegenden Verfahren darauf ankomme, ob das streitgegenständliche Vorhaben die durch die Abstandsflächenübernahmeerklärung gesetzten Grenzen überschreite (mit Verweis auf BayVGH, B.v. 8.10.2003 - 25 ZB 01.1249). Insofern falle auf, dass die Erklärung sich auf eine bauliche Anlage auf dem Grundstück der Beigeladenen beziehe, welche in ihrer Höhe nicht beschrieben worden sei. Im Hinblick auf die Distanz zur Grenze von weniger als 3 m werde das Mindestabstandsmaß von 3 m durch die anteilige Abstandsflächenübernahmeerklärung verwirklicht. Die jetzt vorgesehene Änderung werfe die Beurteilung der Abstandsfläche nicht völlig neu auf, sondern stelle lediglich eine partielle Erhöhung des Bauwerks dar, welche keine Abstandsflächen auslöse, die über das einzuhaltende Mindestmaß hinausgehen würden. Die durch die Abstandsflächenübernahmeerklärung gesetzten Grenzen würden demnach nicht überschritten. Ergänzend sei darauf zu verweisen, dass durch die Abstandsflächenübernahmeerklärung nur ein Zustand geschaffen werde, der im Hinblick auf das Gebäude … bereits gelte. Auch dieses Gebäude weise nach Süden hin nicht den einzuhaltenden Abstand von 3 m auf. Die Bebauung der Grundstücke … und … erfolge demnach in planungsrechtlicher Weise dergestalt, dass nach Süden hin ein verkürzter Abstand gelte.
22
Hierauf trägt der Kläger erwidernd vor, dass der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs aus dem Jahr 2002 ein Sachverhalt zugrunde gelegen habe, in dem sich die Auslegung der Abstandsflächenübernahmeerklärung mangels eines Lageplans auf die textliche Fassung der Urkunde zu beschränken gehabt habe. Gerade in diesem Punkt weiche der streitgegenständliche Sachverhalt ab. Die streitgegenständliche Abstandsflächenübernahmeerklärung ergebe sich aus dem darstellenden Lageplan mit der Beschreibung und der handschriftlichen Klarstellung „Erweiterung der Einliegerwohnung“. Insoweit sei zum Zeitpunkt der Abgabe der Übernahmeerklärung im Jahr 1997 festgestanden, dass der Kläger die Abstandsflächenübernahme nur und ausschließlich zu dem Zweck erklärt gehabt habe, die Erweiterung der damals vorhandenen Einliegerwohnung zu ermöglichen. Insoweit sei bei der Auslegung der streitbefangenen Erklärung neben dem Urkundentext und dem Lageplan auch der niedergeschriebene Zusatz zu berücksichtigen, der verdeutliche, dass die Parteien seinerzeit bei Abgabe dieser streitgegenständlichen Erklärung beiderseits davon ausgegangen seien, dass die Übernahme nur für die Erweiterung der schon bestehenden Einliegerwohnung Geltung haben solle. Die Verpflichtung zur Einhaltung der Abstandsflächen werde auch nicht dadurch beschränkt oder beseitigt, dass auf Nachbargrundstücken zum Kläger angeblich der vorgeschriebene Grenzabstand nicht eingehalten worden sein möge. Dies werde im Übrigen bestritten.
23
Die Beigeladenen führten diesbezüglich aus, dass der Inhalt der Abstandsflächenübernahmeerklärung nicht dagegen spreche, dass sich die Übernahme auch auf Änderungen an dem dadurch ermöglichten Gebäude beziehe, die die Abstandsflächenfrage nicht völlig neu aufwürfen. Der Eintrag „Erweiterung der Einliegerwohnung“ auf dem am 30. April 1997 vom Landratsamt gestempelten Plan bezeichne lediglich das Bauvorhaben und begrenze nicht die Abstandsflächenübernahme. Der dort wiedergegebene Plan zeige lediglich eine Gebäudegrundfläche und die in einer bestimmten Breite auf das Grundstück des Klägers ragende Fläche. Die Erklärung spreche somit insgesamt dafür, dass spätere Änderungen an dem Gebäude möglich seien.
24
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Behörden- und Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

25
Über die Verwaltungsstreitsache konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten übereinstimmend auf die Durchführung einer solchen verzichteten, § 101 Abs. 2 VwGO.
26
Die zulässige Klage ist begründet. Die streitgegenständliche Baugenehmigung verletzt den Kläger in seinen subjektiv-öffentlichen Rechten und ist daher aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
27
Der Kläger als Dritter kann sich dabei mit einer Anfechtungsklage nur dann mit Aussicht auf Erfolg gegen einen Baugenehmigungsbescheid zur Wehr setzen, wenn dieser rechtswidrig ist sowie die Rechtswidrigkeit auf der Verletzung einer Norm beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Dritten zu dienen bestimmt ist (sog. Schutznormtheorie, vgl. u.a. BayVGH, B.v. 30.7.2021 - 1 CS 21.1506 - juris Rn. 9 m.w.N.). Ein unmittelbarer Rückgriff auf Art. 14 Abs. 1 GG zur Begründung des Nachbarrechtsschutzes kommt dabei grundsätzlich nicht in Betracht, weil der Gesetzgeber in Ausfüllung seines legislatorischen Gestaltungsspielraums aus Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG nachbarliche Abwehrrechte verfassungskonform ausgestaltet hat und unter Einschluss der Grundsätze des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme ein geschlossenes System des nachbarlichen Drittschutzes bereitstellt (vgl. BayVGH, B.v. 26.4.2021 - 15 CS 21.1081 - juris Rn. 23 m.w.N.).
28
Vorliegend sind die drittschützenden und zum Prüfungsumfang des Art. 59 Satz 1 BayBO zählenden Vorschriften über das Abstandsflächenrecht verletzt.
29
1. Es liegt ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO vor. Hinsichtlich des der streitgegenständlichen Baugenehmigung zugrundeliegenden Vorhabens können die erforderlichen Abstandsflächen nicht auf dem Baugrundstück selbst nachgewiesen werden, sondern es wird zusätzlich das klägerische Grundstück hierfür in Anspruch genommen. Eine Heilung dieses Verstoßes durch die durch den Kläger im Jahr 1997 abgegebene Abstandsflächenübernahmeerklärung für die damalige Erweiterung der Kellergeschosswohnung kommt nicht in Betracht.
30
Soweit eine Baugenehmigung die Abstandsflächenvorschriften nicht einhält, kann der Nachbar in seinen Rechten verletzt sein. Die Regelungen des Art. 6 BayBO sind in ihrer Gesamtheit auch dem Schutz der angrenzenden Nachbarn zu dienen bestimmt, da sie auch die ausreichende Belichtung, Besonnung, Belüftung und den Brandschutz der vorhandenen und zukünftigen Nachbargebäude gewährleisten sollen (vgl. BayVGH, B.v. 21.10.1991 - 2 CS 91.2446 - BeckRS 1991, 9074; B.v. 30.11.2005 - 1 CS 05.2535 - juris Rn. 19; Dirnberger in Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: November 2022, Art. 66 Rn. 258 m.w.N.)
31
Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten. Diese Abstandsflächen müssen auf dem Grundstück selbst liegen, Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO. Die Tiefe der Abstandsfläche bemisst sich gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO nach der Wandhöhe und beträgt gemäß Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO (in der seit dem 1. Februar 2021 geltenden Fassung - G. v. 23.12.2020, GVBl. S. 663) grundsätzlich (nur noch) 0,4 H, mindestens 3 m.
32
Das streitgegenständliche Bauvorhaben hält unstreitig die Abstandsflächen nicht ein. Das Vorhaben löst eine Abstandsfläche mit einer Tiefe in Höhe des Mindestmaßes von 3 m aus, welche nicht auf dem Baugrundstück zum Liegen kommt, sondern sich auf das klägerische Grundstück erstreckt. Bezugspunkt für die Berechnung der Tiefe der Abstandsfläche gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO ist dabei richtigerweise die Oberkante der Umwehrung des geplanten Balkons im Obergeschoss (vgl. BayVGH, B.v. 10.7.2015 - 15 ZB 13.2671 - juris Rn. 16) und nicht - wie aber in den durch die Beigeladenen eingereichten Plänen dargestellt - die Oberkante der Gebäudehülle des Anbaus.
33
Wiederum unstreitig gehen die durch das streitgegenständliche Vorhaben ausgelösten Abstandsflächen nicht über die mittels Erklärung des Klägers aus dem Jahr 1997 übernommenen Abstandsflächen auf dem klägerischen Grundstück hinaus. Diese Abstandsflächenübernahmeerklärung entfaltet jedoch keine Wirkungen hinsichtlich des streitgegenständlichen Vorhabens, sodass der Abstandflächenverstoß durch die Erklärung nicht legalisiert werden kann.
34
Gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO dürfen Abstandsflächen sich ganz oder teilweise auf andere Grundstücke erstrecken, wenn rechtlich oder tatsächlich gesichert ist, dass sie nicht überbaut werden, oder wenn der Nachbar gegenüber der Bauaufsichtsbehörde schriftlich zustimmt. Die Zustimmung des Nachbarn hat dabei aufgrund ihrer gesetzlichen Ausgestaltung, insbesondere der Rechtsnachfolgewirkung, die gleiche Wirkung wie eine privatrechtliche Sicherung nach Art. 6 Abs. 2 Satz 3 Alt. 1 BayBO. Sie beschränkt die Bebaubarkeit des belasteten Grundstücks und stellt sich deshalb als Verfügung über das Grundeigentum dar. Bei der Zustimmung handelt es sich um eine empfangsbedürftige, öffentlich-rechtliche Willenserklärung des Nachbarn. Adressat dieser Erklärung ist nicht der Bauherr, sondern die Bauaufsichtsbehörde. Die Abstandsflächenübernahme bedarf einer gesonderten Erklärung des Nachbarn, für die das Schriftformerfordernis (§§ 126, 126 a BGB) gilt. Der Erklärung muss aufgrund ihrer weitreichenden Wirkungen eindeutig entnommen werden können, dass und in welchem Umfang die Abstandsflächen für das Nachbarbauvorhaben übernommen werden. Der textlichen Erklärung muss entnommen werden können, dass sich der Erklärende der Wirkung dieser Erklärung - Nichtüberbaubarkeit der Fläche und keine Nutzung für eigene Abstandsflächen - bewusst ist. Der Umfang der Abstandsflächenübernahme ist zeichnerisch darzustellen. Diese Abstandsflächenübernahme entspricht als öffentlich-rechtliches Instrument der in Bayern nicht existierenden Baulast in anderen Bundesländern (vgl. Schönfeld in BeckOK BauordnungsR Bayern, 24. Ed. 1.12.2022, BayBO Art. 6 Rn. 104 f.).
35
Die Zustimmungserklärung hat grundsätzlich einen unmittelbaren Bezug zu einem konkreten Bauvorhaben, wirkt also nicht abstrakt, sondern bezieht sich nur auf das konkret beantragte Vorhaben (Schönfeld in BeckOK BauordnungsR Bayern, 24. Ed. 1.12.2022, BayBO Art. 6 Rn. 109, Laser in Schwarzer/König BayBO Art. 6 Rn. 61, Molodovsky/Famers/Waldmann, Bayerische Bauordnung, Art. 6 Rn. 116, Hahn in Busse/Kraus, Stand: November 2022, BayBO Art. 6 Rn. 130, BayVGH, B.v. 20.2.2002 - 25 ZB 01.2566 - juris Rn. 6, B.v. 8.10.2002 - 25 ZB 01.1249 - juris Rn. 3, VG München, B.v. 28.2.2020 - M 1 SN 19.5199 - juris Rn. 38, VG Augsburg, B.v. 14.11.2001 - Au 4 S 01.1438 - juris Rn. 17). Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zu einer Abstandsflächendienstbarkeit, die in der Regel nicht für ein bestimmtes Bauvorhaben bestellt wird (BayVGH, B.v. 5.3.2007 - 2 CS 07.81 - juris Rn. 5).
36
In der Rechtsprechung werden unter bestimmten Bedingungen Ausnahmen von dem Grundsatz der Vorhabenbezogenheit der Übernahmeerklärung zugelassen. Hierbei wird einerseits über eine Auslegung der Übernahmeerklärung bzw. der Dienstbarkeitsbestellung oder der Vertragsurkunde ermittelt, ob von der Übernahmeerklärung nur das konkrete Vorhaben erfasst sein sollte oder ob auch spätere Änderungen eingeschlossen wurden (vgl. BayVGH, U.v. 26.4.2007 - 26 B 06.1460 - juris Rn. 21; B.v. 17.1.2000 - 20 ZB 99.3581 - juris Rn. 7; U.v. 16.7.1997 - 2 B 96.201 - juris Rn. 21). Andererseits wird darauf abgestellt, ob spätere Änderungen die Abstandsflächenfrage völlig neu aufwerfen (BayVGH, B.v. 8.10.2002 - 25 ZB 01.1249 - juris Rn. 3), ob noch eine Identität des Bauvorhabens besteht (VG München, B.v. 28.2.2020 - M 1 SN 19.5199 - juris Rn. 39) oder ob die Änderung eine eigenständige Abstandsflächenrelevanz hat bzw. ob das geänderte Vorhaben ein aliud gegenüber dem ursprünglichen Vorhaben darstellt (VG Augsburg, B.v. 14.11.2001 - Au 4 S 01.1438 - juris Rn. 17).
37
Gemessen an diesen Maßstäben ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass das streitgegenständliche Vorhaben nicht von der Abstandsflächenübernahmeerklärung aus dem Jahr 1997 mitumfasst ist.
38
Zunächst ist nach entsprechender Auslegung der Abstandsflächenübernahmeerklärung festzustellen, dass weder der Inhalt noch die enthaltenen Darstellungen der Erklärung zwingend auf eine Beschränkung auf das damalige Vorhaben schließen lassen. Andererseits finden sich aber auch keine Anhaltspunkte, dass spätere Änderungen automatisch mitumfasst sein sollten.
39
Es handelt sich bei der streitgegenständlichen Übernahmeerklärung grundsätzlich um ein Formblatt, ohne individuelle Vereinbarungen zwischen den Nachbarn. Insbesondere stellen die handschriftlichen Ergänzungen auf der dritten Seite der Übernahmeerklärung keine solche individuelle Vereinbarung in Form einer Beschränkung auf das damalige Vorhaben dar. Aus Sicht der Kammer deutet vieles darauf hin, dass die dritte Seite entweder nachträglich der Übernahmeerklärung beigefügt wurde oder einen Zusatz darstellt, da die Darstellung unter Ziffer 1 der Erklärung nicht dem geforderten Maßstab entsprach. Um bei der (nachträglichen) Einreichung dem Landratsamt eine Zuordnung zum damaligen Bauantrag zu ermöglichen, wurde wohl handschriftlich der Name und die Adresse der damaligen Antragsteller und Beigeladenen sowie die Bezeichnung des Vorhabens samt Aktenzeichen des Landratsamts ergänzt. Durch den Kläger wurde entsprechend auch nur auf der zweiten Seite der Erklärung unterschrieben.
40
Unter Ziffer 2 der Erklärung im Rahmen der Beschreibung ist stets die Rede von der Errichtung eines „Gebäudes“ ohne nähere Bezeichnung des Vorhabens, sodass sich hieraus ebenfalls keine Rückschlüsse auf eine Beschränkung oder Erweiterung der Erklärung ergeben.
41
Die enthaltene(n) Darstellung(en) der Erklärung zeigen lediglich eine Abstandsfläche rechteckiger Form. Die dargestellte Abstandsfläche wurde dabei mit einer Angabe hinsichtlich der Breite und der Tiefe versehen. Eine Angabe der Höhe des Vorhabens ist nicht vorhanden. Somit lassen die Darstellungen keinen konkreten Rückschluss auf das Vorhaben zu.
42
Da die Auslegung der Erklärung kein eindeutiges Ergebnis liefert, muss es zunächst bei dem Grundsatz der Vorhabenbezogenheit der Abstandsflächenübernahmeerklärung bleiben.
43
Nach Überzeugung der Kammer wirft das streitgegenständliche Vorhaben die Abstandsflächenfrage völlig neu auf. Im Übrigen besteht hinsichtlich des streitgegenständlichen Vorhabens keine Identität mit dem ursprünglichen Vorhaben bzw. handelt es sich im Vergleich um ein aliud.
44
Hinsichtlich des völlig neuen Aufwerfens der Abstandsflächenfrage bzw. der Abstandsflächenrelevanz kann es aus Sicht der Kammer nicht lediglich darauf ankommen, ob das neue Vorhaben den durch die Abstandsflächenübernahmeerklärung gesetzten Rahmen der übernommenen Abstandsflächen einhält. Vielmehr ist entsprechend des Zwecks des Abstandsflächenrechts zu beurteilen, ob sich im Vergleich zum bisherigen Zustand hinsichtlich der durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange der Belichtung, Belüftung, Besonnung und des nachbarlichen Wohnfriedens spürbare nachteilige Auswirkungen ergeben können (parallel zur Frage der Neubeurteilung der Abstandsflächen im Rahmen von baulichen Änderungen eines Gebäudes, vgl. hierzu BayVGH, B.v. 27.2.2015 - 15 ZB 13.2384 - juris Rn. 11).
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Hieran gemessen ergibt sich, dass das streitgegenständliche Vorhaben eine eigenständige Abstandsflächenrelevanz aufweist. Dies zwar aufgrund der gesetzlich geänderten Tiefe der Abstandsfläche nicht hinsichtlich der Ausmaße der Abstandsfläche, jedoch aufgrund seiner Auswirkungen vor allem im Hinblick auf den nachbarlichen Wohnfrieden. Das streitgegenständliche Vorhaben wirkt deutlich intensiver auf das klägerische Grundstück ein. Bislang war in unmittelbarer Nähe zur Grundstücksgrenze ein Anbau, welcher zwei Kinderzimmer beherbergt und über ein Fenster in Richtung des klägerischen Grundstücks nahezu auf Bodenhöhe verfügt, sowie eine auf dem Anbau errichtete nicht überdachte Terrasse vorhanden. Durch das streitgegenständliche Vorhaben soll die Terrasse aufgestockt und um ein Esszimmer samt Fenster in Richtung des klägerischen Grundstücks erweitert werden. Während nun die bisher nicht überdachte Terrasse keinen Aufenthaltsraum im baurechtlichen Sinne darstellt, wird durch das zu errichtende Esszimmer genau ein solcher zusätzlich in unmittelbarer Grenznähe geschaffen. Daneben soll oberhalb des Esszimmers noch ein Balkon entstehen, der - gemessen von der natürlichen Geländeoberfläche - auf einer Höhe von ca. 6 m wiederum in Richtung des klägerischen Grundstücks ausgerichtet ist, wodurch von erhöhter Position aus neue Einsichtnahmemöglichkeiten in das klägerische Grundstück geschaffen werden.
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Auch kann die Kammer im Vergleich zum ursprünglichen Vorhaben keine Identität mehr erkennen. Es handelt sich bei natürlicher Betrachtungsweise nicht mehr um ein einheitliches Vorhaben und damit stellt das streitgegenständliche Vorhaben ein aliud dar. Durch das streitgegenständliche Vorhaben wird der bisher in Grenznähe vorhandene Anbau des Wohngebäudes auf dem Grundstück der Beigeladenen im östlichen Bereich um knapp 3 m erhöht und das Wohngebäude um ein 15 qm großes Esszimmer erweitert. Hierin liegt auch der wesentliche Unterschied zur Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. Oktober 2002 (25 ZB 01.1249 - juris). Dieser Entscheidung lag nämlich ein Sachverhalt zugrunde, wonach ein Balkon am Wohnhaus errichtet wurde, welcher durch den Verwaltungsgerichtshof als untergeordnetes Bauteil i.S.v. Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 BayBO angesehen wurde, das - bei Vorliegen der Voraussetzungen - nicht auf die Abstandsflächen angerechnet wird. Das hiesige Vorhaben stellt kein solch untergeordnetes Bauteil dar und es handelt sich - im Gegensatz zu einem Balkon (vgl. BayVGH, B.v. 10.7.2015 - 15 ZB 13.2671 - juris Rn. 15) - auch um einen Aufenthaltsraum im baurechtlichen Sinn.
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Maßgeblich ist in der hiesigen Streitsache auch zu berücksichtigen, dass das streitgegenständliche Vorhaben überhaupt erst aufgrund der Änderung der Abstandsflächenvorschriften zum 1. Februar 2021 in die Lage versetzt wird, nicht über die durch den Kläger übernommenen Abstandsflächen auf dem klägerischen Grundstück hinauszugehen. Legt man die im Jahr 1997 geltende Rechtslage zugrunde, dann hätte das Vorhaben bis zur Gesetzesänderung nicht bzw. zumindest nicht ohne eine erweiterte Abstandsflächenübernahme durch den Kläger errichtet werden können, da die Tiefe der Abstandsfläche 1 H betrug (vgl. Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO 1994). Auch in der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. Oktober 2002 wird durch den Senat unter anderem darauf abgestellt, ob die Abstandsflächen auch nach der zum Zeitpunkt der Übernahme der Abstandsflächen geltenden Rechtslage eingehalten worden wären (vgl. BayVGH, B.v. 8.10.2002 - 25 ZB 01.1249 - juris Rn. 3 a. E.). Nach Auffassung der Kammer musste der Kläger bei der Abgabe der Abstandsflächenübernahmeerklärung im Jahr 1997 nicht sämtliche Gesetzesänderungen der Abstandsflächenvorschriften antizipieren und nun gegen sich gelten lassen. Jedenfalls können solch wesentliche Änderungen wie die Reduzierung des Maßes der Abstandsflächen auf 0,4 H nicht zulasten des Klägers gehen.
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2. Die durch das streitgegenständliche Vorhaben ausgelösten Abstandsflächen erstrecken sich auch nicht auf Flächen auf dem klägerischen Grundstück hinsichtlich derer rechtlich oder tatsächlich gesichert wäre, dass sie nicht überbaut werden, Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO.
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Eine Nicht-Überbaubarkeit aus privatrechtlichen Gründen liegt mangels Existenz einer Grunddienstbarkeit zulasten des klägerischen Grundstücks nicht vor (Hahn in Busse/Kraus, 148. EL November 2022, BayBO Art. 6 Rn. 115 f.). Auch besteht kein öffentlich-rechtliches Bauverbot auf der entsprechenden Fläche auf dem klägerischen Grundstück (vgl. Hahn in Busse/Kraus, 148. EL November 2022, BayBO Art. 6 Rn. 109 ff.). Im Übrigen wäre hier die gesetzliche Regelung über die Abstandsflächenübernahmeerklärung als lex specialis gegenüber der gesicherten Nicht-Überbaubarkeit aufgrund rechtlicher oder tatsächlicher Gründe anzusehen.
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Eine Nicht-Überbaubarkeit aufgrund tatsächlicher Umstände kann im Regelfall nur angenommen werden, wenn topographische Verhältnisse die Bebauung ausschließen (Hahn in Busse/Kraus, 148. EL November 2022, BayBO Art. 6 Rn. 118). Solche topographischen Besonderheiten liegen nicht vor.
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Überdies ist zu beachten, dass auf der durch die Erklärung aus dem Jahr 1997 übernommenen Abstandsfläche auf dem klägerischen Grundstück weiterhin die in Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO genannten baulichen Anlagen und Gebäude errichtet werden können (Hahn in Busse/Kraus, 148. EL November 2022, BayBO Art. 6 Rn. 514; so auch VG Würzburg, U.v. 22.6.2022 - W 4 K 21.1153 - juris Rn. 36 f.).
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Nach alldem war die streitgegenständliche Baugenehmigung aufzuheben.
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3. Die Kostenentscheidung fußt auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 159 VwGO. Den Beigeladenen konnte aufgrund deren Antragstellung im schriftlichen Verfahren gemäß § 154 Abs. 3 VwGO ein Teil der Kosten auferlegt werden.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit basiert auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.