Titel:
Asylbewerber aus Myanmar mit geringfügigen politischen Aktivitäten vor und nach der Ausreise (Ausreise und Asylantragstellung vor dem Militärputsch vom 1.2.2021)
Normenkette:
AsylG § 3 Abs. 1, § 3a, § 3b Abs. 1, § 3c, § 3d
Leitsatz:
Allgemeine Lage in Myanmar begründet zusammen mit niederschwelligen politischen Tätigkeiten die Flüchtlingseigenschaft (Anschluss an herrschende neuere verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung) (Rn. 20 – 22)
Schlagworte:
Militärputsch, Myanmar, Asylantragstellung im Ausland, politische Verfolgung durch die Militärregierung, Machtergreifung des Militärs, Demonstrationsteilnahme, finanzielle Unterstützung der Volkverteidigungskräfte (PDF), Nachfluchtaktivitäten, berufliche Tätigkeit als Lehrer, Anordnung des Ausnahmezustandes, niederschwellige exilpolitische Aktivitäten
Fundstelle:
BeckRS 2022, 42420
Tenor
1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Juli 2020 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Tatbestand
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Die 1985 geborene Klägerin und der 1981 geborene Kläger sind miteinander verheiratet und myanmarische Staatsangehörige und buddhistischer Religion.
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Die Kläger wurden am 17. März 2020 am Flughafen in … aufgegriffen und äußerten dort ein Asylgesuch. Sie waren dabei im Besitz von Flugtickets für den 16. März 2020 von … (…), Myanmar, über …, …, nach …, außerdem von Reisepässen und von Schengen-Visa (ausgestellt am 17. bzw. 18. Februar 2020 von der deutschen Botschaft in … und gültig vom 15. März bis 12. April 2020, beantragt als Touristenvisa für eine Rundreise durch Deutschland, Belgien und Frankreich). Am 7. Mai 2020 stellten die Kläger förmliche Asylanträge beim Bundesamt für Migration und Flüchtling (Bundesamt).
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Die Kläger gaben bei einer Befragung durch die Bundespolizei am Flughafen … am 18. März 2020 und bei Befragungen durch das Bundesamt vom 7. Juli 2020 an, dass sie in Myanmar von rivalisierenden Untergrundrebellen und den Regierungsmilitärtruppen verfolgt worden seien. Beide Gruppen hätten ihnen Spionage vorgeworfen. Es sei Ende 2019 zu einer Entführung und weiteren Geschehnissen gekommen. Sie seien als Grundschullehrer in … (Chin-Staat, Arakan) im Westen von Myanmar tätig gewesen, wo sie sich auch kennengelernt hätten. Sie seien burmesische Volkszugehörige, von der väterlichen Linie her habe die Klägerin auch arakanische (rhakinische) Wurzeln. Die Visa hätten sie mit Hilfe von Schleusern erwirkt. Die Angaben und Dokumente im Visumsantrag, dass der Kläger ein Restaurant gehabt habe, seien falsch und haben der Erreichung des Visums gedient.
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Mit Bescheid vom 29. Juli 2020, versandt mit Schreiben vom 5. August 2020, erkannte das Bundesamt die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Ziffer 1), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Ziffer 3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 4), drohte den Klägern die Abschiebung - in erster Linie - nach Myanmar an, wenn sie die Bundesrepublik Deutschland nicht innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens verließen (Ziffer 5) und ordnete ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristete dieses auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6).
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Die Kläger hätten eine Verfolgung wegen erheblicher Widersprüche und Steigerungen im Sachvortrag nicht glaubhaft gemacht. Ihre Vorträge seien in der Diktion nahezu identisch. Ihre Schilderungen seien unsubstantiiert, ohne Präzision, klischeehaft, farblos, kurz und ohne Anklang von Nebensächlichkeiten.
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Mit Schriftsatz vom 20. August 2020 erhoben die Kläger durch ihren Prozessbevollmächtigten Klage zum Verwaltungsgericht Ansbach und beantragten,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 29. Juli 2020 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft anzuerkennen,
hilfsweise ihnen subsidiären Schutz zu gewähren,
weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bis Abs. 7 AufenthG vorliegen.
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Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 26. August 2020,
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Mit Schriftsatz vom 10. Oktober 2022 trug die Klägerseite unter Vorlage von Fotos zur Begründung vor, dass die Kläger in Deutschland nach dem Militärputsch in Myanmar im April und im August 2021 in … an regimekritischen Demonstrationen teilgenommen hätten, durch Geldspenden die Widerstandsbewegung in Myanmar unterstützt hätten und auf Facebook unter ihren Namen regimekritische Beiträge gepostet hätten. Zudem rechtfertigten die allgemeinen derzeitigen Zustände in Myanmar einen Schutzstatus.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Behördenakte und die Gerichtsakte verwiesen. Für den Verlauf der mündlichen Verhandlung wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben, und begründet. Der das Asylbegehren der Kläger in Gänze ablehnende Bescheid des Bundesamtes vom 29. Juli 2020 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, § 77 Abs. 1 Satz 1 Asyl, rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten. Die Kläger haben nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
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Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (jeweils näher definiert in § 3b Abs. 1 AsylG) außerhalb seines Herkunftslandes befindet und in dieses nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will, wobei nach § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich ist, ob die verfolgte Person tatsächlich die Merkmale, aufgrund derer sie verfolgt wird, aufweist oder ihr die Merkmale vom Verfolger nur zugesprochen werden. Als Verfolgung in diesem Sinn gelten gemäß § 3a AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellen (Nr. 1) oder eine Kumulierung von Maßnahmen, die so gravierend ist, das eine Person in vergleichbarer Weise betroffen ist (Nr. 2). Als Verfolgungshandlungen in Sinn des Abs. 1 sind nach § 3a Abs. 2 AsylG u.a. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden und eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung, anzusehen. Zwischen den Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen, § 3a Abs. 3 AsylG. Ergänzende Regelungen ergeben sich für die Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, aus § 3c AsylG und zu den Akteuren, die Schutz bieten können, aus § 3d AsylG. Kein Schutz wird nach § 3e Abs. 1 AsylG gewährt, wenn der Verfolgte in einem Teil seines Herkunftslandes sicher vor Verfolgung ist und diesen Landesteil sicher und legal erreichen kann, dort aufgenommen wird und eine Niederlassung dort vernünftigerweise erwartet werden kann (inländische Fluchtalternative).
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Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht des Betroffenen vor Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG begründet ist, gilt der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr („real risk“). Erforderlich ist eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene bei einer Rückkehr verfolgt werden wird. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 - 10 C 25/10 - NVwZ 2011, 1463; U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - NVwZ 2013, 936). Dabei ist die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie in Form einer widerlegbaren Vermutung zu beachten, wenn der Asylbewerber bereits Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgungscharakter erlebt hat und sich seine Furcht hinsichtlich einer Rückkehr in sein Heimatland aus einer Wiederholung bzw. Fortsetzung der erlittenen Verfolgung ergibt.
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Mit Rücksicht darauf, dass sich der Schutzsuchende hinsichtlich asylbegründender Vorgänge außerhalb des Gastlandes in einem gewissen, sachtypischen Beweisnotstand befindet, genügt bezüglich der Vorgänge im Herkunftsland für die nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO gebotene richterliche Überzeugungsgewissheit in der Regel die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller und darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen. Es hat sich vielmehr mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit zu begnügen. (vgl. BVerwG, U.v. 29.11.1977 - 1 C 33/71 - NJW 1978, 2463). Andererseits muss der Asylbewerber von sich aus unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen, widerspruchsfreien Sachverhalt schildern. Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag kann ihm in der Regel nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden (vgl. BVerwG B.v. 21.7.1989 - 9 B 239/89 - NVwZ 1990, 171).
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Dies zu Grunde gelegt und unter Berücksichtigung der verfahrensgegenständlichen Erkenntnisquellen ist das Gericht davon überzeugt, dass den Klägern im Falle einer Rückkehr nach Myanmar mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine dem Schutzbereich des § 3 Abs. 1 AsylG unterfallende Gefährdung droht. Zwar haben die Kläger kein individuelles Verfolgungsschicksal vor ihrer Ausreise erlebt und standen Verfolgungsmaßnahmen auch nicht absehbar bevor, jedoch müssen sie aufgrund der grundlegenden Änderung der politischen Verhältnisse in Myanmar aufgrund ihrer - wenn auch an sich wenig intensiven - politischen Betätigung in Deutschland und zuvor in Myanmar bei einer Rückkehr Verfolgungsmaßnahmen aufgrund ihrer politischen Überzeugung und Betätigung befürchten.
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Von dem beim Bundesamt geschilderten Sachverhalt rund um die Entführung im Dschungel im Oktober 2019, den das Bundesamt aufgrund seiner Widersprüche, Steigerungen und Unsubtantiiertheit als unglaubhaft eingestuft hat, distanzierten sich die Kläger in der mündlichen Verhandlung und gaben an, dass sie selbst dies nicht erlebt, sondern ähnliche Vorfälle nur von anderen gehört und aus asyltaktischen Gründen vorgetragen hätten. Eine Vorverfolgung liegt damit nicht vor.
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Trotz der unwahren Angaben beim Bundesamt zum Kern ihres Vortrags, die die Kläger auf Nachfrage bzw. Vorhalt des Gerichts in der mündlichen Verhandlung eingeräumt und richtiggestellt haben, glaubt die Einzelrichterin den Klägern ihren Vortrag insoweit, als sie während der der Zeit der Regierung der Nationalen Einheit als Lehrer und Staatsbeamte in einer Schule in … im Chin-State, Arakan im Westen von Myanmar tätig waren, keine Anhänger der jetzt herrschenden Militärregierung sind und waren, sondern sich in Deutschland, wenn auch nicht sehr exponiert und intensiv, für einen demokratischen Staat in Myanmar und gegen die Schreckensherrschaft der Militärjunta einsetzen, hierfür in … zweimal an Demonstrationen teilgenommen haben und sie die gegen die Regierung kämpfenden Volksverteidigungsstreitkräfte (PDF), die die Militärjunta als terroristische Organisation einstuft, von Deutschland aus regelmäßig durch Spenden unterstützen.
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Was ihre berufliche Tätigkeit als Lehrer bis zu ihrer Ausreise angeht, haben die Kläger übereinstimmende, präzise, gleichbleibende und widerspruchsfreie Angaben gemacht und auf gerichtliche Nachfrage in der mündlichen Verhandlung auch ergänzende und zu den bisherigen Angaben passende, plausible und nachvollziehbare Erläuterungen abgegeben. Diese Angaben sind damit glaubhaft. Hinsichtlich der Demonstrationen haben die Kläger Lichtbilder vorgelegt, auf denen sie - jedenfalls teilweise - erkennbar sind. Ebenso haben sie Fotos von Spendenbescheinigungen und ihre Facebook-Accounts, die u.a. die vorgelegten Fotos der Demonstrationsteilnahmen enthalten, vorgezeigt. Der Kläger hat darüber hinaus dargelegt, dass er im Jahre 2015 die demokratische Wahl als Wahlhelfer unterstützt hat. Hierfür hat er als Beleg ein Foto von einer Art Wahlprotokoll vorgelegt, auf dem er als Wahlhelfer namentlich verzeichnet ist.
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Aufgrund der Gesamtheit dieser Umstände (Nachfluchtaktivitäten und Verhalten zur Zeit der Vorgängerregierung) ist es nach Einschätzung des Gerichts angesichts der in Myanmar nunmehr herrschenden politische Verhältnisse beachtlich wahrscheinlich, dass den Klägern bei einer Rückkehr dorthin politische Verfolgung durch die Militärregierung aufgrund ihrer politischen Einstellung und der Unterstützung der oppositionellen Kräfte droht.
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Die aktuelle Lage stellt sich in Myanmar nach den zum Verfahren beigezogenen Erkenntnisquellen (insbesondere Auswärtiges Amt, Sicherheitshinweise Myanmar, Stand 12.10.2022, Amnesty International, Myanmar 2021 vom 29.3.2022, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes Zusammenfassung, Myanmar Januar bis Juni 2022 und Bundesamt, Länderreport Myanmar, Stand 11/2021) derzeit, d.h. nach dem Militärputsch vom 1. Februar 2021 wie folgt dar:
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Seit dem Militärputsch vom 1. Februar 2021 wurden landesweit hochrangige Mitglieder der zuvor, d.h. seit 2015 regierenden Zivilregierung und der Zivilgesellschaft durch das Militär festgenommen. Das Militär hat unter Anordnung eines Ausnahmezustandes die Macht zurückerobert und teilweise das Kriegsrecht verhängt. Es ist zu Massenprotesten im ganzen Land gekommen. Die vormalige Regierung der Nationalen Einheit gründete daraufhin die Volkverteidigungskräfte und erklärte am 7. September 2021 den „Volksverteidigungskrieg“. Seitdem kommt es nahezu landesweit zu immer gewalttätigeren Auseinandersetzungen zwischen dem Militär und bewaffneten Milizen. Durch die Militärregierung kam und kommt es zur gewaltsamen Tötung, Verhaftungen mit langen Haftstrafen in sehr hoher Zahl und unter unzureichenden Haftbedingungen, zu großen Fluchtbewegungen im Land, Brandschatzungen, Hinrichtungen und anderen erheblichen Menschenrechtsverletzungen, darunter auch an Unbeteiligten. Die Kritik an den Machthaber wird grundsätzlich verfolgt. Politische Betätigung einschließlich Äußerungen in sozialen Medien sind verboten. Humanitäre Hilfeleistungen werden von den Militärbehörden teilweise blockiert. Bis ca. März/April 2022 wird von etwa 12.000 getöteten Zivilpersonen ausgegangen, von über 550.000 Binnenflüchtlingen und über 10.000 politischen Gefangenen (Bundesamt Briefing Notes, S. 8 und 9). Es herrscht in Myanmar seit 2021 (wie zuvor bis 2011) wieder ein äußert repressives und brutal vorgehendes System durch das Militär, ohne Meinungsfreiheit und unabhängige Justiz, mit erheblicher Überwachung durch einen Staatssicherheitsdienst unter Zuhilfenahme moderner technischer Mittel (so auch VG Leipzig, U.v. 16.2.2022 - 8 K 1429/20.A - juris, VG Minden, U.v. 11.3.2022 - 4 K 2492/19.A - juris). Eine Strafgesetzänderung vom 14. Februar 2021 kriminalisiert jegliche Kritik am Militär, der Militärregierung und dem Militärputsch (Bundesamt, Briefing Notes, S. 27). Wenn prodemokratische Aktivitäten, auch z. B. Posts über Facebook-Accounts festgestellt werden, ist mit Festnahmen und erheblichen Konsequenzen zu rechnen (Human Rights Watch, Myanmar: Tod von Aktivisten in Haft vom 3.9.2022; Home Office, Country Policy and Information Note, Myanmar (Burma): Critics oft the military regime, Version 4.0 von Juli 2022).
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Offenbleiben kann für das vorliegende Verfahren, ob angesichts der zwischenzeitlichen politischen Verhältnisse und Rechtslage in Myanmar allein die illegale Ausreise oder die Asylantragstellung im Ausland bei einer Rückkehr nach Myanmar mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer politischen Verfolgung führt (mangels konkreter Erkenntnisse hierzu ablehnenden VG Frankfurt a.M., U.v. 30.9.2022 - 2 K 3682/21.F.A. - nicht veröffentlicht; VG Leipzig, U.v. 8.3.2022 - 8 K 44/21.A - juris, zweifelnd VG München, B.v.25.3.2021 - M 7 S 21.30273 - juris). Nach Auskünften bzw. Einschätzungen des Auswärtigen Amtes vom 16. August 2021 (an das Bundesamt) und vom 17. August 2021 (an das VG Gelsenkirchen) liegen keine konkreten Anhaltspunkte bzw. Erkenntnisse dazu vor, dass eine vor dem 1. Februar 2021 im Ausland erfolgte Asylantragstellung einen pauschalen Straftatbestand nach jetzigem Recht darstellt. Es ist danach aber nicht auszuschließen, dass Personen, die nach dem Militärputsch ausgereist sind und anschließend einen Asylantrag gestellt haben, in dem sie sich auf diesen beziehen, nach einer Rückkehr nach Myanmar verfolgt werden. Auch bereits vor der Machtergreifung des Militärs im Jahr 2021 konnte eine illegale Ausreise und/oder Wiedereinreise nach illegalem Auslandsaufenthalt eine Straftat nach myanmarischem Recht darstellen (Bundesamt, Briefing Notes, S. 27 m.w.N.), so dass es angesichts des zwischenzeitlich wieder bestehenden repressiven und brutalen Überwachungsstaates, der an der Identifizierung beispielsweise von Demonstrationsteilnehmern ein Interesse hat (Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Gelsenkirchen vom 17.8.2021), es wahrscheinlich scheint, dass eine intensive Überprüfung von Rückkehrern bei der Wiedereinreise erfolgt und Verfolgungsmaßnahmen allein wegen formaler Aspekte jedenfalls nicht fernliegend sind. Da die Kläger vor der Machtergreifung und mit einem Touristenvisum ausgereist sind und zuvor als Staatsbedienstete der alten Regierung gearbeitet haben, dürfte im Falle einer Rückkehr allerdings konkret eher kein Verdacht allein wegen der Ausreise und Wiedereinreise auf sie fallen. Die Asylantragstellung erfolgte ebenfalls bereits weit vor dem 1. Februar 2021, so dass auch dies allein - falls die Antragstellung überhaupt bekannt geworden ist - keinen konkreten Verdacht erregen dürfte, politischer Gegenspieler zu sein.
22
Aufgrund des Überwachens von politischen Kritikern und des wohl auch zielgerichteten Suchens nach solchen und des strikten Unterbindens jeglicher politischer Meinungsäußerung und -Betätigung und des gegebenenfalls erheblich repressiven Vorgehens gegenüber Verdächtigen durch das zwischenzeitlich, nach fast zwei Jahren (wieder) etablierte Militärregime, ist davon auszugehen, dass kleinste Verdachtsmomente im Hinblick auf eine abweichende politische Meinung und Betätigung eine Verfolgung durch das Militärregimes i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG nach sich ziehen. Die neuere Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte (VG Minden, U.v. 11.3.2022 - 4 K 2492/19.A - juris Rn. 68; VG Frankfurt a.M., U.v. 30.9.2022 - 2 K 3682/21. F.A.- nicht veröffentlicht; VG Leipzig, U.v. 8.3.2022 - 8 K 44/21.A - juris; VG Gelsenkirchen, U.v. 31.3.2022 - 2a K 2117/19.A - juris) geht deshalb überwiegend davon aus, dass bereits niederschwellige exilpolitische Aktivitäten (in Verbindung mit einer Asylantragstellung im Ausland) im Fall einer Rückkehr regelmäßig asylrelevante Verfolgungsmaßnahmen nach sich ziehen können. Dieser Beurteilung schließt sich die erkennende Einzelrichterin an.
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Die Demonstrationsteilnahmen der Kläger in Deutschland, die finanzielle Unterstützung der Volkverteidigungskräfte (PDF) durch Überweisungen aus Deutschland, vor allem aber die Tatsache, dass der Kläger vor seiner Ausreise als Wahlhelfer für die Wahl 2015 (wenn auch nur als solcher und nicht selbst als Kandidat) tätig war und der Umstand, dass die Kläger zu Zeiten der Vorgängerregierung als Lehrer im Staatsdienst gearbeitet haben, stellen jedenfalls in ihrer Häufung und Kombination aller Wahrscheinlichkeit nach genügende Aspekte dar, den Verdacht der Militärregierung bei Rückkehr auf die Kläger zu ziehen. Hinzu kommt, dass die Kläger aus dem Westen von Myanmar, dem Chin-Staat, Region Arakan kommen, wo die Situation nach den vorliegenden Erkenntnisquellen politisch und humanitär aktuell besonders schlecht ist. Dort ist es verstärkt zu Luftangriffen, Artilleriebeschuss und Brandanschlägen auf die Bevölkerung gekommen (Amnesty International, Myanmar 2021, S. 4 und 5). Die Kläger haben in der mündlichen Verhandlung auch glaubhaft vorgetragen, keinen Kontakt mehr zu ihren Angehörigen dort zu haben, weil diese von dort vertrieben worden sind. Sie legten überdies erschütternde Fotos von Todesopfern und Zerstörungen aus ihrer Region vor. Da eine inländische Fluchtalternative angesichts der landesweiten politischen Lage ebenfalls nicht vorhanden ist und entsprechende Landesteile gegebenenfalls wohl faktisch auch nicht erreichbar wären, da ein „Abfangen“ von Rückkehrern bei der Einreise wahrscheinlich ist, muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden, dass sie sich staatlicher Verfolgung nicht entziehen könnten. Im Falle einer Rückkehr ist mit intensiver Befragung bei der Einreise und mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Recherchen der Sicherheitskräfte spätestens dann zu rechnen, so dass wenigstens ein Teil der - wenn auch nicht sehr intensiven - politischen Aktivitäten der Kläger aufgedeckt würde, was prognostisch Anlass genug sein würde, die Kläger festzunehmen, sie rechtsstaatwidrig zu bestrafen bzw. zu behandeln bis hin zur Gefahr von inhumanen und unzumutbaren Haftbedingungen, Folterungen und Tötung.
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Den Kläger ist nach den seit Bescheidserlass vom 29. Juli 2020 grundlegend geänderten Verhältnisse im Land die Flüchtlingseigenschaft damit zuzuerkennen. Einer Entscheidung über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz nach § 4 AsylG und in Hinblick auf Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG bedarf es damit nicht mehr. Der Klage ist bereits im Hauptantrag stattzugeben.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 Abs. 2 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.