Inhalt

VG Ansbach, Beschluss v. 27.12.2022 – AN 2 S 22.30934
Titel:

Abschiebungsandrohung, offensichtlich unbegründeter Asylantrag, Familienasyl

Normenkette:
AsylG § 36 Abs. 1, Abs. 4 S. 1
Leitsatz:
Die Ablehnung des Asylantrags eines minderjährigen Asylsuchenden als offensichtlich unbegründet ist nicht nur dann zulässig, sofern die Asylanträge der Eltern als offensichtlich unbegründet oder bestandskräftig abgelehnt wurden, sondern auch dann, wenn nach Aktenlage der Asylantrag der Familienangehörigen offensichtlich unbegründet ist. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
einstweiliger Rechtsschutz, Antragsänderung, Ablehnung des Asylantrags eines Minderjährigen als offensichtlich unbegründet im Fall der Ableitung des Verfolgungsschicksals von den Eltern, deren Asylanträge weder bestands- bzw. rechtskräftig noch als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurden, Abschiebungsandrohung, offensichtlich unbegründeter Asylantrag, Familienasyl
Fundstelle:
BeckRS 2022, 42419

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Abschiebungsandrohung in dem Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 6. Dezember 2022 wird angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage hinsichtlich der seitens des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge angedrohten Abschiebung nach einer Ausreisefrist von einer Woche.
2
Die Eltern des am … 2022 in der Bundesrepublik Deutschland geborenen Antragstellers stellten für diesen am 7. Oktober 2022, eingegangen bei dem Bundesamt am 21. Oktober 2022, einen Asylantrag.
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Die Asylanträge der Eltern des Antragstellers hatte die Antragsgegnerin bereits mit Bescheid vom 14. Dezember 2017 abgelehnt. Die Eltern des Antragstellers wurden weder als Asylberechtigte anerkannt noch wurde Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutz zuerkannt. Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG lägen nicht vor. Die Eltern des Antragstellers wurden aufgefordert, die Bundesrepublik innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, andernfalls sie - primär - in den Irak abgeschoben würden. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
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Zur Begründung ist in dem Bescheid sinngemäß im Kern ausgeführt, die Eltern des Antragstellers hätten vorgebracht, eine außereheliche Beziehung geführt zu haben. In der Folge hätten sie gegen den Willen des Großvaters müttlerlicherseits des Antragstellers geheiratet. Als die Mutter des Antragstellers einen Cousin habe heiraten sollen habe der Vater des Antragstellers versucht, diesen davon abzuhalten. Daraufhin sei er von Brüdern der Mutter des Antragstellers beleidigt und mit einem Elektroschocker betäubt worden. Die Brüder hätten damit gedroht, ihn zu töten, falls er der Mutter des Antragstellers noch einmal zu nahe komme. Eine Woche vor der geplanten Hochzeit mit dem Cousin hätten sie das Land verlassen. Sie fürchteten nach wie vor, von der Familie der Mutter des Antragstellers getötet zu werden.
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Gegen den Bescheid erhoben die Eltern des Antragstellers fristgemäß Klage. Diese ist bei dem erkennenden Gericht unter dem Aktenzeichen AN 2 K 18.30011 anhängig. Eine Entscheidung in der Sache ist noch nicht ergangen.
6
Im Asylverfahren des Antragstellers teilte die Antragsgegnerin dessen Eltern mit Schreiben vom 10. November 2022 mit, von der Durchführung einer Anhörung sei abzusehen, wenn der Asylantrag für ein im Bundesgebiet geborenes Kind unter sechs Jahren gestellt werde und der Sachverhalt aufgrund des Inhalts der Verfahrensakten der Eltern oder eines Elternteils ausreichend geklärt sei. Es werde innerhalb von zwei Wochen um schriftliche Darlegung der Gründe gebeten, die zu der Annahme berechtigten, dass bei dem Antragssteller die Flüchtlingseigenschaft oder die Asylberechtigung vorliege oder dem Antragsteller in seinem Heimatland ein ernsthafter Schaden drohe. In der Folge ging kein Schreiben der Eltern des Antragstellers bei dem Bundesamt ein.
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Der Antragsteller hat mit Schriftsatz vom 11. November 2022, eingegangen bei Gericht am 16. November 2022, vertreten durch seine Eltern Klage erhoben (insoweit wurde das Aktenzeichen AN 2 K 22.30935 vergeben) und wörtlich folgende Anträge gestellt:
1. Der Bescheid des Beklagten vom 03.11.2022, AZR-Nummer: …, zugestellt am 05.11.2022 wird aufgehoben.
2. Hilfsweise: Der Beklagte wird verpflichtet, das Asylverfahren durchzuführen.
3. Weiter hilfsweise: Der Beklagte wird verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG zuzuerkennen, hilfsweise, subsidiären Schutz gem. § 4 AsylG zu gewähren, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 V und VII 1 AufenthG vorliegen.
4. Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Gleichzeitig beantrage ich:
Die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet.
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Zur Begründung hat der Antragsteller sinngemäß im Kern vorgetragen, er begehre mit der Klage die Aufhebung des Bescheids vom 3. November 2022, mit dem der Antrag auf Durchführung eines Asylverfahrens als unzulässig abgelehnt worden sei. Seine Eltern lebten bereits seit … 2017 in Deutschland. Seine beiden Geschwister seien in Deutschland geboren und besuchten den Kindergarten. Sie würden die deutsche Sprache sprechen. Sie seien als Familie in Deutschland gut sozialisiert. Sie würden alles dafür tun, um sich in die deutsche Gesellschaft gut zu integrieren. Aus diesem Grund sei der Bescheid rechtswidrig und verletzt ihn in seinen Rechten. Sein Aufenthalt sei mindestens an den Aufenthalt seiner Eltern anzuknüpfen.
9
Mit Schreiben vom 17. November 2022 hat das Gericht dem Antragsteller sinngemäß mitgeteilt, es sei derzeit nicht erkennbar, gegen welche Entscheidung sich die Klage richte. Es werde deshalb um Übermittlung einer Kopie des Bescheids gebeten, welcher aufgehoben werden solle.
10
Mit Bescheid vom 6. Dezember 2022, dem Antragsteller zugestellt am 13. Dezember 2022, hat das Bundesamt gegenüber dem Antragsteller die Asylanerkennung (Ziff. 2 des Bescheids) sowie die Zuerkennung von Flüchtlingseigenschaft (Ziff. 1 des Bescheids) und von subsidiärem Schutz jeweils als offensichtlich unbegründet abgelehnt (Ziff. 3 des Bescheids). Darüber hinaus hat es festgestellt, Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG lägen nicht vor (Ziff. 4 des Bescheids). Des Weiteren hat es den Antragsteller aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, andernfalls er - primär - in den Irak abgeschoben werde (Ziff. 5 des Bescheids). Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und den Lauf der Ausreisefrist hat das Bundesamt bis zum Ablauf der einwöchigen Klagefrist und, im Fall eines fristgerechten Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage, bis zur Bekanntgabe der Ablehnung des Antrags durch das Verwaltungsgericht ausgesetzt. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG hat das Bundesamt auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziff. 6 des Bescheids).
11
Mit Schriftsatz vom 19. Dezember 2022, eingegangen bei Gericht am 20. Dezember 2022, haben die Eltern des Antragstellers dem Gericht den Bescheid vom 6. Dezember 2022 in Kopie übersandt und hierzu sinngemäß ausgeführt, das Gericht erhalte hiermit den „fehlenden BAMF Bescheid“ zu dem Eilantrag ihres Sohns.
12
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
13
Zur Begründung verweist sie auf die Begründung der angegriffenen Entscheidung.
14
Mit Schreiben jeweils vom 20. Dezember 2022 hat das Gericht den Beteiligten insbesondere sinngemäß mitgeteilt, der Schriftsatz der Antragstellerseite vom 19. Dezember 2022 werde derzeit als Klageänderung im Verfahren AN 2 K 22.30935 und als Antragsänderung im Verfahren AN 2 S 22.30934 ausgelegt. Denn während sich die Antrags- bzw. Klageschrift vom 11. November 2022 noch gegen einen Bescheid vom 3. November 2022 gerichtet habe, werde nun bei vorläufige Würdigung davon ausgegangen, dass der Antrags- bzw. Klagegegenstand ausgetauscht werden und allein der Bescheid vom 6. Dezember 2022 Klagegegenstand sein solle. Es werde um umgehende Mitteilung gebeten, sofern die dargelegte, derzeitige Auslegung des Schriftsatzes vom 19. Dezember 2022 aus Sicht der Beteiligten unzutreffend sein sollte. Während insoweit von Antragstellerseite keine Stellungnahme eingegangen ist, hat die Antragsgegnerin erklärt, sie willige in die Klageänderung ein.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichts- und Behördenakten im vorliegenden wie auch in den beigezogenen Verfahren AN 2 K 18.30011 und AN 2 K 22.30935 Bezug genommen, insbesondere auf die persönlichen Anhörungen der Eltern des Klägers.
II.
16
1. Der zuletzt zulässige Antrag hat in der Sache in vollem Umfang Erfolg.
17
a) Die gemäß § 88 VwGO am Rechtsschutzziel orientierte Auslegung (Fertig in Beckscher Online-Kommentar VwGO, 63. Edition Stand 1.10.2022, § 88 Rn. 6) des Antrags des Antragstellers ergibt, dass er zuletzt gemäß § 80 Abs. 5 VwGO die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage betreffend die ergangene Abschiebungsandrohung mit Bescheid vom 6. Dezember 2022 begehrt. Zwar hat der Antragsteller ursprünglich einen vermeintlichen „Bescheid des Beklagen vom 3.11.2022, […] zugestellt am 05.11.2022“ angegriffen und insoweit die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage beantragt. Jedoch ist aus der dem Gericht vorliegenden Bundesamtsakte weder ein Schreiben vom 3. November 2020 noch ein unter dem 5. November 2022 zugestelltes Schriftstück ersichtlich. Auch ist - soweit ersichtlich - kein Bescheid ergangen, mit dem die Durchführung eines Asylverfahrens als unzulässig abgelehnt worden wäre, wie der Antragsteller in seiner Klagebegründung geltend macht. In der Folge hat der Antragsteller auf Aufforderung des Gerichts, es möge der Bescheid in Kopie übermittelt werden, welcher aufgehoben werden solle, unter dem 19. Dezember 2022 eine Kopie des Bescheids vom 6. Dezember 2022 übersandt. Hierzu hat der Antragsteller zudem erklärt, das Gericht erhalte hiermit den fehlenden Bescheid zu seinem Eilantrag. Damit ordnet der Antragsteller den bislang fehlenden Bescheid vom 6. Dezember 2022 ausdrücklich sowohl dem Klageverfahren als auch seinem Antrag im einstweiligen Rechtsschutz zu, sodass zuletzt kein Zweifel besteht, dass der Antragsteller jedenfalls nunmehr das Ziel verfolgt, gegen den Bescheid vom 6. Dezember 2022 im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vorzugehen. Genauer ergibt die Auslegung mit Blick auf den Bescheid vom 6. Dezember 2022, dass sich der Antragsteller im einstweiligen Rechtsschutz gegen die darin ausgesprochene Abschiebungsandrohung wendet. Denn diese ist vorliegend aufgrund § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG sofort vollziehbar, sodass insoweit - wie vom Antragsteller begehrt - die aufschiebende Wirkung angeordnet werden kann (vgl. Pietzsch in Beckscher Online-Kommentar Ausländerrecht, 30. Edition Stand 1.1.2022, § 36 AsylG Rn. 14). Dagegen können weder der Antragsbegründung noch dem Antrag selbst, der sich auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung bezieht, Anhaltspunkte entnommen werden, dass der Antragsteller etwa nach § 123 VwGO eine einstweilige Anordnung hinsichtlich der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots begehrt (vgl. § 36 Abs. 3 Satz 10 AsylG). Vielmehr geht es dem Antragsteller auch nach der Antragsbegründung - insoweit hat er insbesondere sinngemäß ausgeführt, sein Aufenthaltsstatus müsse an den seiner Eltern anknüpfen - vorgelagert darum, vorläufig nicht der sofort vollziehbaren Abschiebungsandrohung ausgesetzt zu sein.
18
b) Der so verstandene Antrag ist jedenfalls zuletzt zulässig (§ 77 Abs. 1 AsylG). So ist der Sache nach bereits ausgeführt, dass der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die vorliegend aufgrund § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung statthaft ist. Des Weiteren ist hier - jedenfalls nach Auslegung gemäß § 88 VwGO - von einer zulässigen Antragsänderung auszugehen. In diesem Zusammenhang ist anerkannt, dass eine Antragsänderung vorliegt, sofern der Antragsgegenstand ausgetauscht wird (für die Anfechtungsklage Riese in Schoch/Schneider, VwGO, Stand: Februar 2022, § 91 Rn. 23a; vgl. für die entsprechende Anwendbarkeit von § 91 VwGO in selbstständigen Beschlussverfahren, insbesondere Eilverfahren Wöckel in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 91 Rn. 7). So liegt der Fall hier, da der Antragsteller - wie ausgeführt - sich zunächst gegen einen vermeintlichen Bescheid vom 3. November 2022 gewandt hat, diesen jedoch - auf Grundlage der dargestellten Antragsauslegung - durch den Bescheid vom 6. Dezember 2022 ersetzt, also ausgetauscht hat. Auch ist nicht ersichtlich, dass sich der Antragsteller weiterhin gegen einen vermeintlichen Bescheid vom 3. November 2022 wendet, also seinen Antrag lediglich erweitert hätte. Vielmehr hat der Antragsteller der vorläufigen Auslegung des Gerichts im Sinne einer Ersetzung des Streitgegenstands nicht widersprochen, obwohl das Gericht insoweit sinngemäß um umgehende Mitteilung gebeten hatte, sofern die fragliche Auslegung aus Antragstellersicht unzutreffend sein sollte. Weiter ist die Antragsänderung nach 91 Abs. 1 VwGO zulässig, da die Antragstellerin insoweit eingewilligt hat. Soweit die Antragsgegnerin unter Angabe der Aktenzeichen sowohl des Klage- als auch des Eilverfahrens von der Einwilligung in die Klageänderung gesprochen hat, ergibt die Auslegung, dass insoweit auch die Einwilligung in die Antragsänderung gemeint ist. Auf dieser Grundlage ist schließlich auch die Wochenfrist aus § 36 Abs. 3 Satz 1 Halbs. 1 AsylG gewahrt. Denn im Fall der - wie hier - zulässigen Antragsänderung wird der Antrag in geänderter Form bereits mit Eingang des antragsändernden Schriftsatzes bei Gericht rechtshängig (vgl. für die Klageänderung Riese in Schoch/Schneider, VwGO, Stand Februar 2022, § 91 Rn. 79). Danach ist hier die Wochenfrist nach Zustellung des streitgegenständlichen Bescheids am 13. Dezember 2022 mit Eingang des antragsändernden Schriftsatzes bei Gericht am 20. Dezember 2022 gewahrt.
19
c) Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung hat auch in der Sache Erfolg.
20
aa) Gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG bzw. Art. 16a Abs. 4 Satz 1 Halbs. 1 GG darf die aufschiebende Wirkung hinsichtlich der Abschiebungsandrohung allein dann angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Angegriffener Verwaltungsakt in diesem Sinne ist die Abschiebungsandrohung, sodass seitens des Gerichts die Tatbestandsvoraussetzungen zu prüfen sind, unter denen die Abschiebung nach einer Ausreisefrist von einer Woche gemäß § 36 Abs. 1 AsylG angedroht werden darf (vgl. so zum Ganzen Pietzsch in Beckscher Online-Kommentar, Ausländerrecht, 33. Edition Stand 1.1.2022, § 36 AsylG Rn. 36 f.). Wurde die verkürzte Ausreisefrist gemäß § 36 Abs. 1 AsylG auf die offensichtliche Unbegründetheit des Asylantrags gestützt, sind demnach die Voraussetzungen der offensichtlichen Unbegründetheit nach § 30 AsylG die Anknüpfungspunkte etwaiger ernstlicher Zweifel. Entsprechend führen ernstliche Zweifel am Vorliegen der Tatbestände der Offensichtlichkeit zur Aussetzung der Abschiebung (vgl. so zum Ganzen Faßbender in Beckscher Online-Kommentar Migrations- und Integrationsrecht, 13. Edition Stand 15. 10. 2022, § 36 AsylG Rn. 19). Ernstliche Zweifel liegen vor, sofern erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (Pietzsch a.a.O. Rn. 37). Dabei können sich Zweifel sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht ergeben (Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 30 AsylG Rn. 5; vgl. auch Pietzsch a.a.O.).
21
Nach § 30 Abs. 1 AsylG wiederum ist ein Asylantrag offensichtlich unbegründet, wenn an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen vernünftigerweise keine Zweifel bestehen können und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung die Antragsablehnung geradezu aufdrängt (Heusch in Beckscher Online-Kommentar, Ausländerrecht, 35. Edition Stand 1.10.2022, § 30 AsylG Rn. 14 mit Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BVerfG für das Klageverfahren). Eine solche Evidenzentscheidung kann nur dann getroffen werden, wenn das Asylbegehren eindeutig aussichtslos ist bzw. die Aussichtslosigkeit auf der Hand liegt (Heusch a.a.O. m.w.N.).
22
Unterschiedliche Auffassungen werden zu der Frage vertreten, unter welchen Voraussetzungen die Ablehnung des Asylantrags eines minderjährigen Asylsuchenden - der seine Asylgründe allein aus dem Verfolgungsschicksal seiner Eltern ableitet - als offensichtlich unbegründet zulässig ist, sofern ein Anspruch auf Asylanerkennung oder internationalen Schutz im Wege des Familienasyls denkbar ist. Insoweit wird vertreten, dass eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet nur dann zulässig ist, sofern der Asylantrag der Eltern ebenfalls als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde oder die einfache Ablehnung des Asylbegehrens der Eltern bestandskräftig geworden ist (VG Minden, B.v. 4.7.2019 - 6 L 715/19.A - BeckRS 2019, 15288; VG München, B.v. 25.8.2016 - M 16 S 16.312580, M 6 S 16.31654 - BeckRS 2016, 51319; vgl. auch Blechinger in Beckscher Online-Kommentar, Migrations- und Integrationsrecht, 13. Edition Stand 15.10.2022, § 30 AsylG Rn. 85b mit Hinweis auf VG Minden a.a.O.). Dagegen wird auch die Auffassung vertreten, es sei ausreichend, dass Familienangehörigen bislang offensichtlich kein Schutzsatus zuerkannt wurde (so VG Berlin, B.v. 4.6.2020 - VG 33 L 164/20 A - BeckRS 2020, 12805 Rn. 13). Eine vermittelnde Ansicht wiederum lässt die Ablehnung des Asylantrags des minderjährigen Asylsuchenden als offensichtlich unbegründet nicht allein dann zu, sofern die Asylanträge der Eltern als offensichtlich unbegründet oder bestandskräftig abgelehnt wurden, sondern auch dann, wenn nach Aktenlage der Asylantrag der Familienangehörigen offensichtlich unbegründet ist (VG Würzburg, B.v. 31.8.2019 - W 6 S 19.31426 - BeckRS 2019, 20323 Rn. 18; Heusch in Beckscher Online-Kommentar Ausländerrecht, 35 Edition Stand 1.10.2022, § 30 AsylG Rn. 11 mit Hinweis auf VG Würzburg a.a.O.).
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Die zuletzt dargestellte Ansicht überzeugt. Zwar verlangen § 26 Abs. 1 bis Abs. 3 AsylG für die Zuerkennung von Familienasyl jeweils die unanfechtbare Asylanerkennung des Stammberechtigten. Insoweit mag es auch offensichtlich sein, sofern eine solche Anerkennung des Stammberechtigten aktuell (noch) nicht vorliegt (vgl. VG Berlin, B.v. 4.6.2020 - VG 33 L 164/20 A - BeckRS 2020, 12805 Rn. 11). Allerdings ist das Asylbegehren eines Minderjährigen schon begrifflich nicht offensichtlich unbegründet, solange die Zuerkennung eines Schutzstatus noch in Betracht kommt. Dies mag etwa der Fall sein, sofern nicht hinreichend ausgeschlossen werden kann, dass Widersprüche im Vortrag o.Ä. ggf. in einem gerichtlichen Verfahren noch aufgelöst werden können bzw. die Glaubhaftigkeit des Vorbringens sonst zugunsten des Asylsuchenden neu zu bewerten sein könnte. Strukturell nicht anders liegt der Fall, sofern eine Anerkennung im Wege des Familienasyls noch in Betracht kommt, weil die Asylanerkennung von Stammberechtigten noch hinreichend möglich erscheint. All diesen Fällen ist gemeinsam, dass das Asylbegehren mit der Definition der offensichtlichen Unbegründetheit im Sinne von § 30 Abs. 1 AsylG gerade nicht eindeutig aussichtslos ist bzw. die Aussichtslosigkeit gerade nicht auf der Hand liegt. Gestützt wird eine solche Auslegung zudem von Sinn und Zweck des Familienasyls im Sinne von § 26 AsylG. Denn dieses dient zum einen dem Schutz der Familieneinheit sowie zum anderen der Verwaltungsvereinfachung, da eng zusammenhängende Verfolgungsschicksale möglichst nicht zu aufwändigen Mehrfachprüfungen führen sollen (Günter in Beckscher Online-Kommentar, Ausländerrecht, 35. Edition Stand 1.10.2021, § 26 AsylG Rn. 2). Dabei geht bereits aus dem Umfang der Schutzgewährung nach § 26 AsylG hervor, dass sich das Ziel des Schutzes der Familieneinheit auf der Ebene des Schutzstatus der Asylberechtigung bzw. des internationalen Schutzes bewegt, sich aber nicht auf inlands- oder zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse bezieht. Denn letztere werden von § 26 AsylG nicht erfasst. Der so verstandene Schutzzweck mit Blick auf die Familieneinheit spricht aber dafür, ein Asylgesuch bereits dann nicht als offensichtlich unbegründet anzusehen, wenn (noch) eine Anerkennung im Wege des Familienasyls in Betracht kommt. Denn auf diese Weise wird der beschriebene Schutzzweck gewahrt, ohne zur Wahrung der Familieneinheit auf inlandsbezogene Abschiebungshindernisse abstellen zu müssen. Außerdem werden auf diese Weise mit dem Zweck der Verwaltungsvereinfachung Mehrfachprüfungen etwa in Folgeverfahren nach Anerkennung des Asylbegehrens eines Stammberechtigten vermieden.
24
bb) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze bestehen ernstliche Zweifel an der Feststellung der Antragsgegnerin, das Asylbegehren des Antragstellers sei im Sinne von § 30 Abs. 1 AsylG offensichtlich unbegründet. Zwar hat der Antragsteller keine eigenen Asylgründe vorgebracht, sodass sein Asylbegehehren insoweit schon mit Blick auf § 25 AsylG offensichtlich unbegründet erscheint. Ernstliche Zweifel an der Beurteilung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet ergeben sich aber, soweit der Antragsteller seine Asylgründe erkennbar vom Verfolgungsschicksal seiner Eltern ableitet. Insoweit bestehen mit Blick auf die Frage des Familienasyls jedenfalls in tatsächlicher Hinsicht ernstlicher Zweifel an der Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet (1). Eine solche Antragsablehnung erweist sich hier auch nicht aus anderen Gründen - am Maßstab ernstlicher Zweifel - als richtig (2).
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(1) Jedenfalls in tatsächlicher Hinsicht ergeben sich ernstliche Zweifel an der Einordnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet. So hat die Antragsgegnerin die Asylanträge der Eltern des Antragstellers mit Bescheid vom 14. Dezember 2017 gerade nicht als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Auch ist der bezeichnete Bescheid nicht Bestands- bzw. Rechtskraft erwachsen. So ist der Bescheid den Eltern des Antragstellers (frühestens) am 21. Dezember 2017 zugestellt worden, wobei innerhalb der Zweiwochenfrist aus § 74 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG am 4. Januar 2018 Klage erhoben wurde. Im Übrigen ist auch sonst nicht im Sinne von § 30 Abs. 1 AsylG offensichtlich, dass die Eltern des Antragstellers im Klageverfahren keinen Asylstatus erlangen werden können, sodass für den Antragsteller die Zuerkennung eines Asylstatus im Wege des Familienasyls offensichtlich ausscheiden würde. Von etwas anderem geht ersichtlich auch die Antragsgegnerin nicht aus, da sie die Asylanträge der Eltern des Antragstellers gerade nicht als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat. Auch in der Sache ergibt sich nichts anderes, da die Antragsgegnerin die Ablehnung der Asylanträge der Eltern des Antragstellers letztlich damit begründet hat, deren Vorbringen sei nicht hinreichend glaubhaft. So führt die Antragsgegnerin letztlich im Kern und der Sache nach aus, die von den Eltern des Antragstellers geäußerte Furcht vor familiärer Verfolgung treffe nicht zu bzw. sei nicht glaubhaft, da auf Grundlage ihres Vorbringens das „unmoralische Verhalten“ nicht öffentlichkeitswirksam bekannt geworden sei. Abgesehen davon sei die „Schande“ ohnehin durch die Heirat beseitigt. Soweit sich die Mutter des Antragstellers den Verheiratungsplänen ihres Vaters widersetzt habe, hätte ihr wohl allenfalls noch ein Leben außerhalb des eigenen Familienverbands gedroht, wobei sie allerdings aufgrund der Heirat nicht auf sich alleine gestellt gewesen wäre. Außerdem hätten die Eltern des Antragstellers auch bei den kurdischen Sicherheitsbehörden um Schutz nachsuchen können. Insoweit kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass das asylrelevante Vorbringen der Eltern des Antragstellers eindeutig aussichtslos wäre bzw. die Aussichtslosigkeit auf der Hand läge. Vielmehr erscheint es nicht hinreichend ausgeschlossen, dass die Eltern des Antragstellers unter Umständen die Argumentation der Antragsgegnerin - etwa im Termin zur mündlichen Verhandlung - (glaubhaft) erschüttern könnten.
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Im Übrigen spricht mit Blick auf den dargestellten, obergerichtlich nicht geklärten Meinungsstreit, der sich in der vorliegenden Fallgestaltung entscheidungserheblich auswirkt, auch vieles für die Annahme ernstlicher Zweifel in rechtlicher Hinsicht.
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(2) Die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als zutreffend, etwa weil andere Tatbestände bzw. Regelbeispiele nach § 30 Abs. 2, Abs. 3 oder Abs. 4 AsylG einschlägig wären. Insbesondere ist mangels unanfechtbarer Ablehnung der Asylanträge der Eltern des Klägers bereits der Tatbestand nach § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG nicht erfüllt, sodass es auf Fragen der Vereinbarkeit der Vorschrift mit Europarecht nicht ankommt (vgl. dazu Heusch in Beckscher Online-Kommentar Ausländerrecht, 30. Edition Stand 1.10.2022, § 30 AsylG Rn. 52).
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 1 VwGO. Insoweit war trotz Klageänderung eine einheitliche Kostenentscheidung zu treffen, wobei die alte Klage hinsichtlich Kostentragungspflicht und erstattungsfähiger Kosten das Schicksal der neuen Klage teilt (Riese in Schoch/Schneider, VwGO, Stand Februar 2022, § 91 Rn. 88). Soweit vertreten wird, dass § 155 Abs. 2 VwGO entsprechend gilt, soweit für das alte Klagebegehren ausscheidbare Kosten entstanden sind (Peters/Kujath in Sudan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 91 Rn. 75), sind solche vorliegend jedenfalls nicht ersichtlich, zumal das Verfahren nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei ist.
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3. Diese Entscheidung ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.